Der Sonntag begann in Dillenburg mit harmlosen Schäfchenwolken am Himmel und bis auf einige Rauchschwaden deutete nichts auf das nächtliche Drama hin, das Dillenburgs Nachbarstadt wenige Stunden zuvor heimgesucht hatte: Der „Feuerteufel“ hatte Haiger gefressen, samt Haut und Haaren, wie Enners behauptete. In der Brandnacht hatte man den blutroten Himmel weit über Dillenburg hinaus sehen können.
Tags zuvor waren wieder einige Beamte vom Schloss und Freunde der Hohensteins aus den Niederlanden zu Besuch gewesen. Die Herrin hatte alles bestens organisiert und unter Hiltgunts Aufsicht hatte es den Gästen weder an schmackhaftem Essen noch an gutem Wein gefehlt.
Philippa war am Samstagabend völlig erschöpft ins Bett gefallen und hatte tief und fest geschlafen – so tief, dass sie den Aufruhr im nächtlichen Dillenburg nicht mitbekommen hatte. Wie sie aus den aufgeregten Berichten der Hohensteins beim sonntäglichen Frühstück erfuhr, war in der Nachbarstadt in den späten Abendstunden ein Feuer ausgebrochen. Vom Haigerer Obertor sei über die Obere Mühle, den Freithof bis zum Grabentor alles abgebrannt. Etliche Menschen, die vor den Flammen geflohen waren, hatten noch nachts an den Dillenburger Stadttoren um Schutz gebettelt, der ihnen auch gewährt worden war.
„Mich würde nicht wundern, wenn die Leute unserem Fürsten auch noch das Schlosstor einrennen“, seufzte Hiltgunt, während sie mit Philippa zur Kirche ging.
„Warum sollten sie das tun?“
„Na weil sämtliche Haigerer obdachlos geworden sind, natürlich!“
Philippas Schrecken über die grausame Realität hätte nicht größer sein können. Es zerriss ihr das Herz. „Ich mag das gar nicht glauben“, murmelte sie mitfühlend und sah Hiltgunt von der Seite an. Das Gesicht der Haushälterin war ungewöhnlich blass. „Die armen Menschen. Wir müssen ihnen helfen!“
„Recht hast du.“ Hiltgunt griff sie am Arm und zwang sie damit, stehen zu bleiben. „Aber das hier hat uns was zu sagen! Ganz Haiger ist ein Aschefeld. Verstehst du?“
Der Ton, in dem sie mit ihr sprach, sagte ihr, es sei besser zu schweigen, obwohl Philippa nicht genau verstand, worauf Hiltgunt hinauswollte. Meinte sie damit das Jüngste Gericht? Oder dass das Feuer eine Strafe Gottes gewesen sei? Sie nickte, obwohl sie Hiltgunts Meinung nicht teilte. Vielleicht brachten Fürbittengebete und die Predigt etwas Zuversicht in ihre aufgeschreckten Seelen. Das hoffte sie auch für sich selbst und dachte an Daheim. Hoffentlich wirkte die Arznei und erhielt das Leben von Alma.
Kurze Zeit später erklang die Stimme des Oberpfarrers Johann Konrad Neuendorff von der hölzernen Kanzel: „Nicht immer sehen wir in Leid, Angst, Hunger und Gefahr die sorgende Hand unseres Gottes. Doch er hat uns eine Zukunft und Leben verheißen. Ewiges Leben. Und er wird die jetzt noch verdunkelte Sonne zu unserem ewigen Leben hell machen. Amen.“
Seine Stimme hallte über die schweigende Gemeinde hinauf zur dreiseitigen Empore bis zur Orgel, die erst vier Jahre zuvor die alte abgelöst hatte. Voller Stolz hantierte der Organist jetzt dreizehn Register und genoss die Bewunderung der einfachen Leute, wenn er gleichzeitig Manual und Pedal bediente.
Nachdem der Pfarrer seine Predigt beendet hatte, erhob sich die Kirchengemeinde zum Vaterunser, gleichzeitig begann der Küster, die Glocken zu läuten. Die eindringlichen Worte von Neuendorff hallten in Philippa nach. Er vertrat heute den zweiten Pfarrer Philipp Daniel Brand, um die Notwendigkeit der Spenden für die Not leidenden Haigerer zu bekräftigen. Als Vorbild benannte er Fürstin Dorothea Johanna, die sofort die unvorstellbar große Summe von vierhundert Gulden gespendet hatte.
Philippa leierte das auswendig gelernte Gebet herunter und ließ die Gedanken schweifen. Interessant, dass die Haigerer Kirche, wenn man vom beschädigten Dach absah, fast unversehrt geblieben war. Ob der Herrgott ein wenig Erbarmen zeigte und den Leuten immerhin einen Platz zum Beten ließ?
Energisch und mit Hinweisen auf die erste Christenpflicht forderte die Geistlichkeit die Dillenburger zu Spenden für die Brandgeschädigten auf. Es hatte nicht nur unzählige Obdachlose gegeben, nein, ein paar Leute – es war sogar von einem Dutzend die Rede – waren umgekommen, obwohl Männer von der Eisenschmelze Haigerhütte mit unbändiger Kraft von außen einen Durchschlupf in die Stadtmauer gebrochen hatten, um den Verzweifelten zu helfen. Auch etliche Stück Vieh konnten auf diese Weise gerettet werden.
Wie Philippa im Nachhinein erfuhr, war der Rettungsversuch das Gespräch in der Stadt und in den Dörfern und manche Neugierige samt Kindern machten den eine Wegstunde langen Spaziergang zu dem großen Loch, durch das sie dann die verkohlten Reste der Bauten anstarrten.
Der Pfarrer hatte erzählt, dass einige Dillenburger Familien Verwandte aufgenommen hatten, vor allem die, die Haus und Vieh verloren hatten und erst mal eine Bleibe brauchten.
Philippa war froh über die vielen Menschen, die ein großes Herz hatten und trotz ihrer Knappheit die Not leidenden Familien mit Nahrung und Kleidung unterstützten. Die Grundbedürfnisse überschwemmten die Trauer, für die noch keine Zeit blieb.
Plötzlich verspürte Philippa instinktiv, dass sie beobachtet wurde. Vorsichtig hob sie den sittsam gesenkten Kopf und blinzelte unter der Haube hervor. Ihr Blick ging zwischen den Frauen vor ihr hindurch und wanderte zur Kanzel, die von einem mit geschnitzten Ornamenten ausgeschmückten Schalldeckel gekrönt war, der über dem Geistlichen thronte.
Der Oberpfarrer hielt die Augen geschlossen, während er betete. Philippas Blick ging zu den Männern, deren Bänke wie üblich seitlich vor dem Altar angeordnet waren. Es sollte wahrscheinlich verhindern, dass die Frauen ständig in ihrem Blickfeld waren und sie womöglich von der Predigt abgelenkt wurden. Die meisten Männer standen jetzt mit geschlossenen Augen und gesenkten Köpfen da, ihre Hüte vor die Brust gepresst.
Nur einer hatte offensichtlich nichts für das Gebet übrig, sondern hielt den Kopf sogar gedreht und starrte ihr geradewegs in die Augen, als ob der Teufel ihr persönlich drohte. Es war Ratsherr Vogt! Währenddessen hallte der monotone Bass des Pfarrers wie ein Singsang über die Gemeinde hinweg.
Philippa durchfuhr es wie ein Blitz, trotzdem hielt sie dem kalten Blick von Vogt stand, der wie ein Geier seine auserkorene Beute fixierte. Ihr war sofort klar, dass Caspar ihm von ihr erzählt haben musste. Aus welchem Grund taxierte er sie sonst mit einer solch unverschämten Herablassung, dass sie zu zittern begann? Erst als das Amen ausgesprochen und den Gläubigen der Segen ausgeteilt war, brachte sie es fertig, die Augen abzuwenden.
Ihr Herz hämmerte bis zum Scheitel. Sie ließ sich auf die Holzbank fallen. Nur schwer gelang es ihr, sich zu beruhigen. Es würde sie nicht wundern, wenn Caspars Vater Erkundigungen über ihre Familie eingezogen hatte: eine Bauernfamilie aus Breitscheid, die mit Schwielen an den Händen ihren Lebensunterhalt bestreiten musste und selbst gebackenes Brot aß, wie fast alle im Dorf. Leider sagte man den Dörflern auch nach, dass sie es liebten, an freien Abenden zu saufen. Warum sonst ließ der Fürst das Läuten der Weinglocke streng beachten, die um acht Uhr abends geläutet wurde, im Winter sogar eine Stunde früher?
Philippa verließ mit Hiltgunt, der Herrin und den Kindern die Kirche und warf ihr Opfer am Ausgang in den Klingelbeutel. Grete war zu Hause geblieben, um das Mittagessen vorzubereiten und den kleinen Severin zu beaufsichtigen. Dicht gedrängt standen die Frauen auf dem kleinen Platz vor der Stadtkirche. Philippa hielt Jakob an der Hand, der neben ihr und Marie, der ältesten Tochter der Hohnsteins, gesessen hatte.
„Marie, Melusine!“, sagte ihre Herrin freundlich, aber entschieden, „geht schon mal nach Hause. Ihr könnt Grete zur Hand gehen und den Tisch decken. Nehmt Georg und Jakob mit, sie langweilen sich doch nur, während wir hier noch ein wenig plaudern.“
Während die Mädchen taten, wie ihnen geheißen, trat Philippa an die Seite. Langsam fiel die Anspannung von ihr ab und sie bemerkte, wie die Männer das Gotteshaus verließen. Caspar ging an der Seite seines Vaters und begrüßte mit ihm die Umstehenden. Diskret schweifte sein Blick über die Menge, bis er Philippa entdeckte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und sie nickte verstehend.
Als sein Vater sich noch im Gespräch mit dem Bürgermeister und ein paar Räten befand, kam Caspar zu ihr und steckte ihr bei der Begrüßung ein Stück Papier zu, das sie sofort in ihrer Rocktasche verschwinden ließ. Mit einem Augenzwinkern verabschiedete er sich und schlenderte weiter.
Erst nach dem Mittagessen, als die Kinder wie gewöhnlich angehalten waren, sich ruhig zu verhalten, holte sie den Zettel hervor.
„Heute Abend um sechs im Köppelgarten. Ich warte auf dich. Caspar.“
Sie lächelte. Der Köppelgarten lag oberhalb der Marbachstraße und war von Äckern, ein paar Wiesen und einem kleinen Waldstück, dem Gründchen, geprägt. Vom Hang aus hatte man einen schönen Blick über die Stadt bis zum Waldgebiet Eberhardt und dem angrenzenden Weinberg, wo es einen Bereich mit Weinstöcken gab, der ihm den Namen gab. Manchmal ging sie dort mit den Kindern spazieren.
Offenbar mochte Caspar diesen Flecken ebenso wie sie. Ihr Herz machte einen Sprung und ihre Gedanken wanderten zurück an die Zeit, als sie sich näher kennengelernt hatten. Hin und wieder hatte sie Caspar auf dem Kirchplatz gesehen und eines Tages war er ihr auf dem Marktplatz zu Hilfe gekommen.
Ihr gefiel sofort seine sympathische Art sie anzusehen, seine blitzenden, warmen Augen und ebenso seine markanten Wangenknochen. Ihre erste Verwirrtheit, dass jemand Höhergestelltes einer Magd zu Hilfe eilte, zeigte, dass er mehr als gute Manieren besaß. Sie war nicht nur von seinem sympathischen Äußeren beeindruckt, sondern dass er sehr höflich zu ihr gewesen war, als sei sie eine Dame gewesen, der ein Missgeschick passiert war. Das hatte ihr einen winzigen Blick in sein Herz erlaubt und damit ihres gewonnen. Vom ersten Augenblick an hatte eine seltsame Verbundenheit zwischen ihnen bestanden – trotz ihrer verschiedenen Stände.
Bald hatte sie eine Vertrautheit erfasst, die sie nicht erklären konnte. Wie ein behutsames Abkommen, eine Harmonie, die ihr unerklärlich blieb und wie eine verborgene Sehnsucht von ihr Besitz nahm.
Im Laufe des Nachmittags veränderte sich der Himmel. Wolkentürme zogen auf und ließen den zunächst klaren sonnigen Tag schwül und sommerlich werden. Philippa befürchtete, dass ein heftiges Gewitter herannahen und ihre Pläne zunichtemachen würde.
Dessen ungeachtet erlaubte die Herrin ihr, einen Spaziergang zu machen. Philippa trat aus dem Haus und lief den Kirchberg herunter. Schon bald merkte sie, dass ihr ein junger Bursche folgte. Er wirkte umtriebig und etwas an seinem Verhalten mahnte sie zur Vorsicht. Wenig später erreichte sie die Marbachstraße, die von einem kleinen Bach gesäumt wurde. Sie sah sich um. Vielleicht tanzten auch einfach nur Hirngespinste in ihr, die der Blick von Bergwerksbesitzer Vogt in ihr ausgelöst hatte.
Der Junge blieb in einiger Entfernung stehen und beobachtete scheinbar den Bachlauf. Womöglich suchte er einen geeigneten Platz zum Angeln.
Außer ihr waren noch ein paar Spaziergänger unterwegs und sie grüßte freundlich. Die Frau Amtmann Tilemann hatte sich besonders elegant herausgeputzt. Sie trug einen hochmodischen, weit ausladenden Rock und auf ihrem Kopf thronte ein wahres Monstrum, breit wie ein Wagenrad und dicht mit Federn geschmückt. Die Mode, insbesondere für die Damen, war einem steten Wandel unterworfen. Für Dienstmägde wie sie galt das nicht. Manchmal träumte sie von Kleidern in bunten Farben, doch ihre Anstellung ließ es nicht im Entferntesten zu. Gewisse Farben waren nun mal höhergestellten Leuten vorbehalten. Überaus traurig machte sie das nicht, aber welche junge Frau schwärmte nicht hin und wieder von so etwas?
Sie überquerte die Straße und warf einen Blick über die Schulter. Ein paar Kinder spielten am Brunnen und sie musste lächeln. Wenn es heute nicht Sonntag wäre und sie in sauberen Kitteln und Schürzen gekleidet sein würden, säßen sie bestimmt am Rand des Marbachs und würden ihre Füße im Wasser baumeln lassen.
Über einen steilen Weg vorbei am Grabenturm erreichte sie die Lichtung. Als sie sich umsah, entdeckte sie den Jungen weiter unten. Er folgte ihr also doch! Am liebsten hätte sie ihn zur Rede gestellt. Rasch wandte sie sich ab und machte einen hastigen Schritt nach vorne, stolperte über einen dicken Stein und verfing sich mit dem Rock. Im letzten Moment konnte sie sich abfangen, aber der Stoff zerriss am Rocksaum. Wie ungeschickt von ihr! Als sie sich aufrichtete, war der Junge verschwunden. Die Straße und die Felder waren fast menschenleer, nur ein Hund streunte hinter ihr nahe der Stadtmauer mit den beiden Wehrtürmen.
Offenbar sah sie bereits Gespenster. Insgeheim schalt sie sich, dass sie einen braven Jungen verdächtigte, ihr nachzuspionieren, weil sie in Wahrheit nicht bei ihrer Verabredung beobachtet werden wollte.
Seit jenem Markttag letzten Sommer begann ihr Herz immer zu rasen, wenn sie Caspar Vogt sah. In seinen leuchtenden Augen konnte sie lesen, dass er sie mochte. Freude und Zuneigung spiegelten sich darin. Abgesehen vom Gottesdienst trafen sie sich anfänglich beim Brunnen am Viehhof oder in der Nähe des Obertors. Das war harmlos und unverfänglich, um einander besser kennenzulernen, und ihre Unterhaltungen fanden in schicklichem Abstand statt. Mit jeder Begegnung wurde ihre Verliebtheit aber größer, inniger und bald beherrschten Zukunftsträume ihre Gedanken. Inzwischen verabredeten sie sich regelmäßig. Ob ihre Treffen allerdings unter einem guten Stern standen, bezweifelte sie seit heute Vormittag stark.
Die Kirchturmuhr schlug sechs Mal. In der Ferne hörte sie ein Grollen und besorgt sah sie zum Himmel, der sich mittlerweile völlig verdunkelt hatte.
Vor ihr lag verträumt die kleine Stadt. Manchmal hatte sie Sehnsucht nach daheim, nach Breitscheid – nicht unbedingt nach den frostklirrenden Wintern, die zum Westerwald gehörten, vielmehr nach ihrer Familie, den Nachbarn und vertrauten Menschen, die sie von Jugend auf kannte. Dort lebten fast ausnahmslos einfache Leute und teilten das gleiche Schicksal: schwere körperliche Arbeit, Hunger nach Missernten, die Last der Abgabe des Zehnten und die Demut vor Gott, der über Leib und Leben, Gesundheit und Tod entschied.
Eine Hand legte sich jetzt plötzlich auf ihre Schulter. Erschrocken schrie Philippa auf.
„Psst“, raunte die bekannte, geliebte Stimme von hinten ins Ohr. Sie seufzte erleichtert und drehte den Kopf. Caspar schmunzelte und nahm ihre Hand. Seine war warm und kraftvoll. Ein Rausch des Wohlbehagens erfasste sie. Sein Gesicht war ganz nah.
„Wo … wo bist du so überraschend hergekommen?“, stammelte sie und Röte überzog ihre Wangen. „Es war doch niemand hier.“
Er lachte leise. „Ich stand dort“, er zeigte auf eine mächtige Buche am Waldrand, „und wollte dich ein wenig erschrecken.“
„Das ist dir gelungen.“ Sie lachte. Mit großem Herzklopfen betrachtete sie sein markantes Gesicht. Als er den Kopf ein wenig neigte, entdeckte sie ein paar blonde Strähnen in seinen rotblonden Haaren. Sein fuchsiger Vollbart war gepflegt und ließ ihn noch männlicher wirken. „Du trägst keine Perücke?“, fragte sie ihn neckend.
Caspar legte den Kopf schief und schaute sie amüsiert an. „Doch nicht jetzt. Du hast ja keine Ahnung, wie stark man darunter schwitzt“, grinste er. Noch immer hielt er ihre Hand, die er auch nicht losließ, als sie in ihrer Nervosität versuchte, sie ihm zu entziehen. Er blieb unbeirrt ganz dicht vor ihr stehen.
Sie wich seinem intensiven, weichen Blick aus, noch immer mit erhitztem Kopf, was er mit einem Schmunzeln bemerkte.
Als sie schwieg, meinte er. „Was ist los? Du wirkst so bedrückt.“
„Der Brand in Haiger … Es ist einfach schrecklich“, sagte sie leise, „findest du nicht?“
Er nickte. „Heute Nacht bin ich noch bis zum Marbachtor gelaufen. Ich wollte auf den Köppel, um etwas von dem Ereignis mitzubekommen, aber die Wachen wollten das Tor nicht öffnen. Du stellst dir nicht vor, wie der ganze Himmel geglüht hat. Ich habe mir gedacht, dass es schlimm sein muss, deshalb bin ich hier oben entlang. Da vorne gibt es einen versteckten Ausgang – das wissen nur wenige. Vom Köppel hat man einen großartigen Blick nach Haiger und nach allen Seiten. Ich konnte den Feuerball sehen, der dort aufstieg. Wenig später kamen die ersten Leute zu Pferd und zu Fuß durchs Obertor, das man endlich geöffnet hatte. Auch Alte und Kinder waren darunter. Ein paar hatten sogar Vieh dabei – Ziegen und Schweine, dazu ein paar Habseligkeiten … Was sie halt noch so in Sicherheit bringen konnten.“
Offensichtlich beschäftigte ihn die Katastrophe von Haiger genauso wie sie. Die Stadt lag nur eine Stunde Fußmarsch entfernt und es hörte sich so an, als wären bei der großen Feuersbrunst tatsächlich die meisten Gebäude verbrannt.
„Weißt du, wie das Feuer entstanden ist?“, fragte sie.
„Wenn man den Gerüchten Glauben schenken will, ist es durch die Unachtsamkeit eines Bäckers entstanden. Vielleicht hat er heimlich geraucht, so wie viele es tun. Ich weiß es nicht. Die genaue Ursache werden Untersuchungen zeigen. Vielleicht hat er ja auch trotz des Verbots abends gebacken“, befürchtete er angespannt. „Offenes Feuer ist und bleibt eine große Gefahr, der man sich immer bewusst sein muss.“
Sie nickte und dachte an die hohe Strafe, wenn man erwischt wurde. „Allein die Befürchtung, dass Leute im Feuer umgekommen sind, finde ich schmerzlich.“
„Ja. Es gab Tote“, sagte er und wirkte traurig, „und Verletzte, die Brandwunden hatten oder durch herabstürzende Teile in ihren Häusern zu Fall gebracht wurden. Jeder hat ja versucht, so viel wie möglich zu retten, ob nun Kinder oder Hausrat. Manchen ist das zum Verhängnis geworden.“
„Ich kann’s nicht glauben“, stieß sie bedrückt hervor, schlug die Hand vor den Mund und musterte den Feldweg. „Ich finde es gut, dass der Pfarrer heute alle ermahnt hat, für die Geschädigten zu spenden.“ Ihr fiel das Benehmen von Ratsherr Vogt ein, aber sie zauderte, es Caspar zu erzählen, schließlich war es sein Vater.
„Das wollen wir tun. Wir könnten sicher mit Broten, Decken und Kleidung helfen. Und mit einer Geldspende“, erwiderte Caspar mit fester Stimme und runzelte die Stirn. „Wie schlimm es dort zugegangen sein muss, können wir nur erahnen. Es gibt Dinge, die wünscht man seinem ärgsten Feind nicht. Nein, erst recht nicht Feuer.“
Feuer – Strafe … In diesem Augenblick kam ihr Elsa in den Sinn kam. Das Leid der Haigerer und die eindringlichen Worte während der Predigt hatten sie heute vollkommen in Beschlag genommen, sodass ihr die Fürbitte für ihre Freundin entfallen war. Dabei hatte sie jedes Gebet dringend nötig. Heute Abend, Elsa, versprach sie insgeheim, werde ich für dich zum Herrn flehen. Dass sich für dich alles zum Guten wendet.
Caspar musste ihren ernsten Gesichtsausdruck bemerkt haben. „Du musst dich nicht ängstigen.“
Sie lächelte dünn. „Das ist es nicht. Ich musste an eine Freundin denken, der es nicht so gut geht.“
„Du hast ein großes Herz.“ Er sah sie gerührt an und seine Augen leuchteten steingrau.
Ihr Herz hämmerte noch immer unaufhörlich. Was war nur mit ihr los? Er stand so nahe vor ihr, dass sie seinen Duft aus Sandelholz und Zimtrinde riechen konnte und ihr Verstand drohte sich aufzulösen.
Nur der Ernst in seiner Stimme riss sie aus ihren Gedanken: „Hast du noch mal etwas von deiner Schwester gehört? Oder von deinen Eltern? Wie freundlich sie mich empfangen haben!“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich deute das als ein gutes Zeichen. Als ich sie verließ, war Alma auf dem Weg der Besserung. Meine Familie ist dir sehr dankbar. Ohne deine Hilfe hätte sie bestimmt nicht gerettet werden können.“
Er lächelte. „Gern geschehen, ich möchte helfen, wo ich kann. Gott hat mich so reich gesegnet – davon gebe ich gerne ab.“
Philippa schluckte und nickte. „Und ich bin mir neu bewusst geworden, dass ich mich bei Hohensteins mehr als satt essen kann. Die Herrin hat sich rührend meiner angenommen. Niemals hätte ich gedacht, dass sie mir sogar die Heimreise organisiert. Ich bin ihr dafür sehr dankbar.“
Er lächelte warmherzig und nickte. „Sie hat Herz gezeigt, wo andere Frauen ihres Standes manchmal hart und arrogant reagieren. Außerdem“, er sprach leise und ruhig, „bekommt sie Respekt von ihren Dienstboten. Irgendwie erinnert sie mich an meine Mutter. Man erzählt sich, sie habe so das Herz meines Vaters erobert.“
Philippa meinte, einen gequälten Ausdruck auf seinem Gesicht zu entdecken. Viel zu früh hatte er auf die Liebe seiner Mutter verzichten müssen. Offenbar hatten es sein Vater und die Haushälterin aber geschafft, ihm die Werte weiterzugeben, die seiner Mutter wichtig gewesen waren.
Still standen sie einen Moment beieinander. Kein scheues Schweigen, sondern ein wortloses Verstehen. Philippa wurde unter seinem festen Blick verlegen und verflocht die Hände ineinander. Als sie den Mund öffnete, um das Schweigen zu durchbrechen, legte er sanft den Finger auf ihre Lippen.
„Philippa“, flüsterte Caspar mit Inbrunst in der Stimme. „Ich merke immer mehr, wie wichtig du mir geworden bist. Dass ich nicht mehr ohne dich sein will, sondern mein ganzes Leben mit dir verbringen möchte und alle meine Gedanken mit dir teilen will.“ Langsam sank er auf ein Knie. „Liebste, möchtest du meine Frau werden?“
Für einen kurzen Moment vergaß sie zu atmen. Zögernd blickte sie zu ihm hinunter und hielt seinem liebevollen Blick stand, der alles versprach: Aufrichtigkeit, Zuneigung, Verstehen.
So viele Fragen waren in ihr und doch wollte sie über keine nachdenken. Nicht, ob sie standesgemäß für ihn sei. Nicht, ob er sie als nur Gespielin haben wolle, wie es leider immer wieder vorkam. Nicht, was er zu tun gedachte, wenn seine Familie nicht mit seiner Wahl einverstanden war …
Ihr Schweigen deutete er als Absage. „Bitte, geliebte Philippa“, flehte er und blieb vor ihr knien.
Zärtlich fuhr sie ihm mit der Hand durchs Haar. Es war kräftig und leuchtete durch die Abendsonne auf. Die Strahlen vermischten sich mit dem seidigen Glanz zu einer Flut aus Gold und Kupfer. „Ja“, hauchte sie, „ja, ich will dich immer lieben.“ Sie schluckte und hielt nur mit Mühe ihre Tränen zurück.
Caspar erhob sich, sodass sie wieder zu ihm aufsehen musste. Er war fast einen Kopf größer als sie und legte jetzt seine freie Hand um ihre Taille. Ehe sie sich’s versah, nahm er sie in seine Arme und küsste sie mit einer Inbrunst, dass ihr schwindelig wurde. Ein wohliger Schauder durchzog sie. Nur ungern ließ sie es geschehen, dass er sich von ihr löste.
Er sah sie ernst an. „Ich verspreche dir, Liebste, dass wir beide glücklich werden. Ungeachtet dessen, wer das verhindern oder als nicht angemessen bezeichnen möchte.“
Sie senkte den Blick. Caspars Jabot hing jetzt alles andere als mustergültig um seinen Hals. Ein Knopf seines Gehrocks musste eben abgesprungen sein. Ihre Augen suchten die festgetretene Erde unter ihr ab, konnte ihn aber nirgends entdecken. Am Knie seiner Hose zeichneten sich grüne Flecken und Staub ab.
Caspar hatte den Ratsherrn Vogt mit keiner Silbe erwähnt, doch Philippa begriff sofort und blickte ihm nun wieder in die Augen. „Denkst du dabei an deinen Vater?“
Um seinen Mund tauchte erneut ein schmerzhafter Zug auf. Nachdenklich sah er zu Boden. „Ich habe ihm gesagt, dass ich dir einen Antrag machen werde.“
„Du hast was?“ Sie schnappte nach Luft und ahnte, was er geantwortet hatte, aber sie wollte es von ihm hören. „Und was hat er gesagt?“
Er strich ihr sanft über die Haube und seine Augen ruhten jetzt wieder auf ihr. Sie versprachen, was er dachte. „Ich werde um dich kämpfen.“
Ihr Herz begann aufgeregt zu hämmern. Ob es durch die Brisanz ihres innigen Gesprächs kam? Sie spürte, wie sich ein paar Tränen ihren Weg bahnten und übers Gesicht rollten. Es würde kein einfacher Weg vor ihnen liegen, zumindest, wenn sie ihn gemeinsam beschreiten wollten.
Caspars Lippen küssten die Tränen weg. Wieder presste er sie an sich. „Vertrau mir“, flüsterte er, „vertraue mir einfach.“
Ein gewaltiger Donnerschlag ließ die beiden auseinanderfahren und im nächsten Moment fielen auch schon dicke Tropfen vom Himmel herab. Caspar nahm sie wortlos an der Hand und gemeinsam liefen sie ein Stück den Weg hinunter, bevor sie abbogen und er sie an einem Garten vorbei zog.
„Wo willst du hin?“
„Ich habe eine Idee. Der Pfad hier zwischen den Häusern führt zum Obertor. Er ist ein bisschen steil“, erklärte Caspar. Sein Griff wurde stärker. „Gib acht.“
„Ist das eine Abkürzung?“ Ein heftiger Schauer brach über ihnen nieder und der Boden wurde glitschig. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Mit der freien Hand hob sie den Rock an. Wie gut, dass Caspar ihr Halt gab.
„Nicht unbedingt.“ Er grinste.
Der Trampelpfad endete direkt neben den Wachen am Obertor. Caspar sprach einen Gruß und ging mit Philippa durch das offen stehende Stadttor in Richtung Bleiche, zur Linken begrenzt durch eine Felswand, die steil aufwärts bis zum Köppelgarten reichte.
Sie war verunsichert. „Caspar! Sollten wir nicht umkehren?“ Wieder tauchte ein Blitz den Himmel in ein gleißendes Licht, gefolgt von Getöse. Vögel und Insekten hatten sich längst verflüchtigt.
Vor einer in den Felsen eingelassenen Tür blieb er stehen. Er schob den Riegel zurück. „Hier haben wir unseren Felsenkeller. Komm!“
Sie folgte ihm in den niedrigen Gang. Noch nie hatte sie einen Felsenkeller von innen gesehen. Nur wenige wohlhabende Bürger besaßen diese neumodische Art von Kühlung. An den Seiten stapelten sich Kisten mit Gemüse. Er blieb stehen, griff nach einer mit Äpfeln befüllten Holzkiste und leerte sie vorsichtig. „Hier, inmitten unserer Vorräte, sind wir vor dem Gewitter in Sicherheit. Setz dich.“
Sie löste die Bänder und zog ihre durchnässte Haube ab. Während sie auf dem umgestülpten leeren Kasten hockten, sah Philippa nach draußen, wo der Regen auf den Wiesen hüpfte, die sich bis zur Dill ausbreiteten. Er hatte ebenfalls seinen Dreispitz abgenommen, von dem die Nässe perlte, und legte sanft den Arm um sie.
Er zog sie näher. „Wirst du deinen Eltern schreiben, dass wir uns verlobt haben?“
„Wenn dein Vater zugestimmt hat. Die Enttäuschung wäre sonst zu groß.“
„Du vertraust mir nicht“, murrte er leise und küsste sie sanft hinters Ohr. „Ich bin voller Zuversicht.“
Es kitzelte und sie spürte, wie eine berauschende Woge der Liebe über ihr zusammenbrach. Seine Hand glitt über ihr nasses Haar, versuchte vergeblich, ihren Zopf zu lockern, und sie schloss die Augen, als er sie küsste. Erst nach einer kleinen Ewigkeit lösten sie sich wieder voneinander.
„Deine Träume sollen sich erfüllen.“
„So?“, neckte Philippa ihn. „Als Kind wollte ich immer Kerzenzieherin werden. Meinst du, dieser Traum erfüllt sich auch noch? Es hat mich fasziniert, wenn wir auf dem Krammarkt ein paar Kerzen kauften. Leider waren wir nur selten dort. Das Geld war immer knapp.“
„Einen Handwerksberuf wolltest du erlernen? Wie gut, dass daraus nichts geworden ist“, lachte er. „Sonst ständest du jetzt am Marktstand auf dem Westerwald und ich wäre dir nicht begegnet. Wünschtest du dir denn keine Familie?“
„Doch. Viele lärmende Kinder und einen fürsorglichen Ehemann, wie mein Vater es ist. Im Dorf gehört er zu den wenigen Männern, die es ernst meinen mit dem Bibelwort, wo es heißt, dass die Männer ihre Ehefrauen lieben sollen.
„Das ist eine wichtige Ansage an uns Männer.“ Sein Tonfall war ernst geworden. „Ich will alles tun, es zu beherzigen.“
„Und es ist keine Erfindung der Frauen, wohlgemerkt“, sagte Philippa und grinste. Dann legte sie den Kopf schief und sah ihn an. „Aber wie kann das gelingen, wenn einer Heirat womöglich wirtschaftliche Gründe zugrunde liegen?“
„Ich glaube, man muss es wollen. Liebe ist auch eine Entscheidung, es sind nicht nur Gefühle.“ Er küsste sie erneut. „Obwohl Gefühle etwas Berauschendes haben und ich alles dafür tun möchte, dass unsere für die Ewigkeit sind“, raunte er. „Gott will, dass wir einander wie Betrunkene lieben und ernsthaft die Ehe leben wie eine göttliche Wahrheit.“
Seine Worte rührten sie zu Tränen. Sie löste sich von ihm und schniefte. Dann sah sie ihm in die Augen, die trotz des Halbdunkels wissend glänzten. „Caspar!“
Er drückte sie bewegt an seine durchfeuchtete Brokatjacke. „Ich will dich immer lieben.“
Eine Weile blieben sie still umschlungen sitzen. Dann aber durchfuhr sie ein Schreck. Wie spät war es? Sie hatte alles um sie herum vergessen!
Ihr Blick zum Eingang zeigte, dass es aufgehört hatte zu regnen und auch nicht mehr donnerte. Sie war völlig durchnässt und merkte erst jetzt, wie kalt ihr geworden war. Rasch löste sie sich aus Caspars Umarmung und sprang auf. „Ich muss heim!“
Schnell füllten sie die Äpfel wieder in die Holzkiste und stellten sie zu den anderen Vorräten, bevor sie den Heimweg antraten. Das Obertor stand zum Glück noch offen. Bis auf die Wachen schienen alle Leute daheim zu sein. Nahe der Erbsengasse trennten sie sich mit einem letzten verstohlenen Händedruck.
Gerade als Philippa den Kirchberg hochlaufen wollte, kam eine junge Frau um die Hausecke. Sie wirkte genauso erschrocken wie sie selbst. Es war ihre Freundin Betradis, die bei Kanzleidirektor Dilthey in Diensten stand. Manchmal trafen sie sich bei Besorgungen oder saßen in der Kirche nebeneinander. Irgendwann hatten sie sich befreundet, obwohl sie sich nicht oft verabreden konnten. Jetzt sahen sie einander verwundert an – verwundert deshalb, weil sie beide nass bis auf die Haut und alleine unterwegs waren. Und eine unausgesprochene Frage über ihnen hing …
Betradis öffnete den Mund. „Du? Was …?“ Sie stockte und biss sich auf die Unterlippe. Ihre Augen glänzten, als habe ihr jemand die Sterne vom Himmel geholt.
Philippa begann zu kichern und legte den Zeigefinger auf den Mund. „Psst.“
Sie prusteten los, als wollte noch keine von ihnen ihr Geheimnis lüften, mit wem sie sich getroffen hatten.
„Caspar?“, flüsterte Betradis dann, worauf Philippa nickte.
Sie erinnerte sich, wie sie vor einiger Zeit Betradis in einem vertrauten Gespräch mit einem jungen Mann gesehen hatte „Und du? Heißt er vielleicht Tobias?“
Betradis blickte sie bedeutungsvoll an und lachte.
„Wir sehen uns bald“, versprach Philippa und tätschelte den Arm von Betradis, bevor sie den Rock raffte, um nach Hause zu eilen.
Caspar hatte offengelassen, wann sie sich wiedersehen würden, vielleicht auch, weil er an seinen Vater gedacht hatte. Wie würde er den Antrag aufnehmen? Würde er um jeden Preis eine Beziehung verhindern? Ratsherr Vogt hatte viele Freunde innerhalb des Stadtrates und würde seine Kontakte nutzen, sie beide auseinanderzubringen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Liebende durch familiären Druck ihre Verbindung und den Wunsch nach einer gemeinsamen Zukunft aufgeben mussten.
In der folgenden Nacht wälzte sich Philippa ruhelos im Bett hin und her. Ihre Fürbitte für Elsa und das tote Kind hatte sie als Erstes in ihr Nachtgebet eingeschlossen. Hoffentlich konnte Elsa ihre Unschuld beweisen, was bestimmt schwierig werden würde. Wer würde ihr glauben, dass es einfach aufgehört hatte zu atmen? Oder was wäre, wenn Elsa …? Hatte sie vielleicht in ihrer Verzweiflung etwas Unerhörtes getan? Nein, diesen Gedanken wollte und konnte sie nicht zu Ende denken. Elsa war doch keine Mörderin!
Philippa rief sich zur Vernunft und vertraute darauf, dass Gott ihrer Freundin beistehen würde. Schon ein paarmal war in einer Predigt von Oberpfarrer Neuendorff zu hören gewesen, man möge Gott seinen Kummer zuwerfen. Nicht anderen Menschen, sondern dem, der Himmel und Erde geschaffen hatte. Und gleichzeitig durfte man darauf vertrauen, dass er sich um einen kümmern würde. Hatte Gott nicht seine Güte in ihrem Elternhaus gezeigt? Alma würde sich erholen und ihre Familie hatte mithilfe von Caspar fürs Erste genug Geld, um nicht hungern zu müssen.
Gestärkt und mutig kreiste jetzt ihr ganzes Denken um Caspar. Er war so gutaussehend mit seinem schmalen Gesicht und der ausdrucksstarken Nase. Ebenso gefiel ihr die Art, wie er mit ihr sprach und sich um andere Menschen sorgte. Er benahm sich nicht aufschneidend, wie viele Burschen es taten, um ein Mädchen zu beeindrucken. Stattdessen zeigte er immer wieder einen eher fürsorglichen, besonnenen Charakter, der sie sehr anzog. Fürs Erste würde sie weder ihrer Familie oder den Hohensteins von seinen Absichten erzählen – bis er mit seinem Vater gesprochen hatte!
Nächste Woche war Pfingsten – vielleicht gelang es ihr zwischen den Vorbereitungen, sich mit ihm zu treffen. Wahrscheinlich wusste er selbst noch nicht, wie er seinen Vater überzeugen konnte, einer Heirat zuzustimmen.
Das erste Licht des neuen Tages erhellte noch nicht das Haus, da stand Hiltgunt bereits in der Küchentür, die Hände in die Hüften gestemmt und mit hochrotem Gesicht, als habe sie schon den ganzen Tag am Herd gestanden. Sofort beschlich Philippa ein ungutes Gefühl. Bevor der Ausbruch in Form einer Schimpftirade über sie hereinbrach, dämmerte es ihr. Das Herdfeuer! Wie hatte sie das nur vergessen können. Ruckartig setzte sie sich auf, der Schreck ließ sie augenblicklich wach sein.
„Du hast das Feuer ausgehen lassen! Philippa! Was ist denn nur los mit dir?“ Hiltgunt trat näher und ließ ihrem Ärger freien Lauf. Ihre Augen glichen glühenden Kohlen. „Und warum ist der Sauerteig nicht schon angesetzt? Zum Donnerwetter, sollen wir denn verhungern?“
Wenn es nötig war, konnte Hiltgunt in Gestalt einer strengen Haushälterin auftreten. Im Grunde ihres Herzens war sie den Mägden und Knechten wohlwollend verbunden, aber Faulheit oder Nachlässigkeit duldete sie nicht.
„Es tut mir leid“, stieß Philippa erschrocken hervor. „Ich … ich weiß auch nicht. Ich habe wohl verschlafen.“ Tränen schossen ihr in die Augen. In ihrer Verliebtheit und Sorge hatte sie an nichts anderes mehr denken können.
Die Wirklichkeit war in ihrem Denken wie ausradiert gewesen. Als sie nach Hause gekommen war, war der Tisch bereits abgeräumt gewesen und die Kinder lagen im Bett. Der aufregende Abend hatte ihr Hungergefühl vertrieben und sie war schon bald auf ihren Strohsack gekrochen. Nicht lange danach hatte sie den Nachtwächter auf der Straße sein Lied singen gehört. Er kontrollierte jeden Abend, ob in den Häusern das Licht gelöscht war und kein lichtscheues Gesindel herumlief.
Es war ihr schon lange nicht mehr passiert, dass sie vergessen hatte, noch nach dem Feuer zu schauen. Jetzt war es zu spät.
Bis der Herd wieder richtig aufgeheizt war, würde es dauern. Die geplante Hühnersuppe wäre bis zum Mittag sicher nicht fertig. Ganz abgesehen vom Brotteig, der vorbereitet werden musste. Jedes Haus hatte seinen festen Tag, wann es im Backes seine Brote für die nächsten zwei Wochen backen konnte. Nicht auszudenken, wenn man seinen Tag verpasste!
„Verschlafen? Dann warst du wohl schon gestern Abend nachlässig, was?! Wie soll ich das den Herrschaften erklären?“ Die Stimme Hiltgunts war schneidend. Sie verstärkte Philippas Schrecken bis zur Furcht. Hoffentlich wurde sie nicht entlassen!
„Ich dachte, du wärst besser als die anderen Mägde. Von wegen.“ Sie hob drohend den Zeigefinger. Er verschwamm vor Philippas Augen. Es war einfach zu viel gewesen in den letzten Tagen: die Angst um Alma, die Verwirrung um ihre Freundin Elsa, dem Kindstod und die Feindseligkeit des Ratsherrn Vogt. Sie schluchzte laut auf, während Hiltgunt weiter auf sie einredete.
Hiltgunt ließ sie weinen und nachdem sie sich wieder etwas gefasst hatte, klang die Stimme der Haushälterin schon etwas friedlicher. „Nun heul nicht so, Kind. Wüsste ich nicht, dass du sonst verlässlich bist, könntest du dein Bündel schnüren. Also, beeile dich. Wird schon.“
Philippa brach vor lauter Dankgefühl wieder in Schluchzen aus und konnte kaum aufhören. Jegliche Romantik vom Vortag war verflogen. Unaufhörlich fuhr sie sich mit dem Ärmel über die triefende Nase.
Hiltgunt betrachtete Philippas aufgequollenes Gesicht und ihre Stimme klang nun gnädig. „Grete kann das Huhn schon mal rupfen. Und Enners das Holz holen. Du kümmerst dich ums Gemüse. Dann werden wir es hoffentlich noch schaffen.“ Damit drehte sie sich auf dem Absatz herum und verließ die Küche.