Herborn
Die Gelegenheit ist günstig, dachte Hedwig, als sie sich auf den Weg zum Markt machte. Es würde gar nicht auffallen, wenn sie einen kleinen Abstecher zur alten Irma Westerhof unternahm.
Als kundige Kräuterfrau und weises Weib war diese bei den Herborner Bürgern gleichermaßen bekannt wie verrufen. Viel wusste man nicht über ihre Herkunft und das war seit jeher verdächtig gewesen. Es hieß, sie sei eines Tages in der Stadt aufgekreuzt und habe seitdem ihr Wissen lohnend unter die Bevölkerung gebracht. Außerdem, so erzählte man sich, stamme sie aus dem Westfälischen, doch niemand wusste woher genau. Die Westerhofsche, wie man sie überall nannte, besaß zwei Zimmer im Haus neben der Schänke ganz in der Nähe des Marktes. Auf dem Gelände hinterm Haus durfte sie ihren Kräutergarten anbauen. Was sie dort nicht hatte, fand sie in den Wiesen und Wäldern, die sie durchstreifte.
Manchmal, wenn ihr meist schlecht gelaunter Vermieter noch miesere Laune bekam, weil ihm ein Ungeziefer über die geplagte Leber lief, bellte er nach Irma, die mit Tee oder einer Mixtur seine niedergeschlagene Seele wiederbelebte.
Zum Glück war die Zeit der Hexenprozesse vorbei, sonst hätten einige Neider alles darangesetzt, ihre mitunter haarsträubenden Mischungen als teuflisch zu bezeichnen, wenn der Patient innerhalb zwei Wochen unter starkem Schwitzen und reinlichem Getue vollständig genas. So viel hatte Hedwig noch aus den vergangenen Zeiten mitbekommen.
Hedwig hatte heute ein wichtiges Anliegen: Als Dienstmagd des Zunftmeisters der Uhrmacher, Christian Baldus, sorgte sie sich um Elsa Petry, die bis vor Kurzem mit ihr im Hause der Baldus’ gearbeitet hatte. Ob die Westerhofsche vielleicht wusste, was mit Elsa passiert war?
Kurze Zeit später schlenderte Hedwig über den Marktplatz, bestaunte geschnitzte Holzlöffel, Messer, die nach den Versprechungen des Händlers nirgends auf der Welt schärfer schnitten, und zwinkerte einem Knecht zu, der um den Preis für einen großen Kochtopf feilschte. Als Dienstmagd war sie mit den riesigen Gefäßen vertraut, die seit geraumer Zeit bereits auf dem Herd der angesehenen Herborner Familie standen. Die Baldus’ waren stadtbekannt und sie genoss es, ein Teil dieser respektierten Familie zu sein. Ihr war durchaus bewusst, dass sie der Familie lediglich dienen durfte. Trotzdem sonnte sich Hedwig im Glanz der Baldus’, deren Ruf ihnen vorauseilte, etwas Besonderes zu sein.
Zu gern hätte sie sich noch die Vorführung mit einem Affen angesehen, der heute auf dem Markt ein paar Kunststückchen zeigte. Ein merkwürdiges Tier, aber trotzdem faszinierend. Manche Leute waren sogar der Meinung, die Kreatur ähnelte Menschen. Sie schmunzelte über einen derartigen Vergleich, den man am besten für sich behielt. Wer wusste schon, wie die Obrigkeit bei einer solchen laut geäußerten Denke durchgriff.
Die junge Magd rief sich zur Ordnung, wenn sie nicht riskieren wollte, dass sie ihre wertvolle Zeit vertrödelte und von der Herrin einen tüchtigen Rüffel bekam. Sie durfte nicht arbeitslos werden. Leider war sie schon zweimal krank geworden und um ein Haar hätte die Herrin sie entlassen. Das wäre eine Katastrophe gewesen! Als Tochter eines Kleinbauern wurde von ihr erwartet, dass ihr Lohn – so gering er auch war – daheim half, damit es in ihrer Familie hin und wieder mehr als nur Graupensuppe zu essen gab.
Einem guten Umstand hatte Hedwig es zu verdanken, dass sie damals zu der Westerhofschen hatte gehen und sich eine Kräutermischung hatte holen dürfen. Die krampfartigen Schmerzen im Leib und das Fieber hatten daraufhin nachgelassen.
Kränkliche Dienstboten blieben nicht lange bei der Familie und wenn nicht eine Freundin der Baldusin eine Missbilligung geäußert hätte, dass es unmenschlich sei, sie nur deshalb zu entlassen, wäre sie mitleidlos davongejagt worden.
Hedwig stand nun in einer Seitengasse des Kornmarktes vor der unauffälligen Haustür der Kräuterfrau. Sie prüfte, ob ihre Haube ordentlich saß und ihre blonden Haare noch sorgsam gebunden waren. In ihrer Familie war sie das einzige Kind mit heller Haarfarbe, und wenn sie nicht wie alle Geschwister die großen Zähne des Vaters geerbt hätte, hätten die Leute im Dorf ihrer Mutter wer weiß was unterstellt.
Hier in der schmalen Gasse schmiegte sich Fachwerk an Fachwerk in schmalen Häusern, die wie überall in der Gegend entsprechend dem Wuchs der Bäume mehr oder minder gerade errichtet waren. Der Lehm in den Zwischenräumen sorgte im Sommer für mäßige Temperaturen, wenngleich im Winter wegen fehlendem Holz zum Befeuern des Ofens die Häuser kühl und klamm blieben. Holz klauen kam nicht gut an und wurde streng bestraft.
Sie klopfte an die Tür, aber alles blieb still. Während sie wartete, blickte sie zum wolkenverhangenen Himmel. Wie gut, dass der Nieselregen vom Morgen aufgehört hatte. Dem Gemüsegarten tat er gut, nicht jedoch den Saumrändern der Kleider, die gern im Morast fleckig und unansehnlich wurden. Es war schwierig, die Sprenkeln und Dreckränder auszuwaschen. Oft blieben Reste davon zurück, was mit Schelte der Gesindemeisterin endete, bis Hedwig oder die anderen Mägde die Stoffe wieder tadellos gesäubert hatten.
Hedwig wartete geduldig, bis endlich die Tür aufging. Eine gebeugte Gestalt erschien auf der Schwelle, die genau zu der Vorstellung mancher Leute passte, wie eine Kräuterkundige auszusehen hatte. Zwar hatte sie schon allerhand Geschichten über Irma Westerhof gehört, doch ob das alles stimmte, konnte sie nicht einschätzen.
„Gott zum Gruße“, sagte Hedwig mit einem aufgeregten Zittern in der Stimme und deutete einen Knicks an. Sie räusperte sich und drückte den Rücken durch. „Entschuldigen Sie meine Wissbegier. Darf ich Sie etwas fragen?“, begann sie zaghaft und betrachtete den zwar sauberen, aber zerschlissenen Rock der Kräuterfrau, der zum Teil von einer hellen Leinenbluse verdeckt wurde. Sie trug ihre dünnen, grauen Haare zu Zöpfen geflochten, die zu einem erbärmlichen Kranz festgesteckt waren. Jetzt lächelte sie Hedwig an und griff nach ihrer Hand.
„Komm erst mal rein, Mädchen“, sagte sie und zog Hedwig ins Haus, ohne ihre Antwort abzuwarten. Die festgetrampelte Erde unter den Füßen wirkte kalt und ungemütlich. Die Freundlichkeit der Kräuterfrau war dagegen beruhigend und dankbar ließ Hedwig es geschehen. Es gab keinen Flur, deshalb stand sie nun direkt in einem kleinen Zimmer. Die Häuser der mittellosen Bevölkerung waren auf das Notwendigste begrenzt. Hedwig sah sich um – es sah aus wie beim letzten Mal. An der einen Wand war die Kochstelle mit zerbeulten Töpfen und alten Holzkellen und gegenüber gab es hinter einem kleinen Tisch mit zwei Holzstühlen eine Bettnische.
Kalter Rauch hing unter der Decke und vermischte sich mit frostklarem Geschmorten. Neben der Schlafstelle gab es eine Tür. Ob sich dahinter die Kammer mit den Kräutern und Tiegeln befand, in der die Westerhofsche ihre Salben und Tinkturen braute?
Irma deutete auf die Stühle und ließ sich nieder. Hedwig kauerte sich auf die Stuhlkante.
„Dich kenne ich doch“, meinte die Kräuterfrau und sah sie durchdringend an. „Du warst schon mal hier, bist du nicht bei Zunftmeister Baldus in Diensten?“
„Ja.“ Zweifel stiegen in ihr auf, ob die Idee, hier vorzusprechen, wirklich so gut war.
„Hast du wieder Beschwerden?“
Hedwig schüttelte den Kopf. Bevor sie eine Erklärung abgeben konnte, fragte die Westerhofsche: „Ist was mit deiner Herrin?“
Sie nickte und war insgeheim erstaunt, was die Alte sich gemerkt hatte. „Deshalb komme ich aber nicht.“
Sie holte tief Luft und nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Es ist wegen Elsa Petry, die mit mir bei der Familie in Diensten steht …“ Sie stockte. War es vermessen, sie auszufragen? Würde sie sie für verrückt erklären, welche Gedanken sie sich machte? Sie starrte an dem erstaunten Gesicht der Frau vorbei auf den Herd, der keine Esse besaß. Kein Wunder, dass die Luft zum Schneiden war. Das einzige, kleine Fenster befand sich seitlich der Haustür und schien überfordert, die Kochdünste und erst recht den Rauch des Kochfeuers zu vertreiben.
Die Kräuterfrau schwieg eine ganze Weile, bevor sie sich nach vorn beugte. Dann bohrten sich ihre Augen in Hedwigs. „Ist sie deine Freundin?“
„Ja, genau“, entgegnete Hedwig und sprang vor Aufregung auf. „Ich mache mir ernsthaft Sorgen um sie.“
„Ist sie krank?“ Der Tonfall der Kräuterfrau wirkte feinfühlig. Sie blickte Hedwig aufmerksam an.
Hedwigs Herz klopfte wild. Sie wog den Kopf hin und her und knetete die Hände. „Nicht direkt. Sie, sie …“ Sie brach ab und fand keinen wirklichen Begriff dafür, dass sich Elsa in einem Ausnahmezustand befand.
„Ich glaube, ich weiß, was du sagen möchtest“, meinte die Kräuterfrau, wischte einen unsichtbaren Krümel vom Tisch und sah ernst drein. Ihre Stimme wurde so leise, dass selbst Hedwig Mühe hatte, sie zu verstehen. „Sie ist in anderen Umständen, oder?“
„Woher wissen Sie das?“ Das Gerücht über Elsas Zustand hatte sie offensichtlich erreicht. Hedwig nickte heftig und schluckte. „Aber ohne Ehemann“, stieß sie hervor, „und ich weiß noch nicht mal, ob sie schon entbunden hat.“
„Wer ist der Kindsvater?“ Die alte Frau sagte es ohne Vorwurf.
Hedwig dachte an einige geheime Treffen mit einem schneidigen jungen Verehrer, wie Elsa mal angedeutet hatte. Hedwig hatte Elsa gewarnt – sowohl vor dem jungen Mann als auch vor dem Hausherrn. Letzteres hatte seinen Grund in einem Streit, den sie vor Monaten im Haus der Baldus mitbekommen hatte. Im zweiten Stock lagen die Schlafgemächer der Familie.
Jeden Abend, bevor sie unter die Strohdecke kroch, lauschte sie ins Treppenhaus, ob die Kinder ruhig in ihren Betten schliefen. Es war nicht ungewöhnlich, zu mitternächtlicher Stunde von der Herrin gerufen zu werden, um einen weinenden Säugling oder ein quengelndes Kleinkind in den Schlaf zu singen. Dabei war sie nur eine Dienstmagd! Insgeheim hoffte sie wie viele andere Mägde eines Tages auf eine Stellung als Kindermädchen. Vielleicht würde sie sich dann nicht ständig erschöpft fühlen.
An jenem Abend, erinnerte sich Hedwig, quollen laute Stimmen hinter der schweren Eichentür hervor. In letzter Zeit gab es öfters Dispute unter den Eheleuten, aber nie so laut wie heute, dass selbst die dicke Holztür jedes Wort durchließ. Sie hörte irgendwo im Haus weitere Türen knarren und mutmaßte, dass da wohl noch mehr Lauscher am Werk waren. Die Stimme ihrer Herrin hatte jetzt den Klang einer quietschenden Ölmühle angenommen. „Reicht es nicht, dass ich jetzt das siebte Balg kriege? Hör auf! Lass die Finger von mir!“
Dann folgte Unverständliches und Gerumpel, das Hedwig veranlasste, auf der Treppe innezuhalten und ihren Kopf leicht in die Richtung der Baldusschen Schlafkammer zu drehen. Irgendetwas schleifte, dann wurden die Stimmen wieder lauter. Sie trat von Neugier geplagt noch einen Schritt näher zur Tür, und vergaß sogar das Atmen. Der Zunftmeister war ein lebenslustiger Mann und dem weiblichen Geschlecht nicht abgeneigt. Das war bekannt und das Getuschel über sein Benimm veranlasste die halbe Stadt, hinter vorgehaltener Hand Mutmaßungen und Unaussprechliches weiterzugeben. Doch so laut wie heute hatten sich die beiden lange nicht mehr gestritten. Offenbar hatte die Baldusin genug von Bälgern und ehelichen Pflichten.
„Dann geh doch! Hast dir doch bestimmt schon wieder eine ausgeguckt. Kenn dich doch! Aber …“ Was dann an Drohungen folgte, verschwand inmitten der Gedanken, die Hedwig beschlichen. Ihr Mund fühlte sich vertrocknet an. Sie wagte weder zu schlucken noch zu atmen.
Hatte sie das richtig verstanden? Die Herrin ließ ihrem Mann freie Wahl? Nur um sich ihrer ehelichen Pflichten zu entledigen? Warum eigentlich? Sie war doch schwanger und Hedwig hatte noch nie gehört, dass man dann nochmals … nein, das war absurd.
Aber wenn der Zunftmeister tatsächlich der Aufforderung seiner Frau folgen würde, wen würde es treffen? Sie selbst? Die lustige Trine? Oder die stille Mechthild? Oder Elsa, das arme Ding? Sie sah sowieso schon auffällig anders aus. Jemand hatte mal die Bemerkung gemacht, sie habe etwas von einer „rassigen Sizilianerin“. Aber was war rassig? Und wie sahen Sizilianerinnen aus? Hatten sie alle solche pechschwarzen Haare, die herunterwallten, als wollten sie einen diabolischen Ausdruck des Schleiers beschwören?
„Hedwig!“ Die Stimme der Westerhofschen holte sie jäh aus ihren Gedanken. „Mit wem war Elsa zusammen?“
Hedwig hob zaghaft die Schultern.
Die Frage blieb unbeantwortet im Raum hängen wie der fahle Rauch des Herdfeuers. Sie überlegte. „Ist es das, was dir Sorgen macht?“
Hedwig nickte und bekam Herzklopfen. „Die Herrin hat Elsa aus dem Haus gejagt!“ Ängstlich holte sie Luft und erklärte: „Gerade jetzt, wo das Kind kommt. Seitdem ist sie weg und wie vom Erdboden verschwunden.“ Sie hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.
Die Westerhofsche strich sich über ihren Rock und runzelte die Stirn. „Und du glaubst, ich weiß was?“
Ein Glitzern in den alten Augen verriet Hedwig, dass sie mehr wusste, als sie vorgab. „Wen könnte sie denn sonst um Hilfe oder Mixturen bitten?“, schluchzte Hedwig jetzt.
Jede Frau wusste, dass eine Geburt schmerzhaft war. Wie oft hatte sie die Herrin schreien hören. Was an der Geburt so wehtat, wusste sie nicht. Es war jedes Mal ein Mysterium, wenn ein Kind zur Welt kam. Wenn alles vorbei war, musste Hedwig Berge von blutdurchtränkten Laken in kaltem Wasser einweichen, bevor sie überhaupt mit dem Waschbrett und Gallseife hantieren konnte.
„Kennst du das Lied Es ist ein Ros’ entsprungen? Damit ist die Christrose gemeint. Ich kann dir etwas von ihrer Wurzel mitgeben. Ich nutze sie als Arznei, denn sie kann die Geburt beschleunigen. Aber nur so einnehmen, wie ich es dir sage, hörst du? Sonst kann das böse enden.“
„Nein, deswegen bin ich nicht hier.“
„Nicht?“ Die Kräuterfrau neigte den Kopf und sah sie von unten an.
Natürlich konnte Hedwig das Weihnachtslied sogar auswendig singen, aber ihr kamen Bedenken, ob die Frau verstanden hatte, warum sie tatsächlich hier vorsprach. „Ich suche Elsa.“
Als die alte Frau schwieg, glitt Hedwig sich mit dem Ärmel über die Augen, zog die Nase hoch und fuhr fort: „Ich weiß nicht, wo sie hingegangen sein könnte. Ihre Schwester Kunn, die in einer anderen Familie hier in der Stadt dient, hat auch keine Ahnung. Wahrscheinlich glaubt sie sogar, dass Elsa wegen der guten Küche der Herrin rundlich geworden ist.“ Sie sah in das betroffene Gesicht der Kräuterfrau. „Heim zu ihrer Familie ist sie bestimmt nicht. Der alte Petry hätte sie mit Prügel und Geschrei gleich wieder fortgejagt.“
Hedwig seufzte tief und spürte, wie die Müdigkeit sie übermannen wollte, obwohl es noch nicht mal Mittag war. Warum musste ein Arbeitstag sechzehn, nein, manchmal sogar achtzehn Stunden haben? Das Leben war so ungerecht! Tag für Tag stieg sie nach getaner Arbeit mit bleiernen Beinen die Stiege hinauf in ihre Dachkammer. Obwohl – „Kammer“ war eigentlich zu schwülstig formuliert. Eher war es ein Platz, wo sie nicht weit vom eingelagerten Heu ihr Ruhelager fand. Daheim hätte sie zumindest mit den Schwestern ein Bett teilen können. Von sechs Geschwistern waren zwei bereits verheiratet, die älteste Schwester und ein Bruder. Der andere würde eines Tages in Vaters Fußstapfen treten. Doch für die verbleibenden Töchter war es unmöglich, die benötigte Aussteuer für eine Ehe herbeizuschaffen.
„Ein Maul weniger zu stopfen“, war die Antwort ihres Vaters auf ihre Tränen gewesen, als die Anstellung als Dienstmagd sie von zu Hause wegbrachte. Widerworte wagte sie erst gar nicht zu geben. Es hätte nur seinen Jähzorn herausgefordert. Die Tatsache, dass sie sich hier zumindest satt essen konnte, entschädigte sie für ihr Heimweh. Elsa erging es nicht anders. Sie war sogar froh gewesen, dem Elternhaus zu entkommen, aber was dann geschehen war, übertraf alles …
Die Westerhofsche ergriff Hedwigs Hand und hielt sie fest, als könne sie sie damit trösten. „So machen sie das, die feinen Leute. Lassen die Mägde schuften bis zur Geburt und unmittelbar davor vertreiben sie sie aus dem Haus.“ Sie stand auf, gab ein Kraut in einen Tonbecher und goss aus einem Kessel heißes Wasser ein. „Trink“, sie reichte Hedwig den Becher, „das wird dich beruhigen.“
Es roch nach Baldrian. Hedwig nippte an dem heißen Getränk. „Bitte, sagen Sie mir, ob Sie wissen, wohin sie geflohen ist.“
Die Kräuterfrau setzte sich bleiern auf einen Stuhl und schüttelte den Kopf. „Leider weiß ich nichts. Ich fürchte nur, ihre glücklichsten Tage sind vorbei.“
Hedwigs Mut sank und ihre Seele blieb beschwert. Wenn sie Elsa doch nur helfen könnte!
Eine Stunde später war die düstere Wolkendecke wieder aufgerissen und Stücke von klarem Blau machten Hoffnung, dass es sogar noch sonnig werden könnte. Ob das ein gutes Zeichen war? Hedwig eilte zurück über den dicht gedrängten Marktplatz und hätte fast einen alten Mann umgerannt. Sie murmelte eine Entschuldigung und versuchte sein Gezeter, das er ihr wütend hinterherrief, zu ignorieren. Im Haus der Westerhofschen hatte sie Zeit und Auftrag vergessen. Wie gut, dass sie ihre Besorgungen noch vor dem Besuch erledigt hatte.
Hedwig hastete an Hausfrauen vorbei, die lachend beieinanderstanden, begegnete Ratsherren, die Richtung Rathaus stolzierten, und scheuchte im Weg stehende Hühner weg. Ein paar Kinder versuchten auf den Brunnenrand zu klettern, aber ein Mann hinderte sie mit einer Drohgebärde und Ermahnungen daran. Als Hedwig um die Ecke bog, konnte sie das stattliche Baldussche Haus bereits sehen. Ein paar Leute standen mitten auf der Straße zusammen und versperrten ihr den Weg.
Ein junger Mann aus der Gruppe drehte den Kopf und musterte sie. Es war der Gehilfe eines Häfners, der Gefäße und Öfen aus Ton anfertigte. Es wunderte sie, dass er hier auf der Straße herumstand. Als er sie erkannte, kam er auf sie zu.
„Gott zum Gruße, Hedwig“, sagte er mit solch durchdringendem Blick, dass Hedwig errötete. Warum war er nicht in der Werkstatt? Das Mittagsläuten hatte doch noch gar nicht eingesetzt. Sein Meister würde alles andere als erfreut sein und ihm ein paar kräftige Ohrfeigen verpassen.
„Was ist? Wieso arbeitest du nicht?“ Sie machte Anstalten weiterzugehen. „Hat man dich entlassen?“
Er sah sie mit großen Augen an und zögerte sichtlich. Wollte er ihr jetzt den Hof machen? Sie hatte schon öfter bemerkt, dass er ihr nachstarrte. Er stammte aus einer verfallenen Hütte am Stadtrand und man hatte seine Schwestern schon öfters beim Betteln erwischt. Das wunderte niemanden, weil die Geschwister und er seit Jahren Vollwaisen waren.
Nervös zurrte sie an ihrer Haube, ob sie noch gesittet ihr Haar bedeckte. Irgendetwas an seinem Verhalten hielt sie zurück, sich an ihm vorbeizudrücken.
„Hast du schon gehört?“ Sein Kopf kam ganz nah.
„Was denn?“
Er schien ihre Frage auszukosten und verstummte. Dann zog er die Brauen empor und nahm einen tiefen Atemzug. „Vor den Stadttoren hat man ein Weibsbild aufgegriffen.“ In seinem Blick lag ein Lauern. Ein Muskel zuckte um seinen Mund. „Müsstest du doch wohl am ehesten wissen, oder? Eine der Baldusschen Mägde.“
Hedwig ahnte Schlimmes. Sie zögerte nachzufragen und schlug die Augen nieder. Jemand rief eine anstößige Bemerkung zu ihnen herüber. Sie musste aus der Gruppe kommen, bei der der Gehilfe gestanden hatte. Beunruhigt fixierte sie seine Beine. Es wunderte sie nicht, dass sie wie zwei Ästchen in zerschlissenen Strümpfen in ebenso kaputten Schuhen steckten. Er durfte sich wahrscheinlich nie satt essen.
„Die Elsa wurde verhaftet.“
Ihr Kopf fuhr hoch und ihre Augen blieben auf seinem aschblonden Wuschelkopf liegen. Sie erblasste. „Du meinst doch nicht Elsa Petry?“ Selbst wenn man schwanger war und unverheiratet, war das kein Grund, eingekerkert zu werden.
„Genau die! Ich hab’s gesehen. Die Gerichtsknechte haben sie weggeschafft. Am helllichten Tag!“ Eine Spur von Triumph schwang in seiner Stimme mit. Er nahm seine Kappe ab und drehte sie in den Händen.
Hedwig stöhnte auf. Sie fürchtete, ihr Herz bliebe stehen. „Was … was wirft man ihr vor?“, murmelte sie und sah ihn eindringlich an. „Sag es. Sie kann nichts Unrechtes getan haben!“
„Da bin ich mir nicht sicher.“ Er zog einen Mundwinkel verächtlich nach oben. „Ohne Grund sind die Gerichtsknechte ja nicht gekommen, oder?“
Wie konnte er es wagen, etwas gutzuheißen, wovon er keine Ahnung hatte! „Aber sie steht kurz vor der Entbindung!“, brachte sie kläglich vor.
Er zog die Augenbrauen zusammen und sie bemerkte ein ungläubiges Staunen in seinem Gesicht.
Warum schwieg er? Verzweiflung stieg in ihr auf. Kurzerhand rüttelte sie ihn an den Schultern. „Sag, hatte sie einen Säugling dabei?“, schrie sie verzweifelt. Schon bei der Frage legte sich ein eisiger Ring um ihr Herz. Normalerweise war sie keine angsterfüllte junge Frau und eher geradlinig veranlagt. Doch was sie gerade gehört hatte, trieb ihr die Tränen in die Augen. Im Stillen schickte sie ein Bittgebet zu Gott. Er hatte doch immer Erbarmen mit den Leidenden und Geknechteten gehabt. Bitte, göttlicher Vater, bewahre sie vor Bösem und hilf ihr in ihrer Not!
Der Gehilfe griff nach ihren Händen, hielt sie fest und blies die Backen auf. Zischend kam Luft durch die leicht geöffneten Lippen. Er trat ganz nah an sie heran, dass sie seinen schlechten Atem roch.
Hedwig bog angewidert den Kopf zurück. „Was erlaubst du dir? Nur weil ich mit dir rede, ist das kein Grund, zudringlich zu werden.“ Entsetzt schüttelte sie die Hände ab und stolperte zurück.
Er machte einen Schritt vorwärts. „Die Frau des Büchsenmachers hat erzählt, die Elsa sei niedergekommen.“ Sein Gesicht war jetzt wieder ganz nah. „Und weißt du was? Das Kind ist verschwunden.“
„Du lügst“, zischte sie und bog den Kopf zur Seite, „und deine dummen Scherze kannst du mit einer anderen treiben!“
„Man wird es aus ihr rauskitzeln, wo das Balg geblieben ist.“ Als Hedwig nichts erwiderte, setzte er umständlich die Kappe wieder auf, schien kurz zu überlegen und zog dann die Schultern hoch.
In ihrem Kopf begann es zu hämmern. Wie ein Blitz durchbrach sie die Erkenntnis: Er hatte nicht gelogen.
Sie schickte ein Bittgebet nach oben. „Herr, hilf!“