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„Philippa, beeile dich! Pack die bereitgelegte Wäsche ein. Und du, Marie, hilfst Hiltgunt mit dem Proviant. Vergiss die Getränke nicht. Grete muss ein paar wichtige Unterlagen verstauen und Enners soll dem gnädigen Herrn zur Hand gehen. Wir müssen gleich alle das Haus verlassen!“ Die Herrin stand mitten in der guten Stube, umringt von ihrer Dienerschaft, bleich und mit geröteten Augen. Die Ungewissheit hatte sich wie eine Maske auf ihr fein geschnittenes Gesicht gegossen.

Es wurde ernst. Sie konnten nicht mehr hierbleiben, ohne ihr Leben zu riskieren. Ob die Hohensteins ihr Haus oder etwas von dem, was sich darin befand, jemals wiedersehen würden, wusste niemand. Ihre verstorbene Großmutter, zu der Philippa ein enges Verhältnis gehabt und die viel erlebt hatte, war der Meinung gewesen, dass einem nichts weggenommen werden konnte, was man nicht vorher besessen habe. Irgendwie fand Philippa diesen Gedanken beruhigend.

Das Zimmer war von einem beklemmend hellen, rotgelben Licht erfüllt. Philippas Furcht war nicht kleiner geworden, aber sie durfte sich das bei den Kindern nicht anmerken lassen. Es würde sie nur noch mehr ängstigen. Sie legte den Arm um Marie, die mächtig zitterte. Melusine saß bei den Kleinen, die bis auf Severin nicht schlafen konnten.

Marie fing an zu schluchzen und krallte sich an den Schnüren von Philippas Weste fest. „Wird unser Haus auch gleich brennen?“

Philippa warf einen Hilfe suchenden Blick zur Hausherrin, die sich nervös über den Rock strich, doch sie schwieg.

„Ich … ich weiß es nicht.“ Philippa schluckte und entschied sich, ihre Befürchtung auszusprechen, weil Kinder sofort spürten, wenn man nicht die Wahrheit sagte. „Es kann sein, dass die Glut des Ascheregens unser Haus anzündet. Deshalb sollten wir uns vorsichtshalber in Sicherheit begeben. Aber wir können Gott bitten, dass er vorher Regen schickt und dem Haus nichts passiert.“

Sie faltete die Hände. „Sprecht mir laut nach: Herr, bitte gib uns Regen! Kannst du nicht jetzt einfach einen Wolkenbruch schicken, wie es manchmal geschieht, wenn wir ernten wollen? Wir bitten dich, lass das Feuer erlöschen und niemand in der Stadt zu Schaden kommen. Bewahre uns und dieses Haus. Amen.“ Die Kinder taten wie geheißen. Kaum war das Amen gesprochen, schreckte sie auf.

„Philippa“, hörte sie Sybilla von Hohenstein in schrillem Ton rufen, „vertrödel nicht die Zeit mit Beten. Und mach den Kindern keine Angst! Worauf wartest du? Hast du endlich alles beisammen? Die Zeit drängt!“

„Gewiss, Herrin.“ Wechselkleidung, Wolldecken, Schuhwerk für die Jüngsten, Jacken und allerhand Nützliches kramte Philippa zusammen, mahnte Melusine, den Kleinen was Warmes überzuziehen, und holte den Handkarren, in den sie das Gepäck schichtete und nach draußen brachte.

Die Herrin hatte sich einen Wollumhang übergeworfen, einen farblich abgestimmten Hut mit wagenradähnlicher Krempe, einer Schleife aus Spitze und Stoffblumendekoration aufgesetzt und stand nun ungeduldig in der Haustür, als erwarte sie die Karosse, um zu einem Morgenbesuch zu fahren.

„Beeilt euch!“, rief sie einschärfend und steckte den Kopf nach drinnen, während sie auf die Unruhe zeigte, die von den Straßen heraufdrang. „Habt ihr Mützen auf? Wir müssen los.“

Plötzlich erschien wie ein Trugbild neben ihr in der Tür Ulrich von Hohenstein, gestützt vom finster dreinblickenden, keuchenden Enners, und starrte mit glasigen Augen auf das Steinpflaster. Die Beine wollten ihm nicht gehorchen und beim Versuch, sich an der Tür abzustützen, griff er ins Leere. Dabei geriet er noch mehr ins Schwanken, sodass Enners fast mit ihm hingefallen wäre. Sein Versuch, etwas zu sagen, beschränkte sich auf ein abstruses Lallen. Philippas flaues Gefühl in der Magengegend verstärkte sich. Er war noch kein Stück nüchterner als vor einer halben Stunde, als Philippa ihn vor dem Rathaus gesehen hatte. Wie sollten sie denn so den Kirchberg runterkommen?

Die Herrin erfasste im Bruchteil einer Sekunde den Zustand ihres Gatten, schnappte nach Luft und unterdrückte einen Aufschrei. Verzweifelt schlug sie sich die Hände ins Gesicht. „Ulrich!“ Es klang mehr als gequält.

Der Magister drängte sich schwankend an seiner Frau vorbei. Augenblicklich verstummten alle. Jetzt waren die Schreie und der Lärm in den Straßen deutlich zu hören.

Der Magister hielt inne, als erwache er aus seiner Verwirrung, und glitt mit einer Hand an seiner weiß gepuderten Perücke entlang. Sie saß jetzt wieder tadellos, was bestimmt Enners’ Verdienst war. Er trug noch immer den golddurchwirkten Rock von vorhin mit der hängenden Schleife um den Hals. Der Diener nutzte den Moment, um ihm das Band zu richten und noch den Umhang überzuwerfen. Hohensteins Wangen waren eingefallen und in seinem Blick lag eine tiefe Trauer. Wahrscheinlich machten ihm zudem der fehlende Schlaf und die aufreibenden Stunden der Visitationen zu schaffen.

Eine plötzliche Windböe trieb den beißenden Rauch an den Schlossberg und damit zu ihnen, sodass plötzlich alle husten mussten. Hohensteins Augen weiteten sich beim Anblick des Schrecklichen vor ihm. „Allmächtiger Gott!“, stöhnte er und rieb sich die Stirn. „Das si … sieht ja schl … schlimmer aus als im Dreißigjährigen Krieg.“

Erstaunlich, dass er sogar einen ganzen Satz zusammenbekam. Enners kniff despektierlich die Brauen zusammen, als habe er die Kämpfe miterlebt, die im vorangegangenen Jahrhundert zahllose Länder verwüstet hatten, und schob seine Kappe zurecht. Wortlos bot er seinem Herrn den Arm, damit er sich abstützen konnte.

„Wir könnten zur alten St.-Nikolaus-Kirche gehen“, schlug Enners vor. „Die Feldbach-Ruine ist doch für alle zugänglich und hat ein Dach.“

„So weit?“, gab die Herrin zu Bedenken. „Ich weiß nicht, ob das mit den Kleinen sinnvoll ist. Wir haben keine Kutsche und kein Pferd.“

„Stimmt. Wahrscheinlich sind auch schon andere auf die Idee gekommen, zum Fasanenberg zu laufen“, lenkte Enners ein. „Obwohl wir das Inferno nur aus der Ferne miterleben müssten.“

„Fasanenberg?“, fragte sie überrascht. „Ich weiß nur, dass diese Getiere dort oben“, ihr Finger zeigte zur Schlossbergmauer, „gern auf den Tisch kommen. Und Wildschweine sowieso.“

„Das ist das Gebiet unterm Feldbacher Wäldchen.“ Der Knecht seufzte. „Würde Ihnen der Dillwasen zusagen?“

Die Herrin nickte.

Philippa stimmte ihm im Stillen zu. Denn ob der Magister in der Lage war, den halbstündigen Fußmarsch zur St.-Nikolaus-Kirche hinzulegen, der durch die kleinen Kinder bestimmt noch länger dauerte und wo es am Ende nur noch steil bergauf ging, wagte sie zu bezweifeln. Die Herrin ahnte das sicherlich. Sie hatte ihr mal geschildert, wie vor weit über zweihundert Jahren endlich hier in der Stadt eine größere Kirche gebaut worden war, damit die Menschen müheloser zum Gottesdienst kommen konnten. Zuvor mussten sie sonntags mindestens zweimal ins Feldbacher Wäldchen und in der Woche noch ein weiteres Mal zur Bibellehre dorthin. Die Angehörigen des Fürstenhauses fanden in der neuen Kirche zudem eine würdige Grablege.

„Gnädige Frau, wir gehen vor und suchen einen Platz“, entschied Enners in einem Ton, als sei er der Hausherr und zog ihn mit sich den Weg in Richtung Marbach, womit er zugleich verhinderte, dass Hohenstein widersprach und den noch steileren Berg zum Viehhof runterstolperte.

Während Philippa neben der Herrin auf Hiltgunt und die Kinder wartete, sah sie den beiden Männern nachdenklich hinterher. Sie empfand eine unsägliche Ohnmacht. Ausgerechnet jetzt war der Magister betrunken und in einem Zustand, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Womöglich hatte es noch nicht mal viel starkes Gebräu gebraucht, um ihn geschwächt zu machen.

In Philippas Kopf schwirrten die Gedanken wild umher und sie begann an sich selbst zu zweifeln. Vielleicht träumte sie das Feuer nur? Es konnte doch nicht sein, dass knapp eine Woche nach Haiger jetzt Dillenburg in Schutt und Asche versank. Doch die Schwaden und das Knarzen von Gebälk belehrte sie eines Besseren. Konnte es nicht mal regnen? Vater im Himmel, sprach sie nochmals im Stillen, öffne die Schleusen des Himmels. Aber bitte kein Gewitter! Wir wollen doch nicht, dass der Blitz einschlägt und das Feuer zusätzlich antreibt.

„Wo bleiben sie denn?“, rief die Herrin mit bleierner Stimme.

Georg und Jakob jammerten, als sie von Marie aus dem Haus geschoben wurden, während der kleine Severin schlafend auf Melusines Arm hing. Hiltgunt schleppte sich stöhnend hinterher, mit zwei prall gefüllten Körben an den Armen, und blickte von einem zum anderen. Grete tapste hinter ihr her, eine Kiste vor der Brust tragend.

„Endlich!“ Die Herrin rückte ihren Hut zurecht, straffte die Schultern und nahm die Jungen an die Hände, während sie mit einem bestimmten Kopfnicken vorwegschritt.

Georg hörte auf zu heulen, während Jakob unablässig wissen wollte, wo sie denn jetzt hinliefen. Philippa sah zum unbeleuchteten, stillen Nachbarhaus und fragte sich, wo die Familie Spina hingeflüchtet war. Dieser Teil der Straße schien verwaist und es gab niemand mehr, der auf ihr Haus und das der Hohensteins aufpasste.

„Ist der schwer!“, stöhnte Philippa laut auf und hatte Mühe, den Karren festzuhalten. Fast wäre er ihr nach wenigen Fuß auf der abschüssigen Strecke aus den Händen geglitten. Ob es eine gute Idee war, hier entlangzugehen, anstatt die andere, dem Feuer abgewandte Seite zu nehmen, wie der gnädige Herr zuerst wollte? Sie marschierten ja direkt auf den Brand zu! Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde er den Oberen Steinweg verschlingen, davon war sie fest überzeugt. Philippa vermutete, dass er in der Straße dahinter ausgebrochen sein könnte, wo ein riesiges Flammenmeer tobte.

Das Knistern wurde immer unheimlicher, bis plötzlich Gebälk hinter der Häuserfront krachend zusammensank und Wolkenberge aus Funken über die Köpfe der Menschen wirbelten, die eingeschüchtert und verzweifelt aufschrien.

Auf der Marbachstraße wurden sie von der Aufregung und dem dichten Gedränge verschlungen. Sie zwängten sich zwischen Ziegen, bepackten Karren und Leuten hindurch, wobei Philippa Mühe hatte, die Kinder im Auge zu behalten, damit sie nicht in das schmale Rinnsal stürzten, das den Weg säumte und sich erst in der Nähe des Rathauses im Mühlbach verlor.

Am Straßenrand entdeckte sie einen verwirrt dreinblickenden Mann, der zusammengekauert im Dreck hockte und ständig rief: „Mein Webstuhl, mein Webstuhl!“ Es war ein Wollweber aus der Hintergasse, der dabei ein Weberschiffchen wie eine Fahne hin und her schwenkte, während er sein verbranntes Arbeitsgerät betrauerte.

Die Herrin winkte Hiltgunt und ihr, sich den Frauen und Kindern vor ihr anzuschließen, die vollgepackte Beutel und Hausrat trugen. Alle drängten zum Obertor. Es herrschte eine erschreckende Unrast, die sich auch auf die armen, mitgezerrten Viecher übertrug, wie das Gebrüll und die Klagelaute erkennen ließen.

Der Wind hatte gedreht und verfolgte sie bis zum Stadttor, das umrahmt von den Wächtern dastand und durch das die Leute aus der Stadt flüchteten. Die Flammen malten den Leuten Fratzen in die Gesichter.

Übermächtige Angst stieg in Philippa hoch, ein Zittern überfiel sie. Es fühlte sich an, als ob sie sich bereits in der Hölle befand. Irgendwo hier draußen in dem Durcheinander musste Enners mit dem gnädigen Herrn sein.

„Wo gehen wir hin?“, jammerte Melusine und zog die Nase hoch. „Mir ist kalt. Meine Augen brennen!“

Philippa hätte sie am liebsten in den Arm genommen, aber es war Eile geboten. Sie streichelte dem Mädchen die Wange, überließ die Erklärung ihrer Mutter und folgte dem Strom der Menschen über die Obertorbrücke weg von der Stadt.

Sie biss die Zähne zusammen, aber ihr Unterkiefer klapperte unentwegt und wollte nicht gehorchen. Der Fuß tat jetzt höllisch weh und spannte. Ach, wie gern würde sie kurz ausruhen! Sie seufzte.

Die Dill war durch eine Wolke aus Glut nur zu erahnen und glitzerte gelegentlich. Wortlos humpelte Philippa den holprigen Feldweg entlang zum Scheunenviertel, prüfte immer wieder, ob der vollbeladene Karren nichts verlor, und sinnierte, ob man da einfach hingehen durfte, obwohl man weder Eigentümer noch Pächter war. Der Landesherr schrieb gewöhnlich alles vor, aber heute würde er bestimmt eine Ausnahme machen.

Hier draußen befanden sich Wiesen und Felder der Dillenburger, denn das Land innerhalb der Stadtmauern war begrenzt. Die meisten Leute ernährten sich von ihren Feldern und hatten, wie die Leute auf den Dörfern, ihr Ackerland außerhalb der Ortskerne. Manche besaßen sogar Scheunen.

„Warte, Philippa!“ Die bekannte Stimme kam aus der Nähe.

Philippa musste nicht lange überlegen – das konnte nur ihre Freundin sein! „Betradis?“

Ihre Freundin schloss nun zu ihr auf. „Ja. Seid ihr alle gesund?“

„Gottlob! Und du? Und die Familie Dilthey?“

In diesem Moment stieß jemand Philippa von hinten in den Rücken, was durch das Gedränge niemand verwunderte. Nur ein Griff an den Karren rettete sie vorm Fallen, aber ein stechender Schmerz stach ihr durch den wehen Fuß. Sie stöhnte auf und beklagte stumm ihren angeschwollenen Knöchel.

„Da! Nimm mal.“ Die bekannte Stimme von Hiltgunt schoss ihr von der anderen Seite ins Ohr.

Philippa ließ sofort den Karren los und ergriff das dunkle, schlafende Bündel, das man ihr entgegenstreckte. „Ich muss weiter“, entschuldigte sie sich enttäuscht mit trauriger Stimme. Zu gern hätte sie ihr noch von Caspar erzählt und würde auch gerne was über Betradis Romanze erfahren. Leider blieb keine Zeit, mit ihrer Freundin zu reden. „Ich hoffe“, beteuerte sie, vielleicht auch, um sich selbst froh zu machen, „dass wir uns bald sehen.“ Die Hilflosigkeit des kleinen Jungen rührte Philippas Herz und entschädigte für alle Unannehmlichkeiten. Seine nach Ruß stinkenden Haare hielten sie nicht ab, Severin einen Kuss draufzudrücken, während er sich schlafend an ihren Hals kuschelte, und stolperte hinter dem dicken Schatten von Hiltgunt her, bis er stehen blieb.

Sie waren nicht allein. Ihre Befürchtung, unerlaubt im Feld zu kampieren, schien unbegründet und sie traten zu Enners und dem Magister. Nicht nur der Knecht, Hiltgunt, Grete und Philippa, sondern sogar ihr Herr legte mit Hand an, mit Pfählen und Decken eine Notbehausung zu zimmern. Genaugenommen mühte sich Enners ab und verlangte von seinem Herrn Handreichungen. Wusste der Himmel, wo sie so schnell das Holz herbekommen hatten!

Ringsum saßen Menschen auf Decken oder standen herum und stierten aus der Dunkelheit in die vermeintliche Ferne, die von tanzenden Rauchschwaden und dem unersättlichen Tier, das sich ausgehungert von Haus zu Haus fraß, begrenzt wurde. Viele der Bauern und Handwerker wie die Axe, Geise-Webers oder Metzgers hatten ihre Scheunen aufgeschlossen und gaben Hilfe suchenden ein Dach über dem Kopf. Alles war bereits überfüllt und selbst in den Kuhställen wurde kampiert.

Eine kleine Hand ergriff ihre. „Philippa, ich bin so müde“, klagte Jakob.

Sie zog ihn liebevoll an sich. „Ich weiß. Du, wir sind jetzt sicher. Und gleich ist das Dach fertig. Dann können wir uns ausruhen.“ Von ihrer Angst, die trotz der Entfernung zum Feuer nicht gewichen war, wollte sie nichts erzählen. Vielleicht half ihr das kindliche Vertrauen, die Furcht kleinzuhalten. Sollte sie nicht ihrem himmlischen Vater glauben, der alle Dinge in der Hand hatte? Würde sie ihr normales Leben wieder zurückbekommen? Würde das Haus der Hohensteins wirklich verschont bleiben? Was wäre, wenn sie zurückkehrten, das Haus vielleicht noch stand, aber irgendwo im Verborgenen die Glut schwelte? Ach, könnte doch Caspar bei ihr sein, dann würde sie sich sicherer fühlen. Er strahlte etwas Beruhigendes und Verlässliches aus, etwas, das ausgerechnet heute der sonst so souveräne Magister nicht vermitteln konnte. Der arme Enners! Er hätte selbst Unterstützung nötig, wo er doch schon viele Altersbeschwerden zu ertragen hatte.

„Wo ist das Brot? Ich habe Hunger!“ Selbst im Halbdunkel konnte Philippa das Funkeln in des Magisters Augen erkennen.

Philippa legte Severin zu Melusine, Marie und Georg, die still unter einem dicken Stapel Decken kauerten und mit aufgerissenen Augen die Aufregung um sie herum verfolgten. Jakob rollte sich an ihre Seite und fiel in einen fahrigen Schlaf, während die Herrin mit Grete neben ihnen kniete, um die Kinder mit ihrem Gerede aufzumuntern. Wahrscheinlich versuchten sie damit, ihre eigene Furcht zu kontrollieren und nicht den Verstand zu verlieren.

Hiltgunt drückte Philippa einen Teller und ein Messer in die Hand, wies wortlos auf einen Korb, in der Butter, Käse, Wurst und Brot ordentlich geschichtet waren, und deutete mit dem Kinn auf den Magister hin.

Ihre Gedanken rasten, während sie dem gnädigen Herrn einen Teller anrichtete und Brunnenwasser in einen Becher goss.

Wie mochte es Caspar gehen? Das Haus der Vogts würde hoffentlich noch unbeschädigt dastehen, obwohl das nichts hieß. In wenigen Stunden konnte eine ganze Straße vom Feuer abgegrast sein. Manche Dörfer waren sogar innerhalb ein, zwei Stunden vollständig niedergebrannt. Drehte der Wind, gab er dem Flammenmeer neue Nahrung. Sie wusste, dass die Verzweiflung und die Furcht um das eigene Leben die Bürger heute Nacht aus der Stadt getrieben hatten.

„Ich muss mal.“ Jakob war wieder wach geworden und streckte die Hände nach ihr aus. „Ich habe Angst.“

Wen wunderte das bei dem Chaos um sie her? Philippa reichte Hohenstein das Essen und das Getränk. Dann wandte sie sich zu dem Jungen.

„Komm. Ich gehe mit.“ Philippa zog ihn ein wenig von den anderen weg und schob ihn hinter einen Busch. „Ich warte hier.“

Die kurze Zeit bis zur Morgendämmerung war schnell vorbei. Obwohl eine beständige Unruhe die Kinder umgab – Wortgefechte, Geheule und Gejammer –, waren sie irgendwann eingeschlafen, während der Magister tief und fest ruhte. Seinem Schnarchen nach sägte er bereits im Nanzenbachtal das Holz für den Wiederaufbau.

Irgendwann musste auch Philippa eingenickt sein und schreckte vom Weinen eines Säuglings hoch, der irgendwo in der Dämmerung nach seiner Mutter brüllte. Für einen Moment wusste sie gar nicht mehr, wo sie war und blinzelte konsterniert. Das Feuer war von hier nicht mehr zu erkennen. Was versprach der Tag?

Philippa rieb ihren verspannten Nacken, streckte ihre steifen Glieder und blickte auf die Hohensteins, die allesamt noch schliefen. Enners schaute verschlafen, als sie vor das behelfsmäßige Zelt trat. Ein merkwürdiger Gestank lag über dem Feld, als habe sich der Rauch mit Exkrementen von Mensch und Tier vermischt.

Um sie herum kauerten oder lagen Leute, manche schliefen, andere starrten geschockt vor sich hin. Nicht alle hatten eine Decke übergeworfen, manche trugen noch nicht mal eine Jacke. Ein Hund streunte herum und niemand verscheuchte ihn. Die Stimmen derer, die bereits wach waren, klangen gedämpft, als würde mit der Lautstärke das Entsetzen erneut wieder heraufbeschworen. Nur ein alter Mann stieß einen lauten Fluch aus.

In der nächtlichen Unruhe hatten sich manche Leute auf die eingesäten Felder zum Schlafen gelegt. Es interessierte niemanden, was niedergetrampelt worden war. Viel wichtiger war, dass sie ihr Leben hatten retten können.

Der Rauch brannte in Philippas Nase. Sie sah hinüber zum Weinberg, hinter dem die Sonne aufging. Es lag eine bedrückende Stille über dem Qualm, der aus den Trümmern wie ein Nebel emporstieg und herübergetragen wurde. Die Stadt roch nach verbranntem Gebälk, vergeblichem Schweiß und verlorener Hoffnung. Das Schloss thronte unverrückbar über dem Elend und schien von hier betrachtet die Nacht wohlbehalten überstanden zu haben.

Ein stilles Schluchzen durchfuhr Philippa plötzlich. Die aufgestauten Gefühle von heute Nacht, die in Arbeit und Pflicht versunken waren, drängten nach oben. Sie schlug sich die Hand vor den Mund und weinte lautlos. Sie betrauerte das Desaster, das vielen Menschen alles geraubt hatte, die zerstörten Zukunftsträume, die verzweifelten Schreie und die wenigen Freuden der normalen Leute, die mit den gefräßigen Flammen endgültig verschwunden waren. Am allermeisten schluchzte sie, weil sie sich einsam fühlte und ihre Zukunft durch den Stadtbrand ungewisser denn je schien. Könnte sie doch nur zu Hause in Breitscheid bei ihrer Familie sein und in ihrer Kammer unbekümmert dem neuen Tag entgegenschlafen! Ach, wie sehnte sich sie nach ihnen und der Einfachheit des Lebens dort mit der ungeteilten Dorfgemeinschaft.

Ringsum kam Bewegung in die Leute. Nicht weit entfernt stand ein breitschultriger Mann, den sie als den fürstlichen Kurschmied erkannte. Sein rußgeschwärztes Gesicht erzählte die Geschichte der Stadt, ebenso wie die Gesichter der Familie des Strumpfwirkers, die stumm auf der anderen Seite in das Morgengrauen stierte.

Der allmächtige Gott hatte dem Wüten des Feuers hoffentlich endlich Einhalt geboten. Offene Flammen konnte sie nicht mehr erkennen, aber an zahlreichen Stellen stieg noch Qualm hinter der Stadtmauer auf. Wo vorher nur Dächer zu sehen gewesen waren, blickte man nun ohne Unterbrechung bis an den Kirchberg.

Wie war das Feuer entstanden? Hatte es jemand gelegt? Oder war jemand unvorsichtig gewesen? Wer auch immer damit zu tun hatte: Mochte der Allmächtige ihm gnädig sein!

Inzwischen war die ganze Familie erwacht. Severin weinte – wahrscheinlich hatte er Hunger und eine volle Windel. Philippa griff nach dem Eimer auf dem Karren. Sie musste zuallererst Wasser schöpfen. Am besten sie versuchte erst gar nicht ihr Glück beim Brunnen am Obertor, sondern direkt an der Dill.

Nachdenklich und mit schwerem Herzen machte sie sich auf den Weg. Was wohl der neue Tag mit sich bringen würde?