15

Das Wetter im Mai war unbeständig. Mal war es mild und sonnig, dann zogen wieder Heere von Wolkenbergen am Himmel entlang und brachten kurzzeitige Schauer. Doch egal wie die Witterung war, es änderte nichts an dem scheußlichen Gestank, der noch immer über der Stadt hing und demzufolge die Dienstboten die Fenster im Haus geschlossen halten mussten. Seit dem Feuer hatte Philippa schlecht geschlafen und der Vollmond tat jetzt das seinige hinzu. Er strahlte so hell in ihre Kammer, dass sie keinen Schlaf fand, und erinnerte Philippa an die Brandnacht. Da hatte der Himmel auch ähnlich geleuchtet.

„Bürgermeister Weis ist am Donnerstag Vater geworden“, berichtete eines Nachmittags Sybilla von Hohenstein, „und am Montag wird das kleine Mädchen getauft.“

Die beiden Frauen befanden sich im Esszimmer und Philippa stellte die gefüllte Vase auf den Tisch, während ihre Herrin vor dem Fenster stand.

Gab es das wirklich? Eine Geburt inmitten dieser fürchterlichen Tage? Philippa unterbrach ihre Bemühung, die Blumen nochmals neu zu arrangieren, und sah erfreut auf. „Ist es ihr erstes Kind?“

„Ja“, antwortete die Herrin und ein Lächeln flog über ihr Gesicht, „und Gott sei Dank haben Mutter und Kind die Geburt überlebt.“ Sie spürte die Blicke der Herrin auf sich ruhen. „Ich habe ihr bereits meine Aufwartung gemacht.“

Wenn die Gebärende und ihr Kind überlebten, war das immer ein Grund zum Danken und gleichzeitig ein Gebot zur Fürbitte, dass die Mutter auch das Wochenbett überstand. Philippa kräuselte die Stirn. „War es denn eine leichte Entbindung?“

Die Herrin schüttelte den Kopf. „Nein, die junge Frau Bürgermeister hat zwei Tage in den Wehen gelegen. Zwei unendlich lange Tage!“ Sie stockte und wandte den Blick weg von Philippa. „Ach, was rede ich da! Nur wer schon entbunden hat, weiß, wovon ich spreche. Lugardis, die Hebamme, hat alles versucht, na ja, irgendwann hat es wohl geholfen, dem Herrn sei’s gedankt. Frau Bürgermeister wäre nicht die erste Kreisende, die entkräftet dabei stirbt.“ Sie warf kurz einen Blick auf die Pfingstrosen und Schwertlilien in Philippas Händen, dann schien sie sich zu besinnen, und ihre Stimme wurde lauter und fröhlicher. „Und stell dir vor, sogar aus Marburg wird Besuch kommen. Eine Dame, die mir nicht bekannt ist, wird Taufpatin werden. Eine weitere Gevatterin wird die Frau Ratsherr Daniel sein und …“

Während Sybilla von Hohenstein sich über ein sonst gewöhnliches Geschehnis in allen Einzelheiten entzückte, schweiften Philippas Gedanken ab. Was konnte das Kind dafür, dass es in einer ruinierten Stadt das Licht der Welt erblickte? So viel sie wusste, stand das Haus des Bürgermeisters am Ende des Viehhofs. Aber im Oberen Steinweg gab es nur ein einziges unversehrtes Haus und über das wusste jeder in der Stadt etwas anderes zu berichten.

„Wissen Sie etwas über die Geburt der Brunnenmeisterin?“

„Ja, natürlich!“, erklärte die Herrin mit großem Ernst. „Sie hat einem kleinen Jungen das Leben geschenkt. Deshalb haben sie ihn Jesaja genannt.“

„Jesaja“, wiederholt Philippa und überlegte fieberhaft, was der Name zu bedeuten hatte. Sie kannte kein Kind, das so hieß. Er musste irgendwie mit der Rettung in Verbindung stehen, aber sie wagte nicht, weiter zu fragen. Womöglich erfuhr sie es mal in einer Predigt, denn in der Bibel gab es einen bedeutenden Propheten mit dem Namen.

Als hätte ihre Herrin ihre Gedanken gelesen, erklärte sie: „Wahrscheinlich hast du es auch schon gehört. Am 30. Mai wird ein besonderer Gottesdienst gehalten. Der Oberpfarrer hat es angekündigt. Endlich!“ Sie senkte einschärfend die Stimme. „Das hat es noch nie gegeben, dass die Gottesdienste ausfielen. Pfingsten ohne Predigt! Dabei war die Kirche gar nicht beschädigt.“

Philippa nickte. „Ich habe die Gottesdienste am Vor- und Nachmittag auch vermisst. Aber unsere Herren Pfarrer haben bestimmt richtig entschieden, den Menschen Zeit zu geben.“ Sie erinnerte sich an die mühselig errichteten Zelte im Hofgarten und vor der Stadt. An die fehlenden Aborte mochte sie erst gar nicht denken und erst recht nicht an die Gerüche, die sich mit den verkohlten Tierkadavern und Trümmern verbanden. „Es ist für die armen Leute bestimmt äußerst schwierig, dort draußen zu leben. Wer möchte schon ungewaschen und verdreckt in die Kirche gehen? In Gottes Gegenwart.“

Die Herrin knetete die Hände und die Brauen federten hoch. „In der Tat.“ Sie deutete ein Nicken an. „Es war ja nichts mehr geordnet. Vielleicht erfahren wir dann, wie es weitergehen soll.“

Das Schnarren der Tür ließ beide zusammenzucken, als der Magister plötzlich in der Tür stand. Die Nachmittagssonne beleuchtete das silberige Grau seines Barts.

„Vielleicht kann ich weiterhelfen“, sagte er gemessen und sah von seiner Frau zu Philippa. Er trug noch immer seinen Hut und als er den verwunderten Blick seiner Frau auffing, nahm er ihn ab. „Oberpfarrer Neuendorff wird etwas zur Situation der Kollekten sagen und wie wir Gläubigen unserem Herrgott demütig gegenüber treten sollten.“

Seine Frau hatte sich schnell gefasst. „Du bist heute früher nach Hause gekommen, mein Lieber“, stellte sie freudig fest und ging ihm mit ausgestreckten Händen entgegen, „wie schön!“

Philippa rückte die Vase zufrieden in die Tischmitte. „Ich werde mal nach den Kleinen sehen. Marie und Melusine sind bestimmt froh, wenn ich sie beim Hüten der Kleinen ablöse.“

Die Herrin wand den Kopf und sah sie freundlich an. „Ich hätte lieber, wenn du zum Viehhof gehst und dich erkundigst, wann wieder Wochenmarkt ist. Ich fürchte, dass er diese Woche nicht stattfinden kann.“

Irgendwie hatte Philippa das Gefühl, dass der Wunsch der Herrin nicht der eigentliche Grund war, warum sie sich auf den Weg in die Stadt machen sollte, sondern eher ein Vorwand, aber das war ihr egal.

Philippa hatte das untere Ende des Weges erreicht und musterte das Gasthaus Zur Krone, das gegenüber dem Vogtschen Haus stand. Als habe Caspar ihren heimlichen Wunsch vernommen, trat er gerade aus der Tür. Bevor er in den Steinweg abbiegen konnte, bemerkte er sie.

„Philippa“, rief er und eilte ihr entgegen, „was für ein Zufall!“ Seine Augen liebkosten sie und deuteten in gebührendem Abstand eine kleine Verbeugung an. „Wie geht es dir?“ Die Stimme senkend, fügte er hinzu: „Ich habe dich so vermisst!“

Sie war ihm dankbar, dass er ihr inmitten der Leute nicht zu nahe kam. Viel zu schnell gab es Gerede und am Ende des Tages entsprach kaum noch etwas von dem Gesehenen der Wahrheit. Solange der alte Vogt seine Zustimmung verweigerte, konnte jede Leichtfertigkeit ihren Ruf schädigen.

„Dem Herrn sei Dank. Wir sind alle wohlauf.“ Sie bewunderte sein stilvolles Aussehen und wie der dunkle Rock mit der hellen Schleife unterm Kinn mit seinem rotblonden Bart bezauberte. Sie wies nach rechts. „Die Frage ist eigentlich müßig, aber weißt du, ob es bald wieder einen Wochenmarkt geben wird? Die Herrin lässt fragen.“

Caspar schüttelte den Kopf. „Fürst Wilhelm hat ihn abgesagt und ich schätze, das wird noch eine Weile so bleiben. Die Leute brauchen zuerst wieder ein Zuhause. Erst dann, denke ich, sollte wieder Markttag sein.“

„Ja, das habe ich mir bereits gedacht. Der Fürst hat recht – die Menschen haben andere Sorgen.“

Caspar nickte. „Sie werden durch unseren Landesherrn und die Bevölkerung versorgt. Es ist unglaublich, was man nach Haiger und Dillenburg schafft. Ich habe gesehen, dass die Bauern sogar Pfannen und Töpfe auf ihren Karren herbrachten.“

„Die haben doch selbst nichts.“

„Doch – ein mitfühlendes Herz. Und vor unserem Herrgott zählt das mehr als alles andere. Das sagt schon die Heilige Schrift.“

„Da stimme ich dir zu“, erwiderte Philippa, „und ich verneige mich innerlich vor ihrer Hilfsbereitschaft. Erst haben sie den Haigerern geholfen und jetzt uns.“ Sie konnte sich vorstellen, wie aufrichtig diese Gaben waren. Wenn sie an ihr Elternhaus dachte, wurde ihr elend ums Herz. Sich auszumalen, dass von dem kargen Ertrag noch großzügig verschenkt wurde, dafür fand sie keine Worte, diese Tat zu würdigen. Mochten die Ratsherren noch so herausgeputzt über die Geschicke der Stadt entscheiden, wahre Würde fand sich eher in Leinenkitteln gekleidet und mit verschwitzten Haaren.

„Zwei Orte sind in die Geschichte eingegangen, wo es anders zuging.“

„Wie meinst du das, anders?“

„Schau mich nicht so verwirrt an“, lachte er. „Ich sag’s dir. Vor mehr als dreihundert Jahren soll es in Cölln elend gebrannt haben. Ich meine nicht die Stadt am Rhein, die den mächtigen Dom aufweist. Nein, die Stadt, die ich meine, liegt an der Spree. Damals bat man die Bewohner von Berlin auf der anderen Seite des Flusses um Hilfe. Leider verweigerten sie hochmütig jegliche Unterstützung.“

„Wie schrecklich“, fand Philippa.

„Du sagst es“, fuhr er fort. „Doch als es zwei Jahre später in Berlin brannte, erdreisteten sie sich, von den Cöllnern Rettung zu verlangen.“

Ganz in ihrer Nähe hielt ein Pferdefuhrwerk. Caspar beschattete seine Augen und beobachtete einen Wagen, von dem gefüllte Schläuche und Krüge abgeladen und in die Krone getragen wurden. Dann wandte er sich ihr wieder zu.

„Ja, die Leute hier haben Herz“, stimmte ihm Philippa zu und blickte in seine wachen schiefergrauen Augen. „Hast du noch etwas von Elsa gehört?“

Caspar nickte. Während er kurz innehielt und sie nachdenklich betrachtete, schlug Philippa die Hände vor den Mund. Ihr Herz war mehr als bleischwer. Sie erinnerte sich an die Hetzjagd und Festnahme vor den Stadttoren. Es war, als sei der Wolf in die Stadt geraten und müsse ausgerottet werden.

„In etwa vier Wochen wird ihr der Prozess gemacht. Einmal wegen der Kindstötung und zum anderen wegen des Brandes. Es sieht nicht gut aus.“ Caspars Stimme klang plötzlich belegt und irgendwie fremd. „Philippa, ich fürchte, sie hat einen schweren Weg vor sich.“

„Was macht dich da so sicher?“ Sie drehte kurz den Kopf und sah einem anderen Gespann nach, das Käfige mit Hühnern geladen hatte, ebenso zwei Ziegen, die von einem kleinen Jungen festgehalten wurden, dem das Geruckel nichts auszumachen schien. Philippa schlang die Arme um die Brust, als könne sie sich damit vor der schlechten Nachricht schützen.

„Sicher bin ich nicht, aber alles spricht gegen sie.“ Er sog hörbar die Luft durch die Nase ein. „Ihre Ehre ist dahin. Aber wir wollen das Beste hoffen, nicht wahr? Noch vertrauen wir, dass ein Wunder geschehen kann. Und was das Unglück im Berg angeht, da hat mein Vater die Familie besucht. Ich weiß, er lässt ihnen Unterstützung zukommen. Nur spricht er fast nie über so was. Es könnte ihn ja als Schwächling darstellen. Doch das Los der jungen Familie rührt ihn mehr, als er zugeben würde.“

Philippa lächelte ihn warm an. „Du kannst stolz auf ihn sein.“

Er nickte stumm und betrachtete einen zerlumpten Mann, der stur nach unten blickte in der Hoffnung, irgendetwas Essbares oder Begehrenswertes zu entdecken. Wahrscheinlich dachte Caspar das Gleiche wie Philippa, die seinem Blick gefolgt war: dass es jetzt bestimmt noch mehr solcher Heimatlosen und Hungernden geben würde.

„Hoffen wir, dass die Stadt die Kraft findet und aus der Asche aufsteht.“ Unvermittelt wechselte er das Thema. „Wann sehen wir uns wieder?“ In seinen Augen lag die Sehnsucht der Welt.

Sie streckte den Rücken. „Nach dem Abendbrot möchte ich noch Kräuter sammeln gehen, an der St.-Nikolaus-Kirche.“ Einen Moment genoss sie Caspars erstaunten Blick. „Ja, schau nicht so“, grinste sie, „der gnädige Herr hustet tatsächlich viel. Das kommt vom Rauchen. Zumindest behauptet das meine Herrin. Sie hat sogar mal seine Pfeifen versteckt, doch das fand er gar nicht lustig. Deshalb wird sie heilfroh sein, wenn ich nach dem Tagwerk noch Spitzwegerich sammeln gehe. Daraus mache ich einen Sirup, der seinen Lungen guttut. Falls du also Zeit hast …“

„Ich werde da sein!“ Seine Augen ruhten voller Liebe auf ihr. Mit einer zärtlichen Geste strich er ihr rasch über die Wange und verabschiedete sich dann. Bald war er aus Philippas Blickfeld verschwunden. Die Sehnsucht blieb in ihrem Herzen und würde ihr ständiger Begleiter bis zum nächsten Wiedersehen sein.

Noch eine Weile verharrte sie in Gedanken versunken, ließ den Anblick der unversehrten, gepflegten Häuser auf sich wirken, bevor sie beschloss, über den Viehhof zu spazieren und dann heimzugehen. Langsam glitt ihr Blick an den Bäumen entlang, die den Platz säumten, und über die festgetrampelte Erde, die heute eine einzige bräunliche Ausdehnung bildete. Bis auf eine Tochter von Schäfer, die vor dem Haus stand und sie unverhohlen musterte, waren kaum Leute zu sehen. Doch dann entdeckte sie Betradis, die sich aus dem Schatten eines Baumes löste, und ihr entgegenkam.

„Was machst du denn hier?“, fragte ihre Freundin, die ihr mit hochrotem Kopf entgegenblickte und einen Korb gegen den Laib presste. „Es ist doch heute kein Markttag.“

Ein junger Mann schlenderte an den Bäumen entlang, zwinkerte den beiden jungen Frauen noch zu und verschwand hinter dem Hüttenplatz in einer kleinen Gasse.

„Ach …“, Philippa grinste. „Ist das nicht dein Tobias?“

„Äh…“ Betradis glitt sich nervös mit dem Ärmel über die erhitzte Stirn. „Ja. Er ist der Sohn von Stadtwachtmeister Weller. Wir haben uns aber nur unterhalten.“

„Hab ich es nicht gesagt?“ Philippa lachte und berührte sie freundschaftlich am Arm. „Ich hatte nichts anderes von dir erwartet. Kennt ihr euch schon länger?“

Statt einer Antwort drehte Betradis den Kopf zur Seite, um zu sehen, wer da gerade mit Lärm und stechenden Schritten den Hang vom Schloss herunterkam. Es waren etliche Soldaten, die in Diensten von Fürst Wilhelm standen und jetzt vom Feldtor kommend an ihnen vorbeimarschierten. Statt einer Feuerwaffe schleppten sie Schippen und seltsame Geräte mit sich.

„Weißt du, was das bedeutet?“, fragte Philippa voller Sorge. Das Auftauchen der Uniformierten bedeutete meist nichts Gutes. Ob es doch Plündereien oder Diebstähle gegeben hatte?

Betradis nickte. „Sie sollen beim Aufräumen helfen, hat mir Tobias erzählt, der es von seinem Vater weiß. Die riesigen Feuerhaken brauchen sie zum Einreißen der Häuser und die Hornickel zum Abstoßen der Balken. Wie sollen denn die Leute das sonst schaffen?“

Philippa seufzte erleichtert auf. „Stimmt. Und ohne Beschluss von oben dürfen sie ihr Haus nicht einreißen.“ Für einen Moment überlegte sie, dann griff sie nach Betradis Hand. „Hast du schon gehört, dass am letzten Sonntag im Monat endlich ein Gottesdienst gehalten werden soll?“

„Nein, aber ich bin froh darüber. Es gibt uns Zuversicht und ein winziges Stück vom normalen Leben zurück.“ Sie sah Philippa eindringlich an. „Aber bitte sag noch niemandem, mit wem ich mich getroffen habe. Bitte. Es ist noch ganz am Anfang.“

Die Kirchturmglocke schlug die volle Stunde. „Ich muss jetzt gehen“, erklärte Philippa, umarmte sie und schmunzelte, „und ich kann schweigen.“

Der restliche Tag verlief ohne besondere Vorkommnisse und Philippa machte sich abends mit einem Korb auf den Weg zur Feldbach-Ruine. Sie hatte sich nochmals gekämmt und die brünetten Haare so mit einem blauen Haarband zusammengebunden, dass ein Teil davon unter ihrer Haube hervorquollen. Caspar kam auf sie zu, kaum dass sie durch das Untertor getreten war. Ihr Herz klopfte schneller. Einen Moment blieben sie stehen, um einander anzusehen. Sie las in seinen Augen eine tiefe Freude.

„Du willst tatsächlich Kräuter sammeln?“, fragte er überrascht. „Ich dachte, das sei ein Scherz gewesen.“

„Immer schön bei der Wahrheit bleiben“, lachte sie und hielt ihm den leeren Korb hin. „Ich darf nur nicht vergessen, ihn zu füllen.“

Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Stille hatte sich auf den Feldern vor ihnen ausgebreitet und die Abendsonne war schon hinter dem Feldbachswäldchen verschwunden, als sie den steilen Weg zur St.-Nikolaus-Kirche einschlugen. Eine Schafherde war für die Nacht hinter Zäunen gesichert.

„Hier grast die Wolle von Wollwebermeister Schäfer“, witzelte Caspar. „Wahrscheinlich hofft er noch immer, mich zum Schwiegersohn zu bekommen.“ Er griff nach ihrer Hand und hakte ihren Arm unter seinen, als wären sie bereits verlobt.

Sie fühlte sich frei und unbeobachtet. Ein Glücksgefühl stieg in ihr hoch. Am Rand eines Eichenwäldchens in der Nähe entdeckte sie die fast herzförmigen Blätter der Knoblauchsrauke, für die Hiltgunt immer neue Ideen hatte, wie sie zum Würzen eingesetzt werden konnte. Sie löste sich von ihm und begann zu pflücken.

Caspar beobachtete sie interessiert, als sie dann Brennnesseln entdeckte, vorsichtig am Stängel abbrach und zu den anderen Kräutern in den Korb legte. „Was willst du denn damit?“

„Die Familie mag sie sehr gerne als Salat.“ Das Wort Familie rief eine unbeantwortete Frage in ihr wach. „Wenn dein Vater einer Heirat nicht zustimmt und dich womöglich enterbt, wird dein Einkommen für uns ausreichen?“

„Es wird sogar für eine ganze Familie reichen“, erklärte er und lächelte breit, „vielleicht können wir nicht sorglos mit Äußerlichkeiten umgehen, aber für eine warme Wohnung und genügend Essen reicht es allemal.“

„Ich könnte einen Gemüsegarten anlegen“, versicherte sie erleichtert, „und Kleinvieh halten. Wie das geht, weiß ich von zu Hause.“

Er nickte und nahm ihr den Korb ab, der jetzt gefüllt war. Sie gingen an einem Gehöft vorbei, ein Überbleibsel von dem früheren Dorf Feldbach, und ein paar Minuten später standen sie vor der Tür der kleinen Kirche. Die Tür war unverschlossen und sie traten in das kühle, dämmrige Kirchenschiff. Das Kirchengestühl war wohl im Laufe der Zeit abgebaut worden, wobei für das gemeine Volk Kirchenbänke erst nach der Reformation Sitte geworden und die Kapelle da bereits verlassen worden war. Nur der steinerne Altar war wie ein Zeichen verblieben, als müsse er das Gotteshaus noch verteidigen.

Caspar stellte den Korb an die Seite und zog Philippa an sich. „Ich habe viel über uns nachgedacht“, flüsterte er ihr ins Ohr und sie spürte seinen festen Griff um ihre Taille. „Mach dir keine Sorgen. Mein Herz hängt nicht an goldenen Schuhschnallen, auch wenn ich dir gerne eine unbeschwerte Zukunft bieten möchte. Du könntest zur Not sogar ohne Magd auskommen, weil du mehr Wissen besitzt, als sämtliche Ratsherrentöchter zusammen.“

Sie hob den Kopf und ihre Blicke trafen sich. Zärtlich küsste er sie auf die Stirn. „Wir zwei sind heimlich verlobt, nicht wahr?“, versicherte er.

„Heimlich“, bestätigte sie und für einen Moment verkrampfte sich ihr Magen, „was deinen Vater nicht beeindrucken wird. Nur eine öffentliche Verlobung gilt.“

„Stimmt. Aber ich empfinde eine tiefe Liebe zu dir und sie verstärkt sich mit jedem Mal, wo wir uns sehen. Wenn meine Mutter noch leben würde, hätte sie uns unterstützt. Hab Vertrauen, auch in Gottes Güte, dass alles gut wird.“

„Sie hätte dich in den Arm genommen, wie meine Mutter mich. Das hat mich oft darüber hinweggetröstet, wenn eine Sache nicht ausging, wie ich es mir gewünscht hatte. Vermisst du sie sehr?“

„Sehr? Ich weiß nicht“, erklärte er nachdenklich. „Als Kind noch nicht mal, weil Katharine da war, wenn ich sie brauchte. Nur jetzt, wo ich erwachsen bin, sehne ich mich danach, ihre Stimme und ihren Rat zu hören.“

„Das verstehe ich.“ Sie legte ihren Kopf an seine Brust und bemerkte, dass es fast ganz dunkel in der Kirche geworden war. Sie konzentrierte sich auf das Prickeln, das sie erfasste, während seine Finger zärtlich über ihre Schultern fuhren, mit ihren Haaren spielten und die bloße Haut auf ihrem Arm berührten. „Frauen entscheiden meist mit mehr Gefühl. Das ist mindestens so wichtig, wie eine sachliche Anordnung.“

Er lachte leise auf und sein warmer Atem streifte ihre Wange. „Da bin ich mir nicht so sicher.“

Sie genoss seine Nähe. Am liebsten hätte sie alle Benken und Mahnungen außer Acht gelassen. Von unten im Tal hörten sie den Glockenschlag, der sie in die Wirklichkeit zurückbrachte. Nur widerwillig löste sie sich aus seiner Umarmung und zeigte zum Kirchenfenster. „Es ist spät!“

„Tut mir leid“, sagte er verlegen. Er schnappte sich den Korb und nahm sie an der Hand. Wenn sie sich nicht sputeten, würden sie die Nacht vor verschlossenen Stadttoren zubringen müssen. Ein Skandal war das Letzte, was sie sich wünschte.