19

Zweiter Prozesstag

Caspar hatte schlecht geschlafen und spürte noch eine gewisse Müdigkeit, als er an sein Schreibpult trat. Der Saal füllte sich, wobei die meisten Schöffen bereits an ihrem Platz saßen. Es war ein besonderer Prozess, den viele Menschen verfolgten. Caspar sprach eine stille Fürbitte für die Feuermagd, denn er hatte trotz der verheerenden Folgen Mitleid mit ihr und spürte tief in sich, dass ein Wunder geschehen müsste, um einen gnädigen Richterspruch zu erwirken.

Während er prüfte, ob genug Tinte im Fass war, dachte er an den vorangegangenen Tag.

Als er gestern mit seinem Vater nach Hause gegangen war, war selbst Rat Vogt wortkarg gewesen, etwas, was er bei ihm eher nicht kannte. Nach dem Abendessen war Caspar alleine über die Felder der Herrenwiese, vorbei an der Schneidmühle und danach Richtung Feldbach spazieren gegangen, um seinen Kopf freizubekommen. Die Anklage lastete wie ein Mühlstein auf der jungen Frau, die in Kindertagen eine Freundin von Philippa gewesen war. Selbst ihn ließ der erste Verhandlungstag nicht los.

Während er die Stadt hinter sich ließ, schweifte sein Blick über die Felder. Die Sommergerste keimte erstaunlich gut. Unter anderen Bedingungen würden sich die Dillenburger Brauer jetzt freuen. Wenn alles gut lief, würde im Herbst eine ertragreiche Ernte viele Dukaten einbringen. Doch wenn es bis dahin nicht wieder genügend Braukessel gab, müsste man die Ernte verfüttern. Zu Beginn des Jahres hatte es zwar viel geregnet, aber jetzt gab es wahrscheinlich keine Staunässe mehr.

Selbst Besitzer von schwachen Lagen konnten auf eine Ernte hoffen, vielleicht nicht allzu ertragreich, aber immerhin. Emmer, eine Weizenart, brachte keine große Ausbeute, dafür war sie genügsam, wie die Menschen, die hier in der Stadt lebten. Zumindest die, die nicht dem Stadtrat angehörten.

Als Caspar zurückkehrte, setzte er sich mit seinem Vater noch eine Weile in die gute Stube, trank einen Wein und unterhielt sich mit ihm über den Verlauf der Verhandlung. Sein Vater fand keine achtbaren Worte für die Beklagte.

„Ein dummes Ding“, lamentierte er. „Hast du gesehen, wie sie dagesessen hat? Noch nicht mal aufgeschaut hat sie. Die weiß schon warum!“

Caspar ahnte, dass Elsa Petry nach Philippas Beschreibung alles andere als dumm sein musste.

„Meinst du nicht, sie hat Angst?“, wandte er deshalb ein. „Niemand sitzt entspannt in einem Gerichtssaal, am allerwenigsten eine junge Frau mit dieser Anklage.“

Vogt brummte Unverständliches vor sich hin und ließ die Frage unbeantwortet.

Eigentlich war es unsinnig, sich weiter über den Prozess zu unterhalten. Es mochte vor der Urteilsfindung vielleicht von Nutzen sein, aber bestimmt nicht vor der Nachtruhe. Das konnte nur schlechte Träume anregen.

„Was ich dich noch fragen wollte“, lenkte Caspar ab, „gibt es was Neues von der Grube?“

„Es gibt nur ein schlimmeres Wort als Feuer: Tod!“

Nachdenklich betrachtete Caspar seinen Vater und spürte fast körperlich, wie das Schicksal des verunglückten Bergmanns ihm zusetzte. Nach außen wirkte er souverän und oft hart in seinen Ansichten. Hier im heimischen Wohnraum legte er mit jedem Glas Wein mehr von der Maskierung ab, die ihm Ansehen beschert hatte. Gefühle taugten wenig, um die Geschicke einer Stadt und ein Bergwerk zu lenken. Das zumindest glaubte sein Vater.

„Wie geht es der Familie?“

Vogt sah seinen Sohn mit müden Augen an, die für einen Moment aufblitzten. „Ich habe der Witwe einen Betrag zukommen lassen. Du glaubst nicht, wie dankbar sie war. Sie wollte mich gar nicht mehr gehen lassen.“

„Das ist vorbildlich“, hatte Caspar erwidert. Er war erstaunt gewesen, denn so viel Herzensgüte hatte er seinem Vater nach seinen letzten Bemerkungen gar nicht zugetraut. „Es sollte ein Vorbild für alle Bergwerksbesitzer sein.“

All das beschäftigte Caspar auch jetzt noch, da er wieder hinter seinem Schreibpult im Gerichtssaal stand und auf den Fortgang des Prozesses wartete. Sein Vater setzte sich Schäfer gegenüber und nickte dem Ratsherrn freundlich zu. Mochte die Begrüßung belanglos wirken, für Caspar rief sie Magenbrennen hervor. Die Töchter von Schäfer ließen nicht ab, ihm lange Blicke zuzuwerfen, wenn sie ihm, wo auch immer, begegneten und die Hüften wiegten. Doch er würde sich nicht verbiegen lassen. Für ihn gab es nur eine – Philippa. Irgendwo bei den Räten fiel etwas geräuschvoll zu Boden. Caspars Kopf fuhr hoch. Elsa Petry war bereits aufgestanden und hob jetzt für einen Moment den Kopf, nur um ihn gleich wieder zu senken. Ihr entging, wie Kammerrat Dapping, dem ein Aktendeckel mit Dokumenten heruntergefallen war, die Blätter hastig aufsammelte. Obwohl gestern ihre Personalien schon geklärt worden waren, begann der Amtmann nun in ruhigem Ton mit der Befragung, um die entstandene Unruhe im Raum zu begrenzen.

„Sie sind Elsa Petry?“

„Ja.“ Nichts von ihrer piepsigen Stimme erinnerte mehr an die junge Frau, die Philippa beschrieben hatte – als eine, deren strahlendes Lächeln jeden Raum erhellt hatte.

„Wie alt sind Sie?“

„…“ Ihre Stimme war kaum zu hören.

„Lauter!“

„Neunzehn Jahre.“

Tilemann nickte kaum merklich. Seine Miene war undurchdringlich. „Sagen Sie uns, woher Sie stammen und wo Sie zuletzt gewohnt haben.“

„Aus Breitscheid. Mein Vater ist Bauer, ich habe noch Geschwister. Und ich habe in Herborn im Haus der Familie des Zunftmeister Baldus als Magd gedient. Und da gewohnt.“

„Erzählen Sie, warum Sie im Stockhaus einsitzen und warum Sie hier sind.“

Elsa blickte verlegen in das Gesicht des Amtmanns. Im Saal gab es niemand mehr, der hustete. Als sie zu sprechen begann, vergaß Caspar für einen Moment, das Gesagte aufzuschreiben.

„Ich war in der Hintergasse in ein Zimmer eingesperrt worden. Weil …, weil man mich beschuldigt, mein Kind getötet zu haben.“ Sie stockte und hielt sich die Hand vor den Mund, unter der sich ein unterdrückter Schluchzer den Weg barst. In die entstandene Stille rief jemand aus einer Ecke: „Freudentränen!“

Trotz Order von Tilemann gelang es den Wachen nicht, den Zwischenrufer ausfindig zu machen, als hätte sich das Publikum plötzlich paktiert. Tilemann verdrehte die Augen, bevor er Elsa mit einer Handbewegung aufforderte weiterzusprechen.

Elsa fuhr stockend fort: „Als das Haus dann zu brennen begann, und auch ringsum die Bauten, war ein großes Durcheinander. Ich hatte plötzlich große Angst. Und habe den Tumult genutzt und bin geflohen. Äh … vor die Stadttore. Dann, am nächsten Morgen, haben mich die Leute verfolgt und verhaften lassen. Seitdem bin ich im Stockhaus.“ Plötzlich wirkte sie, als sei ihr Mut dahin und sie müsse sich irgendwo abstützen.

Das Fenster, das zum Hüttenplatz zeigte, stand bereits offen. Hufgeklapper und Gesprächsfetzen der Pferdeknechte drang herein. Caspar sog die Morgenluft in sich auf, die jetzt ein Windstoß hereinwehte. Zum Glück stand er nicht in der Nähe des Fensters, sonst hätte er seine gestapelten Papierbögen jetzt ebenfalls einsammeln müssen.

Die Augen der Schöffen hingen von beiden Seiten an Elsas Lippen. Vielleicht wussten sie um das Getratsche, mit der sich die Leute vor der Krone die Wartezeit verkürzt hatten. Eine Frau hatte laut getönt, sie wisse ganz genau, dass ein gewisser Thies Küster vom Westerwald der Kindsvater sei. Er sei kein Freund von Arbeit gewesen, als Tagelöhner gelegentlich unterwegs und habe sich ständig in Gasthäusern aufgehalten. Kein Mensch wisse, wie er die Rechnungen beglichen habe. Von seinem Vater sei wohl kaum was zu erwarten, denn er habe schon seit Langem seine Arbeit beim Grafen von Greifenstein verloren, als der nach Braunfels zog. Leider habe der Sohn nur Weiber statt Arbeit im Kopf und zu allem Unglück noch eine andere Frau geschwängert. Man war einhelliger Meinung: Er sei ein Lump. Ein Liederlicher!

„Seit wann wussten Sie, dass Sie in anderen Umständen sind?“, fragte der Amtmann.

„Ich weiß nicht … irgendwann hab ich es vermutet.“

„Erzählen Sie uns, wie es dazu kam.“

Elsa schaute stur geradeaus, mit geweiteten Augen, als sehe sie in die Vergangenheit. Wahrscheinlich war das ihre Art, die vielen Schöffen, Ratsherren und Zuhörer auszublenden. Stockend und mit hochrotem Gesicht berichtete sie: „Bei einem Tanzfest in Herborn im letzten Sommer, da haben wir uns kennengelernt. Er war nett und anständig, was man nicht oft findet. Danach haben wir uns manchmal getroffen.“

Jetzt sah sie Amtmann Tilemann fest an. „Thies Küster wollte mich heiraten, er hatte es mir fest versprochen. Deshalb … also, ich weiß, es war nicht richtig, aber er hat mir ewige Liebe geschworen.“ Ihre Stimme versiegte. „Dann blieb meine monatliche … äh … Unpässlichkeit aus … als mein Leib immer dicker wurde, hab ich geahnt, dass ich schwanger bin. Thies …“ Sie geriet erneut ins Stocken und schluchzte dann leise vor sich hin. „Er hatte es geschworen!“ Der Satz war kaum zu verstehen.

„Haben Sie Ihre Hausherrin, die Baldusin, über Ihren Zustand eingeweiht?“

„Nein.“ Elsa senkte den Kopf.

Das war ein entscheidender Fehler, dachte Caspar, denn wenn sie wirklich bewusst ihre Herrin im Unklaren gelassen hatte, würde sich das bei der Strafe nachteilig auswirken. Heimlichtuerei war ein Grund, die Strafe zu verschärfen. Offenbar war ihr in diesem Küster das Schicksal begegnet. Ein verheerendes Schicksal! Liebe und Schuld gehörten näher zusammen als Feuer und Asche.

„Haben Sie eine Hebamme aufgesucht?“

Sie schüttelte stumm den Kopf.

„Antworten Sie!“

Sie zuckte zusammen. „Nein“, hauchte sie und fältelte nervös ihren Rock.

„Hat Sie niemand auf Ihren Zustand angesprochen?“ Tilemann breitete die Handflächen zuoberst. „Das kann doch niemand verborgen geblieben sein. Es gibt verräterische Zeichen.“

„Einzig die Hedwig, aber ich habe mich rausgeredet. Dass ich heimlich Essen mit in die Kammer nehme und so.“

„Und, haben Sie das?“

Die Antwort kam wie ein Pfeil. „Nein, natürlich nicht. Wir hatten doch genug zu jeder Mahlzeit. Die Herrin war gütig.“

Aus den Augenwinkeln nahm Caspar ein zufriedenes Grienen auf dem runden Gesicht der Baldusin wahr. Die Kirchenglocke rief zur Mittagsstunde und der Amtmann unterbrach die Sitzung. Am Nachmittag würden sie erfahren, wie das Kind zu Welt gekommen war und was Elsa mit ihm gemacht hatte – ob sie es tatsächlich umgebracht hatte.

Beim Mittagessen im Gastraum saß Caspar am Tisch zusammen mit seinem Vater, Magister von Hohenstein, Kanzleidirektor Dilthey, Amtmann Tilemann und Ratsherr Horn. Die Küche der Krone hatte sich offenbar gut auf den Ansturm vorbereitet. Angesichts der vielen Gäste hatte man nicht nur im überfüllten Gastraum, sondern auch vor dem Haus Tische und Bänke aufgestellt.

Es gab heute nur zwei Gerichte, eines mit Fleisch und eines ohne, das letztere war wohl für ärmere Mitbürger gedacht. Kaum, dass sie alle einen Schluck Bier getrunken hatten, standen die Teller mit Bohnen, Erbsen, frischem Brot und einer gehörigen Scheibe Braten vor ihnen. Caspar aß das erste Mal hier, obwohl er so nah wohnte und oft mitbekam, wer hier ein und aus ging. Ihre Haushälterin bereitete auch das Essen zu, was in vielen wohlhabenden Familien von einer Köchin erledigt wurde. Doch Katharine konnte hervorragend kochen, weshalb ihm erst gar nicht in den Sinn kam, in die Krone zu gehen.

Caspar ließ sich das zarte Stück Fleisch mit der kräftigen dunklen Soße auf der Zunge zergehen und staunte über sich selbst. Wie war es möglich, dass selbst dieser bittere, düstere Prozess nicht verhinderte, eine köstliche Mahlzeit zu genießen?

Nur das Gespräch am Tisch kannte kein anderes Thema.

Ratsherr Schäfer stand mit seinem Teller am Tisch und ließ sich auf dem einzigen freien Platz neben Caspar nieder. „Vor dem Essen sind alle gleich“, witzelte er vielsagend in die Runde und beendete den Satz, „hungrig.“

Die Herren grinsten, nur Caspar wollte es plötzlich nicht mehr schmecken. Tilemann zwinkerte Schäfer zu, als der ihm mit dem Bier zuprostete.

„Was halten wir uns eigentlich so lange mit der Befragung der Feuermagd auf?“, wandte sich Schäfer an die Männer.

„Alles muss seine Ordnung haben“, erwiderte Caspars Vater in ernsten Worten, „und, ob nun diese Feuerteufelin oder ein Marktdieb vor dem hohen Gericht steht: Allen wird ein ordentlicher Prozess gemacht. Sie werden gehört, können sich verteidigen lassen und ihr Vergehen wird bewertet. Erst dann fällt das Urteil.“

„Hier ist die Sachlage doch klar“, proklamierte Dilthey mit vollem Mund, „was man von anderen Verfahren wahrlich nicht immer behaupten kann. Glauben Sie mir, die ganze Angelegenheit wird bald vergessen sein.“

„Da bin ich anderer Meinung“, mischte sich Caspar entschieden ein und tat seinen Vorsatz beiseite, sich aus der Diskussion rauszuhalten. „Hat denn niemand von Ihnen Mitleid mit dem armen Mädchen? Erst wird ihr Liebe vorgegaukelt, die Ehe versprochen und dann, als sie auf den Burschen reingefallen ist, schiebt man ihr die Schuld zu!“

Dilthey riss die Brauen hoch. „Sie hat Schuld! Sonst gäbe es kein totes Kind, oder? Das Schlimmste wäre, wenn wir sie nicht bestrafen würden.“

Die Männer nickten zustimmend, bis auf Caspar. „Die Verantwortung liegt beim Kindsvater“, befand er laut. „Ein Mann ist das Haupt der Familie und das ändert auch eine Liebschaft nicht. Es zeigt sich hier, wie verkehrt die Welt ist. Wäre er auf ihre Ehre bedacht gewesen, wäre sie nicht schwanger geworden. Er gehört angeklagt!“

Spöttisches Gelächter folgte. „Sie sind noch jung“, tat Tilemann Caspars Einwurf ab und machte eine Handbewegung, „und das ist diese Magd auch. Ihr Bursche hat über die Stränge geschlagen, ja, aber waren wir nicht alle mal jung? Fest steht, die Beklagte hat alle ehrenhaften Gebote außer Acht gelassen und sich ihm wahrscheinlich noch an den Hals geworfen.“ Er verzog seinen Mund an einer Seite. „Würde mich nicht wundern, wenn er vermögend ist.“

„Du warst wohl noch nie verliebt, was?“ Schäfer rückte näher zu Caspar und legte den Kopf schief. „Ich könnte da was arrangieren.“

Caspar starrte geradeaus und statt einer Antwort forderte er: „Sollten wir hier nicht gnädig sein?“

Die Frage blieb unbeantwortet im Raum hängen. Er glaubte zu fühlen, dass sein Vater die gleichgültige Erbarmungslosigkeit teilte. Darum wiederholte er aufgeregt seine Ansicht. „Das Schicksal der Magd liegt in Ihren Händen. Lassen Sie Gnade walten“, bat er nachdrücklich. „Wie würden Sie entscheiden, wenn es Ihre Tochter beträfe?“

Unter den gepuderten Perücken der honorigen Herren blieben die Mienen unbeeindruckt und selbst sein Vater warf ihm nur einen unwirschen Blick zu.

„Wenn der Kindsvater feststeht und verheiratet sein sollte, kann er sich noch auf eine Anklage wegen Ehebruchs gefasst machen“, bebte Horn und riss an seinem Jabot. „Was für eine Schande!“

„Na ja, wenn er ledig ist, kommt er mit ein paar Tagen Arrest richtig gut davon“, ergänzte Dilthey und verzog den Mundwinkel nach oben. „Man könnte es allerdings umgehen, wenn man die Kindsmutter heiratet.“

Horn stocherte auf seinem leer gegessenen Teller in übrig gebliebenen Erbsen.

„Wünschen wir uns nicht alle Gerechtigkeit?“ Magister von Hohenstein sog hörbar die Luft durch die Nase ein, ehe er hervorhob: „Sollte jemals eine Anklage erhoben werden, können wir in einem anständigen Prozess Rede und Antwort stehen. Wozu lehren wir in der Hohen Schule diese wesentlichen Grundlagen der Rechtsprechung? Das Studium der Juristerei ist bedeutend für unser Sacrum Imperium Romanum Nationis Germaniæ. Der innere Frieden wird damit gewährleistet. Wer immer sich nicht an die gültigen Gesetze hält, wird bestraft.“

„In einem allgemein gültigen und von den Menschen respektierten Gerichtsverfahren“, pflichtete Amtmann Tilemann bei, schob zufrieden seinen geleerten Teller in die Tischmitte und schlug die Beine übereinander. Die goldenen Schnallen auf seinen polierten Schuhen glänzten.

„Ich wünschte, das hätte man vor hundert Jahren in Haiger auch gekonnt“, bedauerte der Magister mit gekräuselter Stirn. „Da haben Spanische Truppen die Stadt geplündert und gebrandschatzt. Die Soldaten vom Regiment Don Lorenzo de Maestro haben sich ihrer Bestrafung durch Abzug entzogen.“

„Mein lieber Herr Magister“, flüsterte der Amtmann, aber für alle hörbar, „dann hätte man im Dreißigjährigen Krieg die halbe Welt hinter Gitter bringen müssen.“

Daraufhin folgte eine rege Debatte am Tisch. Caspar wäre am liebsten aufgestanden und gegangen. Doch das würde nicht gut ankommen, gerade jetzt, wo er tief in seinem Innern noch hoffte, die Herzen zu bewegen. Noch war das Urteil nicht gesprochen. Noch gab es eine kleine Hoffnung auf Straferlass.

„Verehrte Herren“, lenkte Schäfer mit dröhnendem Ausruf ein, „ich habe keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit unserer Ordnung und an unseres gnädigen Fürsten Regentschaft. Es war nur eine Anmerkung, um Sie ein wenig aus Ihrer Zurückhaltung zu locken.“ Er schob sich genüsslich eine Gabel mit einem dicken Fleischstück in den Mund und kaute schmatzend, ohne dass jemand daran Anstoß nahm. Als eine Schankmagd herzutrat, spendierte er eine Runde Bier für den Tisch.

„Und keine Fraglichkeit an des Herrn Geboten“, ergänzte Dilthey und hob den Becher.

Die Männer lachten und tranken, auch Caspar lächelte, obwohl er eine gewisse Unruhe verspürte, und ließ seinen Blick über die Gäste schweifen. Ob einer der Dillenburger Pfarrer zufällig anwesend war? Mochte Schäfers Ausspruch noch so amüsant gemeint sein, eine gewisse Wahrheit darin ließ sich nicht leugnen.

Während die eine oder andere Billigung gemurmelt wurde, trat die Schankmagd erneut an den Tisch und stellte die gefüllten Becher ab. Schäfer warf ihr einen nachdrücklichen Blick zu, den sie ignorierte, bevor er das Bier hob. „Auf eine gerechte Strafe.“

Caspar konnte sich der Aufforderung nicht entziehen. Sein Vater blickte in seine Richtung und hob beschwörend die Brauen. Wahrscheinlich war es besser, jetzt den Mund zu halten und sich auf die kommende Aufzeichnung der Aussagen zu besinnen.

„Noch eine Frage“, warf sein Vater in die Runde und Caspar hielt die Luft an, ob er Schäfer zu neuen Ideen anstachelte. „Weiß jemand, ob man bereits einen Kurschmied verpflichten konnte?“

Erleichtert hörte Caspar, wie der Amtmann die Männer davon in Kenntnis setzte, dass ein gewisser Hufschmied Meckel aus Herborn solange die Pferde versorgen würde, bis Wolmar wieder seine Werkstatt aufgebaut hatte.

„Wir haben uns gleich darum gekümmert“, berichtete Tilemann, „schließlich müssen die Tiere in regelmäßigen Abständen beschlagen werden. Da ändert auch ein Stadtbrand nichts dran. Einige Pferde konnten gerettet werden und diese brauchen wir dringend.“

Tilemanns Beteuerungen hatte Wirt Heydersdorff wohl mitbekommen, der grüßend an den Tischen entlangging. Er blieb neben Caspar stehen, rieb sich verlegen über die Glatze, bevor er sich vor der Runde verbeugte. „Meinen untertänigsten Dank, verehrter Herr Amtmann. Sie haben uns sehr geholfen, denn selbst die Rösser der Reisenden benötigen öfters einen Schmied.“

„So soll es sein!“, lachte Tilemann. „Helfer in der Not. Übrigens, einen Gruß an die Hauswirtin. Es hat hervorragend gemundet.“

Die Männer nickten und noch bevor eine weitere Diskussion entstand, mahnte die Kirchturmuhr, die Verhandlung fortzusetzen.

„Ach, schade“, fand Schäfer mit einem Augenzwinkern und trank die Neige, „wenn ich jetzt bei einem Schnaps sitzen bleiben könnte, wäre ich viel erträglicher.“

„Herr Rat!“ Tilemann war aufgestanden und legte ihm freundschaftlich die Hände auf die Schultern. „Ich darf doch sehr bitten. Der Prozess verlangt eine sachliche und besonnene Erörterung. Und jetzt lassen Sie uns hineingehen und die Geschichte zu Ende bringen.“

Caspar bemerkte ein paar neue Gesichter unter den Zuschauern. Wahrscheinlich freuten sich jetzt ein paar Leute, die freigewordenen Plätze einzunehmen. Die Dillenburger Bürger unterschieden sich nicht mehr von den Bauern von außerhalb. Wer von ihnen vielleicht mal gebührlichere Kleidung besessen hatte, musste sich jetzt mit groben Jacken, bescheidenen Leinenröcken und unauffälligen Schultertüchern begnügen.

Die Befragung von Elsa Petry wurde fortgesetzt.

„Woran merkten Sie, dass die Geburt begann?“, wollte der Amtmann wissen.

„Mir zog es im Leib, erst wenig, dann immer heftiger. Ich wusste von der Herrin, dass das die Anzeichen sind. Sie hat fünf Kindern das Leben geschenkt und bei zweien musste ich das Wasser kochen und Tücher bringen.“

Tilemann setzte erneut an. „Wer hat Ihnen bei der Entbindung geholfen?“

„Niemand“, gestand sie. Man merkte, dass ihr die Befragung mehr und mehr zusetzte.

„Was taten Sie, als die Wehen stärker wurden?“

Ihre Stimme wollte ihr nicht mehr gehorchen. Ein Hustenanfall rüttelte sie und wollte nicht enden. Es hörte sich an, als fauche sie aus hohler Lunge. Zweimal setzte sie an, bis sie endlich beim dritten Mal erschöpft hervorpresste: „Es war am frühen Morgen. Die ganze Nacht konnte ich wegen der Schmerzen nicht schlafen. Dann habe ich Hedwig vorgeschlagen, die Kühe zu melken. Ich wusste, dass sie das hasste. Sie arbeitete viel lieber in der Küche. Ich glaube, die Herrin war einverstanden, ihr war es egal, wer die Arbeit tat. Hauptsache, sie wurde getan. Dort, im Stall, bin ich nach dem Melken auf die Tenne geklettert. Und dann … dann weiß ich nicht mehr.“

Ihr Schluchzen ließ niemand kalt. Davon war zumindest Caspar überzeugt.

„Sie müssen doch wissen, was passierte“, stutzte sie der Amtmann zurecht. „Oder sind Sie etwa in Ohnmacht gefallen?“

Ein paar Lacher waren zu hören, doch sofort war es wieder leise, als Elsa erklärte: „Die Schmerzen waren stark, es war kaum auszuhalten. Ich dachte, ich sterbe. Plötzlich war es da, das Kind. Ein Junge. Und die Schmerzen waren weg. Einfach weg.“ Elsa sah mit ihren angstvollen Augen zur Decke des Saales. „Ich hab ihn angeschaut. Aber er atmete zuerst nicht.“

„War er tot?“

Caspar sah, dass sie jetzt stark zitterte.

Sie musste mehrmals schlucken, bevor sie gestand: „Nein. Aber dann hörte ich, wie Hedwig nach mir rief. Als er zu jammern begann, habe ich das gebügelte Tuch, das ich aus der Kammer mitgenommen hatte, über ihn gelegt, damit wir nicht entdeckt werden. Plötzlich war er still. Ich hab mich ruhig verhalten. Hedwig wusste ja nicht, dass ich von da oben sehen konnte, wie sie mich im Stall suchte. Dann ist sie wieder weggegangen.“

„Was haben Sie dann mit dem Säugling gemacht?“

„Ich weiß nicht mehr … ich glaube, ich hab das Tuch von ihm weggenommen.“ Ihre Stimme wurde gedämpft. „Er hat nicht mehr geatmet.“

Ein Raunen ging durch den Raum.

„Was geschah weiter?“

„Da war noch die Schnur … also, die Schnur zum Kind, ich wusste nicht, was ich damit machen sollte. Ich zog daran.“

„Und?“

„Da war plötzlich eine schwammige Masse. Ein riesiger Blutklumpen. Ich habe mich erschrocken, dachte, es käme noch ein Kind. Plötzlich war alles vorbei. Ich wusste gar nicht, was ich tun sollte. Hab mich ausgeruht.“ Jetzt fing Elsa unbeherrscht an zu schluchzen.

Caspar spürte, dass sie ehrlich um ihr Kind weinte. Warum hatte dieser elendige Thies sie nicht geheiratet? Dann wäre bestimmt der kleine Junge noch am Leben. Ein verschenktes Herz und seine Folgen erlebte er hier.

Er sprang auf und sein Stuhl schabte geräuschvoll nach hinten, dass die Köpfe in seine Richtung flogen. „Habt doch Erbarmen mit Elsa Petry!“, brüllte er – aber nur in Gedanken. Den Mund geöffnet, brachte er keinen Ton heraus, als ob eine stille Macht ihn daran hinderte. Unzählige Augenpaare starrten ihn an, was das nun zu bedeuten habe.

Verwirrt klappte Caspar den Mund wieder zu und ließ sich ernüchtert zurück auf den Stuhl fallen. Wahrscheinlich würde man ihm sonst Missachtung des Gerichts vorwerfen und auch sein Amt als Gerichtsschreiber versagen – mit schwerwiegenden Folgen für seine Zukunft. Und das Urteil würde trotzdem so ausfallen, wie es bestimmt war. Doch Gott war größer und stand über allem. Caspar würde im Stillen für die Feuermagd beten!

„Was geschah dann?“ Tilemann ließ nicht locker und musterte sie unentwegt.

Elsa schniefte und rang die Hände. „Ich habe diesen … diesen Klumpen erst mit einem Messer, das ich bei den Geräten im Stall fand, vom Kind getrennt, ihn in einen Eimer versteckt und dann das Kind in das Tuch eingewickelt. Eigentlich sollte ich nach dem Melken zum Markt gehen. Aber ich habe stattdessen die Zeit genutzt, im Stall das Bündel zu holen und zu fliehen. Ich sah, dass das Kind gestorben war und habe mich deshalb in einer Scheune von Bekannten versteckt. Ich wusste, dass kurz zuvor jemand auf dem Friedhof beerdigt worden war. In der Nacht bin ich heimlich hin und habe das Kind dort unter der frischen Erde begraben. Ich wollte ihm“, sich schluchzte auf, „die letzte Ehre geben. Ich habe dann noch das Vaterunser gesprochen.“

Man könnte meinen, sie redete von einem Fremdkörper. Warum sagte sie nicht ‚mein Sohn‘? Vermutlich wahrte sie Abstand, um von ihren Gefühlen abzurücken. Wie ihr totes Kind gefunden worden war, war inzwischen bekannt. Tilemann berichtete es nochmals für alle.

Er neigte den Kopf zur Seite und ließ sie nicht aus den Augen. „Geben Sie zu, dass Sie Ihr Neugeborenes durch Ersticken umgebracht haben?“

„Ja.“

Mindestens die Hälfte der Anwesenden schnappte nach Luft. Damit hatte offenbar niemand gerechnet, wohl eher mit vehementem Abstreiten und unsinnigen Ausreden.

Selbst Amtmann Tilemann wirkte für einen kurzen Moment verwirrt, fing sich aber sofort wieder. „Sie können sich setzen. Ich erteile dem Verteidiger, Herrn Advokat Craft, das Wort.“

Rundlich wie der Mond blickte das Gesicht von Verteidiger Craft zu den Schöffen, der mit allen Mitteln der Kunst versuchte, das Geständnis seiner Klientin zu relativieren. Weder ihn noch die Herren Schöffen ließ gleichgültig, was nun mit Elsa geschehen würde. Craft appellierte an das hohe Gericht, ihren Ausnahmezustand anzuerkennen und dass sie nicht Herr ihrer Sinne gewesen sei.

„Niemand hat gesehen, dass sie entbunden hat. Das sind alles nur Verdächtigungen. Vielleicht ist das Kind von jemand ganz anderem und wurde ihr böswillig untergeschoben?“

Ein Wispern schwebte durch den Saal.

„Die Beklagte hat die Vorwürfe umfänglich eingeräumt“, widersprach Amtmann Tilemann scharf. „Die Dienstmagd Elsa Petry macht nicht den Eindruck, durchgedreht zu sein. Wir glauben ihr und sind überzeugt, dass sie schuldig im Sinne der Anklage ist.“

„Dem widerspreche ich. Wie sonst ließe sich erklären, dass sie, die einen besten Ruf in ihrem Heimatort und bei ihrem Dienstherrn genoss, angeblich völlig sinnlos das Tuch über den neugeborenen Sohn gelegt hat?“ Er spitzte die Lippen und überlegte. Elsa hatte ihm, fand Caspar, alle Argumente zerschlagen. Wahrscheinlich hatte er sie sogar angehalten, vor Gericht zu schweigen, was sie aber nicht getan hatte.

„Hohes Gericht, ich kann versichern, die Geburt hat ihre Sinne verwirrt“, beteuerte er. „Sonst hätte sie doch nie ein Tuch über ihr Kind gelegt. Eine Entbindung ist ein tiefgreifendes Erlebnis und da ihr niemand zur Seite stand, wusste sie nicht, was sie in ihrer Verzweiflung tat. Wahrscheinlich hatte der kleine Junge auch ein schwaches Herz. Ich bitte das hohe Gericht, diese Aspekte bei der Urteilsfindung mit Wohlwollen zu berücksichtigen.“ Der kleine, kräftige Mann klemmte sich sein Monokel vors Auge. „Alles dürfen Sie meiner Mandantin unterstellen, aber keine böse Absicht. Sie ist unschuldig und entsprechend ist ihre uneheliche Entbindung zu bewerten.“

Wahrscheinlich hatte Elsa sogar das Tuch über ihn ausgebreitet, um den Säugling vor dem Erfrieren zu schützen. Zu gerne wollte Caspar glauben, dass sie harmlos und ohne Absicht gehandelt hatte. Doch ob das genügte? Elsa hatte alles zugegeben, was man ihr vorwarf!

Alle christlichen Ermahnungen hatte diese Magd verworfen und sich dem Frauenschwarm und Nichtsnutz Thies Küster hingegeben, der geflüchtet und trotz Nachforschens unauffindbar blieb. Wie es schien, hatte er noch weitere Frauengeschichten am Hals.

In Caspars Magengegend brannte es heftig. Das angezettelte Feuer wog ebenso schwer wie die Kindstötung, vielleicht sogar noch schwerer. Er betete still um Milde für Elsa Petry. Vielleicht ging es noch glimpflich für sie ab und sie bekam nur eine Zuchthausstrafe und Landesverweis. Würde sie Erbarmen finden? Vor Gott ja, wenn sie Reue zeigte, aber auch vor den Menschen? Wie würde das Urteil ausfallen?