In den beiden folgenden Nächten machte Philippa kein Auge zu. Über Stunden schickte sie stille Gebete in die Dunkelheit. Was hatte sich in den letzten Wochen alles geändert! Trotz der verworrenen Lebensumstände war die Hilfsbereitschaft für die notleidenden Menschen immens. Nur mit Elsa hatte außer ihr anscheinend niemand auf der Welt Mitleid.
Als sie mit der Herrin, Hiltgunt und den größeren Kindern den Kirchberg hinunterging, wälzte sich bereits eine Menschenmenge Richtung Viehhof. Enners war mit einem Knecht der Nachbarn bereits vorgegangen und Severin blieb bei Grete. Dass viele Leute die Hinrichtung sehen wollten, war klar, aber wie die Stadt regelrecht von Menschen überrollt wurde, unaufhaltsam wie eine Invasion von Ameisen, erschreckte Philippa. Warum fluteten sie die Stadt, um sich an diesem Spektakel zu erfreuen? Und warum nahmen sie selbst ihre kleinen Kinder mit? Niemals hatte sie so viele Leute auf einmal gesehen. Waren jetzt die Dörfer zu Gespensternestern geworden?
Philippa betrachtete die Menschen, die vor und neben ihr hergingen. Niemand schien es zu stören, dass sie in geflickten und fleckigen Kleidern daherkamen, geradeso, als hätten sie sich in der Stadt verlaufen. Wahrscheinlich hatten sie sogar ihre Arbeit unterbrochen, um ja nichts zu verpassen. Sie bildeten in ihrer Ärmlichkeit das genaue Gegenteil des ehrwürdigen hohen Gerichts, das bereits auf dem Viehhof in der Nähe vom Haus des Kanzleidirektors wartete. Gaukler und Marktschreier standen herum und zogen dem Volk mit dargebotenen Geschicklichkeiten und belanglosen Sachen die letzten Münzen aus der Tasche.
Über ihnen hatte sich ein wolkenloser Sommerhimmel gespannt und Philippas Blick schweifte über die Köpfe, streifte die Scheunendächer des Hüttenplatzes, bis er sich über den Baumwipfeln der Eberhart verlor. Sie schluckte. Warum musste die Sonne mit geballter Kraft den Todestag ihr lieben Freundin Elsa beleuchten? War es eine geheime Botschaft, dass sie in ein paar Stunden das ewige Licht sehen würde? Falls sie Buße getan und Gottes Vergebung empfangen hatte …
„Oh“, stöhnte sie und schlug sich die Hand vor den Mund, um nicht jetzt schon laut loszuheulen. Bis heute hatte sie sonnige Tage geliebt – die Leichtigkeit, die ein Sommertag mit leichtem Wind verhieß, mochte er auch noch so anstrengend sein. Nichts um sie her wies auf verhaltenes Flüstern hin, wie es zu hören war, wenn jemand im Dorf gestorben war. Hier war es laut, ein Durcheinander an Stimmen, Voraussagen und Lamentieren über Weiber und ihre Sündhaftigkeit. Und dass die Strafe heute bei Weitem nicht so hart sei wie der Herrgott sie für die arme Seele bereithielt.
Philippa fühlte sich schon jetzt untröstlich. Sie erinnerte sich an eine Predigt, die vor ein paar Wochen der zweite Pfarrer Brand gehalten hatte. Gott sprach Menschen frei, wenn sie ihre Verfehlungen bekannten. Selbst der Verbrecher am Kreuz wurde in letzter Minute gerechtfertigt und durfte sich des ewigen Lebens sicher sein. Gott interessierte es von da an nicht mehr, welche Sünden ein Mensch auf sich geladen hatte. Ob er ein Dieb, Lügner oder Mörder gewesen war, nein, seine Fehler waren durch Jesus Christus für immer beseitigt worden, als habe es sie nicht gegeben.
Ihr Herz pochte laut. Die Menschentraube war zum Stehen gekommen. Ab und zu bekam Philippa einen Stoß ab oder jemand trat ihr auf die Füße. Sie konnte jetzt den Viehhof sehen, wo Amtmann Tilemann mit Räten und Schöffen bereits Aufstellung genommen hatten. Wachen sorgten dafür, dass um sie herum genügend Platz freigehalten wurde und die Menschenmenge in gebührendem Abstand den Schuldspruch verfolgen konnte. Oder die Strafe nicht durch wütende Zuschauer selbst vollzogen wurde.
Mit einem Mal wurde es um Philippa stiller. Erst jetzt hörte sie die Stimme, die über die Köpfe tönte. Dann schollen Rufe in die Menge.
„Platz da!“
„An die Seite!“
„Lasst uns durch, sonst setzt’s was!“
Ein Gedränge entstand, wieder wurden ihre Herrin vor ihr, sie selbst und die Kinder neben ihr geschubst und Unruhe verbreitete sich vehement. Sehen konnte sie erst mal nichts, bis sie endlich die Köpfe der Gerichtsknechte erkannte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen. Jetzt konnte sie eine weibliche Gestalt ausmachen: Es war Elsa, die sie herführten, vom Stockhaus droben aus dem kalten Loch hervorgezerrt bis hier zum Viehhof. Dann waren sie inmitten der Leute verschwunden. Wahrscheinlich waren sie jetzt am Viehhof angekommen.
Während Philippa noch nachdachte, wie sie in die Nähe von Elsa kommen könnte, hörte sie Sybilla von Hohensteins energische Stimme vor sich: „Wollt ihr mir wohl Platz machen?“, schimpfte sie und trat vor, als sich ein paar Leute vor ihr umdrehten. „Lasst mich durch, ihr Ungezogenen. Was bildet ihr euch ein, herzukommen und könnt euch nicht benehmen?!“
Die Worte und ihre vornehme Kleidung zeigten Wirkung. Mit einem Mal tat sich eine winzige Gasse vor ihnen auf, dass ihre Herrin voranschritt, weiter befehlend und sich beschwerend, während Philippa mit den Kindern Schritt zu halten versuchte.
Nach wenigen Minuten standen sie in der zweiten Reihe in der Menge, die sich, wenn auch weit von ihm entfernt, um Amtmann Tilemann scharte.
Sie hörte, wie Tilemann zu sprechen begann.
„Bürger von Dillenburg!“, rief er. „Wir, das Schöffengericht, sind heute hier, um das Urteil gegen Elsa Petry öffentlich zu verkünden. Bildet jetzt einen inneren und einen äußeren Kreis um sie, wie es das Gesetz vorsieht.“ Er trat einen Schritt zurück und reihte sich ein bei den Räten und Schöffen, die hinter ihm standen, um auf die Leute zu warten. Stadtgericht und Pfarrer würden den inneren Kreis zur Verlesung des Urteils formen. Der äußere Kreis war dazu gedacht, dass kein wütender Geschädigter vor Vollstreckung des Urteiles über Elsa herfiel.
Vor Tilemann harrten die Gerichtsknechte aus mit Elsa, die barfuß war und ein helles, grob gewebtes Gewand trug, mit einer Haube auf den schwarzen Haaren. Der Kanzleidirektor stand direkt neben ihr und ringsum hatten sich Soldaten postiert. Ihre Verantwortlichkeit trennte die Beklagte samt Amtspersonen von der Menge. Nur so konnten sie gewährleisten, dass das Strafmaß verkündet und ausgeführt wurde.
Philippa keuchte. Die Aufregung machte ihr arg zu schaffen. Elsa so zu sehen, ließ ihr Herz sterben. Sie krallte die Hände in den Stoff ihres Rockes, bis ihr die Finger wehtaten, und hob den Kopf, um die Freiwilligen zu mustern.
Aber der Platz vor den Räten blieb leer. Philippa sah sich um und hörte, wie ein Raunen durch die Menge ging. Was war denn los? Ließen die Wachen sie nicht durch?
Schwer atmend wischte sie sich ein paar Tränen weg, die ihr in den Augen brannten und den Viehhof verschleierten. Sie blinzelte, doch als sie wieder klar sehen konnte, war immer noch niemand vorgetreten – bis auf den Amtmann, der jetzt brüllte: „Wachen, holt die Leute von den Dörfern nach vorne, dass sie die Aufgabe der Dillenburger übernehmen.“ Er wischte sich mit einem Tuch über die Stirn. „Das ist ein Befehl!“
Die Unruhe unter den Zuschauern wurde immer größer. Jetzt traten die Wachen vor und mischten sich unters Volk, fragten, wer von wo käme und suchten Männer, um sie auf dem Platz zu postierten.
„Herrgott im Himmel“, stöhnte die Herrin auf, mit bebendem Nasenflügeln und flatternden Lidern, „das hat es ja noch nie gegeben.“
War das das Wunder, auf das Philippa gehofft hatte? Wenn sich niemand aufstellte, konnte das Urteil nicht verlesen werden und wurde nicht rechtskräftig. Ein winziges Fünkchen Hoffnung schwelte in Philippa. Hatten die Dillenburger Bürger sich auf die Seite von Elsa geschlagen? Wollten sie zeigen, dass Gnade möglich war?
Philippas Herz klopfte wie wild. Sie drehte den Kopf, um zu sehen, ob irgendwer sich nach vorne zerren ließ. Die Wachen ließen sich kaum ausmachen, weil zu viele Leute herumstanden. Doch kurz darauf stolperten etliche Männer nach vorne, begleitet von Soldaten.
Schlimm, dachte Philippa und starrte resigniert auf das Stadtgericht. Die verwirrten Gesichtsausdrücke der fein ausstaffierten Herren mit ihren weißen Strümpfen und Schnallenschuhen glätteten sich. Auf ein Nicken des Amtmanns in seiner Funktion als Richter hin traten die Wachen zur Seite und überließen die nervösen Männer um Elsa ihren Aufgaben als Statisten, hübsch im Kreis aufgestellt, wie es die Vorschrift gebot.
Das Lächeln in Tilemannns Gesichts war eher ein Ausdruck des Triumphes als der Freude über die, die ihre Meinung durch Zurückhaltung kundgetan hatten. Er hielt einen Bogen Papier in der Hand und rief mit durchdringender Stimme über den Platz:
„Ihr Bürger von Dillenburg und ihr Leute, die ihr heute zusammengekommen seid, um an der Verkündigung des Urteils gegen Elsa Petry teilzunehmen. Die äußeren Umstände hierzu sind nun ausgeführt.“
Philippa seufzte und ihre Augen schweiften an der Häuserfront entlang. Aus jedem Haus starrte jemand aus dem Fenster und an einem erkannte sie den älteren Bürgermeister Weis. Die Häuser daneben gehörten dem fürstlichen Mundkoch und dem Oberjägermeister. Gegenüber lebten der Hofbüchsenmacher, der Bereiter und der Oberförster. Sie und noch ein paar ehrenwerte Familien besaßen allesamt die edelsten Plätze, das Ereignis zu beobachten.
Nur ein paar Schritte von Elsa entfernt stand breitbeinig der Schinder. Philippa wusste seinen Namen nicht, aber anhand seiner Kleidung und seiner Geräte musste er es sein. Über seinem schwarzen Wams trug er noch eine kurze, schwarze Pelerine mit Kapuze. Jetzt trat er, das Richtschwert an der Seite befestigt, neben Elsa und wartete, bis Amtmann Tilemann mit der Lesung des Urteils begann.
„Ich sehe nichts“, jammerte Georg und streckte den Kopf nach oben.
Wie gut, dachte Philippa und sagte: „Es passiert grade nichts. Die Elsa kriegt nur ihr Urteil verlesen.“
Sie blickte zur Seite und war überrascht, dass die Mädchen wohl die Tochter eines Ratsherrn getroffen hatten und miteinander schwatzten. Hoffentlich merkten sie nicht, dass sich die Situation vor ihnen zuspitzte. Niemand wusste, was gleich kommen würde, aber es konnte nur schlimm werden. Abgrundtief scheußlich. Wer ein klein wenig verstanden hatte, welche Vergehen welche Strafen bekamen, ahnte, wie solch ein Todesurteil für Elsa aussehen würde.
Kaum hatte Tilemann seine Stimme erhoben, zuckte Philippa zusammen, weil hinter ihr und überall aus der Menge Drohrufe und Schimpftiraden auf Elsa niederprasselten. Es würde sie nicht wundern, wenn sie faules Obst mitgebracht hatten, um es auf Elsa zu schleudern. Philippa duckte sich instinktiv, obwohl sie gar nicht gemeint war, und musste sich anstrengen, den Worten des Amtmanns zu folgen.
„Die Dienstmagd Elsa Petry, gebürtig aus Breitscheid, wird beschuldigt, außerhalb des heiligen Bunds der Ehe schwanger geworden zu sein und ihr neugeborenes Kind getötet zu haben. Erschwerend kommt hinzu, dass sie die Schwangerschaft ihrer Herrschaft verschwiegen hat und das Kind, nachdem sie es erstickte, heimlich auf dem Herborner Friedhof in der Erde eines zuvor bestatteten, redlichen Bürgers vergraben hat. Die Flüchtige wurde gefasst und durch die Nachsicht unseres Landesherrn Fürst Wilhelm in der Hintergasse festgesetzt. Dort hat sie das Haus mit der Absicht zu fliehen, angesteckt, was in dem entsetzlichen Stadtbrand gipfelte, bei dem mindestens zweihundert Häuser niedergebrannt und sehr viele Menschen obdachlos und mittellos geworden sind. Die Angeklagte hat die ihr vorgeworfenen Taten umfänglich eingeräumt. Das Hochnotpeinliche Halsgericht hat gemäß der Constitutio Criminalis Carolina das Urteil gefällt …“
Philippa schnappte nach Luft. In ihrem Kopf brandete es. Alles flimmerte vor ihren Augen. Tilemannns Stimme drang wie durch eine Nebelwand in ihr Ohr und sie bekam nur noch Satzfetzen mit.
„… wird Elsa Petry wegen Brandstiftung und Töten ihres neugeborenen Kindes zum Tode … mit einer feurigen Zange … an Stangen … zum Richtplatz … dem Feuer zu übergeben …“
In einer blitzartigen Reaktion schlug sich Philippa die Hand vor den Mund und biss die Zähne derart fest zusammen, dass es knirschte, um den Brechreiz zu unterdrücken, der sie überfiel. Sie konnte vor Schreck noch nicht mal weinen.
Dass die Herrin die Kinder hierhin mitgenommen hatte, konnte sie nicht verstehen. Wahrscheinlich würden sie heute Nacht eingeschüchtert wachliegen oder von Albträumen geschüttelt nach ihrer Mutter oder ihr rufen.
Ach, könnte doch Caspar an ihrer Seite sein! Stattdessen stand er bei honorigen Herren und protokollierte womöglich noch diese Stunde. Philippa sah wieder nach vorn und war erstaunt, wie gefasst Elsa wirkte. Kerzengerade, als habe sie keine Schuld zu tragen, hatte sie den Urteilsspruch entgegengenommen. Während ein Gerichtsknecht ihr die Hände auf dem Rücken fesselte, suchte Philippa weiter hinter ihr nach Caspar. Da! Jetzt sah sie ihn. Er stand, bleich im Gesicht wie die kreideweißen Perücken seiner Räte, neben seinem Vater – gleich daneben Ratsherr Schäfer. Was ging wohl in ihm vor?
Zu Philippas Bedauern würde Elsa die Gnade eines Schwertes versagt bleiben. Mit einem kurzen Seitenblick vergewisserte sie sich, dass die Kinder noch neben ihr standen. Als sie wieder aufschaute, war Caspar verschwunden und obwohl sie die Gruppe der Räte ausforschte, war er nirgends zu sehen. Vielleicht war er weggerufen worden oder es war ihm zu nahe gegangen.
„Herrin“, sagte sie und drehte den Kopf zu Seite, „wäre es nicht besser, mit den Kindern nach Hause zu gehen?“ Erst jetzt bemerkte sie das aschfahle Antlitz von Sybilla von Hohenstein. Wahrscheinlich hatte diese auch nicht mit so einer grausamen Todesstrafe gerechnet.
Die Herrin rang nach Worten, verstummte wieder und nickte plötzlich. „Du hast recht. Mir ist das auch nichts. Ich gehe wieder heim.“ Zu ihren Kindern gewandt, raunte sie: „Und ihr kommt mit!“
Marie sah enttäuscht drein, aber Melusine wollte nicht aufgeben. „Aber du hast es uns versprochen! Bitte, Mutter.“
Die Herrin seufzte tief. Dann straffte sie die Schultern, griff nach den Jungen und zog sie zu sich. „Kommt nicht infrage! Ihr kommt mit. Philippa, du trägst Sorge, dass sie nicht alleine wohin gehen, verstanden?“
Philippa nickte. Obwohl Georg murrte, blieb die Herrin unnachgiebig und war im Nu aus Philippas Blickfeld verschwunden. Artig hakten sich die Mädchen bei ihr unter. Philippa würde sie wie ihren Augapfel behüten, was angesichts der dicht gedrängten Menge fast nicht möglich war.
Plötzlich spürte sie eine Hand auf der Schulter.
Instinktiv unterdrückte sie einen Schrei und stolperte nach vorne. Sofort wurde sie durch den Rücken eines Bürgers aufgehalten. Er drehte sich um und warf ihr einen wütenden Blick zu. Sie entschuldigte sich für die Unachtsamkeit und wandte den Kopf. Da stand Caspar mit besorgtem Gesicht und nestelte fahrig an seinem Jabot.
Philippa ließ die Mädchen los. „Kannst du einfach dort weg?“ Sie wies zu den Räten und Schöffen.
Er nickte. „Ich musste dich sehen. Wie geht es dir?“, fragte er leise.
Philippa zog die Schultern hoch. „Na ja … nicht gut.“ Dass sie wiederholt ein Würgegefühl verspürte, verschwieg sie. „Heute ist ein schlimmer Tag. Der schlimmste überhaupt.“
Caspar hob hilflos die Hände und holte Luft. „Gott sei’s geklagt.“
Beifall brandete auf. Philippa schaute verwirrt umher, bis sie den Schinder vor Elsa stehen sah. Seine Kapuze verhinderte, dass man ihm dabei ins Gesicht sehen konnte, aber eigentlich wollte das auch niemand. Elsa war inzwischen rücklings an zwei langen Stangen festgebunden.
Philippa schnappte nach Luft, ihr Herzschlag raste und sie presste die Hand an den Mund. Alle wollten Elsa sehen, wie sie litt, wie sie schrie. Für eine Feuerteufelin und Kindsmörderin gab es dieses besondere Blutgericht in aller Öffentlichkeit.
Die Weinhändler, Bauern, Bierbrauer, Räte, Schöffen, Küchenmädchen, Pfarrer, Tagelöhner, Holzhauer, Spinnerinnen, Apotheker, Schuhmacher, Bader, Kinder, Kesselflicker und wer auch immer in der Menschenmenge zu finden war. Sie alle verstummten plötzlich. Philippa griff nach den Händen der Mädchen, nickte Caspar zu und drängte mit ihnen zum Kirchberg. Sie wollte nicht mitansehen, wie Elsa misshandelt wurde und erst recht nicht sollten die Mädchen den Schinder beobachten.
Erst als sie beim Haus der Familie von Hohenstein angekommen waren, blieb Philippa stehen. Sie drehte sich bang vor Kummer nochmals um. Aus den Gassen klangen Frauenstimmen, die andächtige Choräle sangen. Philippas Blick verlor sich am Galgenberg, der auf der gegenüberliegenden Talseite aufragte. Allenfalls würde man den Feuerschein erkennen und womöglich einen grölenden Haufen hören.
Sie würde die Mädchen ablenken müssen, vielleicht mit einem Spiel oder ein paar gemeinsamen Liedern am Klavier, obwohl ihr nicht nach Singen zumute war. Auf keinen Fall durften die Kinder aus dem Fenster sehen. Das Leben würde noch herzlos genug sein, aber heute mussten ihre zarten Seelen geschützt werden.
*
Die öffentliche Verlesung des Urteiles durch Amtmann Tilemann auf dem Platz und für alle, die es hören wollten, war vorgegeben. Selbst Bürgermeister Weis hatte seinen Beobachtungsplatz am Fenster aufgegeben und war herzugetreten. Der Drang, alles aus nächster Nähe mitzuerleben, hatte anscheinend wahre Wunder an seiner Gesundheit bewirkt haben, sodass er auf einen Stock gestützt dabeistand. Als er Philippa erblickt hatte, hatte Caspar nur noch weggewollt aus dem Kreis der Ratsmitglieder. Ihm war nicht nur wegen der angekündigten Details der Strafe schlecht geworden, sondern auch wegen eines Gespräches, das er inmitten der Räte unfreiwillig mitgehört hatte.
„Wissen Sie, woran ich denken muss?“, hatte Ratsherr Schäfer gefragt.
„Dass sie vorher ein hübsches Mädchen war?“, riet Ratsherr Daniel, der neben Schäfer stand, mit seiner ungewöhnlich hohen Stimme. „Davon ist leider nicht viel über.“
Schäfer belehrte ihn. „Als man damals die Hexen verbrannte, wurden den Hinterbliebenen nicht nur die Kosten für die Hinrichtung aufgebrummt, nein, es konnten sogar Wein und Speise im Wirtshaus bestellt werden. Für alle am Prozess Beteiligten. Ich finde, das sollte man wieder einführen.“
Niemand lachte. Selbst sein Vater, der sonst manchen rauen Spaß verstand, verschränkte die Arme vor der Brust und warf dem Wollwebermeister einen missbilligenden Blick zu. „Es gibt Zeiten, die wollen wir uns nicht zurückwünschen! Sinnlose Bosheiten waren das.“
Schäfers Miene gefror. Kanzleidirektor Dilthey dagegen schwelgte in Erinnerungen mit glänzenden Augen. „Ratione suptuum et expensarum.“ Und für die begierig dreinblickenden Eisentraut und Schäfer glänzte er herablassend mit gerecktem Hals durch sein Examen-Latinum: „Zur Erstattung der Ausgaben und Unkosten.“
Schäfer stieß einen leisen Fluch aus.
Caspars Vater sprach dann aus, was er selbst gedacht hatte: „Manchmal hat ein Graf auch gnädig den Tod durch das Schwert gewährt.“ Und fügte bedauernd hinzu: „Was hier wahrscheinlich nicht infrage kam.“ Er hatte seine Worte mit Bedacht gewählt. Um nichts in der Welt wollte es sich sein Vater mit dem Fürsten und den Ratsmitgliedern verscherzen.
Ganz aus der Nähe rief ein alter Bauer, der wohl dem Gespräch gelauscht hatte: „Wahrscheinlich, weil er wusste, dass der Schinder nicht richtig trifft! Hätte mich nicht gewundert, wo doch sein Vater schon mal nachschlagen musste.“
Bürgermeister Göst drehte sich in seine Richtung. „Dich hat keiner um deine Meinung gefragt. Also halt’s Maul.“
Ein paar Räte hatten laut gelacht.
Nachdem Philippa den Heimweg angetreten hatte, stellte sich Caspar wieder zu den Schöffen und Räten. Der erste Teil der Strafe stand nun an. Caspar wurde erneut schlecht, als er sah, wie Elsa unter der Folter litt.
Dann wurde eine Pause gemacht. Auf dem Weg zum Richtplatz würde Elsa noch mehrmals malträtiert werden, so sah es das Urteil vor. Die Räte nahmen zufrieden ihre Gespräche auf, die aber schon kurz darauf wieder verstummten. Es kam plötzlich Bewegung in die Menschenmenge. Stimmen wurden laut und holten ihn in die Wirklichkeit zurück. Leute, die sich ihre mitgebrachten Brotkanten und Käsestücke in den Mund schoben, hörten auf zu kauen und starrten in die Richtung, aus der der Tumult kam. Sie bildeten eine Gasse, durch die ein Mann ein Pferd führte. Der Mann blieb mit dem Tier vor Elsa und Hofprediger Arndorf stehen, der gerade laut mit ihr betete.
„… und so bitten wir dich, allmächtiger Vater im Himmel, die Sündenlast dieser armen Magd in der Fülle deiner Gnade zu tilgen. Du hast uns in deinem Wort gelehrt, wie wir beten sollen: Unser Vater im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein …“
Elsas Worte, wenn sie denn welche sagte oder das Gebet mitsprach, waren nicht zu verstehen. Vermutlich konnte sie vor Schmerzen gar nicht mehr reden. Aber warum schrie sie nicht? Weinte nicht?
War sie schon tot? Sie musste eine einzige Enttäuschung für die Leute sein, die das Mensch um Gnade flehen und wimmern hören wollten. Doch statt gellender Schreie, die bis zum Schloss hoch drangen oder sie noch in der letzten Stunde ihres Lebens in den Wahnsinn trieb, blieb sie stumm wie die Steine der Stadtmauer.
Caspar kniff die Augen zusammen und versuchte, ihr Gesicht zu sehen. Er betrachtete sie im Profil, den Kopf geneigt, aber tot schien sie nicht zu sein. Da! Ihr malträtierter Brustkorb bewegte sich leicht. Erlöse sie von ihrem Leiden, bat er Gott in einem stummen Gebet, bevor man ihr noch mehr zufügt. Die Schande, hier vor allen Gaffern und dem hohen Gericht schuldig gesprochen zu werden und halbnackt gequält zu werden, reicht doch. Oder nicht? Hab Erbarmen mit diesem armen Geschöpf. Sie ist doch schon mehr tot als lebendig!
Unruhig flogen seine Augen über die Köpfe auf dem überfüllten Viehhof. Was taten die Menschen nur hier? Was wollten sie sehen, dass sie sogar ihre Felder verließen und die Aussaat von Möhren, Zwiebeln, Steckrüben und anderen Gemüsen vernachlässigten? Und wenn das Wetter hielt, so hatte es Katharine am Vortag noch prophezeit, würde bald die Ernte der Gerste beginnen.
Offenbar gab es heute nichts Wichtigeres auf der Welt, als die Hinrichtung einer Feuerteufelin und Kindsmörderin zu feiern.