Dillenburg
Wenige Tage später kehrte Caspar erst gegen Abend von einer Ratssitzung nach Hause. Er war noch immer beflügelt von der Aussicht, im Haus des Oberförsters zwei Zimmer für sich und Philippa bekommen zu können. Als er ihr das bei ihrem letzten Treffen erzählt hatte, schien Philippa sehr erleichtert gewesen zu sein.
Caspar öffnete beschwingt die Haustüre, blieb dann aber verwirrt stehen, als er den Wundarzt im Flur bemerkte.
„Chirurgus Stahl? Schön, Sie zu sehen, aber Sie haben doch erst die Tage meinen Vater zur Ader gelassen. Geht es ihm nicht besser?“
Der Mann mit dem ausgebleichten Haarkranz schüttelte den Kopf. „Leider nicht, es ist ernst. Ich habe Ihren Vater nochmals untersucht und mein Verdacht aufgrund Ihrer Beschreibungen hat sich bestätigt: Sein Herz macht ihm Probleme. Er sollte sich schonen.“
„Schonen? Das passt nicht zu ihm. Was sagt er dazu?“
„Seien Sie gewiss, das wird er tun. Sein Körper sagt ihm bereits: Ich kann nicht mehr.“ Stahl wechselte die Tasche in die andere Hand. „Morgen schaue ich wieder nach ihm.“
„Ich danke Ihnen.“
Als Caspar die Tür hinter dem Wundarzt geschlossen hatte, betrat er das Wohnzimmer. Sein Vater saß zurückgesunken in seinem großen Sessel vor dem Fenster, die Füße auf einen Schemel gelegt und schlug jetzt die Augen auf, als Caspar sich ihm gegenüber setzte. Die Nachmittagssonne umleuchtete die zerzausten langen Haare wie auf einem Ikonenbild die Madonna.
„Hast du geschlafen?“
„Nein“, brummte sein Vater und sah ihn unter halb gesenkten Augenlidern an, „nur gedöst. Katharine hat wieder gut gekocht. Da fällt es schwer, sich nicht noch mal nachlegen zu lassen.“
„Stimmt. Leider konnte ich nicht rechtzeitig zum Essen da sein. Die Sitzung hat länger gedauert und du weißt ja, wie das ist, bis das Protokoll fertig ist.“ Er rückte vor auf die Sesselkante. „Deine Blässe gefällt mir gar nicht“, begann er, „und ich glaube, das hängt mit deiner Schwäche zusammen.“ Er beugte sich zu ihm und musterte ihn eindringlich. „Das kann aber nicht der eigentliche Grund sein, dass du in letzter Zeit verschlossen und abwesend wirkst. Vater, sag mir, was beschäftigt dich wirklich?“
Vogt winkte ab. „Was du dir da zusammenreimst. Es ist nichts. Bin nur ein bisschen müde.“
„Kann ich dir irgendwie helfen?“
„Nein. Das wird wieder, glaube mir.“
Er würde ihm gerne glauben, aber sein Gesicht erzählte etwas anderes. Etwas, was ihn beunruhigte. Hoffentlich würden die Medikamente ihm wieder auf die Beine helfen. Schlimm würde es für seinen Vater, wenn er dahinsiechen müsste.
Draußen war Hufgeklapper und Stimmengewirr zu hören. Eine der Scheunentüren, die zur Krone gehörte, krachte mit Wucht an die Wand. Er kannte das Geräusch, wenn die Pferdeburschen lustlos ihre Arbeit taten. Caspar stand auf und schloss das Fenster.
„Kann es sein, dass es immer noch mit dem Unglück im Bergwerk zusammenhängt?“ Er ging zurück zum Sessel.
Vogt schloss die Augen. „Mag sein.“
„Du hast der Familie deine Anteilnahme gezeigt. Mehr konntest du nicht tun.“
Sein Vater schüttelte den Kopf. „Ich mache mir Vorwürfe. Habe ich wirklich alles getan, dass die Bergarbeiter sicher sind? Den Steiger angewiesen, darauf zu achten statt auf die Menge des gehauenen Steins?“ Er seufzte. „Ich weiß nicht. Vielleicht hätte ich statt der Berghaube die neumodische Mooskappe anordnen sollen. Dann wäre der Unfall möglicherweise nicht tödlich ausgegangen.“
Aber was nicht war, konnte ja noch werden. Ein Versuch wäre es allemal wert!
„Wir können es nicht ungeschehen machen, Vater.“ Er legte eine Hand auf seine. „Gib deinen Kummer bei unserm Herrgott ab. Hat er uns nicht zugesagt, unsere Lasten zu tragen? Für uns zu sorgen? Er geht jeden Weg mit uns, auch den steinigen. Du darfst ihn an deiner Seite wissen.“ Caspar erinnerte sich an einen Bibelvers, den er in der Kinderlehre gelernt hatte, in dem Gott seine Hilfe versprach.
„Was habt ihr denn besprochen?“, unterbrach Vogt seine Gedanken. „Ich hoffe, du hast mich entschuldigt. Mir droht sonst ein Bußgeld.“
Caspar sah auf. „Natürlich habe ich das und mir wurden von allen Grüße und Genesungswünsche für dich aufgetragen, besonders von Schäfer. Verzeih, dass ich das nicht sofort getan habe.“
Es war einiges besprochen und beschlossen worden, und er überlegte, wo er zuerst anfangen sollte. „Landmesser Kromm soll ein Lagenbuch anfertigen. Da wir keine Unterlagen mehr besitzen, ist dies die dringlichste Aufgabe. Er ist ja selbst betroffen.“ Sein Haus gehörte zu denen mit ordentlicher Materie und demnach würde er einen Batzen Geld erwarten können. „Hofmaler Susewinds Pinsel und Farben sind mit seinem schönen Haus verbrannt. Ich denke, unser Fürst wird ihm die Arbeitsmittel bestimmt wieder bereitstellen. Schade um sein herrliches Fachwerkhaus. Dabei hatte er es erst kürzlich erneuern lassen.“
„Ein Jammer“, pflichtete ihm sein Vater bei, „es ist fürchterlich, wie die Leute da draußen leben müssen! Noch nicht mal beim Vieh im Stall oder in einem Verschlag können sie schlafen. Die sind ja auch ruiniert. Die meisten Tiere sind wohl tot, oder?“
Caspar nickte. „Nur wenige konnten geborgen werden, genauso wie Bettwerk oder Leinwand. Die Menschen haben kaum Kleider oder Schuhe mitnehmen können. Wenn man bedenkt, wie mühsam es ist, Vorräte anzulegen. Alles vergeblich. Kaum jemand hatte Zeit, Geräuchertes oder Kraut einzusäckeln und das wenige ist sicher schon aufgebraucht.“
„Es ist eine Schande. Auch die Einkommen der meisten Handwerker und Wirte sind weggebrochen.“
„Ja. Aber wir werden alle gemeinsam mithelfen, dass alles wieder aufgebaut wird. Fürst Wilhelm hat bereits genaue Instruktionen gegeben, wo und in welchem Umfang Hölzer abgeholzt werden dürfen. Er möchte verhindern, dass in den Wäldern Kahlschlag entsteht, was ich auch verstehen kann. Wie du und alle anderen bereits anstreben, soll alles getan werden, um die Gestaltung der Stadt voranzutreiben. Die Spenden, die immer noch eingehen, und an denen wir uns ja ebenfalls beteiligen, helfen und ermutigen sehr. Wir werden noch viele Kollekten dafür brauchen.“
Vogt nickte und lächelte müde. „Es ist Zeit, wieder nach vorne zu sehen.“
„Da stimme ich dir zu“, erwiderte Caspar. Es schien, als sei mit dem hoffnungsvollen Ausblick etwas Licht und Farbe in das Leben seines Vaters zurückgekehrt. Caspar freute sich über die kleine Veränderung. Es machte ihm Mut, seine Zukunftspläne nochmals anzusprechen. Es war ihm wichtig, dass sein Vater seinen Segen gab, solange es ihm noch möglich war. Die Worte des Arztes hatten nicht zuversichtlich geklungen.
Vogt fuhr sich mit der Hand übers Kinn und wechselte unvermittelt das Thema. „Was ist mit dem Barbier? Ist er irgendwo draußen vor den Toren? Oder im Hofgarten? Kannst du ihn mal zu mir schicken?“
Anscheinend schien es seinem Vater tatsächlich etwas besser zu gehen, wenn er nach dem Barbier verlangte. Caspar lächelte und erwiderte freundlich: „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“
Zunächst läutete er aber und ließ Kaffee für sie beide bringen. Als die Küchenmagd das Zimmer wieder verlassen hatte, sagte er: „Wir müssen den Menschen da draußen Zuversicht vermitteln und sie ermutigen, sich einzusetzen. Ich fürchte, sonst werden sie müde und gleichgültig, im schlimmsten Fall gereizt oder bleiben obdachlos. Natürlich werden sie sich alle über beide Ohren verschulden müssen. Die Spenden werden die Not lindern, aber nicht wegnehmen. Mir blutet das Herz, wenn ich nur daran denke. Dass wir verschont geblieben sind, macht mich demütig. Ich bin Gott von Herzen dankbar, und doch fühle ich mich verpflichtet, den Menschen beizustehen.“
Als sein Vater an der Tasse nippte und ihn schweigend mit großen Augen ansah, fuhr er fort: „Ich bin froh, dass du nach vorne sehen willst. Das möchte ich auch. Deshalb, Vater, möchte ich dich heute erneut um deine Zustimmung bitten, Philippa Schwarz heiraten zu dürfen.“
Vogt kräuselte die Stirn, stellte die Kaffeetasse ab und verschränkte die Arme vor der Brust. „Die Stadt liegt in Asche und du machst dir Gedanken über eine Heirat?“
„Was spricht dagegen? Sieh, selbst in dieser Not hier werden Kinder geboren und Verstorbene zu Grabe getragen, wenn auch die Feierlichkeiten sehr abgeschwächt stattfinden. Selbst das Töchterchen unseres Bürgermeister Weis hat kürzlich die Segnung der Taufe erhalten.“
„Was macht dich sicher, dass diese Schwarz einem Haushalt wie unserem vorstehen könnte?“
Caspar war überrascht und erleichtert zugleich. Er hatte starken Protest erwartet, wie es bisher immer der Fall gewesen war, aber anscheinend brach die starre Haltung seines Vaters allmählich auf.
Von dieser Änderung ermutigt führte er seine Argumente an: „Sie hat einen ausgezeichneten Leumund. Magister Ulrich von Hohenstein wird es dir bestätigen. Ich bin überzeugt, dass sie mir eine liebevolle und pflichtbewusste Gefährtin sein wird.“ Für einen Augenblick fühlte er bitter den Verlust seiner Mutter, bevor er weitersprach. „Wenn ich daran denke, welche Schwierigkeiten dich und Mutter umgaben und was ihr daraus gemacht habt, ermutigt es mich, euch als Vorbild zu sehen.“
„Und die Töchter von Schäfer kommen für dich wirklich nicht infrage? Sie sind nach wie vor eine gute Partie. Zunftmeister Schäfer hat sogar ein eigenes Siegel. Ich finde es gelungen, mit Weberschiff, Tuchschere und zwei Kardierbürsten drauf. Und die Qualität seiner verarbeiteten Schafwolle wird zu Recht gerühmt. Ich habe mir auch von seiner Ware schneidern lassen.“
Caspar schüttelte bestimmt den Kopf. „Ich empfinde noch nicht mal Sympathie für sie. Wie könnte dann eine Ehe gelingen?“ Schäfers Handwerk in allen Ehren – der Zunftmeister wurde zu Recht bewundert und geachtet. Nur verwandt sein wollte Caspar nicht mit ihm. Lieber würde er für alle Zeiten unverheiratet bleiben.
Als sein Vater schwieg, fuhr er fort: „Bestimmt werden Schäfers Töchter genügend Verehrer finden, die sich eine Familie mit ihnen vorstellen können. Vielleicht ist sogar ein Tuchmachermeister dabei, der später mal das Handwerk seines Schwiegervaters fortführen kann. Ich bin allerdings nicht darunter.“ Er schluckte. „Vater, ich bitte dich um deinen Segen.“
Wehmütig sah sein Vater an ihm vorbei, dass er befürchtete, er würde seine Äußerung falsch auslegen und seine Bitte wieder abschmettern. Hörbar sog er die Luft durch die Nase ein, bevor er einlenkte: „Gut. Wenn es denn sein soll, gebe ich dir meinen Segen.“
Caspar kräuselte erstaunt die Stirn. „Wirklich? Was hat dich zu dieser Entscheidung bewegt?“ Meinte sein Vater es tatsächlich ernst oder steckte eine andere Idee dahinter?
Vogt kniff die Zähne zusammen, trotzdem war er deutlich zu vernehmen. „Also … da gab es letztens ein Erlebnis …“
„Ein Erlebnis? Was willst du damit sagen?“
Vogt erklärte: „Während eines Abendessens bei den Hohensteins geriet mir ein Stück vom Hühnerschlegel in die falsche Kehle. Ich dachte, mein letztes Stündlein habe geschlagen. Hohenstein und Dapping konnten mir nicht helfen. Plötzlich umfasste mich jemand von hinten und schlug mir in den Magen. Da kam das Übel raus und ich konnte wieder atmen. Erst später erfuhr ich, dass es diese Dienstmagd gewesen war.“ Er stockte. „Ich habe in der Aufregung vergessen, mich zu bedanken, aber in den Tagen danach habe ich mich näher nach ihr erkundigt. Wäre sie nicht gewesen … Jedenfalls haben mir alle Befragten ein tadelloses Zeugnis über sie ausgestellt, so wie du immer beteuert hast. Ihr Engagement hat mich nachdenklich werden lassen …“
„Tatsächlich?“ Caspar schluckte und sah ihn ungläubig an. „Sie hat dir das Leben gerettet? Warum hast du mir nichts erzählt?“
Sein Vater zuckte mit den Schultern und wich seinem bohrenden Blick aus. „Es war mir peinlich … Und sie hat dir nichts davon gesagt?“
„Nein, gar nichts.“
Vogt dachte nach. „Nun, ich habe jedenfalls meine Meinung geändert. Sie ist anscheinend eine besondere junge Frau. Die Leute werden zwar reden – darauf müsst ihr euch einstellen –, aber ich denke, das werden wir überleben.“
„Wirklich? Grundgütiger!“ Caspar sprang auf und umarmte seinen Vater. Eine Geste, die er schon seit Ewigkeiten nicht mehr ausgeübt hatte. Voller Euphorie sandte er einen stillen Dank zum Himmel und sagte. „Wir werden dich nicht enttäuschen, Vater!“