Philippa genoss den Spaziergang zum Gründchen und mit jedem Schritt, den sie den Hang hochschritt, dachte sie an die letzten Monate, an die dramatischen Ereignisse und die vielen liebenswerten Menschen, die ihr Leben wertvoll machten. Caspars Zuneigung überwog alles und er war wie ein Parameter in ihrem Leben geworden. Hoffentlich würde sie ihn niemals an eine andere Frau verlieren müssen.
Sie hatte gerade die letzten Häuser passiert, da entdeckte sie am Wegesrand ein allzu bekanntes Gesicht – der Junge, der sie schon mal verfolgt hatte. Diesmal ging sie auf ihn zu und fragte fordernd: „Was machst du hier?“
Der Junge zog seine Kappe ab und starrte Philippa an. „Ich … ich“, stotterte er und knetete sie in den Händen, „ich soll Würzpflanzen für die Suppe suchen.“
„Du? Seit wann schickt man einen Jungen los? Oder bist du etwa neuerdings dort oben in der Schlossküche beschäftigt?“
Er schüttelte betreten den ungekämmten Kopf.
„Merkwürdig, nicht wahr?“ Sie biss sich auf die Lippen. „Du hast uns doch damals schon beobachtet. Schämst du dich nicht, mich anzulügen?“ Philippa stand auf dem Feldweg nahe des Köppelturms, den Jungen am Kittel gepackt, und starrte ihn mit blitzenden Augen an. „Sag, wer hat dich beauftragt?“
Als er anfing zu wimmern, rüttelte sie ihn. „Wer?“
Der Junge ging in die Knie. „Der Herr Ratsherr Vogt, der Vater von … von …“, jetzt fing er laut an zu heulen. Sie wartete geduldig, bis er sich beruhigt und sich mit dem Ärmel die Tränen und den Schnodder abgewischt hatte.
„Von wem?“
„Mit dem Sie sich getroffen haben.“
Sie sagte nichts, bis sich ihr Schrecken gelegt hatte.
„Steh auf! Du sollst nur vor dem heiligen Gott knien, merk dir das. Nicht vor Menschen. Sag endlich, was hat er dir bezahlt?“
Er stand auf und blieb mit gesenktem Kopf vor ihr stehen. „Nichts.“
„Das glaube ich dir nicht. Niemand macht etwas ohne Belohnung. Du schon mal gar nicht“, fuhr sie ihn an. „Du sollst nicht lügen. Und warum hat er dich geschickt?“
Aus den Augenwinkeln blinzelte er hoch und schien mit sich zu ringen. „Er hatte mich gesehen, wie ich auf dem Markt ein paar Rüben mitgehen ließ“, druckste er herum. „Ich sollte Sie beobachten und es ihm melden, sonst würde er den Diebstahl anzeigen. Was sollte ich denn tun?“
Das nannte man Erpressung. Sie legte die Hand auf seine Schulter und fragte ihn in einem milderen Ton: „Und was soll das heute hier?“
„Bitte glauben Sie mir, ich suche nur Brennnessel und so was. Nach dem Brand wollte ich nicht mehr spionieren. Der Herr Ratsherr Vogt hat mich aber auch von sich aus in Ruhe gelassen. Ich verspreche, ich mache das nie wieder.“
Philippa ließ ihn los und betrachtete ihn mitleidig, wie er in seiner viel zu großen Hose und mit Holzschuhen an den Füßen dastand. Ein wirklich armer Bursche. Sie blickte an ihm vorbei, beschirmte ihr Gesicht vor der Sonne und erkannte in diesem Moment Caspar, wie er hinter dem Grabenturm auf den Weg bog, der zu ihr hochführte.
„Geh woanders suchen. Hinter dem Marbachtor, Richtung Donsbach“, sie wies in die Richtung, „da, in der Nähe des Weihers, findest du mehr Grünzeug als du tragen kannst. Und wag es nicht mehr, solche Dummheiten zu machen!“
Kleinlaut nickte der Bursche, zog seine Kappe wieder auf und stolperte davon.
Einen Moment später, stand Caspar vor ihr.
„Gut, dass du kommst!“ Philippa fiel ihm um den Hals und er zog sie in eine feste Umarmung.
Nach einer Weile löste er sich wieder von ihr und sah sie prüfend an. „Was war das eben mit dem Jungen?“ Besorgnis klang in seiner Stimme mit. „Ich habe gesehen, dass du mit ihm geredet hast. War er frech zu dir?“
„Geredet? Das ist gelinde ausgedrückt. Ich habe ihn ausgeschimpft. Er hat uns damals beobachtet, als wir hier spazieren gingen. Ich fand es etwas merkwürdig. Erinnerst du dich?“
Caspar grinste und zuckte mit den Schultern. „Ich habe nur dich gesehen, Liebes.“ Seine Augen funkelten heute besonders und er drehte den Kopf in die Richtung, in der der Junge verschwunden war. „Es wird höchste Zeit, dass die Kinder wieder unterrichtet werden“, fand er. „Nur, weil sie zu Hause gebraucht werden, ist das keine Ausrede, sie nicht in die Schule zu schicken. Ich werde mich dafür starkmachen, dass für den Unterricht ein Raum gefunden wird. Man erzählt, in Eibelshausen fände er sogar in der alten Kapelle statt. Präzeptoren haben wir ja genug. Irgendeiner der Ratsherren hat bestimmt noch Platz im Haus und ein Herz für Kinder.“
„Und wie ich sie kenne, beschwichtigen sie gerne ihr Gewissen mit großzügigen Spenden“, schmunzelte Philippa. Sie gab ihm einen Kuss mitten auf den Mund. „Gerade dafür liebe ich dich“, sagte sie mit berührtem Herzen. „Wollen wir ein wenig zusammen spazieren gehen?“
Er nickte und klemmte ihren Arm unter seinen. Sie nahmen den Weg, der weiter hoch und dann Richtung Donsbach führte. „Sag mal, hast du die Kirschkerne gesehen, die man gestreut hat?“, fragte sie und dachte an den Brauch, der in ihrem Dorf und vielen anderen geläufig war. Sie grinste. „Ich wusste gar nicht, dass man die Gepflogenheiten der Leute vom Dorf übernommen hat.“
„Kerne? Was für Kerne?“ Caspar sah sie hilflos an.
„Wenn bekannt wird, dass sich ein Pärchen gefunden hat, streut heimlich jemand gesammelte Kirschkerne oder andere vom Liebchen zum Liebsten. Dann wissen alle im Dorf gleich Bescheid.“
„Oh!“ Caspar war sichtlich amüsiert. „Ich war so in Gedanken, dass ich sie übersehen habe. Wer war das denn?!“
Philippa lachte und zwinkerte ihm zu. „Bestimmt jemand, der davon Wind bekommen hat. Vielleicht Grete? Sie hat uns doch letztens zusammen gesehen und sich vielleicht ihren Teil gedacht.“
Er grinste. „Es bleibt offenbar nichts verborgen.“
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander. Kurz musste sie über seine Aussage nachdenken. Es stimmte – irgendwann wurden alle Geheimnisse offenbar. Ihre Gedanken wanderten zu ihrer Herrin, die ebenfalls etwas vor ihr verborgen hatte, ganz wie Philippa vermutet hatte. „Ich weiß jetzt, warum mich die Herrin damals zum Viehhof geschickt hat, damit ich mich nach dem Wochenmarkt erkundige. Das war nur ein Vorwand, wusste sie doch ganz genau, dass das noch dauern könnte.“ Philippa musste plötzlich kichern.
„Wollte sie dich nicht bei einem Besuch dabeihaben? Oder sich einen Scherz erlauben?“
„Sie hat wohl dem Herrn Magister ein kleines Geheimnis anvertraut. Und dafür braucht man keine Zeugen. Aber jetzt kann es jeder sehen.“
Er stutzte, bis er begriff. „Es gibt wieder Nachwuchs bei den Hohensteins?“
Philippa lachte. „Ja! Ich freue mich darauf, denn Kinder sind ein ganz besonderes Geschenk, findest du nicht? Sie verheißen uns Zukunft. Diesen Ausblick brauchen wir gerade jetzt.“
Er nickte und sah in die Ferne. „Vielleicht ruft uns Gott jetzt zum Neubeginn? Mit ihm können wir die Enttäuschungen bewältigen und neue Wege wagen.“
Als sie zu ihm aufblickte, bemerkte sie ein Schmunzeln in seinem Gesicht.
Liebevoll sah er zu ihr hinab. „Auch ich habe gute Nachrichten.“
„Seltsam, das jetzt zu hören. Ich kann es kaum glauben.“ Sie blieb stehen und sah auf das graue Durcheinander im Tal. Ob es je wieder unbeschwerte Tage geben würde? „Was sind denn deine guten Nachrichten?“
„Beharrlichkeit führt zum Ziel.“ Sein Gesicht war jetzt ganz nah und seine Arme umfingen sie fest. Er sah ihr tief in die Augen und seine Stimme klang weich. Er hatte ein Lächeln auf den Lippen. „Mein Vater hat eingelenkt.“
Ihr Herz klopfte bis zum Hals. „Du meinst …?“ Sie wagte es nicht auszusprechen.
„Ja!“ Er rief es laut. „Wir können heiraten!“
„Oh, Caspar!“ Mehr brachte sie nicht heraus. Ein Schluchzer vor Glück ließ ihre Stimme versagen.
Er nahm ihr die Haube ab und strich ihr sanft über die Haare, bis seine Hand auf ihrem Nacken liegen blieb. „Echte Gefühle sind es wert, dass man nicht aufgibt.“ Er bog ihren Kopf nach hinten, dass sie ihn ansehen musste. „Kannst du mir sagen, warum?“
Sie lachte. „Weil du zu mir hältst.“
Seine warmen Lippen legten sich auf ihre. Ein Gefühl von Schwerelosigkeit, Schwindel und Wärme durchzog sie von den Fußspitzen bis unter die Haarwurzeln. Es durfte nie mehr enden.
Irgendwann löste er sich von ihr und fragte: „Was gibt es Wertvolleres, als die Beziehung zweier Herzen? Sich in wahre Liebe einzubringen?“
Philippa lächelte und ein tiefer Friede durchdrang sie. Sich unzertrennlich mit ihm fühlend, legte sie ihren Kopf an seine Brust und sah hinab zum Grabenturm. Das Ackerland lag ruhig da, nur ein Feldhase hoppelte unbekümmert über den Weg und verschwand im Gebüsch. Das Tier wusste nichts von den Schwierigkeiten, die über der Stadt lagen. Vielleicht sollten Caspar und sie genauso unbefangen an ihrer Liebe festhalten und gemeinsam den Menschen da draußen helfen, wieder Fuß zu fassen und auf bessere Zeiten zu hoffen.
Sie waren es wert.