Altfor erhob sich von seinem Bett als der Bote gegen seine Tür zu hämmern begann. Eilig warf er sich einen Rock über und durchschritt sein Gemach, um die Tür zu öffnen.
„Du musst einen sehr guten Grund haben“, sagte er zu dem Diener, der eingerahmt von zwei Wachmännern vor ihm stand.
„Mein Lord, vergebt mir, Lord Alistair wünscht Euch zu sehen.“
„Dann sag ihm, dass ich ihm zu einer zivilisierten Stunde jeder Zeit zur Verfügung stehe. Welcher normale Mensch steht vor Mittag auf, wenn keine Jagd ansteht?“
Nicht, dass Altfor normalerweise so lange im Bett blieb. Doch der Anblick der im Halbdunkeln liegenden Moira genügte, dass er sich zurück ins Bett sehnte. Nun, das und die Vorstellung, seinen Onkel warten zu lassen, um ihm so zu zeigen, dass er nicht irgendein schwächlicher Junge war –
„Lord Alistair meinte sofort“, beharrte der Diener in einem Ton, der besagte, dass dies nicht verhandelbar sei. Ein Teil von Altfor hätte dem Mann am liebsten die Tür vor der Nase zugeschlagen, doch einer der Wachen machte einen halben Schritt in seine Richtung, etwas, dass er vor ein, zwei Tagen noch nicht gewagt hätte.
„Verstehe, na gut“, sagte Altfor. „Gebt mir einen Moment, damit ich mich ankleiden kann, und – “
„Sofort, hat seine Lordschaft gesagt“, beharrte der Diener. „Wir sollen euch, wenn nötig, mit Gewalt zu ihm bringen.“
Altfor überlegte, welche Optionen er hatte und kam zu dem Schluss, dass es nicht sonderlich viele waren. Er konnte kaum gegen seine eigenen Wachen kämpfen, vor allem wenn er sich nicht sicher sein konnte, zu gewinnen. Seine einzigen Optionen bestanden darin, weggeschleppt zu werden oder mit Würde zu gehen, und so entschied er sich für letzteres. Er lief mit so viel Stolz wie er in seinem Rock aufbringen konnte. Währenddessen spielte er in Gedanken durch, was er mit den drei Männern anstellen würde, wenn er erst einmal wieder die volle Kontrolle über seine Ländereien hatte.
Sie brachten ihn nicht in die große Halle, sondern in die alten Gemächer seines Vaters, die sein Onkel an sich gerissen hatte, ohne ihn auch nur im Entferntesten zu fragen. Genauso wie er auch das Herzogtum an sich gerissen hat, dachte Altfor. Er hatte einiges verändert. Die extravagante Ausstattung seines Vaters hatte er an einer Seite auf einen Haufen geworfen, sodass die Diener sie nur noch wegräumen brauchten. Der Rest des Raums erfüllte seine Besucher jetzt mit noch mehr Ehrerbietung, so als beträte man das Zelt eines strengen Generals.
Sein Onkel stand inmitten von all dem und blickte auf eine Karte des Herzogtums, die auf einem Tisch ausgebreitet worden war. Ein unruhiger Wachmann stand neben ihm. Er sah so aus, als wäre er lieber an jedem anderen Ort als an diesem gewesen.
„Onkel“, sagte Altfor, „war es wirklich notwendig, mich deshalb aus meinem Bett zu holen?“
„Deshalb?“ fragte Lord Alistair. „Ja, denn dieses Chaos ist deine Schuld.“
„Chaos?“ Altfor versuchte nachzudenken, welche der vielen Dinge er meinen könnte. In dem Bild, das er von sich selbst hatte, hatte er die Dinge besser unter Kontrolle. „Was meinst du damit?“
„Sag ihm, was du mir gesagt hast“, sagte sein Onkel zu dem Wachen. Bei genauerer Betrachtung fiel Altfor jetzt auf, dass der Mann verwirrt aussah und mit blauen Flecken, Schnittwunden und Kratzern übersäht war.
„Wir waren auf dem Berg der Verräter und haben uns die Brüder vorgenommen, so wie Ihr es befohlen hattet, mein Lord“, sagte der Mann zu Altfor. „Dann ist Royce aufgetaucht, mit einer Gruppe aus... es müssen Leute aus dem Dorf gewesen sein, aber sie haben nicht wie Dörfler gekämpft. Sie haben gegen uns gekämpft, und gegen die Picti, und dann hat der Junge irgendetwas getan und der Stein hat angefangen, laut zu schreien, und dann sind die Picti einfach... abgezogen.“
Altfor schüttelte den Kopf. „Picti ziehen nicht einfach ab“, sagte er. „Nicht außer du kommst ihnen mit einer Armee. Sie bleiben, und sie kämpfen, und sie töten.“
„Sie sind abgehauen“, insistierte der Wächter. „Und dann waren die Dörfler in der Überzahl. Ich glaube... ich glaube, ich bin der einzige Überlebende, denn ich wurde am Rande der Schlacht verwundet, und – “
„Und dann bist du wie ein Feigling weggelaufen“, sagte Lord Alistair.
„Ich habe ein Pferd greifen können“, sagte der Wächter. „Ich habe mir meinen Weg freigekämpft mit – “
„Du bist weggelaufen“, sagte Lord Alistair noch einmal, „und jeder meiner Männer, der desertiert, wird mit dem Tode bestraft.“
Er zog sein Schwert und schlug mit einer einzigen Bewegung auf Nackenhöhe zu. Das Gesicht des Wächters verzog sich noch kurz, dann fiel ihm der Kopf von den Schultern und er brach zusammen. Da war Altfors Onkel schon dabei, seine Klinge zu säubern.
„Du hast die Jungen weggebracht anstatt sie gleich zu töten“, sagte er. „Das war dumm. Wenn man einen Feind hat, muss man schnell und allumfassend zuschlagen, ohne Spielchen zu spielen. Verstehst du, Altfor?“
„Ja, Onkel“, sagte Altfor und meinte dies aufrichtig. „Ich weiß, was du meinst.“
„Sieh zu, dass du es dir einschärfst. Jetzt bliebe die Frage, was wir als nächstes tun.“
„Du fragst nach meiner Einschätzung?“ fragte Altfor.
Er sah, wie sein Onkel mit den Schultern zuckte. „Eines Tages wirst du vielleicht über dieses Herzogtum herrschen. Es wäre schön zu sehen, dass du das Zeug hast, ein guter Herrscher zu sein. Vielleicht erweist du dich als fähiger als dein Vater und Bruder.“
Altfor kochte innerlich bei der angedeuteten Aussicht, dass sein Onkel entscheiden sollte, ob er jemals das Herzogtum beherrschen würde oder nicht, dennoch entschied er sich, es zu versuchen. Er war nicht dumm.
„Wenn sie aus den Dörfern kommen, dann müssen wir ihnen klar machen, dass jedes Dorf, das die Rebellen unterstützt, leiden wird“, sagte er.
„Es gibt Auffassungen, die besagen, dass eine solche Strategie das Risiko birgt, dass wir uns selbst damit genauso schaden wie den Bestraften“, sagte sein Onkel. „Wir brauchen die Lebensmittel aus diesen Dörfern, und auch alles andere, was sie produzieren.“
Altfor sah den Glanz in den Augen seines Onkels. Er wusste, dass das einer seiner Tests war.
„Autorität hat Vorrang“, sagte er. „Wir haben das Gold, all das anderswo zu kaufen, und Bauern kann man ersetzen.“
Sein Onkel schien zu überlegen, dann nickte er.
„Gut. Grausamkeit als reiner Selbstzweck ist sinnlos, aber manchmal notwendig. Jedes Dorf, das die Rebellen unterstützt, wird gesäubert werden und durch Einwohner ersetzt, die dem Herzogtum loyal gegenüber sind. Die Rebellen werden gejagt werden, und wenn sie sich nicht freiwillig stellen, werden ihre Lieben dran glauben.“
Das überraschte Altfor ein wenig. Sein Onkel war sogar noch rücksichtsloser als Altfor gedacht hatte. Unter anderen Umständen hätte er diesen Vorstoß sogar gutgeheißen. Doch in seiner derzeitigen Lage bedeutete das bloß, dass er sehr umsichtig vorgehen musste, wenn er einmal sein Herzogtum zurückgewonnen hatte.
„Das ist erst mal alles“, sagte sein Onkel abschätzig.
Schon der Ton, mit dem er das sagte, ließ Altfors Puls steigen, doch er achtete darauf, nichts davon nach außen zu tragen und stolzierte in Richtung der Tür.
„Nur eine Sache noch, Neffe“, sagte sein Onkel als er schon fast an der Tür war. „Wo ist deine Frau?“
„Willst du mit ihr sprechen, Onkel?“ fragte Altfor, immer noch darauf bedacht, nichts von dem, was er fühlte, zu zeigen.
„Ich will nur sicher sein, dass du sie unter Kontrolle hast. Ein Mann, der seine Frau nicht unter Kontrolle hat, wird kaum im Stande sein, ein ganzes Land zu regieren.“
„Nichts worüber du dir Sorgen machen müsstest, Onkel“, sagte Altfor. Innerlich jedoch kochte er, denn er wusste nicht, wo Genoveva steckte. Er hatte sie heute noch nicht gesehen, und das war ihm bis eben noch nicht einmal aufgefallen.
***
Genoveva blickte sich immer wieder um als sie und Sheila sich ihren Weg hinunter an den Strom unweit des Dorfes bahnten. Dort hatte sie manchmal gebadet bevor Altfor sie zu seiner Frau gemacht hatte. Dort konnten sie und Sheila sicher sein, dass niemand sie finden würde, und dennoch musste sie sich immer wieder umsehen, um sich zu vergewissern, dass niemand ihnen folgte.
„Wir müssen einen anderen sicheren Ort finden“, sagte Genoveva.
„Für uns beide“, antwortete Sheila. „Du kannst nicht wirklich zu Altfor zurückgehen wollen. Nicht nach all dem.“
„Er würde uns nachjagen“, sagte Genoveva. „Und als seine Frau...“
„Was? Bist du in Sicherheit?“ fragte Sheila.
Das stimmte zumindest teilweise, denn es schien, als würde Altfor es nicht riskieren wollen, seiner eigenen Frau etwas anzutun und damit die Gesetze des Herzogtums zu verletzen. Doch hier ging es um mehr als nur das.
„Als seine Frau kann ich mehr bewirken als wenn ich auf der Flucht bin“, sagte Genoveva. „Ich werde zurückgehen und – “
Sie konnte den Satz nicht zu Ende führen, denn in diesem Moment überkam sie ein Schwindel. Sie taumelte und wäre wohl auf die Knie gesunken, wenn nicht Sheila sie gestützt hätte.
„Mir geht es gut“, sagte Genoveva. „Mir ist nur... es ist die Flucht...“
„Bist du dir sicher, dass es nur das ist?“ fragte Sheila.
„Was meinst du damit?“ fragte Genoveva, die sich noch immer auf ihre Schwester stützte. Sie schafften es zu einem Felsen und setzten sich.
„Du bist jetzt schon eine ganze Weile... mit ihm verheiratet, oder?“ fragte Sheila.
Genoveva nickte.
„Und ihr zwei...“
Genoveva nickte erneut. „Ich bin seine Frau.“
„Nicht, dass ihn das großartig interessieren würde“, sagte Sheila. „Aber glaubst du, dass du vielleicht... vielleicht schwanger bist?“
Genoveva schüttelte ihren Kopf. „Nein, das kann nicht sein.“
„Kann nicht sein?“ erwiderte Sheila.
Genoveva dachte nach. Natürlich war es möglich. Sie hatte oft genug mit Altfor geschlafen, denn nachdem sie dem damals zugestimmt hatte, hatte ihr Mann keine Gelegenheit ausgelassen. Vor kurzem hatten sie dann aufgehört, nachdem sie von Moira erfahren hatte, und Sheila, und dem Rest, doch davor...
„Ich weiß es nicht“, gab sie zu.
„Dann müssen wir als nächstes Gewissheit schaffen“, sagte Sheila. „Du musst herausfinden, ob du das Kind dieses Monsters in dir trägst.“
Genoveva wusste, was sie dazu tun musste, natürlich wusste sie es; es war etwas, dass alle Frauen aus dem Dorf lernen mussten, wenn der Adel zu ihnen kam und von ihnen nahm, was immer er wollte; wen auch immer sie wollten. Es gab Moos, das sich beim Kontakt mit dem Urin eines schwangeren Mädchens blau färbte. War es nicht schwanger, dann verwelkte es. Es gab auch andere Wege, die den älteren Frauen bekannt waren, doch die meisten von ihnen klangen wie Geschichten, die sich jemand ausgedacht hatte, um die jüngeren zu ängstigen.
Sie brauchten eine Weile, das Moos zu finden, und noch länger es richtig zu benutzen. Dann saßen Genoveva und Sheila da, warteten und beobachteten bis das Moos endlich anfing, blau zu schimmern und die grauenvolle Gewissheit sich Genoveva aufdrängte.
„Ich... ich bin schwanger“, sagte Genoveva ungläubig.
Sheila umarmte sie fest. „Alles wird gut. Wir können immer noch die Wurzel benutzen. Wenn du die isst, dann wird es kein Kind geben. Dann kann du frei entscheiden, ob du bleiben oder gehen willst.“
Aus ihrem Mund klang es so einfach, wie etwas, das nur aus dem Mund einer Frau eines Dorfes kommen konnte, in dem der Adel sich diejenigen holte, die er wollte.
„Hast du... hast du die Wurzel eingenommen als Altfor...“ Genoveva konnte den Satz nicht zu Ende führen.
Sheila neben ihr nickte. „Ich wollte sicher sein. Das Moos hat nichts angezeigt. Aber ich hatte immer noch das Gefühl, dass ein Teil von ihm in mir war und wuchs.“
Dieses Mal umarmte Genoveva ihre Schwester. „Er hat mir erzählt, was er getan hat, Sheila. Er hat damit geprahlt und versucht, mich so zu verletzen und zu zwingen, alles zu tun, was er will. Es tut mir so leid.“
„Du solltest dich nicht entschuldigen“, sagte Sheila. „Er sollte dafür büßen, und das wird er auch.“
Genoveva schüttelte den Kopf. „Er ist der Sohn des alten Herzogs und der Neffe des neuen. Männer wie Altfor büßen nicht für das, was sie tun.“
„Er wird es“, sagte Sheila. „Ich werde ihn töten.“
Sie klang so überzeugt als würde sie sagen, dass der Himmel blau war oder dass nach dem Donner der Blitz folgte. Genoveva verstand nicht, wie sie sich da so sicher sein konnte, wenn doch der Adel Mädchen entführte und vergewaltigte solange sie denken konnte. Es gab keine Rache, wenn ihre Opfer nicht dem Adel angehörten.
„Wie willst du das anstellen?“ fragte Genoveva.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Sheila. „Aber ich werde es tun. Ich werde ihn töten, selbst wenn es mich umbringt.“
„Ich will nicht, dass du stirbst“, sagte Genoveva. Sie ließ ihre Schwester los. „Versprich es mir, Sheila. Versprich mir, dass du nichts Dummes tun wirst.“
Ihre Schwester jedoch gab ihr kein Versprechen, sondern stand einfach nur auf.
„Was ist mit dir?“ fragte sie anstatt. „Wann wirst du die Wurzel einnehmen.“
„Ich...“ Genoveva zögerte. „Ich weiß nicht, ob ich das will.“
„Aber er – “
„Er ist mein Ehemann“, sagte Genoveva. „Ich bin nicht irgendein zurückgelassenes Opfer einer Plünderung. Es ist sein rechtmäßiges Kind, und sein Erbe.“
„Du wirst also zurückgehen und wieder die liebende Ehefrau spielen?“ fragte Sheila.
Genoveva schüttelte den Kopf. „Das würde er mir nicht abkaufen. Aber dieses Kind... es wird genauso mein Kind sein und ich glaube nicht... ich glaube nicht, dass ich es kann. Ich will das Kind behalten.“
„Und wirst du es ihm sagen?“ fragte Sheila. „Wirst du es der Welt verkünden als die Frau des zukünftigen Herzogs.“
Sie sagte das, als wäre es etwas Unredliches, und vielleicht, nur vielleicht war es genau das. Zumindest konnte es dazu werden.
„Wenn ich seinen Erben in mir trage, dann besitze ich eine gewisse Macht“, sagte Genoveva. „Ich könnte etwas Gutes bewirken. Als die Mutter des Thronerben, werde ich ein Wörtchen mitzureden haben. Ich kann Dinge verändern.“
„Du glaubst das wirklich, oder?“ fragte Sheila.
Genoveva nickte. „Ich muss es.“
„Natürlich hat das alles eine zweite Seite“, sagte Sheila. „Du wärest die Mutter seines Erben, aber er hätte immer noch das Sagen.“
„Nicht, wenn er tot ist“, sagte Genoveva.
„Tot?“ Das weckte Sheilas Aufmerksamkeit.
„Nicht sofort.“ Genoveva schüttelte ihre Schwester. „Es darf jetzt noch nicht geschehen, verstehst du? Aber wenn er stirbt nachdem das Baby geboren ist, dann werden wir eine Chance haben, mitreden zu können. Dann haben wir eine Chance, die Dinge zu verändern, zum besseren. Ich kann mein Kind dementsprechend erziehen, und dann wird es eine Herrschaft für alle geben.“
Es fühlte sich komisch an, das Ganze auf diese Art und Weise zu betrachten, es so kaltherzig zu benennen, aber war es eben auch der einzige richtige Weg, den Genoveva in ihrer Situation einschlagen konnte. Ins Dorf konnte sie nicht zurückkehren, denn eher würde Altfor sie umbringen als das zu erlauben. Royce konnte sie nicht mehr haben, weil sie schon Altfors Frau war. Ihre einzige Hoffnung, etwas Gutes in dieser Welt zu bewegen, war dort zu bleiben, wo sie jetzt war und diese Position noch stärker auszunutzen.
Der Mord an Altfor wäre ein wirklich bösartiger Akt, doch wenn sie ihn im richtigen Moment tötete, dann wäre er von der Art Bösem, das Gutes hervorbrachte. Die Welt würde sich dann tatsächlich verändern, und die Dinge würden sich für all jene Menschen wie sie selbst zum Guten entwickeln anstatt aus ihnen die nächste Generation zu machen, die litt.
Sie musste es tun. Sie musste die adlige Frau und Mutter sein, wie sehr es sie auch schmerzte.