Royce führte seine Leute zwischen den Bäumen entlang den Berg hinab. Sie blieben so dicht sie konnten an seinen Fersen. Lofen und Garet stützten einander während Raymond gleich hinter Royce lief. Royce lief schnell, denn er wollte vermeiden, dass sie erneut angegriffen wurden. Ember kreiste über ihnen, und die Magie, die ihn und den Vogel verband, zeigte Royce, dass die Picti sie noch immer von verschiedenen Posten zwischen den Bäumen aus beobachteten. Sie würden nur einen Augenblick brauchen, einen neuen Angriff zu beginnen, und dann wären er und seine Freunde geliefert.
„Warum glaubst du, versuchen sie nicht, uns zu töten?“ fragte Mathilde. Sie schleppte noch immer das halb-bewusstlose Picti Mädchen mit sich. Sie hatte es an eine Leine gebunden und zog es wie eine Adlige nach der Plünderung als Beute hinter sich her.
„Lass sie gehen“, sagte Royce.
„Aber sie hat versucht, mich zu töten“, sagte Mathilde. „Vielleicht kann sie uns etwas erzählen. Außerdem verstehe ich nicht, warum immer nur der Adel sich die hübschen Mädchen unter den Nagel reißen sollte.“
Royce seufzte, dann wandte er sich an das Mädchen, das Mathilde mit sich zog. „Was kannst du uns über die Picti sagen, die uns verfolgen?“ fragte er sie. „Ich kann sie durch die Augen meines Falken sehen. Ich weiß, dass sie da sind. Warum haben sie uns gehen lassen, nachdem der Stein geschrien hat?“
Er drehte sich zu Mathilde.
„Wahrscheinlich spricht sie nur die Sprache der Picti“, sagte er. „Und selbst wenn sie uns versteht, würde sie uns nur unter Folter etwas verraten. Willst du damit anfangen, Foltermethoden einzuführen? Oder Leute zu verschleppen als wären sie Sklaven so wie der Adel es tut?“
Er hörte, wie Mathilde seufzte. „Vermutlich nicht.“ Sie schnitt das Seil mit einem ihrer Messer durch. „Verschwinde. Lauf.“
Das Picti Mädchen schien zumindest das verstanden zu haben, denn sie sauste davon in Richtung der Bäume. Doch dort blieb sie stehen und antwortete fehlerlos in der Sprache des Herzogtums: „Wir haben uns zurückgezogen, weil der Stein nur für diejenigen, denen Ehre gebührt, ein Lied des Schmerzes singt“, sagte sie. „Du bist der, der uns versprochen wurde, derjenige, der uns unseren Platz in diesem Land zurückgegeben wird. Und du Mädchen...“ Sie blickte zu Mathilde. „Ich finde dich auch sehr hübsch.“
Sie verschwand im Wald noch bevor Royce oder jemand anders etwas sagen konnte. Er sah durch Embers Augen, wie sie davonlief. Sie rannte jedoch so schnell, dass selbst der Falke Mühe hatte, ihr zu folgen, und so verlor er schließlich ihre Spur.
„Wir müssen weiter“, sagte Royce. Er wusste nicht, für wen die Picti ihn hielten oder was sie glaubten, er für sie tun würde. Dennoch fühlte es sich hier immer noch nicht nach einem Ort an, an dem er bleiben wollte. Außerdem konnten jeder Zeit weitere Wachen hier aufkreuzen. Wenn irgendjemand etwas von den Kämpfen mitbekommen hatte oder vermutete, dass sie zurückgekommen waren, dann war es möglich, dass bald eine ganze Kompanie hier aufkreuzen würde, um über ihre Gruppe herzufallen.
„Wir müssen zu dem Platz, wo sich früher die Clans getroffen haben“, sagte Hendrik. „Dann sind wir weit genug von unseren Dörfern entfernt. Niemand wir uns dort vermuten, und wir können sicher sein, dass wir nicht irgendwo zwischen dem Heidekraut abkratzen.“
Royce nickte zustimmend, doch hielt dann plötzlich inne. „Es gibt etwas, dass ich erst noch erledigen muss; es gibt jemanden, den ich erst noch zu retten versuchen muss, sollte er noch am Leben sein.“
„Sollte?“ fragte Hendrik. „Du willst noch mal kämpfen und das, ohne dir sicher zu sein?“
„Ich will nicht noch einmal kämpfen“, antwortete Royce. „Aber ich will auch einen Freund nicht einfach aufgeben. Mark war auf der Roten Insel mein bester Freund. Wir haben einander das Leben gerettet und haben zusammen gekämpft, wenn niemand sonst uns helfen wollte.“
„Wenn er auf der Roten Insel war“, sagte Hendrik, „dann wissen wir ja, wo wir nach ihm suchen müssen.“
„Der Graben“, sagte Royce. Er nickte. „Es tut mir leid, ich weiß, wie gefährlich das ist.“
„Gefährlicher als du denkst“, sagte der lange Junge. „Der Gaben ist das Zentrum der Plünderungen seitdem du diesen Speer geworfen hast. Sie schlagen alles nieder, doch dann gibt es immer wieder neue Aufstände. In dem Chaos fangen sie sogar an, irgendwelche verrückten Geschichten über so einen Magier mit grauer Haut zu erzählen. Er soll angeblich eine ganze Truppe Soldaten getötet haben als wäre es nichts. Willst du dem über den Weg laufen?“
„Wenn ich so die Chance bekomme, ihn zu töten“, sagte Royce sein Schwert umklammernd. „Ich würde geradewegs in die Schlacht ziehen, wenn das bedeutet, dass ich mir ihn holen kann.“
„Nun, genau das werden wir tun“, sagte Hendrik.
„Wir?“ fragte Royce.
Hendrik nickte. „Du glaubst doch nicht, dass ich dich alleine dorthin gehen lasse, oder?“
„Niemand wird das“, sagte Mathilde.
Seine Brüder neben ihm schienen ebenso zuzustimmen.
„Wenn du gehst“, sagte Raymond, „gehen wir alle.“
Royce dachte an die Gefahr, in die er sie brachte, doch nur kurz. „Dann lasst und gehen.“
***
Diejenigen auf Pferden ritten voraus und führten die anderen an, sodass niemand zurückgelassen wurde. Es schien ewig zu dauern bevor sie die kleine Siedlung, in der der Kampfgraben sich befand, erreichten. Royce konnte nun sehen, dass Hendrik Recht gehabt hatte: es gab unzählige Stätten, an denen die Gewalt in den Straßen noch immer tobte.
„Wenn wir einfach da reinmarschieren, dann sind wir tot“, stellte Raymond fest.
Royce konnte dem nur zustimmen. Wenn sie als eine große angriffslustige Gruppe direkt in die Siedlung mit dem Kampfgraben hineinliefen, dann würden sie Mark vielleicht finden, doch fänden sich auch inmitten einer Schlacht wieder, die sie niemals gewinnen konnten. Einige von ihnen würden versuchen, ihn zu retten. Sich umblickend musste er sich selbst fragen, wie viele seiner Freunde und Verwandten er opfern wollte, um eine Chance zu bekommen, Mark zu retten.
Die Antwort war leicht: das konnte er nur von sich selbst erwarten.
Royce hielt auf einer Wiese jenseits der Siedlung an. Er duckte sich ein wenig, um zu vermeiden, gesehen zu werden während er genau beobachtete, was dort unten vor sich ging. Dort waren Wachen, genügend um seine Leute auszulöschen, aber auch nicht genug, um an allen Stellen gleichzeitig zu sein, erkannte er. Sie eilten dorthin, wo Aufstände aufflammten und bewegten sich so von einem Teil der Siedlung zum nächsten. Dabei folgten sie dem Klang von Pfeifen und Rufen.
Royce würde sich das zunutze machen können.
„Ich will, dass der Großteil von euch sie ablenkt“, sagte er zu den anderen. „Schlagt zu, und dann lauft weg ohne euch kriegen zu lassen. Versteckt euch zwischen den Gebäuden und zieht sie ab, vielleicht könnt ihr auch diese Pfeifgeräusche nachahmen, die sie nutzen. Raymond, Garet, Lofen, ich will, dass ihr mit Pferden bereitsteht, um hinterherkommt, um mich und Mark da rauszuholen.“
„Das klingt ja fast so, als würdest du alleine dort reingehen“, sagte Raymond.
Royce hatte einen Streit über seinen Plan erwartet. „So ist es am besten. Ich bin unauffälliger, wenn ich alleine gehe. Seid einfach... bereit, sollte etwas schiefgehen.“
„Das werden wir“, versprach Raymond.
Royce machte sich daraufhin auf den Weg in die Siedlung. Jeder Schritt brachte ihn näher zu der Stelle, an der Wachen patrouillierten und nach Ärger Ausschau hielten. Er schickte Ember in die Luft, beobachtete ihre Bewegungen und duckte sich gerade noch rechtzeitig in den Schatten einer Stalltür.
Dort wartete er und beobachtete durch die Augen seines Falken die Umgebung, bis er sicher sein konnte, dass der Wächter weg war. Er rannte weiter und duckte sich hinter einen Strauch bevor weitere Wächter an ihm vorbeikamen. Seine Hand umklammerte den Griff seines Schwertes. Ein Teil von ihm wollte auf die Männer, die bereit waren, dem Herzog und seinen Söhnen zu dienen, losgehen. Dann dachte er an Nikolas’ Bruder und entspannte seine Hand etwas. Vielleicht dienten einige dieser Männer, weil sie glaubten, keine andere Wahl zu haben oder weil sie auf ihren Höfen sonst verhungert wären oder weil sie vielleicht sogar glaubten, als Wachen etwas Gutes bewirken zu können.
Trotzdem war er froh als er die Rufe in der Ferne hörte und die Männer davonrannten, um etwas dagegen zu unternehmen. Durch Embers Augen sah er Männer zu der Stelle rennen, wo Hendrik, Mathilde und die anderen ihren Angriff gestartet hatten. Ihm blieb nicht viel Zeit; er musste jetzt sofort weiter.
Royce rannte in Richtung des Grabens, und fand diesen beunruhigend leer vor. Einige Tote lagen auf dem Boden, wo jemand sie niedergeschlagen hatte. Doch davon abgesehen, erschien der Ort vollkommen wüst und leer. Royce vermied instinktiv die Stellen, wo er auf Angehörige des Adels stoßen konnte; dort würde er Mark sicherlich nicht finden. Stattdessen lief er zu den Käfigen und Gehegen, wo normalerweise die Männer und Biester angekettet waren und darauf warteten, an die Reihe zu kommen.
Doch sie waren leer, nur Blutflecken deuteten auf das, was mit den verbliebenden Männern möglicherweise geschehen war. In diesem Moment begann die letzte Hoffnung, die Royce noch besessen hatte, zu weichen.
„Du? Was machst du da?“
Ein Wächter mit einem Stock in der Hand kam aus einem Seitentunnel gelaufen. Royce hätte fliehen können, doch warf er sich augenblicklich auf den Mann. Er ergriff den Arm des Wächters, verdrehte ihn und rang ihn zu Boden.
„Wo sind alle hin?“ fragte Royce.
„Wenn du nach jemandem suchst, dann kommst du zu spät“, sagte der Wächter. Er machte den Anschein, sich darüber zu freuen. „Wir haben ihnen den Hals durchgeschnitten und sie in den Leichengraben geworfen. Gleiches wird auch mit dir geschehen!“
Er stieß Royce zurück und kam mit einem Messer in der Hand wieder zum Stehen. Als er auf Royce losging, sprang dieser zur Seite. Royce zog sein Schwert und hieb im selben Moment nach dem Wächter. Der Wächter fiel zu Boden, er hatte ihn beinahe in zwei Teile geschlagen.
Er wusste, dass er nun eigentlich besser gehen sollte. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, denn die anderen konnten ihre Finte nicht ewig aufrechterhalten, und dann würde bald jemand zu Schaden kommen. Dennoch konnte er nicht einfach gehen, ohne nachgesehen zu haben. Er musste mit eigenen Augen sehen, dass Mark tot war oder es würde ihn für immer verfolgen.
Er bahnte sich seinen Weg durch den Graben und hielt nach der Stelle Ausschau, zu der die Wachen die Körper derjenigen, die sie getötet hatten, brachten. Royces Nase sagte ihm noch bevor Embers Augen von oben seiner Intuition Recht gaben, wo er hinlaufen musste.
Die Menge an Toten, die er dort fand, war kaum zu ertragen. Dort lagen Männer und Frauen, Kriminelle und Krieger von der Roten Insel und noch mehr. Gliedmaßen ohne Hinweis auf die Körper, zu denen sie gehört hatten, und Pfützen voller Blut, welche den Boden in ein rotes Meer verwandelten. Viele Körper trug Spuren der Schlacht, doch den Körpern ganz oben hatte man einfach nur die Kehlen durchgeschnitten.
Royce fiel auf die Knie als er das sah. Er rutschte in dem Blut aus und zwang sich wieder auf die Beine. In diesem Moment wusste er, dass Mark nicht überlebt haben konnte, denn niemand könnte darauf hoffen –
„Royce!“ Die Stimme war kaum mehr als ein Krächzen und nur hörbar, weil dort eine schreckliche Stille herrschte.
„Mark?“ rief Royce.
„Royce!“
Er rannte los ohne weiter über das Blut dort nachzudenken. Er musste sich gefasst machen, in dieses Blutbad einzutauchen, Dinge zu sehen, die seine Augen nicht sehen wollten und seinen Freund zu suchen bis...
Mark lag inmitten dieses Grauens recht weit unten im Graben, wo man ihn wohl hingeworfen hatte kurz nachdem Royce entkommen war. Die Wunde in seiner Brust sah schlimm aus, und er war mit Blut bedeckt. Ein Teil von ihm, der eigentlich da sein sollte, fehlte. Royce hatte keine Ahnung, wie er nach allem was er erlitten hatte, überhaupt noch am Leben war.
Für einen kurzen Moment starrte er seinen Freund einfach nur an, doch dann wurde ihm klar, dass er ihm helfen musste, dort rauszukommen. Er zog Mark aus dem Leichenberg, auch wenn dieser durch zusammengebissene Zähne vor Schmerzen schrie.
„Ich hatte so gehofft, dich lebend zu finden“, sagte Royce. „Sie haben dich zu Fall gebracht, aber ich hatte nicht gesehen, dass sie dich getötet haben.“
„Sie haben mich hier hineingeworfen nachdem du fort warst“, sagte Mark. „Sie waren so beschäftigt damit, sich zu jagen, dass sie vergessen haben, mir den Rest zu geben. Sie haben mich einfach... hier gelassen.“
„Ich habe dich im Stich gelassen“, sagte Royce. „Ich hätte dich mitnehmen sollen.“
„Dann hättest du nicht entkommen können“, sagte Mark. „Sie hätten uns beide getötet.“
„Ich nehme dich jetzt mit“, sagte Royce.
„Nein, lass mich hier. Du kannst mich nicht tragen und gleichzeitig entkommen. Bitte... bring es einfach nur zu Ende.“
Royce schüttelte den Kopf, hob Mark auf seine Schultern und hielt ihn dort mit gezogenem Schwert fest.
„Halte durch. Wir schaffen es zusammen hier raus.“
Mit Hilfe von Embers und seinen eigenen Augen begann er, in Richtung des Grabenausgangs zu laufen. Ein Wächter mit einem Speer in der Hand stellte sich ihm in den Weg. Royce wich dem ersten Hieb aus und spürte, wie er dennoch leicht seine Seite streifte. Er schlug ihn nieder und setzte seinen Weg fort. Dann trat er ins Freie, und zwei weitere Wächter kamen auf ihn zugelaufen. Royce parierte den ersten Hieb nur halbherzig und verpasste dem ersten Mann stattdessen einen Tritt. Dann rammte er seine Klinge in den Hals des zweiten bevor dieser reagieren konnte. Der erste Mann fing an zu schreien, und Royce säbelte auch ihn nieder, doch da wusste er bereits, dass es zu spät war.
Durch die Augen des Falken konnte er sehen, dass weitere Männer bereits nahten.
Er wählte den Weg, der am vielversprechendsten aussah und lief weiter.
Männer tauchten zwischen den Häusern auf, und Royce tötete sie als sie auf sie zukamen. Das Kristallschwert in seiner Hand tanzte in seiner Hand während er das Gewicht von Mark kaum noch auf seinen Schultern spürte. Er schien vielmehr viel zu ruhig geworden zu sein, und Royce hätte eine Pause eingelegt, um nach ihm zu sehen, doch hatte er schlichtweg keine Zeit dafür. So machte er einfach weiter, schlug zu, wo er es musste, und stieß in die Freiräume, die sich ihm boten, um so das Schlimmste, das von den Wachen kommen konnte, abzuwenden.
Dann sah er die Pferde herangaloppieren, und er hörte den Klang von Lofens Stimme, die über das Schlachtfeld hallte.
„Halt durch Royce, wir sind auf dem Weg!“
Mit Royces Pferd im Schlepptau ritten sie mit gezogenen Waffen in das Zentrum der Siedlung. Royce rannte auf sie zu. Doch dann wirbelte er herum, weil er etwas gehört hatte. Ein Mann schlug mit solch einer Wucht nach ihm, dass das Kristallschwert zu klirren begann. Er metzelte ihn ohne Nachzudenken nieder und rannte weiter. Er schaffte es zu seinem Pferd und warf Mark auf dessen Rücken. Er war fast schon erleichtert, seinen Freund stöhnen zu hören als er auf dem Pferderücken landete. Dann sprang Royce hinter ihm auf das Pferd.
„Wir müssen hier raus“, schrie Raymond ihm zu während er nach einem Wächter hieb, der es zu nah an die drei herangeschafft hatte.
Royce nickte und überprüfte, ob Mark sicher und fest vor ihm lag. Dann gab er seinem Pferd die Sporen, und die vier donnerten im Galopp aus der Siedlung heraus in die Sicherheit.
***
Der alte Versammlungsort lag inmitten eines glasförmigen Moorlandes. Die alten Familien hatten Steine und Felsen dorthin geschafft, in die sie Muster eingekerbt und geschlagen hatten, welche eine Art Familiengeschichte der dort ehemals Versammelten erzählten.
Royce stand in der Mitte und wusste nicht, was er davon halten sollte. Er war als Junge schon einmal am Rande dieses Ortes gewesen, doch damals war es für ihn einfach irgendein alter Platz gewesen, der schon lange nicht mehr genutzt wurde, denn schließlich hätten die Männer des Herzogs jegliche Versammlung durch Soldaten zerschlagen lassen. Durch die Anwesenheit seiner Leute und derjenigen, die aus den umliegenden Dörfern gekommen waren, schien der Platz wieder zum Leben zu erwachen.
Er blickte zu der Stelle, an der ein paar der weisen Frauen der Gegend sich um Mark kümmerten. Royce mochte ihn aus dem Leichenberg gezogen haben, doch besagten ihre Gesichtsausdrücke, dass sie sich alles andere als sicher waren, ob er nicht doch bald auf die andere Seite wechseln würde.
„Du hast alles gegeben“, sagte Raymond als könnte er seine Gedanken erraten. Er hielt ihm ein Schälchen mit grobkörnigem Brei und einigen Stücken Wild hin. Er nahm davon, auch wenn sein Magen sich wie Blei anfühlte.
„Wo sind Garet und Lofen?“ fragte Royce.
„Sie kümmern sich um ihre eigenen Wunden“, sagte Raymond, „aber sie sind in Sicherheit dank dir.“
„Ich bin nicht sicher, ob wir hier in Sicherheit sind“, sagte Royce und blickte zu den Menschen um ihn. Dort waren einige, die er noch nie gesehen hatte und die von allen möglichen Orten hergekommen waren. Unter ihnen waren auch Dörfler, die kein Dorf mehr hatten und Menschen, die hatten fliehen können bevor die Männer des Herzogs zu ihnen gekommen waren. Sie schienen aus dem Nichts gekommen zu sein, und Royce war noch immer verblüfft darüber, dass sie sich entschlossen hatten, sich ihm anzuschließen.
„Dies ist eine alte Stätte“, sagte Raymond. „Es ist sicher hier.“
„Nur solange niemand versucht, mit Gewalt hier einzumarschieren“, antwortete Royce. Er dachte an die Männer des Herzogs und an das, was geschehen würde, wenn sie alle hierher kamen. Er blickte erneut zu den Menschen um ihn. „Ich habe das Gefühl, dass sie alle darauf warten, dass ich irgendeine Entscheidung für sie treffe; als würden sie alle erwarten, dass ich für ihre Sicherheit verantwortlich wäre.“
„Und könntest du das denn nicht?“ fragte Raymond.
Royce schüttelte seinen Kopf. „Nicht für alle. Solange ich hier bin, wird Altfor mich jagen und er wird jeden töten, der sich ihm dabei in den Weg stellt.“
„Vielleicht ist es dann das beste, wenn du nicht hier wärst“, schlug Raymond vor.
„Was meinst du damit?“
„Wir fahren an die Küste, nehmen ein Boot und segeln gen Süden in einen anderen Teil des Königreichs oder über das Meer bis zu den Varranlands oder bis nach Dressia. Wir könnten dort ein neues Leben beginnen, dort, wo sie uns nicht finden werden. Es würde vielleicht sogar dazu führen, dass keinen weiteren Menschen wehgetan wird.“
Royce gefiel die Vorstellung, davonzulaufen, nicht. Es fühlte sich so an, als würde er aufgeben und die Leute, die ihn brauchten, im Stich lassen. Doch vielleicht aber nur vielleicht war es genau das, was er tun musste. Er dachte an die Dinge, welche die Hexe Lori ihm gesagt hatte, an das Blut, das sie in Verbindung mit ihm gesehen hatte. Wenn er ging, konnte er vielleicht anderen Menschen all das ersparen.
Wenn Genoveva nicht Altfors Frau gewesen wäre, wäre er vielleicht geblieben. Dann hätte er einen Grund gehabt, zu bleiben. Hier in diesem Augenblick konnte er jedoch nur eines tun, um diesen Menschen Sicherheit zu geben.
„Du hast Recht“, sagte er zu Raymond. „Wir warten bis wir Mark transportieren können, und dann fahren wir an die Küste. Wenn wir ein geeignetes Schiff finden, können wir vielleicht mit allen, die mitkommen wollen, entkommen. Vielleicht wird es die Dunkelheit, die alle tötet, aufhalten, wenn wir nur weit genug weg sind.“