KAPITEL VIERZEHN

 

Dust stand am Rande des Schlachtfeldes und erkannte die Muster, die sich in ihr entfalteten. Jeder andere hätte in der Schlacht nichts als Chaos gesehen, doch er sah die sich verschiebenden Zeichen und Windungen dieser Gewaltorgie.

Das Ganze war wie eine Art großes Opferfest auf einem Altar, wo man in den Eingeweiden las und dem Blut, den Schreien und den Qualen Bedeutung für die Deutung der Zeichen beimaß. Dust starrte hinab und versuchte, die Rolle, die das Schicksal für ihn in dieser Situation auserkoren hatte, zu verstehen. Er ließ seinen Geist sich in der Gewalt versenken, seine Augen ruhten auf ihr und nahmen die Wirbel und Verschiebungen auf bis klare Bilder vor seinem inneren Auge erstanden.

Dann erblickte er Royce, der das Königreich für sich gewann. Er sah größere Schlachten als diese, ganze Lande, die sich unter ihrem Gewicht verschoben. Er sah den Fall seines eigenen Königreichs, den Tod der Priester, die Wildheit der heiligen Tiere, die unter den Tempeln gehalten wurden. In diesem Moment verstand Dust, warum er gesandt worden war, Royce zu töten: sie hatten es aus einer Angst heraus getan, die Seinesgleichen eigentlich nicht für die eigene Existenz haben sollte. Sie, die den Tod aller Kreaturen vorhersahen, versuchten, sich an ihr zerbrechliches und verletzliches Leben zu klammern.

„Sie wollen mich benutzen“, sagte Dust zu der Luft um ihn. Doch würden die Priester ihn nicht schicken, wenn er nichts dazu beitragen konnte, den reibungslosen Gang der Dinge in der Welt zu sichern. Sie würden ihn nicht schicken, um etwas gegen das Schicksal auszurichten, selbst wenn es ihren eigenen Tod bedeutete.

Oder doch?

Lang saß Dust einfach nur da, starrte auf die Schlacht und versuchte, die Zeichen für sich selbst zu deuten. Er las in den Bewegungen der Kämpfer und in den Mustern der Krähen über ihm. Er deutete den Rauch, der aus den Flammen stieg und die Flammen selbst. Er schaute und schaute, und wo auch immer er hinblickte, sah er stets dasselbe:

Das Schicksal wollte ihn nicht von dieser Schlacht fernhalten und wollte nicht, dass es so ausging, wie es sich gerade abzeichnete.

Er befand sich in einem Dilemma, denn Dust hatte Anweisungen von den Priestern erhalten, und ein Angarthim widersetze sich nicht. Sie taten, wie ihnen befohlen. Sie mussten sich dem beugen, um die Schöpfung zu bewahren. Sie hatten ihm gesagt, dass Royce sterben müsse. Dust hatte bereits seine Eltern in ihrem Dorf getötet.

Er wusste nicht, was er tun soll, und so tat er das einzige, was er tun konnte: er warf sich blind und im Vertrauen auf das Schicksal in die Schlacht und hoffte, dass es ihn leiten würde, auf dass es ihn zu seinem Ziel führen würde, so es denn das war, was es von ihm erwartete.

Das war nicht das Problem. Dust hatte solange er denken konnte stets in den Neigungen und Windungen der Flammen gelesen. Die Stelle zu finden, an der man die Flammen ersticken konnte, war eine leichte Übung. Er warf etwas Erde auf eine der Stellen, wo das Feuer eine Mauer bildete und schaffte es, eine Schneise zu schaffen, die breit genug war, dass man hindurchtreten konnte.

Dann warf er sich in die Schlacht. Er zog einige Päckchen aus seinem Kleid. Der Staub, der sich in ihnen befand, wurde von den Priestern benutzt, um Visionen, gute wie schlechte, heraufzubeschwören. Nicht-Eingeweihte würden schreiend stundenlang umherlaufen, vorausgesetzt sie wurden nicht vorzeitig getötet. Dust konnte nur ahnen, welches Chaos es inmitten der Schlacht verursachen würde.

Trotzdem würde er die Säckchen benutzen. Er hielt sie in die Flammen bis sie Feuer fingen, dann warf er die Feuerbündel in das Kampfgetümmel. Dort explodierten sie und streuten Staub, Feuer und Rauch. Eine Sekunde später konnte Dust die ersten Anzeichen sehen.

Entsetzen machte sich in der Schlacht breit. Ungetüme mit zu vielen Beinen krabbelten über das Schlachtfeld und gigantische Kreaturen bahnten sich ihren Weg. Männer fingen an zu schreien als sie sie sahen. Sie wichen zurück oder versuchten, Dinge von sich zu stoßen, mit denen sie an diesem Ort niemals gerechnet hatten. Einige ergriffen die Flucht. In dem Durcheinander konnte Dust nicht erkennen, ob es Feinde waren, die sie niedermetzelten oder die Kreaturen, die umherliefen und alles niedertrampelten oder gar ihre eigenen Männer.

Dust warf sich in die Schlacht und auf die Launen des Schicksals vertrauend schlugen seine Hände dort zu, wo es ihn hinführte. Eine seiner Nadeln traf den Hals eines Wächters. Dann schnappte er sich die Klinge eines anderen und säbelte einen dritten nieder.

„Zu ungestüm“, sagte eine Stimme. „Du bist zu ungestüm.“

Dust blickte sich nach dem Klang von Angarthim Ashes Stimme um. Der ältere Mann schien über dem Schlachtfeld zu schweben. Dusts ehemaliger Lehrer driftete auf ihn zu, seine Hände hatte er nach Dusts Hals ausgestreckt. Dust warf sich zur Seite und schlug einen Mann nieder, der in den Raum gestoßen hatte, an dem er eben noch gewesen war.

„So langsam“, sagte Ash. „So voll von deinen eigenen Gedanken anstatt auf das Schicksal zu vertrauen.“

„Du bist ein Trugbild“, sagte Dust und wich einem Hieb aus, der scheinbar von seinem früheren Mentor kam, sich dann aber als ein Speerstoß entpuppte. Er schlitzte dem Speerträger die Kehle auf und setzte seinen Weg fort. „Du bist nichts als die Wirkung des Staubs.“

„Und der Staub zeigt nur, was sowieso hier sein sollte“, sagte Angarthim Ash. „Alles hier ist eine Lehrstunde, mein Schüler. Alles in der Welt ist eine Lehrstunde.“

Lehrstunde oder nicht, die Biester und die Wirkung des Pulvers schienen Chaos in der Schlacht zu stiften. Männer wirbelten herum und versuchten, vorauszusehen, wo die nächste Kreatur auftauchen würde. Ein Schwarm fliegender Fische bahnte sich seinen Weg durch das Schlachtfeld, und einer der Soldaten zahlte mit seinem Leben als er sich nach ihm umblickte. Ein spinnenartiges Ding hüpfte in Richtung eines Dörflers, und er sprang so plötzlich zurück, dass er sich selbst auf dem Schwert eines Kumpans aufspießte.

Sie strömten jetzt durch die Lücke, die Dust in der Feuerwand geschaffen hatte. War er deshalb hier? Er blickte sich nach Royce um, dem Jungen, den er hatte töten sollen. Dust glaubte, ihn kurz gesehen zu haben, doch da war er schon hinter einem gigantischen Wurm verschwunden. Als Dust sich seinen Weg in Royces Richtung bahnte kamen ihm Männer und Frauen in die Quere, die gegeneinander kämpften, um von hier fortzukommen oder einfach nur zu überleben.

Dust fluchte, und es erschien ihm dumm, das zu tun. Er hatte sich dafür entschieden, sich in die Arme des Schicksals zu begeben. Er konnte sich nicht beschweren, wenn es ihm nicht das gab, was er wollte. Noch immer fluchend, zog er sich aus der Schlacht zurück. Er hoffte, dass das Chaos, das er verursacht hatte, genug sein würde.

 

***

 

„So können wir unmöglich weiterkämpfen!” rief Altfor und schlug nach einem Schwarm Schmetterlinge der scheinbar an seinem Kopf vorbeigeflogen kam. Er spürte den Widerstand des Stahls als sein Schwert gegen irgendetwas schlug, doch in dem Chaos konnte er nicht ausmachen, was es war.

„Unsinn!“ rief sein Onkel ihm zu. Er hielt sein Schwert fest umklammert. „Das ist nichts, wovor man Angst haben müsste!“

„Nichts wovor man Angst haben müsste?“ sagte Altfor. „Das ist Zauberei! Mit der Zauberei können wir es nicht aufnehmen.“

„Das können wir, und das werden wir!“ insistierte sein Onkel und schwang sein Schwert in eine Stelle, wo die haarige Kreatur von der Größe eines Mannes stand. Ein Soldat ging zu Boden, und Altfor brauchte nur einen kurzen Augenblick, um zu begreifen, dass dieser Mann zu ihnen gehört hatte.

„Wir können nicht sehen, gegen wen wir kämpfen“, beharrte Altfor weiter.

„Wir kämpfen gegen unsere Feinde“, sagte Lord Alistair. „Eine bessere Gelegenheit wird sich uns nicht bieten. Sie können nicht entkommen, und wir werden nicht zulassen, dass sie das überleben!“

Sein Onkel kämpfte sich weiter vorwärts, schlitzte Menschen auf und säbelte um sich, um sich so einen Weg durch das Gedränge, das aus unvorstellbaren Kreaturen bestand, zu schlagen. Männer fielen und fielen, viel zu viele aus ihrem eigenen Lager. Altfor hatte normalerweise kein Problem damit, gewöhnliche Soldaten zu opfern, doch hier riskierten sie gerade, alles zu verlieren. Mehr noch erkannte er die Gelegenheit, die sich ihm hier bot.

„Rückzug!“ schrie er. „Zurück ins Schloss!“

Er sah, wie sein Onkel sich zu ihm umdrehte. In seinem Gesicht stand die Wut. „Wir ziehen uns nicht zurück“, schrie er ihn an. „Wir – “

Etwas traf ihn an der Seite seines Helms. Altfor konnte nicht sehen, was genau die Kreatur darstellen sollte, aber das war auch egal. Was zählte war, dass sein Onkel auf die Knie fiel und dann komplett zusammenbrach. Er hatte Mühe, wieder auf die Beine zurückzukommen.

Ein dummer Mensch hätte ihn vielleicht dort zurückgelassen, doch Altfor war nicht dumm. Ein Mann, der davonlief, riskierte, dass sein Onkel vielleicht doch überlebte und sich rächen würde. Ein Mann, der das Naheliegende tat und seinem Onkel den Rest gab, würde man einen Verräter nennen. Ihm blieb nur eine einzige Sache zu tun...

„Ich komme, Onkel!“ rief er und trieb sein Pferd an. Er metzelte den Feind nieder, der ihnen zu nah kam, verpasste einem anderen Mann einen Tritt und duckte sich unter den Klauen irgendeines Dings hinweg. Er erreichte seinen Onkel und griff nach ihm. Er war froh, dass der alte Mann immer noch nur halb bei Bewusstsein war; mit Sicherheit nicht wach genug, um ihm Befehle zu erteilen.

„Bietet meinem Onkel Schutz!“ rief Altfor als er Lord Alistair auf den Rücken eines Pferdes hievte. „Wir müssen ihn zurück ins Schloss bringen!“

Das Schwert seines Onkels lag auf dem Boden. Mit einer schwungvollen Bewegung holte Altfor es sich zurück. Er hatte Mühe gleichzeitig das Schwert und seinen Onkel festzuhalten, doch irgendwie schaffte er es. Vielleicht hing der Rest seines Lebens vom Gelingen dieses Moments ab. Wenn ihm nur ein kleines Missgeschick passierte, würde er wie ein Feigling und nicht wie ein Held aussehen, wie ein Idiot und nicht wie der Mann, der als Einziger im Chaos des Schachtfelds den Durchblick behalten hatte.

Als er seinen Onkel aufhob, fiel sein Blick für eine Sekunde auf Royce. Altfor überlegte kurz, seinen Plan aufzugeben und sich den Verräter vorzunehmen, doch dann siegte sein Verstand. Er war kein Gauner, der im Einzelkampf antrat und darauf vertraute, dass seine Kräfte lange genug währen würden. Außerdem kämpften zwischen ihnen zu viele Männer, herrschte zu großes Durcheinander. Überall konnten ungesehen Klingen oder eiserne Keulen lauern.

Also rannte er davon, denn das würde Altfor in diesem Moment den größten Vorteil bringen; nicht nur sein Leben retten, sondern auch das Vertrauen der Männer, die ihm folgten, gewinnen. Sie begleiteten ihn, und zusammen ritten sie donnernd zurück in Richtung des Schlosses.

 

***

 

Royce sah keinen Ausweg aus dem Chaos. Er hieb in alle Richtungen, wehrte Schläge ab und schlug zurück. Er versuchte, sich zu konzentrieren, den Schmerz in seinem Kopf zu überwinden, der ihm eine Welt voller Götter und Monster vorgaukelte, Dinge die es hier gar nicht hätte geben dürfen, zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt.

„Das ist nicht echt!“ rief er den anderen zu. „Ihr müsst euch konzentrieren!“

Er zwang sich zur Konzentration und versuchte, den Wahnsinn zu übersehen. Royce hatte das Gefühl, dass die Dinge, die er sah, sich wie ein Schleier über die Wirklichkeit gelegt hatten. Er wusste, dass er sich nur stark genug konzentrieren musste, um diesen Schleier zu lüften.

Royce drehte sich um, und in diesem Moment sah er durch das Chaos hindurch. Die Bilder waren nicht verschwunden, sie tanzten und wirbelten und kämpften, doch er konnte jetzt an ihnen vorbeiblicken und die Wirklichkeit dort erkennen. Er sah, wie die Menschen kämpften und töteten und starben.

Er sah, wie Mathilde ihre kurzen Klingen in einem Wächter versenkte, ohne zu bemerken, dass ein anderer Wächter auf sie zukam. Royce sprang dazwischen, wehrte den Hieb ab und verpasste dem Mann einen Tritt.

„Bleib bei mir!“ rief er ihr zu. „Trommel die anderen zusammen, wenn du kannst!“

„Hendrik ist tot“, rief sie über das Dröhnen der Schlacht hinweg, und Royce konnte den Schmerz in diesen Worten hören. Es war der gleiche Schmerz, der ihn beim Gedanken an den Tod des großen jungen Mannes erfasste.

„Ich weiß“, sagte Royce. „Aber wir dürfen jetzt nicht aufhören. Wir müssen die anderen retten. Da!“

Er deutete auf die Stelle, wo Lofen mit seinem Schwert gegen etwas kämpfte, das nur er sehen konnte. Royce kämpfte sich zu ihm vor...

Das war der Augenblick, in dem die wirbelnden Täuschungen auch ihn erfassten. Er sah sich selbst auf einem Leichenberg stehen, das Kristallschwert war voller Blut. Er sah sich von Männern aus mindestens drei Armeen umringt, sie alle blickten zu ihm mit einer Mischung aus Entsetzen und Ehrfurcht. Es erschien ihm wie ein Abgesang auf das, was Lori ihm gesagt hatte, nur dass Royce es jetzt mit seinen eigenen Augen sehen konnte.

Er schob es beiseite, denn jetzt gab es nichts Wichtigeres, als zu seinen Brüdern zu gelangen. Er erreichte Lofen, griff nach dessen Arm und zwang ihn so, ihm ins Gesicht zu sehen.

„Lofen, wir müssen hier weg. Komm mit mir!“

Er zog erst Lofen hinter sich her, dann Garet und schließlich auch Raymond. Er sammelte einen nach dem anderen der Leute ein, die mit ihm gekommen waren, und er war froh, dass sich währenddessen Altfors Einheiten offenbar zurückzogen. Einige nicht, doch sie waren anscheinend diejenigen, die damit beschäftigt waren, gegen etwas zu kämpfen, das nur sie sehen konnten. Einer kam Royce in die Quere, und als er sein Schwert heben wollte, schlug Royce ihn nieder. Doch der Großteil schien viel zu gefangen in den eigenen Kämpfen, als dass er wirklich hätte kämpfen können.

„Alle herhören“, rief Royce, „wenn ihr euer Leben retten wollt, müsst ihr jetzt mit mir kommen!“

Doch wohin? Royce hatte noch keine Antwort auf diese Frage. Keine der Möglichkeiten, die sie hatten, erschien ihm sonderlich gut. Das Schloss lag vor ihnen, uneinnehmbarer als je zuvor. Flammen loderten um es herum und kamen immer näher an sie heran. Als die Täuschungen und Monster verschwanden, musste Royce davon ausgehen, dass weitere Männer einen neuen Angriff starten würden.

„Mathilde, wie habt ihr es durch die Flammen geschafft?“ fragte Royce.

„Da war plötzlich eine Lücke“, sagte sie. „Wir haben gesehen... wie der graue Mann sie aufgetan hat.“

Der graue Mann; derselbe Mann der Royces Eltern getötet hatte. Royce drehte sich instinktiv herum, um nach ihm zu schauen, doch er war nirgends zu entdecken. Was er jedoch sehen konnte, war eine Stelle, an der keine Flammen loderten. Der Boden dort war schwarz und bot genügend Raum, dass Leute dort hindurchlaufen konnten.

„Da!“ rief Royce. „Folgt mir!“

Er lief voraus, und vielleicht war es die Art, mit der er es gesagt hatte oder einfach nur die Tatsache, dass sie keine andere Möglichkeit hatten, aber die Leute folgten seiner Aufforderung. Royce stand neben der Stelle, an der keine Flammen zuckten, und führte sie hindurch, einen nach dem anderen. Er zählte seine Leute, und es waren viel zu wenige im Vergleich zu der Anzahl, die mit ihm hierhergekommen war.

„Jetzt du!“ rief Raymond von hinter dem Feuer ihm zu.

Royce blickte sich noch einmal nach dem Schlachtfeld um. Es war mit Leichen übersät, und einige Trugbilder tanzten noch immer wie das Spielzeug eines verrücktgewordenen Puppenspielers über das Feld dort hinweg. Er hatte gehoffte, dass er Altfor und seinen Onkel davon abhalten würde, weitere Dörfer anzugreifen, wenn er herkäme. Er hatte gehofft, dass die Dinge hier enden würden.

Stattdessen fühlte es sich trotz der vielen Toten eher so an als hätte es gerade erst begonnen.