»Du machst was?«, platzt es aus Maxine heraus, während sie ihn ungläubig anstaunt: Chris, Vice President of Research and Development bei Parts Unlimited.
Chris, hinter seinem Schreibtisch, lächelt schwach. Jetzt merkt er, wie absurd er sich anhört, denkt Maxine.
»Maxine, es tut mir wirklich leid. Ich weiß, es ist schrecklich, das direkt nach einem Urlaub zu erfahren, aber der Fehler beim Gehaltsabrechnungslauf hat einen echten Tornado verursacht. CEO und CFO wollten Köpfe rollen sehen. Wir haben uns tagelang damit herumgequält, aber ich glaube, dass wir jetzt eine ziemlich gute Lösung gefunden haben … und vor allem wird dabei niemand gefeuert.«
Maxine schlägt mit der ausgedruckten E-Mail auf seinen Schreibtisch. »Du schreibst hier, dass der Ausfall durch menschliches Versagen und technische Störungen verursacht wurde. Und jetzt behauptest du, ich sei das ›menschliche Versagen‹? Nach all der Zeit, in der wir gemeinsam nach einer Lösung wegen des möglichen Compliance-Verstoßes gesucht haben, schiebst du jetzt alle Schuld auf mich? Was für ein unglaublicher Schwachsinn ist das denn?« Sie starrt ihn wütend an.
»Ich weiß, ich weiß … Es ist nicht richtig«, sagt Chris und windet sich unter Maxines intensivem Blick. »Jeder hier schätzt deine unglaublichen Fähigkeiten und Talente und deine fantastischen Beiträge für das Unternehmen in den letzten acht Jahren – niemand glaubt wirklich, dass du schuld bist. Aber das Abrechnungsproblem stand auf allen Titelseiten! Dick musste ein Statement abgeben, um zu verhindern, dass die Gewerkschaften eine Beschwerde einreichen! Wenn man das alles berücksichtigt, haben wir, wie ich finde, die beste Lösung in einer ziemlich schlimmen Situation gefunden.«
»Du schiebst die Schuld also einfach auf eine Person, die gerade in Urlaub ist und sich nicht wehren kann?«, entgegnet Maxine angewidert. »Das ist wirklich bewundernswert, Chris. In welchem Mitarbeiterführungsseminar hast du das denn gelernt?«
»Komm schon, Max, du weißt, ich bin dein größter Fan und größter Verteidiger. Tatsächlich solltest du das als dickes Kompliment nehmen – du hast mit die beste Reputation in der ganzen IT-Abteilung«, verteidigt sich Chris.
Jemandem für den Ausfall der Gehaltszahlungen die Schuld zu geben, ist eine seltsame Art und Weise, seine Wertschätzung zu zeigen, denkt sie.
Er fährt fort: »Jeder weiß, dass das nicht wirklich deine Schuld war. Betrachte es einfach als Erholungsaufenthalt – du kannst dir selbst aussuchen, woran du arbeiten willst, und du wirst keine besonderen Verantwortlichkeiten haben, solange du dir keine suchst.«
Maxine will gerade antworten, als ihr bewusst wird, was sie da gerade gehört hat. »Warte mal, Chris, was genau soll ich als Erholungsaufenthalt betrachten?«
»Äh …« Chris stottert, sackt unter ihrem Blick etwas in sich zusammen. Maxine lässt ihn zappeln. Als Frau in einem nach wie vor weitgehend männlich dominierten Beruf weiß sie, dass ihre Direktheit Chris unangenehm ist, aber auch, dass sie mit nichts hinterm Berg halten wird.
»… ich habe Steve und Dick versprochen, dir eine Position zu geben, in der du keine Änderungen an der Produktivumgebung mehr vornehmen kannst«, rechtfertigt sich Chris und rutscht unruhig hin und her. »Also, äh, ab sofort wechselst du vom ERP-System unserer Fertigungsstandorte zur Dokumentation des Phoenix-Projekts, um dort auszuhelfen …«
»Du schickst mich zum …« Maxine stockt der Atem. Sie kann einfach nicht glauben, was sie da hört.
»Schau, Max, du musst dich bloß vier Monate lang bedeckt halten. Dann kannst du zurückkommen und dir dein Wunschprojekt aussuchen, okay?«, lockt Chris. Er lächelt schwach und fügt hinzu: »Siehst du, wie Urlaub, oder?«
»Oh mein Gott …« krächzt Maxine, während sie langsam ihre Stimme wiederfindet. »Ihr schickt mich zum Phoenix-Projekt?!«, platzt es dann laut aus ihr heraus. Sie ärgert sich sofort über diesen kurzen Moment der Schwäche. Sie holt tief Luft, zupft ihren Blazer zurecht und reißt sich zusammen.
»Das ist Blödsinn, Chris, und das weißt du auch!«, sagt sie ihm ins Gesicht, während sie mit dem Finger auf ihn zeigt.
Maxines Gedanken rasen, und ihr schießt durch den Kopf, was sie über das Projekt Phoenix weiß. Nichts davon ist positiv. Seit Jahren ist es quasi das Todesmarschprojekt des Unternehmens, in das Hunderte von Entwicklern verstrickt sind und das einen beispiellos schlechten Ruf hat. Maxine ist sich ziemlich sicher, dass der Grund dafür, dass nichts richtig läuft, einfach darin liegt, dass sie in diesem Projekt tatsächlich alles falsch machen.
Aber trotz der offensichtlichen Misserfolge geht es immer weiter. Jeder weiß, dass wegen der rasanten Entwicklung im E-Commerce und der Krise des Einzelhandels etwas getan werden muss, damit Parts Unlimited im Zeitalter zunehmender Digitalisierung relevant bleibt.
Parts Unlimited ist immer noch einer der größten Anbieter in der Branche – mit fast 1.000 Filialen im ganzen Land. Aber manchmal fragt sich Maxine, wie es dem Unternehmen über seinen unlängst gefeierten 100. Geburtstag hinaus ergehen wird.
Das Phoenix-Projekt soll die Lösung sein, die Fackel der Hoffnung, die dem Unternehmen den Weg in die Zukunft weist. Jetzt ist es bereits drei Jahre im Verzug – und die Uhr tickt. 20 Millionen Dollar haben sich in Luft aufgelöst – mit praktisch keinem Ergebnis, sieht man mal vom Frust der Entwickler ab. Alles riecht nach einem drohenden Scheitern, was wiederum gravierende Auswirkungen auf das Unternehmen hätte.
»Du willst eine deiner besten Mitarbeiterinnen ins Exil schicken, bloß weil du einen Sündenbock für das Problem mit dem Payroll-Lauf brauchst?«, fragt Maxine, die ihre Enttäuschung nicht zurückhalten kann. »Das ist kein Kompliment – das ist die beste Art zu sagen: ›Scher dich zum Teufel, Maxine!‹ Verdammt, es gibt wahrscheinlich im ganzen Phoenix-Projekt nichts, das es überhaupt wert ist, dokumentiert zu werden! Es sei denn, es geht um die Dokumentation von Inkompetenz? Das ist so, als würde man alle Liegestühle auf der Titanic beschriften. Habe ich dir schon gesagt, dass das totaler Blödsinn ist, Chris?«
»Tut mir leid, Maxine«, antwortet Chris und wirft die Hände in die Luft. »Es ist das Beste, was ich für dich herausholen konnte. Wie ich schon gesagt habe: Niemand gibt dir tatsächlich die Schuld. Sitz einfach deine Zeit ab, und bald wird alles wieder normal sein.«
Maxine schließt die Augen, holt tief Luft und legt die Hände zusammen, um besser nachdenken zu können.
»Okay, okay …«, sagt sie. »Du brauchst einen Sündenbock. Ich verstehe das. Ich kann gerne die Schuld für dieses ganze Fiasko auf mich nehmen. Das ist cool, das ist cool … so läuft der Hase halt, stimmt’s? Nichts für ungut. Versetz mich einfach … in die Cafeteria oder ins Lieferantenmanagement. Ist mir egal. Überall hin, nur nicht ins Phoenix-Projekt!« Maxine hört sich selbst zu, und ihr wird bewusst, dass in weniger als zwei Minuten ihre Verleugnung in Wut übergegangen ist und sie sich nun komplett im Verhandlungsmodus befindet.
Sie ist sich ziemlich sicher, dass sie irgendeinen Schritt im Kübler-Ross-Trauerzyklus übersprungen hat, aber im Moment fällt ihr nicht ein, welcher das sein könnte.
»Chris«, fährt sie fort. »Ich habe nichts gegen Dokumentation. Jeder verdient eine gute Dokumentation. Aber es gibt unendlich viele Projekte, die eine Dokumentation viel dringender bräuchten als Phoenix. Lass mich irgendwo anders etwas machen, das wirklich Sinn ergibt. Gib mir bloß eine oder zwei Stunden, um ein paar Ideen zu entwickeln.«
»Schau, Maxine. Ich habe dich vor acht Jahren wegen deiner erstaunlichen Fähigkeiten und Erfahrungen eingestellt. Jeder weiß, dass du Teams in die Lage versetzt, mit Software nahezu Unmögliches zu bewerkstelligen«, sagt Chris. »Deshalb habe ich für dich gekämpft, und deshalb hast du die Softwareteams geleitet, die für die Lieferketten und internen Fertigungsprozesse für alle 23 Produktionsstätten verantwortlich sind. Ich weiß, wie gut du bist … Aber, Maxine, ich habe wirklich alles getan, was ich konnte. Und leider ist die Entscheidung bereits gefallen. Sitz einfach deine Zeit ab, mach keinen Ärger und komm zurück, wenn alles vorbei ist«, wiederholt er und schaut so reumütig, dass Maxine ihm tatsächlich glaubt.
»Aktuell werden an allen Ecken und Enden Führungskräfte abserviert, und das nicht nur wegen dieses Fiaskos«, fährt Chris fort. »Das Board hat Steve Masters gerade den Vorsitz entzogen, also ist er jetzt nur noch CEO. Und sowohl der CIO als auch der VP of IT Operations wurden gestern ohne jegliche Erklärung entlassen, sodass Steve nun auch als CIO fungiert. Absolut jeder hat Angst, dass noch mehr Blut fließen könnte …«
Chris schaut, ob die Tür geschlossen ist, und sagt dann mit leiser Stimme: »Und es gibt Gerüchte über möglicherweise noch größere und weitreichendere Veränderungen, die kommen werden …«
Chris hält inne, als hätte er möglicherweise schon zu viel gesagt. Dann fährt er fort: »Setz dich mit Randy, dem Development Manager von Phoenix, zusammen, sobald du bereit bist – er ist einer von den Guten. Wie ich dir schon gesagt habe: Betrachte es einfach als einen viermonatigen Urlaub. Im Ernst: Tu, was immer du für hilfreich hältst. Ach was, du musst überhaupt nichts tun. Halte dich einfach zurück. Halt die Füße still. Und komm Steve und Dick möglichst nicht unter die Augen. Klingt das vernünftig?«
Maxine blickt Chris mit zusammengekniffenen Augen an, als er Steve Masters und Dick Landry erwähnt, CEO und CFO von Parts Unlimited. Sie sieht die beiden alle zwei Monate bei den Townhall-Meetings der Firma, den regelmäßigen Mitarbeitertreffen. Wie ist sie nur aus ihrem zweiwöchigen Urlaub, in dem sie die erstaunlichen Sehenswürdigkeiten von Kuala Lumpur genießen durfte, direkt an einen Chris geraten, der diesen ganzen Mist auf sie ablädt?
»Maxine, ich meine es ernst. Bleib einfach ruhig, mach keinen Ärger, halt dich von weiteren Ausfällen fern, und alles wird gut, okay? Dank einfach deinem Glücksstern, dass du wegen des Gehaltszahlungsproblems nicht gefeuert wirst wie die beiden Kollegen letztes Jahr«, beschwört Chris sie.
»Ja, ja, ja. Keinen Ärger machen«, sagt sie und steht auf. »Wir sehen uns in vier Monaten. Und sag mir Vielen Dank, dass ich dir damit helfe, dass du deinen Job behältst. Superklasse, Chris.«
Chris zeigt eigentlich jedes Jahr weniger Rückgrat, denkt sie und stürmt aus dem Zimmer. Sie überlegt, die Tür zuzuknallen, aber sie schließt sie stattdessen … nachdrücklich. Sie hört ihn noch einmal sagen: »Bitte mach keinen Ärger, Maxine!«
Als sie außer Sichtweite ist, lehnt sie sich an die Wand. Tränen steigen hoch. Plötzlich erinnert sie sich an den fehlenden Schritt im Kübler-Ross-Modell, der nach dem Verhandeln kommt: Depression.
Schleppend macht sich Maxine auf den Weg zurück zu ihrem Schreibtisch. Dem alten Schreibtisch. An dem sie bisher gearbeitet hat.
Maxine kann kaum glauben, was ihr gerade widerfährt. Beim Versuch, all den negativen Gedanken entgegenzuwirken, die ihr durch den Kopf sausen, führt sie sich selbst ihre Qualifikationen vor Augen. Seit 25 Jahren ist es ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Technik nach ihrer Pfeife tanzt – und sie weiß, dass sie das effizient, effektiv, präzise, mit Kreativität und Flair und vor allem kompetent macht.
Sie weiß, dass sie über eine unübertroffene praktische Erfahrung verfügt, wenn es darum geht, Systeme aufzubauen, die unter widrigen und sogar feindlichen Bedingungen laufen. Sie besitzt ein fantastisches Gespür dafür, welche Technologien am besten geeignet sind, um eine gegebene Aufgabe zu erfüllen. Sie ist verantwortungsbewusst, akribisch und sorgfältig in ihrer Arbeit, und sie besteht darauf, dass ihr Umfeld das gleiche Maß an Exzellenz und Sorgfalt an den Tag legt. Verdammt noch mal, immerhin war ich eine der gefragtesten Beraterinnen bei den Top-Fortune-50-Unternehmen, ruft sich Maxine in Erinnerung.
Sie stoppt mitten im Schritt. Auch wenn sie detailverliebt ist und die Dinge gerne richtig macht, hat sie doch gelernt, dass Fehler und Unordnung Tatsachen des Lebens sind. Sie hat die ätzende Wirkung gesehen, die eine Kultur der Angst entfaltet, in der Fehler routinemäßig bestraft und Sündenböcke gefeuert werden. Wenn man für Fehlschläge und als Überbringer schlechter Nachrichten diszipliniert wird, führt das nur dazu, dass Menschen ihre Fehler verbergen und schließlich jegliche Innovationskraft vollständig erlischt.
In ihrer Zeit als Consultant konnte sie immer – meist innerhalb weniger Stunden – feststellen, ob Leute Angst hatten, das zu sagen, was sie wirklich dachten. Es hat sie verrückt gemacht, wenn Menschen darauf achteten, wie sie Dinge formulierten, verklausuliert sprachen und sich extrem bemühten, bestimmte verbotene Wörter zu vermeiden. Sie hasste diese Situationen und würde alles tun, um einen Kunden davon zu überzeugen, entsprechende Projekte zu beenden, um allen Beteiligten Zeit, Geld und eine Menge Ärger zu ersparen.
Sie kann einfach nicht glauben, dass sie diese Warnzeichen jetzt bei Parts Unlimited entdecken muss. Ich erwarte von Chefs, dass sie ihre Mitarbeiter vor politischem und bürokratischem Wahnsinn schützen, anstatt sie dem auszuliefern, denkt Maxine.
Erst gestern war sie mit ihrer Familie nach einem fast 20-stündigen Rückflug aus Kuala Lumpur zurückgekommen. Als sie ihr Telefon eingeschaltet hatte, war es fast verglüht, weil so viele Nachrichten reinströmten. Während Jake und ihre zwei Kinder am Flughafen nach etwas Essbarem suchten, bekam sie endlich Chris an die Strippe.
Er erzählte ihr von dem Gehaltszahlungsproblem und informierte sie über das ganze Chaos. Sie hörte aufmerksam zu, aber ihr Herz blieb fast stehen, als sie Chris sagen hörte: »… und wir dann entdeckten, dass in der Datenbank die gesamten Sozialversicherungsnummern korrumpiert waren.«
Ihr brach kalter Schweiß aus, ihre Hände kribbelten, und ihr Blut gefror. Eine gefühlte Ewigkeit lang stockte ihr Atem. Sie wusste es. »Es war die Sicherheitsanwendung für die Tokenisierung, richtig?«
Sie fluchte laut. Einige Eltern um sie herum trieben ihre kleinen Kinder von ihr weg. Sie hörte Chris sagen: »Genau. Und das wird noch richtig Ärger geben. Komm so schnell wie möglich ins Büro.«
Selbst jetzt noch erschrickt sie vor dem Ausmaß des Gemetzels. Wie alle Techniker liebt sie insgeheim Katastrophengeschichten – solange sie nicht selbst die Hauptrolle spielt. »Blöder Chris«, murmelt sie, während sie darüber nachdenkt, ihren Lebenslauf, den sie seit acht Jahren nicht angefasst hat, vom Staub der Zeit zu befreien und die Fühler nach Stellenangeboten auszustrecken, egal welchen.
Als Maxine schließlich ihren Arbeitsplatz erreicht, ist der Gleichmut, zu dem sie sich aufgerafft hat, schon wieder verflogen. Sie bleibt stehen, bevor sie reingeht. Ihre Achselhöhlen sind verschwitzt. Sie riecht daran, um sicherzugehen, dass sie nicht nach der Erniedrigung stinkt, die sie gerade empfindet. Sie weiß, dass sie paranoid ist – sie hat heute Morgen so viel Deo benutzt, dass ihre Achseln kreideweiß waren. Sie ist froh, dass sie es gemacht hat.
Sie betritt das Büro. Jeder weiß, dass sie versetzt wurde, aber alle versuchen, sich nichts anmerken zu lassen. Glenn, seit drei Jahren ihr Manager, kommt auf sie zu und fasst sie kumpelhaft bei der Schulter, mit gequälter Miene. Er sagt: »Keine Sorge, Maxine. Du wirst im Handumdrehen wieder hier sein. Keiner von uns ist glücklich darüber, wie es gelaufen ist. Ein Haufen Leute wollte eine große Party für dich schmeißen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass du kein großes Aufheben davon machen wolltest«, sagt er.
Maxine antwortet: »Verdammt richtig. Danke, Glenn.«
»Kein Problem«, entgegnet er mit einem schiefen Lächeln. »Lass mich wissen, wie ich helfen kann, okay?«
Auch sie ringt sich ein Lächeln ab und meint: »Komm schon, es ist ja nicht so, als ob ich sterbe oder auf den Mond geschossen werde! Ich rücke sogar näher an die Zentrale heran, wo die ganze Action stattfindet. Dann werde ich euch Hinterwäldlern am Rande der Zivilisation regelmäßige Updates schicken!«
»Das ist die richtige Einstellung. Wir sehen uns in vier Monaten hier wieder, wenn alles gut geht«, stimmt er zu und deutet spielerisch einen Boxschlag an. Maxines runzelt beim »wenn alles gut geht« leicht die Stirn. Das war ihr neu.
Da Glenn zu einem Meeting muss, geht Maxine zu ihrem Schreibtisch und beginnt zu packen. Sie sucht die wichtigsten Dinge zusammen, die sie in ihrem Exil brauchen wird: ihren sorgfältig konfigurierten Laptop (sie ist sehr wählerisch, was Tastatur und Arbeitsspeicher angeht), Familienfotos, ihr Tablet und die über die Jahre sorgfältig ausgewählten und gesammelten USB- und Laptop-Ladegeräte zusammen mit dem großen Schild, das über ihnen hängt: »NICHT ANFASSEN, bei Todesstrafe!«
»Hi, Maxine! Warum packst du zusammen?«, hört sie jemanden fragen. Sie schaut auf und sieht Evelyn, ihre vielversprechende junge Informatik-Praktikantin. Maxine hat sie rekrutiert. Den ganzen Sommer über hat Evelyn alle mit ihrer schnellen Auffassungsgabe beeindruckt. Nach ihrem Abschluss wird sie sich ihren Job frei aussuchen können, denkt Maxine. Deshalb hat sie ihr den ganzen Sommer über Parts Unlimited ununterbrochen als einen großartigen Ort zum Arbeiten und Lernen angepriesen. Was sie selbst geglaubt hat – bis heute Morgen. Vielleicht ist das hier doch kein so toller Arbeitsplatz.
»Ich wurde vorübergehend wieder dem Phoenix-Projekt zugeteilt«, sagt Maxine. »Oh, wow«, sagt Evelyn. »Das ist schrecklich … Es tut mir so leid!«
Du weißt, dass du in echten Schwierigkeiten steckst, wenn sogar die Praktikantin Mitleid mit dir hat, denkt Maxine.
Sie verlässt das Gebäude mit ihrem schlichten Karton – allein. Sie fühlt sich, als würde sie sich im Gefängnis melden. Was das Phoenix-Projekt im Grunde genommen ja auch ist, sagt sie sich.
Mit dem Auto sind es vier Meilen zum Campus der Konzernzentrale. Unterwegs denkt sie darüber nach, welche Vor- und Nachteile es hat, wenn sie in der Firma bleibt. Vorteile: Ihr Mann ist fest angestellter Professor – weshalb sie überhaupt nach Elkhart Grove gezogen sind. Ihre Kinder lieben ihre Schulen, Freunde und Hobbys.
Sie liebt ihre Arbeit und all die Herausforderungen; sie liebt die Auseinandersetzung mit den unzähligen und komplexen Geschäftsprozessen, die das gesamte Unternehmen umspannen – es erfordert ein tiefgehendes Verständnis des kompletten Geschäftsbetriebs, erhebliche Problemlösungsfähigkeiten, viel Geduld und die politische Raffinesse, mit manchmal byzantinischen und teils völlig unverständlichen Abläufen klarzukommen, die es in jeder großen Organisation zu geben scheint. Und Bezahlung und Zusatzleistungen sind großartig.
Nachteile: Projekt Phoenix. Arbeiten für Chris. Und das Gefühl, dass sich die Unternehmenskultur verschlechtert. Was sich gerade jetzt daran zeigt, wie ich wegen des Payroll-Problems gelyncht werde, denkt sie.
Um sich herum sieht sie Gebäude, die Status und Erfolg ausstrahlen sollen. Parts Unlimited mit seinen 7.000 Mitarbeitern hat sich dieses Prestige als einer der größten Arbeitgeber im Staat verdient. Die Firma hat Filialen in nahezu allen Bundesstaaten und Millionen treuer Kunden, auch wenn alle Auswertungen zeigen, dass diese Zahlen rückläufig sind.
In Zeiten von Uber und Lyft entscheidet sich die jüngere Generation häufiger dafür, ohne Auto auszukommen, und wenn doch jemand eines besitzt, repariert er es sicher nicht selbst. Es braucht kein strategisches Genie, um zu erkennen, dass das langfristige Wohlergehen des Unternehmens eine neue Herangehensweise erfordert.
Sie fährt weiter ins Innere des Firmencampus, kann aber Gebäude 5 nicht finden. Als sie bereits ihre dritte Runde dreht, sieht sie schließlich das Hinweisschild zum Parkplatz. Eine leichte Bekommenheit macht sich in ihr breit. Das Gebäude ist im Vergleich zu den anderen eine Absteige. Es sieht sogar wie ein Gefängnis aus, denkt sie.
Gebäude 5 war früher eine Produktionshalle, genau wie MRP-8, ihr »altes« Gebäude. Aber während MRP-8 offensichtlich immer noch der Stolz des Unternehmens ist, werden in Gebäude 5 schlecht gelittene IT-Leute wie sie einsperrt, und dann wird der Schlüssel weggeworfen.
Wenn das Phoenix-Projekt das strategisch wichtigste Projekt des ganzen Unternehmens ist, verdienen dann nicht die Teams, die daran arbeiten, ein besseres Gebäude?, wundert sich Maxine. Aber andererseits weiß sie, dass in den meisten Firmen die Unternehmens-IT selten geliebt und oft in den unattraktivsten Objekten geparkt wird.
Was seltsam ist. In MRP-8 arbeiten die ERP-Teams Seite an Seite mit den Mitarbeitern des Anlagenbetriebs. Sie werden als Partner betrachtet. Sie arbeiten gemeinsam, essen gemeinsam, beschweren sich gemeinsam und bechern gemeinsam.
Dagegen wird die Unternehmens-IT normalerweise als eine Reihe namenloser Personen betrachtet, die man anruft, wenn etwas mit dem Laptop nicht stimmt oder wenn man etwas nicht drucken kann.
Maxine starrt auf Gebäude 5 und begreift, dass, so schlecht der Ruf des Phoenix-Projekts auch sein mag, die Realität wahrscheinlich noch viel, viel schlimmer ist.
Jeder erzählt Maxine, dass eine ihrer liebenswertesten Eigenschaften ihr unerbittlicher und nie enden wollender Optimismus ist. Das redet sie sich immer wieder ein, während sie auf Gebäude 5 zugeht, den Karton mit ihren Sachen vor der Brust.
Ein gelangweilter Wachmann inspiziert ihren Ausweis und empfiehlt ihr, den Aufzug zu nehmen, aber Maxine entscheidet sich stattdessen für die Treppe. Sie wünscht sich, sie hätte eine etwas fröhlicher wirkende Tasche, um ihre Sachen zu transportieren, anstatt diese blöde Kiste mit sich herumzuschleppen.
Als sie die Tür öffnet, rutscht ihr das Herz in die Hose. Es ist ein riesiges Großraumbüro mit grauen Trennwänden, die die Arbeitsbereiche voneinander abgrenzen. Das Labyrinth der Kabinen erinnert sie an das alte Computertextspiel Zork – sie hat schon jetzt in dieser Ansammlung verwirrender Gänge, die alle gleich aussehen, die Orientierung verloren.
Als ob jegliche Farbe aus dem Gebäude verschwunden wäre, denkt sie. Die Erinnerung an den alten Farbfernseher ihrer Eltern steigt in ihr auf, als ihr Bruder an den Helligkeits-, Kontrast- und Farbeinstellungen herumgefummelt hatte, um alles in einem kränklichen Grau und Grün erscheinen zu lassen.
Auf der anderen Seite ist Maxine erfreut zu sehen, dass jeder Schreibtisch über zwei massive LCD-Bildschirme verfügt. Sie ist am richtigen Ort. Das sind Entwickler. Die neuen Monitore, die geöffneten Codeeditoren und der hohe Anteil an Personen, die Kopfhörer tragen, sind todsichere Hinweise.
Der Raum ist so still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Es erinnert an eine Unibibliothek. Oder an ein Grab, denkt sie. Es wirkt nicht wie ein lebendiger Raum, in dem Menschen zusammenarbeiten, um Probleme zu lösen. Software zu programmieren, sollte eine gemeinschaftliche und dialogorientierte Aufgabe sein: Einzelpersonen müssen miteinander interagieren, um neues Wissen und Mehrwert für den Kunden zu schaffen.
In dieser Stille schaut sie sich um und fühlt sich noch schlechter angesichts ihres Schicksals.
»Wissen Sie, wo ich Randy finden kann?«, fragt sie den erstbesten ihrer neuen Kollegen. Er zeigt auf die gegenüberliegende Ecke des Großraums, ohne die Kopfhörer abzunehmen.
Während sie durch dieses Labyrinth stiller Waben läuft, bemerkt Maxine Whiteboards und Menschen, die sich in Gruppen zusammendrängen und mit stark gedämpften Stimmen sprechen. An einer langen Wand hängen riesige Gantt-Diagramme, mehr als einen Meter hoch und fast zehn Meter breit, die aussehen, als seien sie aus mehr als 40 Einzelblättern zusammengesetzt.
Neben den Gantt-Diagrammen gibt es Ausdrucke mit vielen grünen, gelben und roten Feldern. Vor den Charts stehen Menschen in Hosen und Poloshirts. Mit verschränkten Armen und besorgten Blicken.
Maxine kann fast fühlen, wie die Leute mental versuchen, die Balken enger zusammenzurücken, damit sie all die zugesicherten Deadlines einhalten können. Viel Glück dabei, denkt sie.
Als sie in der gegenüberliegenden Ecke ankommt, wo sie Randy finden soll, nimmt Maxine plötzlich den unverwechselbaren Geruch von Menschen wahr, die im Büro geschlafen haben. Sie kennt diesen Geruch. Es ist der Geruch zu vieler Arbeitsstunden, unzureichender Belüftung – und Verzweiflung.
In der IT ist das fast schon ein Klischee. Wenn es darum geht, Features schnell auf den Markt zu bringen, eine Vertriebschance zu nutzen oder die Konkurrenz einzuholen, werden aus vielen Überstunden unzählige Überstunden, sodass es irgendwann einfacher ist, unter dem Schreibtisch zu schlafen, als nach Hause zu gehen und praktisch gleich wieder zurückzukommen. Obwohl Überstunden in der Populärkultur manchmal verherrlicht werden, betrachtet Maxine sie als ein Symptom dafür, dass etwas ganz und gar schiefläuft.
Sie fragt sich, was los ist: Zu viele Marketingversprechen? Schlechte Leitung des Engineerings? Miese Produktführerschaft? Zu viele technische Schulden? Nicht genug Fokus auf Architekturen und Plattformen, die es den Entwicklern ermöglichen, produktiv zu sein?
Maxine bemerkt, dass sie vollkommen übertrieben angezogen ist. Sie schaut an sich herunter auf den Anzug, den sie seit Jahren bei der Arbeit trägt, und stellt fest, dass sie auffällt wie ein bunter Hund. T-Shirts und Shorts sind in diesem Gebäude den Poloshirts zahlenmäßig weit überlegen. Und niemand trägt eine Jacke.
Morgen lasse ich die Jacke zu Hause, denkt sie.
Sie findet Randy in einer Eckwabe, tippend und umgeben von riesigen Papierstapeln. Randy ist rothaarig und trägt die typische Manageruniform – gestreiftes weißes Hemd und khakifarbene Hose. Maxine schätzt, dass er Ende 30 ist, wahrscheinlich zehn Jahre jünger als sie. Seinem geringen Körperfettanteil nach zu urteilen, joggt er wahrscheinlich jeden Tag. Aber er sieht dermaßen gestresst aus, dass ihm auch kein Laufen mehr helfen kann.
Er schenkt ihr ein breites Lächeln und steht auf, um ihr die Hand zu schütteln. Sie stellt ihren großen Karton ab und merkt, wie müde ihre Arme sind. Als sie seine Hand greift, sagt er: »Chris hat mir erzählt, wie Sie hier gelandet sind. Die Geschichte tut mir leid. Aber glauben Sie mir, Ihr Ruf eilt Ihnen voraus, und wir sind absolut begeistert, jetzt jemanden mit Ihrer Erfahrung in unserem Team zu haben. Ich weiß, dass Ihre Fähigkeiten anderweitig besser eingesetzt wären, aber ich nehme jede Hilfe an, die ich kriegen kann. Ich denke, Sie können hier wirklich etwas bewirken.«
Maxine ringt sich ein Lächeln ab, weil Randy nett – und ernsthaft – wirkt. »Ich helfe gern, Randy. Was ist zu tun?«, fragt sie und versucht, genauso ernsthaft zu wirken. Sie will sich nützlich machen.
»Ich bin für die Dokumentation und die Builds verantwortlich. Um ehrlich zu sein – alles ist ein einziges Chaos. Wir haben keine Standardentwicklungsumgebung, die die Developer verwenden können. Es dauert Monate, bis neue Entwickler auf ihren Laptops Builds durchführen und voll produktiv sein können. Sogar unser Build-Server ist völlig unterdokumentiert«, sagt Randy. »Tatsächlich haben wir seit ein paar Wochen einige neue Freelancer vor Ort, die noch nicht einmal Code einchecken können. Gott weiß, was sie bisher tatsächlich getan haben. Wir bezahlen sie trotzdem. Um nichts zu tun, im Grunde genommen.«
Maxine verzieht ihr Gesicht. Sie hasst die Vorstellung, dass teure Experten dafür bezahlt werden, tatenlos herumzusitzen. Und es sind Entwickler – es beleidigt ihr Empfinden zutiefst, wenn arbeitswillige Entwickler daran gehindert werden, ihren Beitrag zu leisten.
»Nun, ich helfe gern aus, wo immer ich kann«, sagt sie und ist überrascht, wie ernst sie es meint. Schließlich ist es immer extrem wichtig, die Entwickler produktiver zu machen, auch diejenigen, die während des kometenhaften Niedergangs weiter am Phoenix-Projekt arbeiten.
»Hier, ich zeige Ihnen, wo wir Sie untergebracht haben«, sagt Randy.
Er führt sie an weiteren Reihen von Kabinen vorbei, zeigt ihr einen leeren Schreibtisch, einen Aktenschrank und zwei große Monitore, die mit einem Laptop verbunden sind. Es ist schlichter und kleiner, als ihr lieb ist, aber es ist in Ordnung. Zumal sie nur ein paar Monate hier sein wird. So oder so, ich bin hier bald wieder raus, denkt Maxine. Entweder endet meine Haftstrafe, oder ich suche mir woanders einen neuen Job.
»Wir haben Ihnen ein Standard-Entwickler-Setup vorbereitet, so wie es alle Entwickler bereitgestellt bekommen, die bei Parts Unlimited anfangen«, sagt er und zeigt auf den Laptop. »E-Mail, Netzwerkfreigaben und Drucker sind mit Ihren vorhandenen Anmeldeinformationen eingerichtet. Ich werde heute Nachmittag an alle eine Vorstellungsmail verschicken. Und ich habe Josh angewiesen, Ihnen dabei zu helfen, alles Weitere einzurichten.«
»Das ist super«, antwortet Maxine und lächelt. »Ich schaue mir an, was ihr entwicklungsmäßig an Bord habt, und mache dann vielleicht ein paar Empfehlungen. Und am liebsten würde ich einen Phoenix-Build auf meinem Laptop ans Laufen bekommen.«
»Das wäre großartig! Wow, ich bin begeistert, Maxine«, sagt Randy. »Ich bekomme normalerweise nie irgendwelche Senior Engineers dazu, an diesen Problemen zu arbeiten. Alle Entwickler, die etwas taugen, werden immer von anderen Teams abgeworben. Sie werden mit der Arbeit an Features, die die Kunden zu Gesicht bekommen, weggelockt, anstatt an langweiliger Infrastruktur zu arbeiten … So, wo ist Josh bloß?«, murmelt er und sieht sich um. »Hier laufen so viele Freelancer und Berater herum, dass es manchmal schwierig ist, die eigenen Mitarbeiter zu finden.«
In diesem Moment kommt ein junger Kerl mit Laptop vorbei und setzt sich an den Schreibtisch neben ihnen. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin, Randy. Ich habe mich um den Build-Crash von gestern Abend gekümmert. Einige Entwickler haben mit ihren Änderungen den ganzen Build korrumpiert. Ich bin noch dabei, das genauer zu prüfen.«
»Ich helfe dir gleich, Josh. Aber ich möchte dir zuerst Maxine Chambers vorstellen.« Randy zeigt auf Maxine.
Maxine muss zweimal hinschauen. Josh sieht kaum älter aus als ihre Tochter. Sie könnten Klassenkameraden an derselben Schule sein. Randy hat keine Witze gemacht, als er von »jungen Leuten« in seinem Team gesprochen hat.
»Maxine ist Senior Engineer und uns für ein paar Monate zugeteilt. Sie ist die leitende Architektin des MRP-Systems. Kannst du ihr zeigen, was sie wissen muss, damit sie hier produktiv werden kann?« »Äh, hi, Mrs. Chambers. Schön, Sie kennenzulernen«, sagt er, streckt die Hand aus und schaut irritiert. Er fragt sich wahrscheinlich, wie er dazu gekommen ist, für jemanden verantwortlich zu sein, der seine Mutter sein könnte, denkt sie.
»Schön, Sie kennenzulernen«, sagt sie lächelnd. »Bitte nennen Sie mich einfach Maxine«, fügt sie hinzu, auch wenn es sie normalerweise ärgert, wenn die Freunde ihrer Töchter sie beim Vornamen nennen. Aber Josh ist ein Arbeitskollege, und sie ist froh, einen einheimischen Guide zu haben, der sie herumführen kann. Auch wenn er nicht alt genug sein dürfte, um schon Auto zu fahren, amüsiert sie sich.
»Okay, lassen Sie es mich wissen, wenn Sie etwas brauchen«, sagt Randy. »Maxine, ich freue mich darauf, Sie dem Rest des Teams vorzustellen. Unsere nächste Mitarbeiterversammlung ist kommende Woche.«
Randy wendet sich an Josh. »Erzähl mir mehr über die Probleme mit dem Build.«
Maxine hört aufmerksam zu. All diese Geschichten darüber, dass sich die technischen Praktiken im Phoenix-Projekt auf Höhlenmenschen-Niveau bewegen, sind tatsächlich wahr. Sie hat im Lauf ihrer Karriere gelernt, dass die Katastrophe nicht lange auf sich warten lässt, wenn die Leute ihre Builds nicht konsistent durchführen können.
Sie sieht sich auf der Etage um. Über 100 Entwickler tippen und arbeiten auf ihren Laptops an ihren eigenen kleinen Systembereichen. Ohne ständiges Feedback durch ein zentralisiertes Build-, Integrations- und Testsystem haben sie alle nicht die geringste Ahnung davon, was passiert, wenn ihre eigene Arbeit mit der aller anderen Entwickler gemergt wird.
Josh dreht seinen Stuhl zu Maxine um. »Mrs. Chambers, ich muss Randy etwas zeigen, aber ich habe Ihnen gerade gemailt, was wir an Dokumentation für neue Entwickler haben – es gibt Wiki-Seiten, auf denen ich alle bisherigen Versionshinweise und die Dokumentation der Entwicklungsteams zusammengestellt habe. Es gibt auch Links zu den Punkten, die wir noch umsetzen müssen. Hoffentlich hilft das für den Anfang?«
Maxine stimmt ihm mit erhobenem Daumen zu. Nachdem die beiden gegangen sind, loggt sie sich mit ihrem neuen Laptop ein und kann direkt auf ihre E-Mails zugreifen – wie durch ein Wunder gleich beim ersten Mal. Aber bevor sie sich anschaut, was Josh ihr geschickt hat, stöbert sie ein bisschen herum, um zu sehen, was sonst noch auf ihrem neuen Laptop ist.
Sofort ist sie verwirrt. Sie findet Links zu HR-Systemen, Netzwerkfreigaben zu diversen Unternehmensressourcen, Links zum Spesenabrechnungssystem, zur Gehaltsabrechnung, zu Zeiterfassungssystemen … Sie stößt auf Microsoft Word und Excel und den Rest der Office-Suite.
Sie runzelt die Stirn. Das passt für jemanden im Finanzwesen, denkt sie, aber nicht für einen Developer. Es sind weder Entwicklertools noch Codeeditoren noch Versionsverwaltungen installiert. Sie öffnet ein Terminalfenster und stellt wie schon erwartet fest, dass es keine Compiler, kein Docker, kein Git gibt – nichts davon ist installiert. Nicht einmal Visio oder OmniGraffle!
Du meine Güte! Was wird hier eigentlich von neuen Entwicklern erwartet? Dass sie E-Mails lesen und Memos schreiben?
Wenn man Klempner oder Schreiner beauftragt, geht man davon aus, dass sie ihr eigenes Werkzeug mitbringen. Aber in einer Softwareorganisation mit mehr als einem Entwickler nutzt das gesamte Team gemeinsame Werkzeuge, um produktiv zu sein. Anscheinend ist hier beim Phoenix-Projekt der Werkzeugkasten leer.
Sie öffnet ihren E-Mail-Client, um nachzusehen, was Josh geschickt hat. Dabei landet sie auf einer internen Wiki-Seite, einem Tool, das viele Entwickler benutzen, um gemeinsam an Dokumentationen zu arbeiten. Sie versucht, in der Wiki-Seite hinauf- und hinunterzuscrollen, aber das Dokument ist so kurz, dass es nicht einmal eine Bildlaufleiste gibt.
Sie starrt ziemlich lange auf den fast leeren Bildschirm. Geh zur Hölle, Chris, denkt sie.
Von makabrer Neugier getrieben, wühlt Maxine die nächste halbe Stunde weiter. Sie klickt sich hin und her, findet aber lediglich eine Handvoll Dokumente. Sie liest PowerPoint-Folien mit Architekturdiagrammen, viele Besprechungsnotizen und Sprint-Retrospektiven sowie ein drei Jahre altes Dokument mit Anforderungen an das Produktmanagement. Sie ist begeistert, als sie verlockende Verweise auf einige Testpläne findet, aber als sie auf die Links klickt, wird sie von einem Authentifizierungsbildschirm aufgefordert, Log-in und Passwort einzugeben.
Anscheinend braucht sie Zugang zu den QA-Servern.
Sie öffnet eine neue Notiz auf ihrem Laptop und hält mit einem Hinweis an sich selbst fest, dass sie jemanden finden muss, der ihr den Zugang ermöglicht.
Sie beschließt, es mit der Dokumentation für den Moment gut sein zu lassen und die Quellcode-Repositories zu suchen. Entwickler schreiben Code, und Code landet normalerweise in Repositories. Es gibt Entwickler, die an Phoenix arbeiten, also muss es hier irgendwo auch ein Phoenix-Quellcode-Repo geben, denkt sie.
Zu ihrer Überraschung kann sie trotz fast zehnminütiger Suche nichts finden. Sie ergänzt ihre Notizen:
Phoenix-Quellcode-Repo lokalisieren.
Sie findet Links zu internen SharePoint-Dokumentationsservern, auf denen vielleicht Hinweise zu finden wären, aber sie hat keine Konten auf diesen Servern.
Sie tippt noch eine Notiz:
Zugang zum SharePoint-Server DEVP-101.
Die ganze nächste Stunde geht es so weiter – Suchen. Nichts. Suchen. Nichts. Suchen. Klick. Log-in-Screen. Klick. Log-in-Screen.
Jedes Mal fügt sie ihrer wachsenden Liste eine weitere Notiz hinzu:
Zugang zum SharePoint-Server QA-103.
Zugang zur Netzwerkfreigabe PUL-QA-PHOENIX.
Zugang zur Netzwerkfreigabe PUL-DEV-PHOENIX.
Sie fügt weitere Notizen und Aufgaben hinzu, legt eine Liste mit Benutzerkonten an, die sie benötigt, ergänzt den QA-Wiki-Server, den Performance-Engineering-Wiki-Server, das Wiki für mobile Anwendungen und eine Reihe anderer Gruppen mit Akronymen, auf die sie sich noch keinen Reim machen kann.
Sie braucht Log-in-Daten fürs Netzwerk. Sie braucht Installer für all die erwähnten Tools. Sie braucht Lizenzschlüssel.
Maxine schaut auf die Uhr und wundert sich, dass es schon fast eins ist. Sie hat in zwei Stunden nichts erreicht, außer 32 Dinge aufzuschreiben, die sie unbedingt braucht. Und sie weiß immer noch nicht, wo sich die Entwicklungswerkzeuge oder die Quellcode-Repos befinden.
Wäre die Phoenix-Entwicklung ein Produkt, wäre es das schlechteste Produkt aller Zeiten.
Aber jetzt braucht sie erst mal was zu essen. Sie schaut sich in der fast leeren Etage um, und ihr wird klar, dass sie die Mittagspause verpasst hat.
Es wäre schön gewesen, wenn sie den anderen einfach hätte folgen können, aber sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich durch das Labyrinth der Phoenix-Dokumente zu wühlen. Jetzt hat sie keine Ahnung, wo die anderen ihr Mittagessen herbekommen. Sie fragt sich, ob sie das auch auf ihre Liste setzen soll.
Und zwar gleich hinter »CV aktualisieren und verschicken«.
Von: Alan Perez (Operating Partner, Wayne-Yokohama Equity Partners)
An: Steve Masters (CEO, Parts Unlimited)
Cc: Dick Landry (CFO, Parts Unlimited),
Sarah Moulton (SVP of Retail Operations),
Bob Strauss (Chairman, Parts Unlimited)
Datum: 4. September, 06:07
Betreff: Fortführungsoptionen, Board-Sitzung Januar
**VERTRAULICH**
Steve,
es war gut, Sie vor zwei Tagen in Elkhart Grove zu treffen. Als neu berufenes Mitglied im Board habe ich viel gelernt und schätze die Zeit, die das Managementteam investiert hat, um mich auf den neuesten Stand zu bringen. Besonders beeindruckt bin ich von Dick und Sarah (CFO bzw. SVP Marketing).
Obwohl ich neu bin, ist mir klar, dass die fehlgeschlagenen Bemühungen von Parts Unlimited zur Steigerung des Shareholder Value Vertrauensfragen aufgeworfen und Handlungsbedarf geschaffen haben. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass wir nicht weiterhin Quartal um Quartal unsere Versprechen brechen.
Angesichts der wichtigen Rolle, die Software in Ihren Plänen spielt, scheint Ihre Entscheidung, den CIO und VP of IT Operations zu ersetzen, richtig zu sein – hoffentlich wird dadurch die Verantwortlichkeit wiederhergestellt und die Umsetzungsgeschwindigkeit erhöht.
Um meine Motivation zu bekräftigen, strategische Optionen auf Board-Ebene zu prüfen: Umsatzwachstum ist nicht die einzige Möglichkeit, Aktionäre zu belohnen – wir haben uns so sehr darauf konzentriert, Parts Unlimited in ein »digitales Unternehmen« zu verwandeln, dass wir meiner Meinung nach die risikoarmen Möglichkeiten zur Erschließung von Werten aus den Augen verloren haben, wie z. B. die Umstrukturierung des Unternehmens und die Veräußerung von nicht zum Kerngeschäft gehörenden, schlecht performenden Assets. Das sind nur zwei naheliegende Möglichkeiten, die Rentabilität zu steigern, was wiederum den Shareholder Value erhöhen und Betriebskapital für die weitere Transformation bereitstellen würde.
Wir müssen schnell Vorschläge zusammenstellen, die das Board prüfen und in Betracht ziehen kann. Angesichts des enormen Zeitaufwands, den das Management in die aktuelle Strategie steckt, bat mich der Chairman, zusammen mit einigen maßgeblichen Mitgliedern der Geschäftsleitung Optionen zu erarbeiten, die das Board diskutieren kann. Ich werde mit Dick und Sarah zusammenarbeiten, da sie seit vielen Jahren im Unternehmen tätig sind und über umfangreiche Erfahrungen verfügen. Wir werden alle zwei Wochen miteinander telefonieren, um Ideen zu diskutieren und zu bewerten, und im Januar so weit sein, dem gesamten Board strategische Optionen zu präsentieren.
Unsere Firma hat eine beträchtliche Beteiligung an Parts Unlimited erworben, weil wir glauben, dass hier erheblicher zusätzlicher Shareholder Value generiert werden kann. Ich freue mich auf eine produktive Arbeitsbeziehung und ein verbessertes Ergebnis für Parts Unlimited, auf das wir alle stolz sein werden können.
Mit freundlichen Grüßen
Alan