KAPITEL 28

Jordan

Ich klicke auf die Maus und bewege die rote Herz-Sechs und alle Karten darunter zur schwarzen Kreuz-Sieben. Dann drehe ich die neue Karte um, klicke zweimal und beobachte, wie das Ass automatisch in ein freies Kästchen rutscht.

Nach neun Wochen bin ich ziemlich gut geworden in diesem Spiel. Danni sagt immer wieder, ich soll Poker oder Blackjack lernen und vielleicht online mit Menschen aus aller Welt spielen, aber so cool bin ich nicht. Ich spiele lieber alleine. Einfach nur, um mein Gehirn zu beschäftigen. Es war ein ziemlich aufregender Sommerurlaub. Von vierhundert Spielen habe ich ungefähr dreihundertfünfzig gewonnen, und die wenigen habe ich meist nur deswegen verloren, weil ich zu lange gespielt habe, eingeschlafen bin oder der Akku leer geworden ist.

Wenn ich darüber nachdenke, wie ich die Stunden dieses schönen Sommers verbracht habe, komme ich mir ziemlich mitleiderregend vor. Aber dann fange ich schnell ein neues Spiel an und höre auf, darüber nachzudenken.

Die Glocke über der Lobbytür läutet, und ich blicke auf. Ein junger Mann in schwarzem Pullover und Jeans kommt rein und geht zur Rezeption.

Ich stehe vom Stuhl auf. Ich bin immer nervös, wenn so spät noch Gäste kommen. Das Motel liegt an einem alten Highway ohne viele Geschäfte oder Lichter. Die meisten Leute bleiben auf der Interstate, vor allem, wenn es draußen schon so dunkel ist. Über diejenigen, die es nicht tun, muss ich mich immer wundern.

Aber Geschäft ist Geschäft.

»Hi.« Ich lächle ihn an. »Willkommen im Blue Palms

Er geht auf den Tresen zu, und das Lächeln vergeht mir, als ich die riesige Tätowierung auf seinem Hals mit den Worten »Der Teufel schläft nicht« sehe. Das ist eine ziemlich konservative Gegend. Ganz offensichtlich ist er nicht von hier.

»Hi.« Er schaut mir nur kurz in die Augen. »Wie viele Zimmer habt ihr noch frei?«

»Ähm …« Ich zähle die Schlüssel, um sicherzugehen. »Sechs«, lasse ich ihn wissen.

Er nickt und greift in seine Hosentasche. Wahrscheinlich, um seinen Geldbeutel rauszuziehen. »Ich nehme fünf. Für eine Nacht, bitte.«

Fünf? Ich glaube nicht, dass wir schon mal so belegt waren, seit ich hier bin. Wozu braucht er so viele Zimmer?

Aber ich will mich nicht beschweren. Wir brauchen das Geld.

Das Blue Palms , das meiner Freundin Danni und ihrer Familie gehört, liegt an einer fast verlassenen Straße, und seit die neue Interstate vor zwanzig Jahren gebaut wurde, läuft das Geschäft gar nicht mehr gut. Die einzigen Leute, die zu wissen scheinen, dass es uns gibt, sind die Einheimischen, die Verwandten der Einheimischen, die zu Besuch kommen, und Motorradfahrer, die auf der Suche nach mehr Abenteuer sind und deshalb lieber auf alten Highways fahren.

Aber ich bin froh, dass ich gekommen bin, um auszuhelfen. Danni hat schon seit Jahren gesagt, dass ich sie mal besuchen kommen soll, und es war eine Reise in die Vergangenheit, noch mal einen Sommer mit ihr zu verbringen. Sie und ich haben ein Stipendium für ein Sommercamp gewonnen, als wir zwölf waren, und seitdem sind wir in Kontakt geblieben. Ich wollte den Ort, wo so viele ihrer schrulligen und sexy Geschichten herkommen, schon immer mal mit eigenen Augen sehen.

Der Gast gibt mir seinen Ausweis.

»Danke«, sage ich und lege ihn neben die Tastatur, um die Zimmer zu buchen.

Plötzlich schwingt die Tür auf, die Glocke läutet, und ich höre eine fordernde Stimme: »Wir brauchen Essen!«

Ich blicke auf und sehe drei Frauen in der Tür und noch mehr draußen stehen. Andere Männer sehe ich nicht. Mein Blick fällt auf ihre Klamotten, und verglichen mit ihnen erscheinen die Klamotten meiner Schwester vom The Hook geradezu prüde. Die Haare, das Make-up, die Absätze …

Ich werfe dem Kerl einen fragenden Blick zu und sehe, dass er mehrmals blinzelt und genervt dreinblickt. Er nimmt sich ein paar Flyer von Essenslieferanten, die in einer Halterung an der Wand stecken, und blättert sie durch.

»Liefern diese Restaurants auch?«, fragt er, legt die Flyer ab und zieht ein paar Geldscheine aus seinem Geldbeutel.

»Ja, alle.«

Er hält die Flyer mit dem Geld in die Luft, und eins der Mädchen läuft auf ihn zu und reißt sie ihm aus der Hand.

»Ich will die Rechnung und das Wechselgeld«, befiehlt er, ohne sie anzuschauen.

Sie schneidet hinter ihm eine Grimasse und verschwindet dann draußen bei den anderen.

Ich habe das Bedürfnis, ihn vorzuwarnen. Dieses Motel hat einen inoffiziellen Verhaltenskodex, und Danni ist ziemlich streng, was Spielereien angeht. Das Motel ist schon lange im Familienbesitz, aber die Stadt würde das Grundstück gerne bebauen, also dürfen sie keine Probleme machen.

»Das ist ein ziemlich ruhiges, familienorientiertes Motel.« Langsam tippe ich Name und Adresse ein. »Partys sind nicht erlaubt, also nur zu Ihrer Info …«

Er schaut mich mit seinen dunkelbraunen Augen fast amüsiert an. »Das sind meine Schwestern«, sagt er.

Ich verkneife mir ein Lachen und konzentriere mich auf meine Arbeit. Klar. Wenn das seine Schwestern sind, dann bin ich seine Mom.

Aber er scheint auf jeden Fall so genervt von ihnen zu sein, wie es ein Bruder wäre.

Ich lege die Schlüssel auf den Tresen – mit den altmodischen, runden Diamanten als Schlüsselanhänger – und drucke den Vertrag aus, den er unterschreiben muss.

»Der Pool schließt um zehn«, informiere ich ihn. »Die Eiswürfel- und Snackautomaten befinden sich zwischen den zwei Gebäuden, und gegenüber gibt es eine Waschmaschine.« Ich schaue ihn an und deute nach draußen. »Die Rezeption ist vierundzwanzig Stunden geöffnet. Lassen Sie uns wissen, wenn Sie etwas brauchen. Das macht zweihundertacht Dollar und zweiundvierzig Cent, bitte.«

Aber als ich den Schlüssel auf den Vertrag lege und auf eine Antwort warte, sehe ich, dass er mir gar nicht zuhört. Er starrt auf das Neonschild rechts von ihm an der Wand, auf dem steht:

 

Well, they’re nothing like Billy and me …

 

 

Während er das Schild betrachtet, beginnt er plötzlich zu grinsen, als wäre er in eine Erinnerung vertieft. Ich werfe ebenfalls einen Blick auf das Schild, das Dannis Vorliebe für die Musik aus den Neunzigern widerspiegelt – womit sie mir den ganzen Sommer über auf die Nerven gegangen ist. Es ist ein Zitat aus einem Song von Sheryl Crow, und ich habe sie nie gefragt, was es bedeuten soll, denn sonst hätte sie mir den Song vorgespielt, und ich hätte wieder leiden müssen.

»Sir?«, sage ich.

Er blinzelt und sieht für einen Moment desorientiert aus.

»Geht’s Ihnen gut?«

Er schüttelt sich und nimmt seinen Geldbeutel in die Hand. »Wie viel?«

»Zweihundertacht Dollar und zweiundvierzig Cent«, wiederhole ich.

Er gibt mir drei Hundert-Dollar-Scheine, und obwohl wir ein Schild aufgestellt haben, dass wir keine Scheine über fünfzig Dollar annehmen, lasse ich es gut sein, als ich die vielen Geldscheine in seiner Geldbörse sehe. Ich nehme das Geld und hole sein Wechselgeld.

Während er wartet, tippt er zu den Klängen von The Distance von Cake auf den Tresen, das Danni aus den Boxen in der Lobby laufen lässt.

»Oh, tun Sie das nicht«, scherze ich und gebe ihm sein Wechselgeld. »Sie ermutigen damit nur die Besitzerin. Ich versuche immer, sie davon zu überzeugen, dass ihre Playlist uns die Kunden vergrault.«

Er nimmt das Geld und wirft mir einen seltsamen Blick zu. »Die Musik aus den Neunzigern ist die beste. Damals haben die Menschen noch die Wahrheit gesagt.«

Ich verziehe die Mundwinkel und widerspreche ihm nicht. Er hat ganz offensichtlich das gleiche Zeug wie Danni geraucht.

»Danke«, sagt er und nimmt die Schlüssel.

Ich gebe ihm seinen Ausweis zurück und schaue ihm hinterher. Draußen verteilt er die Schlüssel an die Frauen, und einen Moment später gehen sie alle in ihre Zimmer. Ich bin versucht, ans Fenster zu treten und zu schauen, ob er mit einer von ihnen mitgeht. Oder mit allen fünf. Sehr interessant.

»War das ein Gast?«, fragt Danni, als sie hinter mir das Büro betritt. Ihre Wohnung, in der sie mit ihrer Großmutter lebt, liegt hinter dem Büro. Sie kommt also öfter mal vorbei, um nach dem Rechten zu sehen.

»Ja, er hat fünf Zimmer für die Nacht gemietet, und er reist mit mindestens einem halben Dutzend Frauen. Viel Spaß also bei der Nachtschicht.«

Sie schnaubt auf und liest sich den Vertrag durch. »Tyler Durden?«, liest sie den Namen vor und blinzelt durch ihre Brille.

Ich nicke und ziehe ein braunes Haar von ihrem Flanellhemd. Sie kleidet sich sogar wie in den Neunzigern.

»Hast du dir nicht seinen Ausweis geben lassen?« Sie schneidet eine Grimasse. »Das ist ein falscher Name.«

»Auf seinem Ausweis stand Tyler Durden«, entgegne ich. »Warum denkst du, dass es ein falscher Name ist?«

»Tyler Durden ist ein Hauptcharakter aus Fight Club «, erklärt sie mir, als wäre ich eine Idiotin. »Der beste Film aus den Neunzigern und definitiv das beste Buch überhaupt. Es ist sehr verstörend, dass du es nicht kennst, Jordan.«

Ich schüttle lachend den Kopf. Sie ist zwar nur ein Jahr älter als ich, aber wenn es um unsere Interessen geht, könnten wir unterschiedlicher nicht sein.

Fight Club .

Mein Lächeln verschwindet, ich senke den Blick und drehe mich wieder zum Computer um. Ich habe den Film gesehen, aber der Name ist mir nicht mehr eingefallen. Und ich habe ihn erst vor Kurzem noch mal angeschaut, mit Pike …

Ich muss schlucken, und mein Herz wird schwer. Verdammt. Ich habe es in den letzten paar Wochen ziemlich gut geschafft, mich auf andere Dinge zu konzentrieren, damit ich nicht an ihn denken muss. Am Anfang war es hart, aber ihn nicht jeden Tag zu sehen, hat es leichter gemacht. Es war richtig, dass ich gegangen bin.

Aber ab und zu taucht er in meinem Kopf auf. Wenn ich während einer langen Samstagsschicht einen Taco-Dip für Danni mache, zum Beispiel. Oder wenn ich ein bestimmtes Lied höre oder meinen Regenmantel sehe, auf dem immer noch Schlammspritzer von unserem Ausflug sind. Ich habe nicht einmal mehr Kerzen angezündet, weil ich nicht wüsste, was ich mir wünschen soll, wenn ich sie ausblase.

Mir zu wünschen, mich wieder so zu fühlen wie mit ihm, gibt ihm wieder Macht über mich. Aber tief in meinem Herzen ist das immer noch alles, was ich will.

Mich wieder gut fühlen.

Ich muss dieses Gefühl nur bei einem anderen Menschen finden.

»Also …« Danni zieht sich einen zweiten Stuhl heran. »Beginnen deine Kurse nicht bald?«

Ich klicke das Kartenspiel auf dem Computer weg und weiche ihrem Blick aus. »Ja.«

Sie wartet darauf, dass ich das noch weiter ausführe, aber ich weiß nicht wirklich, was ich sagen soll. Die finanziellen Hilfsmittel für mein Studium sind angekommen, also sind die Kurse bezahlt, und ich habe genug Geld, um mir zu Hause eine neue Wohnung zu mieten. Aber irgendwie fühlt es sich an wie ein Schritt zurück. Er hat angerufen, als ich gegangen bin, aber nach ein paar Tagen hat er damit aufgehört, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.

Ich gebe es nur ungern zu, aber ich frage mich viel zu oft, was er gerade tut, ob er mit jemandem zusammen ist, ob er mich vermisst …

Wenn ich wieder nach Hause gehe, werde ich ihm wahrscheinlich über den Weg laufen. Wie wird das sein?

Ich bin stolz darauf, dass ich weggegangen bin, aber es ist mir immer noch peinlich, dass ich die ganze Zeit an ihn denken muss. Ich bin noch nicht über ihn hinweg, und bis ich wieder eine Kerze ausblasen kann und einen besseren Wunsch dafür habe, denke ich nicht, dass mein Kopf schon dazu bereit ist, zurückzugehen. Ich habe Angst.

»Du weißt, dass du auch hierbleiben kannst«, fährt Danni fort. »Das meine ich ernst. Mein College ist auch nicht schlecht. Du könntest wechseln.«

»Danke, aber ich muss wieder nach Hause. Das weiß ich. Ich habe nur aufgeschoben, darüber nachzudenken.«

»Du willst ihn nicht sehen.«

Ich erwidere ihren Blick, und ihre Brille mit dem schwarzen Rahmen rutscht ihr wieder über die Nase.

»Ich will nicht mehr die sein, die ich war, als ich gegangen bin«, stelle ich klar.

»Das bist du nicht.« Sie stützt sich mit den Ellbogen auf dem Tresen ab und legt ihr Kinn in eine Hand. »Du darfst dir erlauben, verletzt zu sein. Aber du darfst nicht zulassen, dass es dich runterzieht«, sagt sie. »Das ist es, was uns stark macht. Du hast ihn nicht angerufen, und wir hatten Spaß zusammen. Er hat dir deinen Sommer nicht ruiniert, weil du es nicht zugelassen hast.«

Ja. Wir haben uns am Weiher betrunken, haben zu schlechter Musik abgerockt und sind mit ihrem ’92 Pontiac Sunbird Cabrio durch die Stadt gedüst. Hin und wieder haben wir hier auch Poolpartys veranstaltet. Ich hatte ein bisschen Spaß.

»Und es ist ja auch nicht so, als wäre er mir nachgekommen …«, sage ich. »Wir wussten wahrscheinlich beide, dass es nur geborgte Zeit war. Nur eine Affäre. Er hatte recht.«

Eine Affäre.

Eine coole Geschichte, auf die ich mal zurückblicken kann, wenn ich ihn nicht mehr liebe, und die ich wegen dem guten Sex, den ich hatte, zu schätzen wissen kann.

Ich spüre ihren Blick auf mir, weil sie weiß, dass ich mich selbst belüge, aber als meine Freundin lässt sie mir meine Illusionen. Wir brauchen manchmal Lügen, um zu überleben, denn die Wahrheit schmerzt manchmal zu sehr.

Vielleicht wäre ein Collegewechsel gar keine so schlechte Idee.

Ich stehe auf. »Der Drucker braucht neues Papier.« Ohne sie anzusehen, gehe ich nach hinten ins Büro und blinzle die Tränen weg, bevor sie sie sieht. Ich werde nicht weinen. Ich kann mich hier schließlich nicht ewig verstecken. Northridge ist meine Heimat, meine Familie lebt dort, und ich muss irgendwann zurückgehen. Ich kann das schaffen.

»Hi«, höre ich Danni fröhlich sagen. »Willkommen im Blue Palms

Ich muss insgeheim lachen. Die blauen Palmen sind ein paar künstliche Neonpalmen draußen, die mit Sicherheit nicht aus Virginia stammen. Aber mir gefallen die tropischen Farben dieses Motels, das altmodische Rosa und Blau und der altmodische Strand-Charme. Es mag nicht die Annehmlichkeiten eines der größeren Hotels bieten, aber es ist familiär, sauber und nostalgisch. Es hat Charakter.

»Ähm, danke«, sagt eine männliche Stimme. »Ähm …«

Ich öffne den Schrank und hole eine neue Packung Druckerpapier heraus, während ihre gedämpften Stimmen durch die Lobby klingen. Ich hoffe, er braucht nur ein Zimmer, denn sonst sind wir zum ersten Mal ausgebucht.

»Jordan Hadley?«, sagt Danni lauter, als würde sie ihn wiederholen.

Ich halte mit dem Papier in der Hand inne, der Schrank steht immer noch offen.

»Ja«, sagt der Mann, und ich gehe näher zur Tür, um ihn besser hören zu können. »Es tut mir leid, wenn ich Sie störe. Arbeitet sie hier? Mir wurde gesagt, dass sie in einem Motel in der Gegend arbeitet, und ich war fast schon in jedem.«

Mein Herz beginnt, wie wild zu pochen, und ich kann nur noch in kleinen, schnellen Zügen atmen.

»Und Sie sind?«, will Danni wissen.

»Pike Lawson«, antwortet er. »Ein Freund.«

Meine Arme geben nach, und ich lasse fast den Papierstapel fallen.

»Pike …«, wiederholt sie. »Wie in Buffy – Der Vampir-Killer

»Was?«

»Ein Kultklassiker von 1992?«, erklärt Danni. »Luke Perry? Im Film hieß er Pike.«

Normalerweise hätte ich über ihre Erklärungen gelacht, aber in meinem Kopf dreht sich alles, und mein Magen schlägt Purzelbäume. Er ist hier? Er ist wirklich hier?

Einen Moment lang herrscht Schweigen, dann fragt Pike: »Also arbeitet Jordan hier? Ich muss sie wirklich sehen.«

Er klingt so verletzlich, und als ich seine Stimme höre, wird mir klar, dass ich ihn sogar noch mehr vermisst habe, als ich gedacht habe.

Aber irgendwo in meinem Innern wächst eine Stärke heran, und ich richte mich auf. Ich bin bereit, ihm zu zeigen, dass ich mich nicht vor ihm verstecken werde. Ich weiß nicht, warum er hier ist. Aber falls er versucht, wieder Forderungen zu stellen, wie er es gemacht hat, als ich zu meinem Dad zurückziehen wollte, dann wird es mir dieses Mal nicht schwerfallen, ihm zu widersprechen. Das fühle ich.

Er wird mir nicht sagen, was ich zu tun habe. Egal, wie sehr er es auch versucht.

Ich trete um die Ecke, gehe in die Lobby und sehe Pike am anderen Ende des Tresens stehen. Sein Blick landet sofort auf mir.

Er holt tief Luft, versteift sich und starrt mich an.

Er trägt ein schwarzes T-Shirt, und seine Haut ist tief gebräunt, als hätte er im Sommer viel draußen gearbeitet. Mein Herz flattert beim Anblick seiner stechenden, liebevollen haselnussbraunen Augen und seiner großen Hände, die mich schon ein halbes Dutzend Mal getragen haben. Er sieht größer aus, aber natürlich weiß ich, dass er nicht gewachsen ist.

Danni springt von ihrem Stuhl auf. »Ich werde … mal nach meiner Großmutter sehen.« Leise geht sie an mir vorbei zu ihrem Apartment.

Pike steht zwischen Eingangstür und Rezeption, hat die Hände an beiden Seiten zu Fäusten geballt und sieht aus, als würde er einen Schritt nach vorne machen, tut es aber nicht.

Ich gehe zum Tresen und lege das Papier ab. »Was?«, frage ich.

Aber er steht einfach nur da, als wäre er in Trance.

Schweiß bricht mir im Nacken aus, und ich werde nervös. Warum steht er einfach nur da und starrt mich an? »Was willst du?«, frage ich schroff.

Er öffnet den Mund, schließt ihn aber wieder und schluckt.

»Mein Gott, Pike …«

»An dem Tag, an dem du gegangen bist«, presst er hervor, und ich halte inne, warte und höre ihm zu, während er mich ängstlich anschaut. »Das Haus war so leer«, fährt er fort. »So ruhig war es noch nie zuvor. Ich konnte deine Schritte nicht mehr hören oder deinen Föhn. Oder wie du ins Zimmer kommst. Du warst weg. Alles war …« Er senkt den Blick. »Weg.«

Ein Kloß formt sich in meinem Hals, und ich spüre, dass die Tränen im Anmarsch sind, weigere mich aber, sie rauszulassen.

»Aber ich konnte dich immer noch spüren«, flüstert er. »Du warst immer noch überall. Die Dose mit den Keksen im Kühlschrank, der Fliesenspiegel, den du ausgesucht hast, die Art, wie du all meine Fotos an die falsche Stelle zurückgestellt hast, nachdem du das Regal abgestaubt hast.« Er lächelt in sich hinein. »Aber ich konnte sie nicht wieder richtig hinstellen, weil du die Letzte warst, die sie berührt hat. Und ich wollte, dass alles so bleibt, wie du es gemacht hast.«

Mein Kinn zittert, und ich verschränke die Arme vor der Brust, damit er meine geballten Fäuste nicht sieht.

Er macht eine kurze Pause, bevor er weiterredet. »Nichts sollte mehr so sein, wie es war, bevor du in das Haus gekommen bist. Das wollte ich nicht.« Er schüttelt den Kopf. »Ich bin zur Arbeit gefahren, ich bin nach Hause gekommen, und dort war ich jede Nacht, das ganze Wochenende, jedes Wochenende, weil wir dort zusammen waren. Dort konnte ich dich immer noch spüren.« Er geht einen Schritt auf mich zu und fährt mit gesenkter Stimme fort: »Dort konnte ich mich dir hingeben und am letzten Faden in diesem Haus hängen, der bewies, dass du für kurze Zeit einmal mir gehört hast.«

Seine Stimme klingt belegt, und ich sehe Tränen in seinen Augen.

»Ich dachte wirklich, ich hätte das Richtige getan.« Er runzelt die Stirn. »Ich dachte, ich würde dich ausnutzen, weil du jung, wunderschön und so glücklich und hoffnungsvoll warst, obwohl du schon so viel durchmachen musstest. Du hast mir das Gefühl gegeben, dass die Welt wieder ein toller Ort ist.«

Mein Atem geht schneller, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich hasse es, dass er hier ist. Ich hasse es, dass ich liebe, dass er hier ist. Ich hasse ihn.

»Ich konnte dir doch nicht dein Leben stehlen und dich für mich behalten, verstehst du?«, erklärt er. »Aber dann wurde mir klar, dass du nicht glücklich oder hoffnungsvoll warst oder mir so ein gutes Gefühl vermittelt hast, weil du jung bist. Du bist einfach so, und du kannst diese Dinge, weil du ein guter Mensch bist. Das ist dein Charakter.«

Eine Träne befreit sich und rinnt mir die Wange hinab.

»Baby«, flüstert er, und seine Hände zittern. »Ich hoffe, du liebst mich, denn ich liebe dich wahnsinnig, und ich werde dich den Rest meines Lebens wollen. Ich habe versucht, mich fernzuhalten, weil ich dachte, es wäre das Richtige, aber ich kann es einfach nicht. Ich brauche dich, und ich liebe dich. Das passiert mir kein zweites Mal, und ich werde nicht noch mal so dumm sein. Das verspreche ich dir.«

Mein Kinn zittert, und in meiner Kehle baut sich etwas auf, das ich nicht zurückhalten kann. Ich kann mich nicht mehr zusammenreißen und drehe mich von ihm weg. Die Tränen strömen wie ein verdammter Wasserfall aus meinen Augen, und ich hasse ihn. Ich hasse ihn, verdammt noch mal.

In Sekundenschnelle spüre ich seine Arme um mich, als er mich von hinten umarmt und sein Gesicht in meinem Nacken vergräbt.

»Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe«, flüstert er mir ins Ohr.

»Das hast du«, weine ich. »Du hast verdammt lange gebraucht.«

»Ich werde es wiedergutmachen.« Er dreht mich zu sich um und nimmt mein Gesicht in beide Hände. Dann presst er seine Lippen an mein Ohr. »Ich verspreche es.«

Eine Weile hält er mich einfach nur, ganz fest, und mein Stolz sagt mir, dass ich nicht nachgeben darf. Dass ich niemanden mehr in mein Herz lassen und keine zweiten Chancen mehr geben sollte.

Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich an seiner Stelle nicht genauso gehandelt hätte. Cole, Lindsay, Shel, meine Schwester, Dutch, die ganze Nachbarschaft … sie werden alle reden. Einige werden ihn deswegen verurteilen. Seine Angst ist gerechtfertigt.

Aber sie wissen es nicht. Sie wissen nicht, wie glücklich wir zusammen sind und wie sich das anfühlt.

Ich liebe ihn.

Ich ziehe mich von ihm zurück. »Und ich habe die Bilder nicht an die falsche Stelle zurückgestellt«, sage ich und wische meine Tränen an seinem T-Shirt ab. »Da gehören sie hin.«

Er lacht, wischt mir die Tränen aus dem Gesicht, zieht mich zu sich und küsst mich. Alles ist wieder da – sein Mund, weich, aber stark, und sein Geschmack –, und ich erwidere seinen Kuss, stelle mich auf die Zehenspitzen, um ihm noch näher zu sein.

»Braucht ihr ein Zimmer?«, höre ich jemanden fragen. »Da seid ihr hier richtig.«

Ich ziehe mich zurück, und Pike räuspert sich, als Danni hereinkommt und sich wieder auf einen Stuhl setzt.

»Pike, das ist Danni«, sage ich. »Danni, Pike.«

»Schön, dich kennenzulernen«, sagt sie.

»Ja, freut mich ebenfalls.« Er streckt ihr seine Hand entgegen, und sie schüttelt sie.

»Wollt ihr jetzt ein Zimmer?«, fragt sie wieder. »Aufs Haus?«

Sie nimmt den letzten Zimmerschlüssel vom Haken und hält ihn mir hin.

Er beugt sich vor und nimmt ihn. »Danke, das wäre wirklich toll.«

Sie schaut mich an, und ich weiß, dass sie in meinem Blick nach einer Bestätigung sucht, dass alles okay ist. Ich nicke ihr beruhigend zu.

»Dann mal Gute Nacht«, sagt sie. »Wir sehen uns morgen.«

Pike nimmt meine Hand, und wir gehen nach draußen, wo die feuchte Augustluft sich sofort auf meine Arme legt. Er hält mich fest, als könnte er mich sonst verlieren, als wir zu seinem Truck gehen, wo er eine Reisetasche und ein kleines Päckchen rausholt. Ich lache, als ich sehe, dass seine Reifen und Türen immer noch voller Schlamm sind.

Als wir zu unserem Zimmer gehen, passieren wir die fünf, die ich an »Tyler« und seine Damen vermietet habe. Aus einigen von ihnen kann ich Musik, Gerede und Gelächter hören, während bei einem die Vorhänge zugezogen sind, wobei das Licht vom Fernseher durch den Stoff dringt.

Auf dem Bürgersteig geht einer der Einheimischen, Peter, mit einem Schwert über seinem nackten Rücken hängend zum Cola-Automaten. Unten hat er seine übliche schwarze Lederhose an.

»Wer zum Teufel ist das?«, murmelt Pike und schaut ihn an.

»Das ist Peter«, sage ich und bewundere das schwarze Haar, das ihm fast bis zur Hüfte reicht. »Er ist jedes Wochenende hier zum LARP.«

Pike schaut mich fragend an.

»Live-Rollenspiele«, erkläre ich. »Manchmal bringt er eine wunderschöne Elfenprinzessin mit, und sie werden pervers. Man kann sie durch die Wände hindurch hören.«

Er prustet los, als wir bei unserem Zimmer ankommen, und sperrt die Tür auf. Ich trete ein, gehe zum Nachttisch und mache das Licht an, während er die Tür abschließt.

»Kann ich dich morgen mit nach Hause nehmen?«, fragt er. »Ich bin ganz unruhig.«

Ich schaue ihn an. »Weswegen?«

Er grinst mich an. »Wegen allem, glaube ich.«

Er wirft mir das kleine Päckchen zu, und ich fange es auf.

»Was ist das?«, will ich wissen.

»Mach es auf.«

Ich gehe zum Waschbecken, schaue in den Spiegel und reiße den Tesafilm ab. Dann öffne ich die Schachtel, in der drei Kassetten liegen, und muss von einem Ohr zum anderen grinsen.

»Ich habe Musik aus den Achtzigern für dich gefunden, die ich nicht ertrage.« Er tritt hinter mich, während ich den Neuzuwachs zu meiner Kassettensammlung inspiziere.

»AC/DC«, lese ich. »Metallica … Beastie Boys.«

Ich blicke zu ihm auf, und er bückt sich, um mich zu küssen. Ich schließe die Augen, und mir wird ganz schwindelig. Ich frage mich, wie viel Mühe es ihn gekostet hat, die zu finden. Ich hoffe, viel.

Meine Zunge spielt mit seiner, und unser Kuss wird immer leidenschaftlicher. Ich schlinge meine Arme um seinen Hals und lasse ihn nicht wieder los.

Er saugt die Luft zwischen seinen Zähnen ein, und ich spüre durch seine Jeans hindurch, wie er hart wird.

»Baby, ich bin durch ganz Virginia gefahren«, keucht er. »Ich brauche eine Dusche.«

»Wir können hinterher duschen«, sage ich und erinnere mich an unser Techtelmechtel am Küchentisch vor zwei Monaten, als er eigentlich auch zuerst duschen wollte.

Ich lege die Kassetten auf die Arbeitsfläche und presse mich stöhnend an ihn.

Er küsst mich und zieht sich nur kurz zurück, um mir in die Augen zu schauen. »Es gab keine andere, seit du gegangen bist.«

Ich blinzle ihn an. »Ich weiß. Allerdings kann ich das von mir nicht behaupten.«

Die Gesichtszüge entgleisen ihm, und sein Kiefer verspannt sich.

Ich schaue ihn reumütig an. »Ich habe dich so vermisst, also habe ich am vierten Juli ein bisschen zu viel getrunken und hatte ein kleines Techtelmechtel mit der Schreibtischkante in Zimmer 108«, sage ich. »Das war ziemlich scharf.«

Sein ganzer Körper bebt vor Lachen.

Das habe ich natürlich nicht getan, aber manchmal war ich schon versucht. Aber immer, wenn ich die Augen geschlossen habe, habe ich nur ihn gesehen, und ich fand es erbärmlich, mich zur Erinnerung an einen Mann selbst zu befriedigen, von dem ich dachte, dass er mich nicht will.

Also bin ich keusch geblieben und jetzt mehr als bereit, durchzudrehen.

Ich drehe mich um, er hebt mich hoch, und ich schlinge meine Beine um seine Hüfte, als er mich zum Bett trägt. Er lässt mich zurückfallen, zieht sich das T-Shirt über den Kopf und schaut mich an, während er seinen Gürtel öffnet.

Plötzlich ertönt ein sehr lautes und schnelles Klopfen an der Wand hinter unserem Bett. Lautes Stöhnen und Seufzen dringt in unser Zimmer. Wir halten beide inne und lauschen, als Peter und seine Prinzessin im Nebenraum zur Sache kommen und nicht nur ihres, sondern auch unser Bett heftig zum Wackeln bringen.

Er reißt die Augen auf. »O ja, sie sind laut.«

Hab ich doch gesagt.

Dann grinst er mich herausfordernd an. »Das können wir toppen.« Er packt meine Knie, zieht mich ans Bettende, und ich kreische laut auf, als er sich auf mich stürzt.