1. KAPITEL
Lincoln
Zehn Jahre später – Gegenwart
»Es wird Zeit, eine Entscheidung zu treffen, Junge. Du kannst sie nicht ewig hinter dir herlaufen lassen. Ich werde nicht jünger, und du musst anfangen, die nächste Generation zu gründen. Die Riscoffs dürfen nicht aussterben, und ich habe das Warten satt.«
Mein Großvater gibt mir ungebeten seinen Rat, während mein Handy auf dem Tisch zwischen uns vibriert, als eine Textnachricht reinkommt. Wir halten unser allmorgendliches Treffen auf seiner Veranda mit Blick auf die Schlucht und den Fluss ab.
»Das ist für unser jetziges Gespräch nicht von Bedeutung.« Ich nehme das Handy vom Tisch und stecke es in meine Tasche. Ich ignoriere die Nachricht von der Frau, mit der ich mich in den letzten zwei Monaten hin und wieder getroffen habe, und schlage eine Aktenmappe auf, in der sich ein Stapel mit Dokumenten befindet, die die Unterschrift des Kommodores benötigen.
Das Business steht an erster Stelle. Immer und überall. So handhaben wir das in der Riscoff-Familie.
Jede Frau, die Zeit mit mir verbringt, weiß das und ist sich auch darüber im Klaren, dass diese Treffen mit meinem Großvater heilig sind. Ich mag der Erbe eines Multimilliardendollarimperiums sein, aber der Kommodore hält offiziell immer noch die Zügel in der Hand, und jede Entscheidung, die ich treffe, muss von ihm abgesegnet werden. Treibt mich das in den Wahnsinn? Verdammt noch mal, ja. Habe ich eine Wahl? Nein, denn das ist die Familientradition. Wir bewahren und schützen das Vermächtnis um jeden Preis. Das gehört dazu, wenn man der Erbe der Riscoff-Familie ist.
»Von Bedeutung ist dagegen, dass du diese Dokumente unterschreiben musst, damit wir die Vertragsverhandlungen abschließen und noch ein paar Hundert Millionen verdienen können, bevor das Jahr zu Ende geht.«
Ich schiebe ihm den Stapel Papiere zu und lege schnell die Hand darauf, als ein Windstoß vom Fluss her die einzelnen Seiten flattern lässt und droht, sie davonzutragen. Es war einfacher, als er noch auf dem Familienanwesen wohnte. Aber damit war es vorbei, als er meiner Mutter vor zwei Jahren vorwarf, ihn vergiften zu wollen. Daraufhin zog er in diese Hütte hier draußen am Fluss. Und nun muss ich mich jeden Tag herbemühen und über fünfzehn Kilometer Fahrt über gewundene Gebirgsstraßen in Kauf nehmen, um zu einem Ort zu gelangen, an dem der Handyempfang wirklich mies ist.
Ich habe mich gefragt, ob er beschlossen hat, dieses Anwesen zu erwerben, weil Magnus Gable, sein lebenslanger Erzfeind, das heruntergekommene Haus direkt nebenan gekauft hat und der Kommodore ihn im Auge behalten wollte.
Bleib in der Nähe deiner Feinde.
Der Kommodore ist skrupellos genug, also würde ich ihm das durchaus zutrauen.
Ich weiß immer noch nicht, was ich von der Vorstellung halten soll, dass meine Mutter versucht haben könnte, ihn zu vergiften. Würde sie versuchen, sein Ableben zu beschleunigen, um die Übergabe der Firmenanteile zu erzwingen? Ich sollte in der Lage sein, das mit Gewissheit zu verneinen, aber dass ich das nicht kann, sagt eine Menge über meine Familie aus. Und nichts davon ist gut.
Wenn viele Milliarden Dollar auf dem Spiel stehen, muss man jedermanns Motive hinterfragen, egal ob man mit diesen Leuten das Blut, den Namen oder beides teilt.
Die rechte Hand des Kommodores, die immer noch gebräunt und kräftig ist, zittert gerade genug, dass man es bemerkt, während er mit den Fingern über die Seiten fährt und jedes einzelne Wort liest. Mit der anderen Hand, die er über den Rand seines Elektrorollstuhls hängen lässt, streichelt er gedankenverloren den dunklen Kopf seines Chesapeake Bay Retrievers Goose. Genau wie seine Schrotflinte ist der Hund sein steter Begleiter und weicht ihm nicht von der Seite, es sei denn, der Kommodore ruft: »Hol die Ente, Goose.« Dann prescht der Hund die Stufen zum Fluss hinunter und stürzt sich ins Wasser, um das herauszuholen, was auch immer der Kommodore geschossen hat.
Momentan lehnt die Schrotflinte an der Seite des Stuhls neben meinem, höchstwahrscheinlich um Magnus Gable zu bedrohen, sollte der alte Mann Ärger machen.
Der Kommodore blättert zur nächsten Seite weiter, liest sie und greift mit der linken Hand nach seinem Montblanc-Füller. Nachdem er seine Unterschrift auf die Seite gekritzelt hat, schaut er zu mir hoch. Der Blick seiner braunen Augen ist immer noch so scharf wie in meiner ersten Erinnerung an ihn, als ich vier Jahre alt war und er mir mitteilte, dass meine einzige Aufgabe im Leben darin bestehe, das Familienvermächtnis zu bewahren und zu schützen.
»Das mit diesem Vertrag hast du gut gemacht. Ich bin stolz auf dich, Junge.« Er schiebt den Stapel zurück in die Aktenmappe und schnappt sich einen der Flusssteine, die er als Briefbeschwerer benutzt, um die Dokumente, mit denen er Multimillionendollarentscheidungen genehmigt, am Davonfliegen zu hindern.
»Danke, Sir.« Ich strecke die Hand nach der Mappe aus.
»Wir sind noch nicht fertig.«
»Gibt es noch etwas anderes zu besprechen, bevor ich mit dem hier zurück ins Büro fahre und massenhaft Geld verdiene?«
»Verdammt richtig.« Der Kommodore lehnt sich in seinem Rollstuhl zurück und verschränkt die Arme vor seiner breiten Brust. Sein schneeweißes Haar und sein dichter Bart bewegen sich kaum, obwohl der Wind stärker wird. »Sie kommt zurück.«
Meine Hand erstarrt mitten in der Luft und schwebt über der Mappe, während der alte Mann jede meiner Bewegungen und Reaktionen beobachtet.
Skrupellos bis ins Mark.
»Verzeihung?«, frage ich vorsichtig, obwohl ich ihn sehr genau verstanden habe.
»Du hast mich verstanden. Sie kommt zurück, und ich muss wissen, ob du dieses Mal in der Lage sein wirst, einen kühlen Kopf zu bewahren.«
Ich setze eine Miene auf, die nichts preisgibt. Das ist eine weitere Lektion, die ich von dem alten Mann gelernt habe.
»Wer?«, frage ich und zwinge so viel Lässigkeit wie möglich in meinen Tonfall. Ich stelle die Frage, um Zeit zu schinden, während mein Gehirn hektisch versucht, die Information zu verarbeiten. Es besteht kein Zweifel daran, wer »sie« ist. Für mich hat es immer nur eine »sie« gegeben.
Der Kommodore löst seine Arme, lehnt sich vor, legt die Ellbogen auf den Tisch und verschränkt die Finger ineinander. »Versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen, Junge. Du weißt verdammt gut, von wem ich rede. Schlaf mit dem Mädchen, wenn es sein muss. Schlag sie dir auf diese Weise aus dem Kopf. Und dann mach weiter und widme dich endlich der Gründung der nächsten Generation. Ich werde nicht ewig leben und ich will sicher sein, dass diese Firma nicht in Harrisons Händen landet.«
Obwohl er so reich ist, klingt Kommodore Riscoff immer noch, als käme er gerade von Bord eines Marineschiffs, wenn er sichergehen will, dass es keine Möglichkeit gibt, seine Worte falsch zu deuten. Mein Verstand rast, während ich zu begreifen versuche, was zum Teufel hier vorgeht. Nur eine Sache, die er gesagt hat, spielt eine Rolle.
Sie kommt zurück.
Whitney Gable … die einzige Frau, die ich je in Weiß auf den Altar zuschreiten sehen wollte.
Und dann tat sie es. Für jemand anders.
Vor zehn Jahren stellte sie meine Welt vollkommen auf den Kopf, als sie diese Bar betrat …