3. KAPITEL
Whitney
Gegenwart
Zehn Jahre. So lange ist es her, seit ich zum letzten Mal das »WILLKOMMEN IN GABLE«-Schild gesehen habe. Damals saß ich als frisch verheiratete Frau auf dem Rücksitz einer Limousine und fuhr voller Bedauern davon.
Ich kann nicht sagen, wie oft ich seitdem darüber nachgedacht habe zurückzukehren. Hundertmal? Tausendmal? Wahrscheinlich liegt die Zahl irgendwo dazwischen. Ich habe mir vorgestellt, wie ich in einem schicken Sportwagen sitze, das Haar mit einem Tuch zusammengebunden, als wäre ich Grace Kelly. Oder auch in einem SUV, der von einem Chauffeur gesteuert wird.
In diesen zehn Jahren war mir nicht ein einziges Mal der Gedanke gekommen, dass ich in einem Greyhound-Bus in die Stadt zurückkehren würde.
Die Frau neben mir schnarcht so laut, dass sie selbst davon aufwacht. Sie bewegt den Kopf ruckartig hin und her und wischt sich Speichel vom Rand ihres Damenbarts.
»Was habe ich verpasst?« Sie lehnt sich über mich, um aus dem Fenster zu schauen, während wir uns der Bushaltestelle nähern.
»Nichts«, erwidere ich. Ich ziehe mir die Baseballkappe in die Stirn und rücke meine Sonnenbrille zurecht, um hoffentlich das blaue Auge zu verbergen, denn das Make-up ist hier und da schon ein wenig verwischt. Zum Glück hat sie mich nicht erkannt. Ich hoffe, dass mein fragliches Glück anhält, bis ich aus dem Bus gestiegen bin, damit sie niemals eine Ahnung haben wird, neben wem sie auf der langen Fahrt von L. A. gesessen hat.
Als ich die Stadt auf dem Rücksitz der Limo verließ, war nur einer von uns berühmt – Ricky Rango, der aufsteigende Rockstar, dem es bestimmt war, ein Rockgott zu werden. Nun liegt er zwei Meter tief unter der Erde, und ich habe Berühmtheit erlangt, weil ich die Schwarze Witwe bin, die ihn umgebracht hat. Zumindest behaupten das die Leute.
Ich kenne die Wahrheit, aber so etwas Banales interessiert niemanden. Der Absturz von der Ehefrau eines Rockgottes zur meistgehassten Frau in Amerika ist ein steiniger Weg gewesen, und um ehrlich zu sein, kann ich von Glück reden, dass ich es lebend aus L. A. herausgeschafft habe.
Die Bremsen des Greyhound-Busses quietschen, als er langsamer wird und schließlich zum Stehen kommt. Sofort wandern meine Gedanken in eine andere Richtung. Ich muss aufhören, über das nachzudenken, vor dem ich davonlaufe, und es hinter mir lassen, falls das überhaupt möglich ist. Ich bin bereit, über das nachzudenken, worauf ich zulaufe
.
Ich hätte nur niemals gedacht, dass ich ausgerechnet auf Gable zulaufen würde, den Ort, an dem ich so viele Jahre in der verzweifelten Hoffnung verbracht habe, ihn irgendwann verlassen zu können. Aber jetzt hat sich alles verändert. Ich will bloß ein einfaches, ruhiges Leben haben. Etwas Normales. Ohne Paparazzi und Anschuldigungen. Ohne Schuldgefühle und Angst. Ich hoffe, dass Gable mein sicherer Hafen sein kann, aber ich werde meine Erwartungen nicht zu hoch ansetzen.
Ich werfe einen Blick aus dem Fenster und rechne damit, das alte hölzerne Zugdepot zu sehen. Doch wir befinden uns auf der falschen Seite der Stadt. Vor uns steht ein Glasgebäude, das viel zu neu aussieht, um Teil von Gables historischem Charme zu sein, aber an der Seite steht in großen Buchstaben RISCOFF MEMORIAL BUS TERMINAL.
Riscoff.
Das ist einer der Hauptgründe, warum ich nicht weiß, ob ich hier jemals Frieden finden werde.
Kaum hatten wir vor ein paar Minuten die Stadtgrenze hinter uns gelassen, beschleunigte sich mein Herzschlag, und mein ganzer Körper fühlte sich an wie eingeschnürt. Es war, als wüsste jeder Teil von mir, dass wir uns in unmittelbarer Nähe zu ihm
befanden.
Ich zwinge mich dazu, langsamer zu atmen, und versuche, den Namen zu betrachten, ohne irgendetwas zu empfinden.
Fehlanzeige.
Also funkle ich ihn stattdessen böse an, als würde mir das irgendwie dabei helfen, ein wenig innere Stärke zu finden, die ich noch nicht aufgebraucht habe, um mich gegen die Presse und die wütenden Fans zu verteidigen. Natürlich ist der Busbahnhof nach ihrer Familie benannt. Das passt zu allem anderen in dieser Stadt, auf dem der Name Riscoff prangt.
Das Krankenhaus, das nur etwa einen guten Kilometer von hier entfernt sein dürfte. Das Gerichtsgebäude, das eine Seite des Hauptplatzes einnimmt. Zwei Blocks weiter befindet sich die Riscoff-Konzernbank, die ganz in der Nähe der Riscoff-Kunstgalerie liegt. Und dann ist da auf der anderen Seite des Flusses natürlich noch der Großvater von alldem, die Holzverarbeitungsfirma Riscoff Timber
.
Das Einzige, das nicht ihren Namen trägt, ist die Stadt selbst. Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Vorfahren in ihren Gräbern immer noch lächeln, weil sie sich diese Ehre unter den Nagel gerissen haben – kurz bevor sie die Goldgräberstätte der Riscoffs überfielen und eine Fehde vom Zaun brachen, die nun schon seit über hundertsiebzig Jahren andauert. Während dieser Zeit haben beide Familien immer wieder bewiesen, wie gut sie darin sind, derartigen Hass und derartige Verbitterung aufrechtzuerhalten.
Auch ich habe meinen Teil dazu beigetragen, und ich bin nicht stolz darauf.
Ich warte darauf, dass die Frau neben mir aufsteht, damit ich aus dem Bus steigen kann. Der Fahrer zerrt mein Gepäck aus dem Aufbewahrungsfach und lässt es neben der Glasfront des Busbahnhofs auf dem Bürgersteig stehen. Der Motor des Busses erwacht brummend wieder zum Leben, und ich sehe zu, wie er davonfährt. Ich stehe da und bin von der Summe der Überreste meines früheren Lebens umgeben, und zwar in Form von lächerlich überteuertem Designer-Reisegepäck von Louis Vuitton. So warte ich auf meine seit dem Tag ihrer Geburt ständig zu spät kommende Cousine, die versprochen hat, mich abzuholen.
Wenn Cricket mich nicht angefleht hätte, zurück nach Gable zu kommen, wäre ich vermutlich im Bus geblieben, bis ich Kanada erreicht hätte. Ich habe gehört, dass die Leute da oben nett sein sollen … Es sei denn, sie sind Fans von Ricky Rango. Wenigstens haben die Leute in Gable nichts für den Lokalmatador übrig, der sein Glück gemacht hat. Er schaffte es, diese Brücken abzubrechen, als er während eines Konzerts ausrastete und über diese Stadt herzog, dass es sich gewaschen hatte.
»Ohhh, Baby! Schaut euch nur mal dieses sexy Ding an, das auf eine Mitfahrgelegenheit wartet. Willst du mit mir fahren, Kleines?«
Wenn das anzügliche Angebot von einem Mann gekommen wäre, hätte ich mich angespannt und darauf vorbereitet, Reißaus zu nehmen. Aber nein. Diese Stimme würde ich selbst dann erkennen, wenn ich nicht nur zehn, sondern ganze achtzig Jahre lang nicht mehr in meiner Heimatstadt gewesen wäre.
Zum ersten Mal seit Monaten verziehe ich die Lippen zu einem echten Lächeln. »Weißt du, ich steige eigentlich nicht zu Fremden ins Auto, es sei denn, jemand bietet mir zuerst etwas Süßes an.«
»Tja, dann komm mal her, kleines Mädchen. Ich habe Zucker für dich.« Cricket parkt den Lieferwagen, springt heraus und läuft um die Motorhaube des riesigen Econoline herum. »Herrgott, du siehst wirklich wie eine echte Berühmtheit aus – die vergessen hat, ihrem Chauffeur mitzuteilen, wo er sie abholen soll.«
Ich eile ihr entgegen, und wir fallen uns in die Arme. »Ich dachte, dass du mein Chauffeur bist. Und du bist sogar recht früh dran. Ich hatte mich darauf eingestellt, eine Stunde auf dich zu warten.«
Meine Cousine riecht genauso wie bei unserer letzten Begegnung – nach Marihuana, Kokosnuss und Sonnenschein.
»Gott, ich habe dich vermisst, Kleine. Es ist wirklich viel zu lange her.«
Ich löse mich von ihr. Ihre gelbbraunen Augen funkeln, und ihr dunkelbraunes Haar ist zu einem Zopf geflochten, den sie kunstvoll um ihren Kopf gewickelt hat, als wäre sie ein perfektes Blumenkind. Und das ist sie auch.
Mein Herz verkrampft sich, als ich in ihr lächelndes Gesicht schaue. Ich habe sie ebenfalls vermisst. Ich hätte nicht so lange fortbleiben sollen. »Ich weiß. Es tut mir leid. Es tut mir so leid …«
Cricket verdreht die Augen. »Schon gut, jetzt bist du ja hier. Nur das zählt. Und du wirst meine Trauzeugin sein!«
Mein Magen verkrampft sich, und ich bin mir sicher, dass mein Gesicht aussieht, als wäre ich gerade auf eine Stromleitung getreten. »W… Was?«
Cricket versetzt mir einen leichten Stoß gegen die Schulter. »Ich wollte, dass du zu meiner Hochzeit hier bist, das wusstest du doch. Wie kommst du darauf, dass du nicht meine Trauzeugin sein sollst?«
»Die Tatsache, dass du eine Zwillingsschwester hast?«
Nun verdreht Cricket die Augen noch viel heftiger. »Sie wird auf gar keinen Fall meine Trauzeugin sein. Sie ist ein Miststück.«
Ich habe Karma seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Sie kam nie nach L. A. und traf sich auch nie mit mir auf einem von Rickys Konzerten, wenn ich mit ihm herumreiste. Ich ging davon aus, dass sie sauer war, weil ich die Geburt ihrer Töchter verpasst hatte, aber Karma wurde schon sauer geboren, also kann man das nur schwer einschätzen.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass du heiraten wirst.« Ich betrachte meine Cousine, die genau ein Jahr jünger ist als ich und immer noch wie der Freigeist aussieht, der sie immer gewesen ist. Ihr weites Oberteil besteht vermutlich aus Hanf, und ihre abgeschnittenen Shorts sind wahrscheinlich die, die sie mir klaute, als sie sechzehn war. »Du hast doch geschworen, dass du stets nur Gott, die Natur und deine Familie lieben würdest.«
»Das war, bevor ich einen guten Kerl fand. Nun muss ich die Sache besiegeln, damit ich sicherstellen kann, dass er für den Rest meines Lebens bei mir bleibt.«
Mein Lächeln wird so breit, dass meine Wangen schmerzen, und plötzlich ein echtes Lachen kommt über meine Lippen. »Du meine Güte, Cricket, ich habe dich wie verrückt vermisst.«
»Tja, offensichtlich. Keine dieser falschen Zicken in L. A. könnte deiner besten Freundin je das Wasser reichen. Wir sind blutsverwandt, Baby. Besser wird es nicht.«
Sie umarmt mich erneut, und ich drücke sie so fest, als hätte ich Angst, dass sie mir entschlüpfen und ich das einzig Gute verlieren könnte, das mir seit Jahren passiert ist. Als wir uns schließlich voneinander lösen, nehme ich meine Sonnenbrille ab, um mir die Tränen aus den Augen zu wischen.
Cricket legt den Kopf zur Seite. »Bitte sag mir, dass du überfallen wurdest. Denn was zum Teufel ist das da, Whitney?«
Ich zucke zusammen, als ich die empfindliche Haut meiner rechten Gesichtshälfte berühre. Dann setze ich schnell die große Sonnenbrille wieder auf. »Das war ein wütender Fan. Er ist irgendwie an den Sicherheitsleuten vorbeigekommen und ein bisschen ausgerastet.«
Jeglicher Anflug von Frieden und Freude verschwindet aus Crickets Miene. »Ich werde diesen schlappschwänzigen Mistkerl umbringen. Und den Fan, der das getan hat.«
Zweifellos spricht sie von Ricky.
»Das könnte ein wenig schwierig werden.« Ich versuche, humorvoll zu klingen, doch meine Stimme spielt da nicht so ganz mit. »Wenn man bedenkt, dass er bereits tot ist.«
»Für das, was dieser Mistkerl dir angetan hat, hätte er es verdient, wiederbelebt und dann mehrfach von einem Truck überfahren zu werden.«
Ich will nicht über die Nachricht nachdenken, die Ricky nur wenige Stunden bevor er sich den tödlichen Schuss setzte, auf seiner Fanseite postete. Ich werde nicht zulassen, dass er die Wiedervereinigung mit meiner Cousine ruiniert. Ich werde nicht zulassen, dass er je wieder irgendetwas in meinem Leben ruiniert.
»Können wir von hier verschwinden?« Ich schaue auf das Glasgebäude und den Namen, der über mir aufragt. »So gern ich auch an Busbahnhöfen herumhänge …«
»Verdammt richtig. Außerdem haben wir viel zu viel nachzuholen, und das spart man sich am besten für Gespräche auf, die nicht an Busbahnhöfen stattfinden. Ich habe jede Menge gute Geschichten von meinem Kerl, die ich dir erzählen muss.«
Nun lächle ich wieder, obwohl mich die Erinnerungen an Gable und L. A. immer noch verfolgen. Cricket und ich verfrachten alles, was ich auf dieser Welt besitze, in den Laderaum ihres Lieferwagens – nachdem sie das Bett, das sich darin befindet, zusammengeklappt und eine Tube Gleitgel aus dem Weg geräumt hat.
Als ich die Tube mit weit aufgerissenen Augen anstarre, lacht sie einfach nur. Wir klettern auf die burgunderfarbenen Stoffsessel, bei denen ich mir ziemlich sicher bin, dass sie sich drehen lassen.
»Was ist? Wenn die Hersteller nicht wollten, dass die Leute in diesem Wagen Sex haben, hätten sie hinten keine Betten eingebaut. Außerdem arbeitet Hunter ständig, und ich möchte mir keine Gelegenheit entgehen lassen, ein bisschen Spaß zu haben. Ich mag multiple Orgasmen, und er kann sie mir verschaffen. Ich weiß, dass du ihn seit Jahren nicht gesehen hast, aber ich kann dir versichern …«
Ich hebe eine Hand. »Moment. Welcher Hunter?«
Cricket, diese verschlagene Göre, die mir den Namen ihres Bräutigams in all unseren Gesprächen vorenthalten hat, weil sie ihn mir persönlich sagen wollte, lächelt breit. »Hunter Havalin. Er ist der glückliche Mann, der mich abbekommen hat.«
Mein Mund klappt auf, und meine Augen fühlen sich an, als würden sie mir jeden Moment aus dem Kopf fallen. Hunter Havalin ist der einzige Sohn einer der anderen wohlhabenden Familien in Gable. Die Havalins sind nicht so reich wie die Riscoffs, aber auch sie haben jede Menge Geld.
Ich versuche mir vorzustellen, wie die freigeistige Cricket, die mit sich und der Welt zufrieden ist und Geld und Privilegien scheut, einen Kerl heiratet, der vermutlich jeden Zentimeter des Country Clubs kennt. Meine Cousine ist das komplette Gegenteil von Hunter Havalin. Er war bereits in der Oberstufe, als ich noch in der Mittelstufe war, und jedes
Mädchen war in ihn verknallt. Aber er ging nur mit Mädchen von der Privatschule in der Nachbarstadt aus.
»Ist das dein Ernst?
« Endlich gelingt es mir zu blinzeln. Crickets breites Lächeln ist das Einzige, was mich davon abhält, sie zu fragen, ob sie sich auf einem üblen Trip befindet und vergessen hat, das zu erwähnen.
Ihr Strahlen erstirbt, als sie meinen schockierten Tonfall hört. »Siehst du? Deswegen
habe ich es dir nicht erzählt. Ich wusste, dass du niemals
zurückkommen würdest, wenn du wüsstest, dass ich Lincoln Riscoffs besten Freund heiraten werde.«
Ich zucke auf meinem Sitz nach hinten, als hätte mich eine Abrissbirne getroffen. Das liegt zum einen daran, dass sie gerade den Namen ausgesprochen hat, den man nicht aussprechen darf, und zum anderen daran, dass ich nicht wusste, dass sie befreundet
sind.
»Was?« Das Wort klingt wie eine Mischung aus Husten und Quieken.
»Whit, bitte. Flipp jetzt nicht aus. Es ist ja nicht so, als ob Lincoln der Trauzeuge wäre oder so was. Ich würde dich niemals in diese Lage bringen. Dafür ist er ohnehin viel zu beschäftigt.«
Ich weiß nicht, was ich zu ihr sagen soll. Lincoln Riscoff ist der einzige Mensch, dem ich für den Rest meines Lebens aus dem Weg gehen will und definitiv für die gesamte Zeit, die ich mich in Gable aufhalte. Was nicht allzu lange sein wird, wenn die Riscoffs ein Wörtchen mitzureden haben.
»Also, wohin willst du zuerst?«, fragt Cricket, um von der Bombe abzulenken, die sie gerade platzen gelassen hat. »Nach Hause oder zu Cocko Taco,
wo es heute das Taco-Dienstag-Spezial gibt? Nur zur Warnung: Mom wird noch nicht von der Arbeit zurück sein, und Karma ist garantiert zu Hause, denn wenn sie nicht gerade mit ihren Mädels unterwegs ist, hockt sie ständig vor ihrem blöden Computer oder glotzt Reality-TV-Shows.«
Blutsverwandtschaft ist Blutsverwandtschaft, aber wenn Cricket, die liebevollste und versöhnlichste Person, die ich kenne, immer noch nicht mit der Lebensweise ihrer Schwester zurechtkommt, habe ich es nicht eilig, meine andere Cousine zu sehen.
»Dann soll es wohl der Taco-Dienstag sein.«
Cricket nickt und lässt den Motor an. »Das ist mein Mädchen.«
Ich bin nicht sicher, ob sie über mich oder den Lieferwagen redet, aber das spielt keine Rolle, denn sie fährt vom Parkplatz und touchiert dabei beinahe ein kleines rotes Audi-Cabriolet. Die Blondine im Audi drückt auf die Hupe und zeigt ihr den Mittelfinger, bevor sie aufs Gaspedal tritt und mit einer Geschwindigkeit davonbraust, die der Lieferwagen niemals erreichen kann.
»Miststück«, murmelt Cricket vor sich hin.
»Wer war das?«
Das Heck des Audis verschwindet, als er um eine Kurve biegt. Die Reifen streifen dabei fast die Bordsteinkante. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher, wer die schlechtere Fahrerin ist, die Frau oder meine Cousine.
Cricket wirft mir einen Seitenblick zu. »Das willst du nicht wissen.«
Mein Magen, der bereits verkrampft ist, zieht sich noch stärker zusammen. »Warum nicht?«
Meine Cousine schaut wieder auf die Straße. »Das ist Maren Higgins. Sie ist … Nun ja, sagen wir einfach, dass du nicht darüber reden willst – und ich auch nicht –, weil wir beide einen Grund haben, sie absichtlich zu überfahren. Ich bezeichne sie gerne als Schlampenmiststück McOberzicke, weil ich mich dann ganz allgemein besser fühle.«
»Was hat sie dir getan?« Ich will nicht mal darüber nachdenken, warum ich einen Grund haben könnte, sie zu überfahren. »Denn du weißt, dass ich das Miststück für dich fertigmachen würde.«
Nun grinst Cricket wieder. »Das weiß ich. Deswegen bin ich froh, dass du wieder zu Hause bist. Maren ist … Nun ja, sagen wir einfach, dass es in der Hölle einen besonderen Ort für Frauen gibt, die denken, dass sie einen Mann verdient haben, der bereits vergeben ist. Und sie ist eine von ihnen.«
»Sie hat versucht, dir Hunter auszuspannen?«
Cricket nickt. »Sie sind vor ein paar Jahren zweimal miteinander ausgegangen, und dann hat sie sich plötzlich für …«
Cricket hält inne, bevor sie den Namen aussprechen kann, und ich spanne mich an, weil es nur eine Person gibt, deren Namen sie in meiner Gegenwart nicht aussprechen soll.
»Nun ja, sie hat sich für ein größeres Ziel interessiert und läuft ihm seitdem sabbernd hinterher. Aber weil sie ein Schlampenmiststück ist, kam sie sofort wieder angelaufen, als Hunter und ich unsere Beziehung öffentlich machten, weil sie Angst hatte, etwas zu verlieren, das sie als sichere Sache betrachtet hatte. Im Gegensatz zu ihrer anderen Option, die im Grunde keinerlei Anzeichen zeigte, sich je auf eine ernste Beziehung einlassen zu wollen, egal wie viel seiner Familie dran liegen würde, dass er endlich damit anfängt, die nächste Generation reicher Kinder zu zeugen.«
»Also … was hast du unternommen?«
»Ich habe ihr erzählt, dass ich eine Voodoopriesterin kenne, die sie verfluchen würde, damit sie einen Mann heiraten müsste, der weder Geld noch Zähne hat. Sie zog sich zurück, aber ich traue ihr nicht über den Weg. Offenbar ist sie ziemlich gut im Bett, denn sie hat die Hälfte der Kerle in dieser Stadt in ihren Bann gezogen.«
Ich hasse sie jetzt schon. Ich habe lediglich ihren Mittelfinger und ihr Cabriolet gesehen, aber wenn man bedenkt, dass sie versucht hat, meiner Cousine den Mann auszuspannen – und das allein reicht als Grund schon aus –, würde ich ihre Leiche ohne Frage für Cricket vergraben.
Ich rede mir ein, dass es mir egal ist, wen sie in ihrem Bann hat oder wer sie für die Produktion eines Erben benutzen will. Ich bin eine einunddreißigjährige verbitterte Witwe und noch dazu vollkommen pleite. Ich habe in meinem Leben keinen Platz für einen weiteren Mann.
Ich bin nach Gable zurückgekehrt, um bei Cricket und meiner Tante Jackie sein zu können, das ist alles. Ich will mir einen Job suchen, ein normales, ruhiges Leben führen und mich aus der Öffentlichkeit heraushalten. Ich brauche keine Leute wie Schlampenmiststück McOberzicke, die auftauchen und Probleme machen, denn davon hatte ich schon genug mit meinen Freunden
in L. A., die mich an die Klatschzeitschriften verkauften, indem sie ihnen irgendwelche schwachsinnigen Informationen über meine kaputte Ehe mit Ricky mitteilten.
Meine Ziele sind jetzt einfach. Glücklich sein. Die Leute, die ich liebe, in meiner Nähe haben. Mich von der Presse fernhalten.
Ich habe weder Zeit noch Lust, auch nur einen einzigen Gedanken an den Mann zu verschwenden, der nicht genannt werden darf. Auf gar keinen Fall.
Selbst wenn ich für den Rest meines Lebens keinen guten Mann finde. Das ist dann eben die Strafe für all die Zerstörung, die ich hinterlassen habe.
Aber natürlich kann nichts so einfach sein.
»Da ist Hunters Truck!« Cricket biegt scharf in den uns entgegenkommenden Verkehr ein, lehnt sich weit aus dem Fenster und winkt einem schicken dunkelgrünen Pick-up zu, der auf der andere Seite der Bridge Street parkt.
»Herrgott, Cricket!«
Ich greife ans Lenkrad und reiße es nach rechts herum, damit wir nicht gegen die hupende schwarze Limousine krachen. Meine Sonnenbrille fliegt in Richtung Armaturenbrett, und ich erhasche einen Blick auf Hunter Havalin, der neben seinem Truck auf dem Bürgersteig steht.
Und weil ich verflucht bin, steht neben ihm Lincoln Riscoff.