4. KAPITEL
Whitney
Die Vergangenheit
Fensterputzen war etwas, das ich am wenigsten mochte. Ich hätte lieber von morgens bis abends Toiletten gereinigt, wenn ich dafür nie wieder ein weiteres Fenster hätte putzen müsste. Meine Arme schmerzten von der Anstrengung, ständig sicherstellen zu müssen, dass die vom Boden bis zur Decke reichenden Schaufensterscheiben der Boutique makellos waren. Ganz zu schweigen von den anderen Teilen meines Körpers, die von den Erlebnissen der vergangenen Nacht schmerzten.
Gütiger Gott. Was zum Teufel habe ich mir nur dabei gedacht, mit irgendeinem Fremden aus einer Bar nach Hause zu gehen?
Ich hätte es besser wissen sollen. Ich hätte mich von meiner Wut auf diesen nichtsnutzigen Betrüger Ricky nicht dazu verleiten lassen dürfen, etwas Dummes zu tun. Selbst wenn das zur besten Nacht meines Lebens führte.
Darum ging es nicht. Es ging darum, dass ich vier Jahre meines Lebens verschwendet hatte, weil mir irgendein Träumer mit einer Gitarre einen Haufen Schwachsinn erzählt hatte, den ich aus tausend Kilometern Entfernung hätte wittern sollen. Aber ich war zu naiv und zu vertrauensselig gewesen.
»Warte auf mich, Whitney. Ich werde dich zu mir holen, sobald ich den großen Durchbruch geschafft habe.«
Ja. Klar.
Rickys Stimme war in jedem Radio des Landes zu hören, während ich immer noch in Gable saß. Und offenbar hatte sein Schwanz auch in jeder Tussi in L. A. gesteckt.
Mein Teenagertraum, dass mich der beste Freund meines Bruders in den Sonnenuntergang tragen würde, war offiziell zerschlagen. Ricky Rango, du kannst deinen Ruhm und deine Schlampen haben. Aber du wirst niemals Whitney Gable haben.
Nachdem wir uns heftig gestritten hatten und ich ihm mitgeteilt hatte, dass ich fertig mit ihm sei, war ich zu meinem Schrank gegangen und hatte mir das erstbeste Outfit geschnappt, in dem ich mich nicht wie eine betrogene Exfreundin fühlen würde. Dann ging ich in die Bar. Ich wusste nicht mal, dass ich nach einem Abenteuer suchte, um die Trennung zu überwinden. Ich hatte einfach nur das dringende Bedürfnis, mich begehrt zu fühlen.
Und natürlich fand ich ein Abenteuer und hatte den besten Sex meines Lebens. Aber warum musste dieses Abenteuer ausgerechnet der verdammte Lincoln Riscoff sein?
»Du hast eine Stelle übersehen, Whit!«, rief Tante Jackie hinter mir, während sie die Regale abstaubte. »In der oberen linken Ecke. Du weißt doch, dass Rachelle meckern wird, wenn auf ihrer Glasscheibe auch nur ein einziger Fleck ist, und ich werde mir von dieser geizigen Kuh nicht noch mal den Lohn kürzen lassen.«
Als ich mich nach oben streckte, um über die Stelle zu wischen, fiel mein Blick auf grünbraune Augen auf der anderen Seite des Fensters.
Nein. Nein. Nein. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Mein Magen schlug Purzelbäume, während Tante Jackies Stimme in meinem Kopf zu einem Hintergrundrauschen wurde.
Nur eine einzige Glasscheibe mit verschnörkelten silbernen Buchstaben trennte mich von Lincoln Riscoff. Er blieb direkt vor mir stehen und zog die Augenbrauen bis zum Ansatz seines dunkelbraunen Haars hoch.
Erkannte er mich überhaupt? Ich sah ganz anders aus als letzte Nacht. Meine langen schwarzen Haare hatte ich unter einem roten Bandana zusammengebunden, und ich trug eine abgeschnittene Hose, alte Turnschuhe und ein Bob-Marley-T-Shirt.
Als er auf die Eingangstür der Boutique zueilte, rutschte mir das Herz in die Hose. Er rüttelte am Türgriff, aber sie ging nicht auf.
Zum Glück ist der Laden abgeschlossen.
»Mach auf.« Das Glas war nicht dick genug, um seine Stimme vollkommen zu dämpfen.
Ich warf einen Blick über meine Schulter, aber Tante Jackie war verschwunden – vermutlich warf sie gerade den Müll draußen in den Container, denn wir waren so gut wie fertig.
Gott sei Dank. Heute war Sonntag, was bedeutete, dass ich meinen Kredit beim Herrn ziemlich schnell aufbrauchte, denn ich war seit Ewigkeiten nicht mehr in der Kirche gewesen.
Ich schüttelte den Kopf, deutete auf meine Ohren und sagte das Erstbeste, was mir einfiel. »No hablo Español.«
Er zog die dunklen Brauen zusammen, und mir wurde klar, was da gerade aus meinem Mund gekommen war. Was zum Teufel stimmt nicht mit dir, Whitney?
Seine Lippen zuckten, und auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Mach die Tür auf. Ich muss mit dir reden.«
»Ich kann dich nicht hören.«
Er schob sein Gesicht dichter an das Glas und sagte sehr deutlich: »Schwachsinn.«
Ich schluckte den Kloß in meiner Kehle hinunter, aber der Rest meines Körpers erstarrte. Ich musste mit der Zunge über meine trockenen Lippen fahren, bevor ich wieder sprechen konnte. »Ich kann nicht.«
Lincoln warf einen Blick auf das Schild über der Tür und nickte mir knapp zu. Dann drehte er sich um und ging davon. Mein ganzer Körper entspannte sich, und ich drehte mich um und ließ mich an der Glasscheibe nach unten gleiten, bis mein Hintern den Boden berührte.
»Whit, ich muss dringend telefonieren. In zehn Minuten bin ich wieder da. Ich schließe dich ein«, rief Tante Jackie aus dem hinteren Bereich des Ladens. Dann schlug die Tür zu, und ich hörte, wie sie abgeschlossen wurde.
Danke, Jackie.
Ich legte den Kopf in meine Hände und dachte über das Chaos nach, vor dem ich die Flucht ergriffen hatte.
Lincoln. Riscoff.
Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Ach ja, richtig. Ich hatte mein Gehirn ausgeschaltet und nur auf meine vernachlässigten Körperteile gehört, was dazu geführt hatte, dass ich mich viel zu sehr von dem Moment hatte mitreißen lassen, als sich in der Bar ein Kerl für mich eingesetzt hatte. Ich hob den Kopf, ließ ihn nach hinten gegen die Glasscheibe sacken und starrte an die Decke.
Verdammt. Jetzt werde ich diese Stelle noch mal putzen müssen.
Ich überlegte noch, wie ich die Kraft aufbringen sollte, wieder aufzustehen, als mich das Klappern eines Schlüsselbunds aus meinen selbstmitleidigen Gedanken über das, was vergangene Nacht geschehen war, riss.
Ich drehte den Kopf zur Tür. Er war zurück. Mit einem Schlüssel.
Das soll doch wohl ein Witz sein. Ich stand eindeutig nicht mehr in Gottes Gunst.
Die Tür schwang auf, und ein Windstoß traf mich in dem Augenblick, in dem mir klar wurde, dass ich keinerlei Schutz vor Lincoln Riscoff hatte. Er war im Laden.
Mein Mund bewegte sich, aber es kamen keine Worte heraus.
»Dieses Gebäude gehört meiner Familie. Der Hausmeister wohnt über dem Laden am Ende des Blocks. Ich bin gerannt.«
Ich richtete den Blick auf die gebräunte Haut seines Halses und den Teil seiner breiten Brust, den sein Hemdausschnitt freiließ, und konnte einfach nicht aufhören, mich zu fragen, warum er nicht schwitzte, wenn er gerannt war. Als ich heute Morgen die Hauptstraße erreichte und Ginger Baskins heranwinkte, die auf dem Weg zur Kirche war, um ihr zu erzählen, dass mein Auto nicht angesprungen war, schwitzte ich wie ein Schwein und fluchte dabei wie ein Lastwagenfahrer. Ihr tadelnder Blick war beeindruckend und ihr Zweifel offensichtlich, aber sie fuhr mich trotzdem nach Hause – und teilte mir mit, dass ich Jesus brauche.
Ich stimme dir zu, Ginger. Ich stimme dir zu.
Lincoln streckte mir eine Hand entgegen. »Wir müssen reden.«
Ich starrte auf seine talentierten Finger und die ordentlich geschnittenen Nägel, als hätte ich noch nie zuvor eine Hand gesehen. Ganz zu schweigen eine Hand, die Dinge mit mir gemacht hatte, die kein Mann je zuvor getan hatte. Dinge, die mir gefielen. Viel zu sehr.
Aber es war auch die Hand des Feindes.
»Bist du jetzt nicht mal mehr bereit, meine Hand zu nehmen?«
Ich schluckte erneut und schaute ihm in die Augen, bevor ich den Blick wieder auf den Boden sinken ließ, den ich vor einer Stunde gewischt hatte. »Ich bin schmutzig. Du bist …«
»Ein Riscoff. Deswegen bist du heute Morgen davongelaufen.« In seiner tiefen Stimme lag nur ein Anflug von Heiserkeit, und trotzdem konnte ich nur an das denken, was er gestern Nacht zu mir gesagt hatte.
Weil ich eine Idiotin bin.
»Ich hätte gestern nicht mit dir mitgehen sollen.«
»Aber das hast du getan. Und du hattest nicht das geringste Problem damit, bis du herausgefunden hast, wer ich bin. Also wirst du mir jetzt erklären, warum zum Teufel du davongelaufen bist, als hättest du eingemauerte Leichen hinter meinen Wänden entdeckt!«
Ich schaute wieder zu ihm hoch. »Hast du Leichen hinter den Wänden?«
»Wie heißt du, Blue?«
Dieser Kosename. Er machte mich fertig. Ich wünschte, er hätte ihn nicht ausgesprochen, denn nun war ich bereit, ihm alles zu erzählen, was er wissen wollte.
Und … vielleicht war das die schnellste Methode, ihn wieder loszuwerden.
Ich sah ihm weiter in die Augen und versuchte, mich nicht in diesen grünbraungoldenen Tiefen zu verlieren, als ich es ihm sagte. »Whitney Gable.«
Ich rechnete mit Schock – einer fast schon lächerlichen Art von Schock, um ehrlich zu sein –, doch er zeigte keinerlei Reaktion. Vielleicht war das Unterdrücken von Emotionen etwas, das die Riscoffs bis zum zehnten Lebensjahr perfektioniert haben mussten. Das hätte mich nicht überrascht, schließlich stammten sie im Grunde alle vom Teufel persönlich ab – Kommodore Riscoff. Der Mann, der das Gehöft meiner Familie niedergebrannt hatte.
Statt zurückzuweichen, als hätte ich Tollwut, bewegte Lincoln seine Hand näher an mich heran. Aus irgendeinem Grund ließ mich das in Kombination mit seinem andauernden Schweigen kühner werden.
»Hast du mich nicht verstanden? Ich bin eine Gable. Du hast geschworen, mich ein Leben lang zu hassen. Also wäre es für uns beide besser, wenn du dich umdrehen und deinen privilegierten Riscoff-Hintern zu dieser Tür hinausschwingen würdest, damit ich meine Arbeit fortsetzen kann, bevor meine Tante zurückkommt und dich hier sieht.«
Statt meinem Vorschlag zu folgen, neigte sich Lincoln nach unten, bis sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt war. »Ich bin ein Riscoff, was bedeutet, dass ich tun kann, was immer ich will. Dazu gehört auch die Entscheidung, eine Gable nicht zu hassen.«
Schockwellen durchströmten mich.
»Wenigstens verstehe ich jetzt, warum du heute Morgen weggelaufen bist. Ich muss schon sagen, so was habe ich auch noch nicht erlebt.«
Er umfasste meine Hüften mit beiden Händen und zog mich auf die Füße – und direkt an seine Brust.
Die Hitze seines Körpers drang durch mein T-Shirt, das vom jahrelangen Waschen fadenscheinig geworden war. Meine Brustwarzen richteten sich auf, und das Zucken seines Adamsapfels verriet mir, dass er die harten Knospen, die sich durch den dünnen Stoff meines BHs drückten, spüren konnte.
Sein Atem streifte mein Ohr, als er sagte: »Ich will dich wiedersehen.«
Ich wollte mich losreißen und Abstand zwischen uns bringen, aber ich schaffte es nicht, mich aus seinen Armen zu lösen. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Ich bin eine Gable. Was auch immer deiner Meinung nach hier passiert, passiert nicht wirklich. Du musst vergessen, dass du mich je gesehen hast. Ich kann nicht …«
»Dann sag mir, dass du nicht mehr willst. Sag mir, dass die letzte Nacht für dich nicht genauso gut war wie für mich.«
Er bohrte die Fingerspitzen in meine Hüften, und ich wollte mich an ihm reiben wie eine rollige Katze. Die letzte Nacht war unglaublich gewesen, und bis ich das Foto von Kommodore Riscoff, Roosevelt Riscoff und ihm gesehen und erkannt hatte, wer er war, hatte ich vorgehabt, sie so oft wie möglich zu wiederholen.
Ich zwang mich, mich von ihm loszureißen. »Das spielt keine Rolle. Deine Familie hat unsere Farm gestohlen und sie abgebrannt. Du magst damals nicht dabei gewesen sein, aber wegen der Riscoffs haben wir alles verloren.«
Ich wollte mich ein Stück von ihm entfernen, doch er packte mein Handgelenk und wirbelte mich wieder herum, damit ich gezwungen war, ihn anzusehen.
»Du willst nichts mit mir zu tun haben, weil zwischen unseren Familien irgendeine schwachsinnige Fehde besteht, die man schon vor hundert Jahren hätte beenden sollen? Willst du mir das ernsthaft erzählen?«
»Ja! Vielleicht kannst du das hoch oben in dem Turm, in dem du wohnst, als Schwachsinn abtun, aber …« Ich deutete auf den Eimer mit Wasser, das ich benutzt hatte, um die Fenster zu putzen. »Da, wo ich bin, unten auf dem festen Boden, merken wir es, wenn uns jemand etwas wegnimmt. Vor allem merken wir es, wenn uns jemand alles wegnimmt.«
Er verzog den Mund, und ich dachte, dass ich ihm meinen Standpunkt endlich klargemacht hätte. Ich hätte froh sein sollen, als er mein Handgelenk losließ, doch stattdessen verspürte ich einen heftigen Stich in der Brust.
»Zum Teufel damit.« Lincolns tiefe Stimme wurde barsch und seine Miene starr. »Das ist mir verdammt noch mal egal. Das zwischen uns ist noch nicht vorbei.«
Er trat vor und zog mich an sich. Mein Körper reagierte mit einem Hitzeschub zwischen meinen Beinen, aber in meinem Kopf schrillte eine Alarmglocke.
Ich hätte jedoch ebenso gut taub sein können, denn ich beachtete sie nicht.
Lincoln presste seine Lippen auf meine und küsste mich wie ein Sterbender, dessen einzige Hoffnung aufs Überleben ich war. Ich versuchte, ihn nicht zu berühren, versagte aber kläglich, denn ganz automatisch legte ich die Arme um seinen Hals, um ihn näher an mich heranzuziehen.
Lincoln Riscoff zu küssen war so, als würde man Erlösung finden, wenn man dachte, dass alles verloren wäre. Es fühlte sich nicht an, als würde ich den Feind küssen.
»Was zum Teufel geht hier vor?«
Völlig gefangen in meinen randalierenden Gefühlen, ertönte plötzlich Tante Jackies Stimme, und ich zuckte zurück, während Lincoln von mir abließ. Ich wusste genau, dass sie ihn erkannt hatte, denn sie schnappte entsetzt nach Luft.
»Heilige Scheiße, Whitney. Bitte sag mir, dass das nicht der Mann ist, für den ich ihn halte.«
»Ma’am, ich bin …«
Ich fiel Lincoln ins Wort, bevor er noch mehr sagen konnte. »Er geht. Sofort.«
Ich konnte gleichsam hören, wie es in Lincolns Kopf arbeitete, während er den Mund öffnete, um mir zu widersprechen. Doch zum Glück tat er es nicht, sondern trat von mir weg. Kurz darauf hörte ich das Klimpern der Türglocke, als sich die Ladentür öffnete und schloss.
Tante Jackie durchbohrte mich förmlich mit ihrem wütenden Blick. »Du hast eine Menge zu erklären, und ich schlage vor, dass du sofort damit anfängst.«