5. KAPITEL
Lincoln
Gegenwart
Ich schüttle den Kopf und verberge mein Lächeln, als Cricket Gable auf der Bridge Street abrupt wendet und dabei nur knapp andere Autos und Fußgänger verfehlt. Doch dann sehe ich plötzlich, wer sich auf dem Beifahrersitz befindet.
Verdammt.
Ihre blauen Augen sind unvergesslich. Zehn Jahre. Zehntausend Jahre. Es spielt keine Rolle. Whitney Gables blaue Augen würde ich niemals vergessen. Falls ich das gedacht haben sollte, habe ich mir zehn Jahre lang etwas vorgemacht.
Sämtliche Erinnerungen stürmen auf mich ein wie ein Tornado. Sie rauschen durch meinen Körper und in mein Blut, bis ich schwören könnte, dass sie mir bereits wieder unter die Haut gegangen ist.
Wem zum Teufel mache ich etwas vor?
Sie ist mir schon immer unter die Haut gegangen. Ich habe ein Jahrzehnt mit dem Versuch verbracht, sie zu vergessen, und ich habe mich selbst belogen, wenn ich gedacht habe, dass ich dabei irgendwelche Fortschritte gemacht hätte.
Whitney Gable ist keine Frau, die man vergisst. Sie ist eine Frau, für die man töten würde, damit man sie behalten kann.
Und was das betrifft, habe ich versagt.
Seitdem habe ich bei nichts mehr versagt – abgesehen davon, eine Frau zu heiraten und den Erben zu zeugen, den der Kommodore verlangt. Ich habe immer noch keine Ahnung, woher der alte Mann wusste, dass sie zurückkommt, aber ich habe den ganzen Tag damit verbracht, mir einzureden, dass es keine Rolle spielt.
Noch mehr Lügen, die ich mir selbst auftische.
Sie wird immer eine Rolle spielen.
Man vergisst niemals die Frau, die einem das Herz zertrümmert und einen als anderen Mann zurückgelassen hat. Denn seit unserer ersten Begegnung bin ich nicht mehr derjenige, der ich davor war. Ich werde nie vergessen, wie ich eine Rüstung über die Wunden zog, die sie hinterlassen hatte, nachdem ich mich öffentlich für sie gedemütigt hatte.
Und ich würde es wieder tun, wenn ich sie dadurch davon hätte abhalten können, Ricky Rango zu heiraten.
Aber er ist jetzt tot, und Whitney ist frei. Sie hat mit dem Alter nur gewonnen. Damals war sie ein wunderschönes Mädchen, nun ist sie eine umwerfende Frau …
Ich kneife die Augen zusammen, um sie genauer betrachten zu können, denn eine Seite ihres Gesichts wird direkt unterhalb des Auges von etwas Dunklem entstellt. Hat sie ein Veilchen? Wut rauscht durch meinen Körper, als ich die nicht zu leugnenden Blutergüsse sehe. Sie versucht gerade, sie hastig mit einer riesigen Sonnenbrille zu verbergen, wie sie sie immer auf den Fotos trägt, die in den Klatschzeitschriften sind und denen nicht mal ich aus dem Weg gehen kann.
Wer zum Teufel hat ihr das angetan?
Wenn Ricky noch leben würde, würde ich ihn unter die Erde bringen, doch er ist schon zu lange tot, um für dieses Veilchen verantwortlich zu sein.
Ich starre sie durch die Windschutzscheibe an. Ricky Rangos Schwarze Witwe.
Kann sich ein Mensch wirklich so sehr verändern?
Ein Teil von mir will diese Frage mit Ja beantworten, denn ich denke, dass sie brutal genug ist, um einen Mann zu töten. Immerhin hätte sie mich beinahe getötet, als sie vor zehn Jahren die Stadt verließ. Aber das ist meine verbitterte Seite. Der Teil von mir, den sie in aller Öffentlichkeit abwies.
Der Rest von mir … hält das nicht für möglich.
»Hey, Baby!«, ruft Cricket und klettert aus dem Fenster, anstatt die Tür zu öffnen.
Hunter geht um den alten Lieferwagen herum, um mit seiner Verlobten zu reden. Er lässt mich auf dem Bürgersteig stehen, von wo aus ich Whitney Gable durch die Scheibe anstarre.
Genau wie vor all den Jahren entwickelt mein Mund ein Eigenleben und ist vollkommen von meinem Gehirn losgelöst.
»Mach auf.«
Whitney hält den Blick stur geradeaus gerichtet und tut so, als hätte sie mich nicht gehört.
Wir wissen beide, dass das Schwachsinn ist, und zwar nicht nur weil sich die Muskeln in ihrer Kehle bewegen, während sie schluckt. Sie ließ mich glauben, dass sie nichts von mir wollte. Sie ließ mich glauben, dass ich ihr nichts bedeutete. Der Puls, der heftig unter der zarten Haut an ihrem Hals hämmert, verrät mir, dass das alles Lügen waren.
Ich trete näher.
»Mach das Fenster auf, Whitney.« Ihr Name ist mir seit zehn Jahren nicht mehr über die Lippen gekommen, aber gottverdammt, es fühlt sich gut an. »Du weißt, dass du dich mir irgendwann stellen musst.«
Sie presst die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen und ignoriert mich weiterhin.
Crickets und Hunters Gespräch könnte ebenso gut auf einem anderen Planeten stattfinden, denn die einzigen beiden Menschen, die auf dieser Welt existieren, sind ich und die Frau, die gern so tun würde, als würde ich nicht existieren.
»Hör zu, Blue. Du bist jetzt wieder in meiner Stadt. In meiner Welt. Du kannst mich hören. Du kannst mich sehen. Du kannst so lange so tun, als wäre ich nicht hier, wie du willst, aber ich bin hier.« Ich lege einen Ellbogen an das Fenster und lehne mich näher heran. »Und es gibt noch etwas, was du wissen solltest. Wir sind noch nicht fertig.
«
Sie spannt die Schultern an und bewegt ruckartig das Kinn in meine Richtung.
Endlich zeigt sie eine Reaktion.
Ich wünschte, ich könnte ihr diese Sonnenbrille vom Gesicht reißen und nach all der Zeit wieder in ihre Augen blicken, aber ich werde mich hiermit begnügen … fürs Erste.
»Wir werden uns schon bald wiedersehen, Blue. Sehr bald.«
Whitney lässt die zitternde Unterlippe sinken, und ich würde nichts lieber tun, als meine Zähne darumzulegen und sie daran zu erinnern, wie sehr sie es genossen hat, mich zu küssen.
Mein Körper erinnert sich daran. Er erwacht zum Leben. Mein Herz schlägt schneller, und es juckt mir in den Fingern, sie zu berühren.
Cricket öffnet die Fahrertür, steigt ein und schlägt die Tür hinter sich zu. Ich trete zurück.
»Das ist noch nicht vorbei, Whitney Gable. Noch lange nicht.«
Mit einem überlegenen Lächeln schiebe ich die Hände in die Hosentaschen und wende mich vom Lieferwagen ab. Cricket lässt den Motor an, und die Reifen drehen durch, als sie vom Bürgersteig wegfährt. Hunter und ich blicken beide dem Wagen nach, und ich bemühe mich, gelassen zu wirken, auch wenn Whitney Gables plötzliche Rückkehr in mein Leben dafür sorgt, dass ich mich alles andere als gelassen fühle.
»Du musst deiner Freundin Fahrstunden geben, Hunt«, sage ich und beobachte, wie der Lieferwagen die Straße hinunterfährt.
Hunter lacht laut. »Nein, ich mag sie genau so, wie sie ist. Verflucht verrückt. Allerdings werde ich ihr vielleicht ein Auto besorgen, in dem sie sicherer ist.«
Ich werfe meinem besten Freund einen Blick zu. »Einen Panzer?«
Er grinst. »Keine schlechte Idee. Ich werde mich darum kümmern.« Er schaut zu den Rücklichtern und dann wieder zu mir. »Werdet ihr, du und Crickets Cousine, es schaffen, unsere Hochzeit zu überstehen, ohne euch gegenseitig umzubringen?«
Mein Mund verzieht sich zu einem schwachen Lächeln. »Whitney Gable umbringen ist das Letzte, was ich will.«