9. KAPITEL
Whitney
Dieser Nachmittag war wie ein Ausflug in die Vergangenheit, und ich habe unterwegs jedes einzelne Schlagloch erwischt. Ich wollte mich unbemerkt nach Gable zurückschleichen, niemandem auffallen, meine Cousine und meine Tante umarmen und für eine Weile in Ruhe meine Wunden lecken. Aber das stand eindeutig nicht auf dem Programm.
Nachdem wir uns im Cocko Taco vollgestopft haben, fühle ich mich in Bezug auf meine Entscheidung für eine Rückkehr ein kleines bisschen besser. Erstklassige Guacamole und geschmolzener Käse können das bewirken.
Cricket lenkt den Lieferwagen über Straßen, die ich in- und auswendig kenne, aber nach zehn Jahren sehen sie anders aus. Ältere Häuser, die man nicht mehr restaurieren konnte, sind durch neue Gebäude ersetzt worden. Die Highschool sieht brandneu aus, und das Schild mit der Aufschrift RISCOFF MEMORIAL HIGH erinnert mich an den Mann, den ich eben erst gesehen habe.
Vor dem heutigen Tag war es leichter, nicht an all die Dinge zu denken, die sich während meiner Abwesenheit verändert haben. Einschließlich der Tatsache, dass Lincoln besser gealtert ist als der italienische Wein, den Ricky einst zu sammeln versuchte, stattdessen aber innerhalb weniger Monate leer trank … kurz vor seinem ersten Aufenthalt in einer Entzugsklinik.
Cricket biegt nach links in die Straße ab, in der Tante Jackie wohnt, und ich erhasche einen Blick auf die Berggipfel, die sich über den hohen Kiefern erheben. Zumindest manche Dinge ändern sich nicht.
»Sei gewarnt, Karma hat seit ein paar Monaten richtig miese Laune, und ich habe keine Ahnung, warum. Ich glaube, sie ist wieder schwanger, aber ich habe Angst, sie zu fragen. Als ich sie das letzte Mal gefragt habe, hätte sie mir fast den Kopf abgerissen.«
»Schon wieder?«
Cricket nickt.
»Sieht sie noch den Vater der Zwillinge?«
»Das weiß nur der Himmel. Sie erzählt mir nicht das Geringste. Je älter sie wird, desto zickiger wird sie auch, was bedeutet, dass bei dieser Abwärtsspirale so gut wie kein Ende in Sicht ist.«
Als wir aufwuchsen, hatte ich immer Asa an meiner Seite, und er nahm seine Rolle als großer Bruder sehr ernst. Er verscheuchte jeden Kerl, der auch nur in meine Richtung schaute. Ansonsten war er, was Geschwister angeht, alles in allem ein ziemlich gutes Exemplar. Der Wunsch nach einer Schwester wurde mir jedoch schnell ausgetrieben, und das lag an Karma.
Ich bereite mich innerlich vor, als wir in die Einfahrt biegen und Cricket den Wagen parkt. Die Vordertür schwingt auf, während sie und ich mein Gepäck aus dem Laderaum holen und es zum Hauseingang tragen.
»Ich wusste, dass du irgendwann wieder nach Hause gekrochen kommst, und siehe da: Du bist hier.«
Karmas Stimme klingt genau wie Crickets, aber die Jahre der Verbitterung, die damit anfingen, dass sie als Kind ein Pony haben wollte, Jackie sich aber keins leisten konnte, haben sie hart und gemein werden lassen. Sie lehnt sich gegen den Türrahmen und geht nicht aus dem Weg, obwohl eindeutig ist, dass wir ins Haus wollen.
Ich bleibe vor den Stufen stehen und lasse den Griff meines Koffers los. »Hey, Karma. Schön, dich zu sehen.«
Sie verzieht den Mund. »Du siehst aus, als hätte L. A. dich ausgespuckt und in die Gosse getreten.« Sie senkt den Blick zu meinem Koffer. »Aber du hast es geschafft, ein paar schicke Koffer mitgehen zu lassen, was?«
»Ist das dein Ernst? So willst du sie nach verdammten zehn Jahren begrüßen? Du bist ein Miststück.« Cricket nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um ihre Zwillingsschwester geht.
Karma richtet ihre gelbbraunen Augen auf ihre Schwester und funkelt sie böse an. »Das musst du gerade sagen. Du bist nur deswegen so herablassend, weil du dir Hunter Havalin geschnappt hast. Vermutlich hätte ich ihn mal ausprobieren sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.«
Ich trete einen Schritt zurück, als würde ich versuchen, der Giftwolke auszuweichen, die sie ausstößt. Für zwei Menschen, die exakt gleich aussehen, sollte es eigentlich unmöglich sein, so völlig verschieden zu sein.
»Ich bin mir nicht sicher, auf welchem Planeten du lebst, aber du hattest bei Hunter nie eine Chance. Er wusste von Anfang an, dass du eine Schlampe bist. Und jetzt solltest du deine ganze Bitterkeit lieber runterschlucken und uns aus dem Weg gehen, damit wir Whitneys Sachen ins Haus bringen können.«
»Und wo genau soll sie schlafen? Falls du es vergessen hast: Du schläfst auf der Couch, wenn du hier bist, weil wir keinen Platz für dich haben.«
»Vielleicht hätten wir dieses Problem nicht, wenn du nicht ständig die Beine breit machen würdest«, schießt Cricket ungerührt zurück.
»Miststück.«
»Schlampe.«
Ich gehe dazwischen, weil ich befürchte, dass gleich Blut fließen könnte. Das ist in der Vergangenheit durchaus schon mal vorgekommen. »Okay, genug der schwesterlichen Liebesbeweise. Ich werde auf dem Boden im Wohnzimmer schlafen. Das ist kein Problem. Ich brauche nur einen Ort zum Übernachten, während ich alles regle. Wenn das Tante Jackie nicht passt, werde ich mir ein günstiges Hotel suchen.« Ich habe nicht das Geld, um mir das leisten zu können, aber momentan bin ich mir nicht sicher, ob ich im selben Haus sein will wie Karma mit ihrem scheußlichen Verhalten.
»Hinterm Haus steht ein Schuppen mit einer Futonmatratze, die Mom früher für ihre Kunstprojekte benutzt hat. Darin sollte Platz für deinen Mist sein.« Karma stößt mit einem Zeh gegen meinen Handgepäckkoffer und wirft ihn um.
Ich beiße mir auf die Zunge, weil es mir nicht gut bekommen wird, wenn ich jetzt ausflippe. Es ist nur Gepäck. Ich wollte das Zeug nicht mal haben, aber Ricky war irgendwann so sehr auf Äußerlichkeiten versessen, dass er es nicht ertragen hätte, wenn seine Frau mit einem einfachen Rollkoffer aufgetaucht wäre und ihn blamiert hätte.
»Schön. Ich werde den Schuppen nehmen. Wenigstens werden die Nächte allmählich wärmer.«
Karma verschränkt die Arme vor der Brust.
»Musst du nicht los, um die Mädchen abzuholen?«
Karma richtet ihren bösen Blick wieder auf ihre Schwester. »Erzähl mir nicht, was ich zu tun habe.«
»Wie auch immer, geh uns einfach aus dem Weg, wenn du uns schon nicht helfen willst.«
»Meinetwegen.« Karma dreht sich um, geht ins Haus und lässt die Tür vor unseren Nasen zuknallen.
»Herrgott, mir war nicht klar, dass sie noch schlimmer geworden sein könnte, aber … Wow.«
Cricket schüttelt den Kopf. »Ich habe es dir ja gesagt, In letzter Zeit ist es schrecklich. Ich schwöre, sie braucht einen Joint und eine Runde guten Sex – mit Kondom, damit sie nicht schon wieder schwanger wird. Vielleicht hätte sie bessere Laune, wenn Addys und Maddys Daddy, wer auch immer er sein mag, mal Interesse an den Kindern zeigen würde.«
»Ich schätze, das genügt, um jeden verbittert werden zu lassen.«
Plötzlich habe ich Mitleid mit Karmas Kindern und verspüre einen schmerzhaften Stich in der Brust. Die Situation erinnert mich an meine Kindheit, die auch alles andere als perfekt war. Doch anstatt die ganze Zeit wütend zu sein, war meine Mom ein Geist, und mein Dad war immer sauer und auf der Suche nach ihr. Er zögerte nicht, seinen Frust an mir auszulassen – zuerst mit seinem Gürtel, und als ich zu alt dafür wurde, mit seinem Handrücken.
»Mom und ich versuchen, es irgendwie zu kompensieren. An manchen Tagen steht Karma morgens nicht mal auf, also haben wir ohnehin kaum eine Wahl.«
Ich denke an Crickets Worte darüber, was ihre Schwester brauchen würde. »Klingt so, als bräuchte sie Medikamente und eine grundlegende Veränderung ihrer Lebenseinstellung.«
»So was in der Art. Sie ist so gut wie unerträglich. Ich versuche, ihr wann immer möglich aus dem Weg zu gehen. Ich schlafe auf der Couch oder übernachte bei Hunter. Verdammt, manche Nächte verbringe ich sogar in meinem Lieferwagen, weil ich es nicht aushalte, in ihrer Nähe zu sein.« Cricket hält inne. »Ehrlich gesagt ist der Schuppen gar keine so schlechte Idee. Mom hat ihn während ihrer Heimwerkerphase auf Vordermann gebracht. Lass uns mal hingehen und schauen, ob das für dich passt.«
Mit einem Koffer in jeder Hand gehen Cricket und ich durchs Haus, das seit meinem letzten Besuch renoviert worden ist. Die gestreifte Tapete im Flur ist verschwunden und durch leuchtend gelbe Farbe ersetzt worden. Die Couch im Wohnzimmer ist jetzt mit rotem Leder bezogen und nicht mehr mit dem hellbraunen Stoff, an den ich mich erinnere. Die Küchenschränke sind weiß gestrichen und an den Ecken abgeschmirgelt worden, was ihnen einen schicken Vintage-Charme verleiht. Die Arbeitsflächen wirken hingegen neu.
Cricket öffnet die Hintertür und führt mich in den Garten hinaus. Das Gras ist ordentlich gemäht, und Fliederbüsche säumen den Zaun. Tante Jackie hat sich mit der Zeit ein hübsches Zuhause geschaffen, was wenigstens eine Sache ist, über die ich mich heute freuen kann.
Am Ende des Gartens in der Nähe des kleinen Tors steht ein Holzschuppen. Er ist hinter Hochbeeten mit berankten Pflanzgittern versteckt.
»Ich bin seit Ewigkeiten nicht mehr hier gewesen«, sagt Cricket, während wir den Rasen überqueren. »Ich glaube auch nicht, dass Mom den Schuppen in letzter Zeit benutzt hat. Sie hat das Malen aufgegeben und sich auf das Gärtnern mit den Mädchen verlegt.«
Ich öffne die Tür und werfe einen Blick hinein. Überrascht stelle ich fest, dass der Schuppen nicht mit altem Krempel vollgestopft ist. Stattdessen erblicke ich einen hübschen kleinen Wohnbereich mit einer Futonmatratze. Ich schalte das Licht an und lächle, als ich die Inneneinrichtung im Shabby-Chic-Stil betrachte. Der Tisch, die zwei Stühle, der Futon, das Beistelltischchen und die Teppiche stammen eindeutig von Flohmärkten, aber das tut ihrem Charme keinen Abbruch. Die Vorhänge sind aus Spitzenstoff, und wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass meine Tante sie selbst genäht hat.
Es ist ein Frauenschuppen.
Ein Stapel alter Zeitschriften, ein paar Regalbretter voller staubiger Bücher und eine Staffelei beweisen, dass das hier definitiv Tante Jackies Rückzugsort von der Welt ist. Ein wenig fühle ich mich schuldig, weil ich hier einfach so eindringe, aber wenn im Haus kein Platz für mich ist, denke ich nicht, dass es ihr etwas ausmachen wird, vor allem weil die Staubschicht, die alles bedeckt, dafür spricht, dass sie den Schuppen seit einer Weile nicht mehr benutzt hat.
Als ich aufwuchs, verbrachte ich so viel Zeit wie möglich mit Jackie und Cricket anstatt mit meiner Familie. Sie wohnten in einem Haus am Fluss, nur einen knappen Kilometer vom Haus meiner Eltern entfernt. Beide Anwesen lagen auf der Familienfarm, die zur Auktion angeboten wurde … bevor Kommodore Riscoff sie niederbrannte. Nachdem der Sheriff uns rausgeworfen hatte, suchten wir alle nach einer neuen Bleibe, und Jackie landete mit den Mädchen hier. Mein Dad mietete uns ein kleines Haus in einem heruntergekommenen Viertel der Stadt, das kaum groß genug für drei Leute war.
»Das ist perfekt«, sage ich zu Cricket, als sie einen meiner Koffer in den Eingangsbereich des Schuppens stellt.
»Tatsächlich ist es hier drinnen hübscher, als ich es in Erinnerung habe. Ich hätte in den Garten ziehen sollen. Keine Ahnung, warum mir das nicht eingefallen ist. Ich habe vollkommen vergessen, dass Mom hier eigenhändig Rohre verlegt hat und es sogar ein keines Bad gibt.«
Sofort fühle ich mich schlecht. »Willst du den Schuppen haben? Ich kann mir auch etwas anderes suchen.«
»Nein. Ich ziehe nach der Hochzeit bei Hunter ein, und es macht mir nichts aus, bis dahin hin und wieder auf der Couch zu schlafen.«
»Nicht dass mich das etwas angehen würde, aber … Warum bist du nicht längst bei ihm eingezogen?«
Cricket zuckt mit den Schultern und lässt sich auf den Futon fallen. Ich setze mich neben sie. »Seine Mom hat unmissverständlich klargemacht, dass sie vollkommen entsetzt wäre, wenn ich vor der Hochzeit bei ihm einziehen würde.«
Ihr Tonfall lässt mich vermuten, dass die beiden nicht das beste Verhältnis haben.
»Versteht ihr, du und Mrs Havalin, euch nicht gut?«
»Willst du eine ehrliche Antwort?«
»Nun, ja.«
»Sie wollte nicht, dass Hunter eine Gable heiratet.«
Ich verziehe das Gesicht, weil ich mir sicher bin, dass mein Ruf in der Stadt die Situation nicht gerade einfacher gemacht hat. »Hat sie dir das so gesagt?«
Cricket wiegt den Kopf hin und her. »Nicht mit so vielen Worten, aber sie hat deutlich gemacht, dass sie bei keiner anderen Familie die komplette Hochzeit allein bezahlen müsste.«
»Ich sollte das nicht sagen, aber ich kann deine zukünftige Schwiegermutter jetzt schon nicht leiden.«
»Es kann immer schlimmer kommen, oder?«
Ich frage mich, ob sie dabei an Mrs Riscoff denkt, denn Lincolns Mutter wäre zweifellos die Schwiegermutter aus der Hölle. Warum denke ich überhaupt an ihn, ganz zu schweigen an seine Mutter? Ich verdränge das Bild von Mrs Riscoffs Gesicht, das vor Missbilligung verzerrt ist, aus meiner Erinnerung.
»Was sagt Hunter dazu?«
Das strahlende Lächeln, das Crickets Gesicht erhellt, ist so rein, dass ich wünschte, ich könnte es fotografieren, ohne dass sie es merkt. Sie liebt ihn. Sie liebt ihn wirklich.
»Ihm ist das vollkommen egal. Eigentlich wollten wir sogar zusammen durchbrennen, bis sein Vater eine große Rede gehalten und verkündet hat, dass sein Sohn in Gable heiraten werde, umgeben von all seinen Freunden und Familienmitgliedern.« Crickets Strahlen verblasst ein wenig. »Also … also habe ich ihm gesagt, dass wir das tun sollten, wenn es ihm so wichtig ist.«
»Bist du sicher, dass es wirklich das ist, was du willst?« Ich hasse die Vorstellung, dass sich meine freigeistige Cousine auf ihrer eigenen Hochzeit wie ein Gast fühlen könnte.
»Hunter würde ihnen allen sagen, dass sie sich zum Teufel scheren können, wenn ich ihm sagen würde, dass ich diese Familienhochzeit nicht will. Aber ich weiß, dass sein Dad nicht mehr lange zu leben hat, und tatsächlich mag ich den alten Mann irgendwie, also werde ich deswegen kein Theater machen.«
Sie fährt mit einem Finger über die Staubschicht auf dem Zeitschriftenstapel, der auf dem Tischchen liegt. »Da die Hochzeit allerdings im Gables stattfindet, wird Mrs Havalin vermutlich ausrasten und jeden Menschen im uns bekannten Universum einladen wollen, um allen zu zeigen, wie nah ihre Familie den Riscoffs steht. Aber … wenigstens nimmt mir das den Druck, stimmt’s? Wer wird sich schon die Mühe machen, die Braut anzuschauen, wenn der Erbe eines Milliardendollarunternehmens in der ersten Reihe steht?«
Ich streiche Cricket das braune Haar aus dem Gesicht, damit ich ihr in die Augen schauen kann. »Hey. Hör auf damit. Das ist dein großer Tag. Zum Teufel mit Lincoln Riscoff.«
Crickets Lippen zucken. »Tut mir leid, Whit, aber dass du ihn zum Teufel jagen willst, kaufe ich dir nicht ab.«