11. KAPITEL
Lincoln
Gegenwart
»Ich habe gehört, dass deine alte Schlampe wieder in der Stadt ist. Vielleicht will sie ja diesmal einen Ritt mit einem jüngeren Riscoff wagen«, sagt Harrison, als er zu spät zu unserer Besprechung erscheint.
Ich schaue von den Unterlagen auf, die vor mir auf dem Schreibtisch liegen. Der Drang, meinen Bruder zu ermorden, erwacht brüllend in mir zum Leben und ist nur ein kleines bisschen schwächer als der Drang, ihn zu feuern.
Wenn mir der Kommodore nicht verboten hätte, meinen Bruder ohne Grund zu entlassen, würde ich seinen Hintern in Sekundenschnelle aus dieser Firma befördern. Mein Bruder und ich haben nicht viel füreinander übrig. Nicht nachdem er es mit der Frau getrieben hatte, die ich fast geheiratet hätte, nur um zu beweisen, dass er es konnte. Er ersparte mir allerdings eine kostspielige Scheidung, also sollte ich ihm dafür vielleicht dankbar sein.
Aber das bin ich nicht.
Ich bleibe sitzen und schlucke meine Verärgerung runter. Ich weiß, was er will – mich provozieren, bis ich ihm meine Faust ins Gesicht ramme, damit er heulend zum Kommodore laufen und ihm beweisen kann, dass ich nicht dafür geeignet bin, das Familienunternehmen der Riscoffs zu erben. Diese Befriedigung werde ich ihm auf keinen Fall gönnen. Stattdessen schaue ich auf die Uhr auf meinem Schreibtisch.
»Du bist spät dran. Und dein Bericht ist es ebenfalls.«
Er presst frustriert die Lippen zusammen und wirft einen zusammenhefteten Papierstapel auf meinen Tisch. »Nicht so spät, dass er nicht mehr wichtig wäre.«
Wenn ich der zweitgeborene Sohn wäre und deswegen nichts erben würde, weil eine antiquierte Familientradition es so vorschreibt, würde ich meinen älteren Bruder vermutlich auch hassen. Nachdem ich mich jedoch fast mein ganzes bisheriges Leben lang mit diesem Schwachsinn auseinandergesetzt habe, werde ich meinen Posten auf keinen Fall freiwillig abgeben und ihm die Leitung des Unternehmens überlassen.
Er lässt sich auf einen der Stühle fallen, die vor meinem Schreibtisch stehen. »Also, großer Bruder, hast du sie schon gesehen? Oder ist sie zu viele Jahre lang zu hart rangenommen worden, um dich noch zu interessieren?«
Ich balle die Hände zu Fäusten. Am liebsten würde ich ihn am Kragen packen und ihn aus dem Fenster baumeln lassen, bis er schreit wie ein elender Jammerlappen. Stattdessen besinne ich mich auf etwas, das man übermenschliche Beherrschung nennen könnte, nehme den Bericht und blättere zu der Zusammenfassung, in der es um drei Übernahmen geht, über die wir nachdenken.
Zum Glück hält er den Mund, während ich den Bericht lese.
Ich kneife die Augen zusammen, als ich zu seiner Schlussfolgerung gelange, dass wir in die Versteigerung für Tordon Industries einsteigen sollten. Die Firma hat die besten Zahlen der drei Kandidaten und würde uns die beste Plattform bieten, um unsere Stärken im Dienstleistungssektor auszubauen. Ausbau und Erweiterung sind zum jetzigen Zeitpunkt in unserer Firmenpolitik entscheidend. Wir müssen uns weiterentwickeln und weiter wachsen, wenn wir in der heutigen Wirtschaft relevant bleiben wollen. Aber nur weil Harrison das große Ganze nicht vermasselt, bedeutet das nicht, dass er in diesem Bericht nicht noch etwas anderes versteckt hat, das die Übernahme gefährden könnte. Was bedeutet, dass ich jede einzelne Seite mit der größtmöglichen Aufmerksamkeit lesen muss, um sicherzugehen, dass ich nichts übersehe.
Einen Stellvertreter zu haben, der versteckte Absichten hegt, ist verflucht anstrengend, weil es bedeutet, dass ich nicht nur meinen, sondern auch seinen Job machen muss, um dafür zu sorgen, dass er die Firma nicht absichtlich oder unabsichtlich in den Ruin treibt. Er ist der einzige Mensch, der es wagen würde, mich in meiner Rolle als Geschäftsführer herauszufordern. Aber da mir die Hände gebunden sind, weil der Kommodore die Position des Vorstandsvorsitzenden innehat, bin ich gezwungen, zusätzliche Wachsamkeit walten zu lassen. Ich kann es mir nicht leisten, meinem Bruder auch nur für eine Sekunde den Rücken zuzuwenden.
»Also, hast du sie gesehen?« Natürlich lässt Harrison nicht locker.
»Können wir uns wieder auf das Geschäft konzentrieren?«
Mein Bruder kippt den Stuhl nach hinten und balanciert auf den zwei hinteren Stuhlbeinen.
Ein Stups. Mehr wäre nicht nötig, um ihn umzuwerfen.
Ich widerstehe dem Drang. Gerade so.
»Wenn du mich fragst, ist sie das Geschäft. Ihretwegen hast du vor Jahren fast den Verstand verloren, und als stellvertretender Vorsitzender dieser Firma muss ich wissen, ob ich mir Sorgen machen muss, dass du diese Aktion wiederholen könntest.«
Ich werfe meinem Bruder einen Blick zu, der jeden anderen Mann dazu bringen würde, mit eingezogenem Schwanz davonzukriechen und dabei die ganze Zeit über Entschuldigungen zu murmeln. Harrison verzieht lediglich die Lippen.
»Ich werde dieses Gespräch nicht mit dir führen.«
Er ignoriert meinen warnenden Tonfall und stichelt weiter. »Ich frage mich, wie Mutter mit Whitney Gables Rückkehr zurechtkommen wird.«
Ich spanne den Kiefer an und beiße die Zähne zusammen, während ich bis zehn zähle. »Du hast eindeutig nicht genug zu tun, wenn du so viel Zeit für Tratsch übrig hast.« Ich greife in die Schreibtischschublade und ziehe eine dicke Aktenmappe heraus. »Wir haben hier einen Rechtsstreit, und ich hätte gern, dass du die Rechtsabteilung bei der Bearbeitung unterstützt. Es geht um einen Grundstücksdisput, den wir nun schon seit zehn Jahren nicht klären konnten. Ich bin mir sicher, dass du dich darum kümmern kannst.«
Harrison kneift die Augen zusammen. »Ich will mich nicht um diesen Mist kümmern.«
»Dann ist es ja gut, dass nicht du, sondern ich darüber entscheide.« Ich lasse die alte Akte los, und sie landet mit einem dumpfen Aufprall zwischen uns. »Du kannst jetzt gehen. Falls ich in deinem Bericht Fehler finde, werde ich dich darüber informieren.«
Mein Bruder greift nach der Aktenmappe.
»Hältst du dich tatsächlich für so mächtig, großer Bruder? Du weiß ja, was man sagt: Hochmut kommt vor dem Fall …« Er grinst und lacht. »Ich werde mir eine Tüte Popcorn besorgen und mich auf die Explosion vorbereiten, die kommen wird, wenn Mutter herausfindet, dass Whitney Gable doch nicht für immer aus der Stadt verschwunden ist. Ich hoffe, dass die Rückkehr deiner Schlampe bei ihr keinen Herzinfarkt auslöst.«