17. KAPITEL
Whitney
Die Vergangenheit
»Wohin gehen wir?«
»Lass die Augen zu.«
Es war ein Wunder, dass ich mich auf die Augenbinde eingelassen hatte, und vermutlich ein Zeichen dafür, dass ich an meinem gesunden Menschenverstand hätte zweifeln sollen. Doch Lincoln hatte eine Überraschung, und er überredete mich, mich darauf einzulassen, während er mir meinen Orgasmus vorenthielt. Im Bett spielt er unfair.
Wegen der Stoffbinde vor meinen Augen war alles dunkel, und ich hatte schreckliche Angst, dass uns jemand zusammen sehen könnte, auch wenn er versprochen hatte, er würde aufpassen, dass das nicht passierte. Er schien nicht zu begreifen, was für eine unfassbare Katastrophe es wäre, wenn man uns erwischen würde. Ich konnte mir nicht mal vorstellen, wie wir mit den Konsequenzen zurechtkommen sollten. Vielleicht hatte er diesbezüglich eine andere Einstellung, weil er es im Gegensatz zu mir gewohnt war, Macht zu haben. Wie dem auch sei, ich konnte es nicht riskieren.
»Okay. Jetzt darfst du gucken.«
Ich zog mir die Augenbinde vom Gesicht und stellte fest, dass wir von grünen Wänden umgeben waren. »Wo sind wir?«
»Im Labyrinth.«
Ich schaute ihn an, als ob er verrückt geworden wäre. »Was für ein Labyrinth? Wo sind wir?«
»Hinter dem Gables
. Hier habe ich früher als Kind immer gespielt. Ich war …«
»Du hast mich ins Gables
gebracht?« Ich bedeckte meinen Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Sehr viel leiser fragte ich: »Warum hast du das getan?«
Die Aufregung wich aus seinen Zügen. »Weil du nicht erlaubst, dass ich dich mal richtig ausführe, und so sehr ich es auch liebe, im Bett zu bleiben und die ganze Zeit Sex mit dir zu haben, hast du etwas Besseres verdient.«
Diese Worte trafen mich heftig an einer Stelle, die ich bislang mit einer Rüstung gegen ihn abgeschirmt hatte.
»So etwas kannst du nicht zu mir sagen«, flüsterte ich und wandte mich ab.
Lincoln hob mein Kinn mit den Fingern an. »Das kann ich, und das werde ich. Wir sind beide besser als das hier.«
»Ich kann nicht …«
»Ich weiß. Und deswegen sind wir hier. Sofern heute Abend keine Gartenparty stattfindet, sollte niemand im Labyrinth sein. Das geht schon in Ordnung. Wir sind sicher.«
Ich wollte ihm glauben, aber er konnte meine Bedenken nicht völlig zerstreuen. Dennoch: Wenn er mich so anschaute, als wäre er der Meinung, dass ich so viel mehr wert war, als ich mir je vorstellen konnte, empfand ich Dinge, die ich nicht empfinden sollte. Außerdem führte es dazu, dass ich ihn machen ließ, was immer er wollte.
»Schön.« Ich gab nach und beugte mich vor, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu drücken. »Du hast gewonnen.«
Lincolns Lächeln schien die ganze Welt zu erhellen. »Wenn nur ein Garten nötig ist, der locker eine Million gekostet hat, um dich dazu zu bringen, mich außerhalb der Hütte zu küssen, werde ich dich von nun an jeden Tag herbringen.«
Anstatt mich auf seine süßen Worte zu konzentrieren, fragte ich ihn: »Eine Million Dollar? Ist das dein Ernst?«
Er zuckte mit den Schultern. »So in etwa. Meine Urgroßmutter hat ein bisschen übertrieben, als sie ihn erweitern ließ.«
So viel Geld konnte ich mir nicht mal vorstellen. Und mir war auch nicht klar, wie Lincoln so unbekümmert darüber reden konnte. Das war eine Sache, die uns immer trennen würde wie eine undurchdringliche Wand.
Ich war pleite. Er war stinkreich.
»Komm schon. Ich habe dich nicht hergebracht, damit wir nur hier herumstehen. Wir werden ein Spiel spielen.« Sein Lächeln verwandelte sich in ein schelmisches Grinsen, dem ich, das war mir klar, nicht würde widerstehen können.
Warum bin ich so schwach, wenn es um ihn geht?
Ich beschloss, dass mir das in diesem Moment egal war. Ich wollte einfach nur, dass sein Gesicht diesen Ausdruck behielt.
»Was für ein Spiel?«
»Ich werde dir einen Vorsprung geben, um die Mitte zu finden, und du wirst mir Hinweise darauf hinterlassen, in welche Richtung du gelaufen bist.«
»Hinweise.«
»In Form von Kleidung.«
Ich zuckte zurück. »Oh, auf gar keinen Fall. Das kannst du vergessen.«
»Das sagst du immer … Aber irgendwann überlegst du es dir dann doch anders.«
Er nahm meine Hand, doch ich riss mich los und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Dieses Mal nicht, reicher Junge. Wenn du dieses Spiel spielen willst, musst du dich ausziehen.«
Lincolns Grinsen wurde breiter. »Meinetwegen. Aber wenn du mich nackt findest, werde ich nichts dafür können, was dann passiert.«
Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit begann ich ein aufgeregtes Flattern in mir zu spüren, obwohl ich objektiv betrachtet wusste, dass das eine furchtbare Idee war.
Unentschlossenheit quälte mich, und Lincoln, der mich viel zu gut durchschaute, musste es bemerkt haben.
»Gib mir zwei Minuten Vorsprung. Und wag es ja nicht, mich hier allein zu lassen, Blue.« Er zog mich an sich und küsste mich leidenschaftlich.
Ich schluckte und hegte immer noch Zweifel an dieser Idee, wiederholte aber seine Worte. »Zwei Minuten Vorsprung.«
»Nur damit du es weißt, mit dir habe ich so viel Spaß wie noch nie zuvor in meinem Leben.«
Bevor ich etwas erwidern oder seine Worte überhaupt richtig begreifen konnte, verschwand er im Labyrinth.
Sobald er außer Sichtweite war, kehrten meine Bedenken schlagartig zurück.
Das hier ist der beste schlechteste Plan aller Zeiten. Man wird uns erwischen. Und Lincoln wird dann nackt sein.
Und doch zählte ich bis hundertzwanzig und lief dann in die Richtung, in die er verschwunden war. Nach fünfzehn Metern kam ich an eine Gabelung.
Mist. Welche Richtung soll ich einschlagen?
Ich schaute mir beide Wege genau an und entdeckte auf einem einen Schuh. Meine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als ich mir vorstellte, wie Lincoln ihn für mich fallen gelassen hatte.
Vielleicht könnte das doch Spaß machen.
Ich lief zu dem Schuh, hob ihn auf und rannte aufgeregt weiter durch den Korridor aus Hecken, um an eine weitere Gabelung zu gelangen. Als ich die nächste erreichte, entdeckte ich den zweiten Schuh. Und dann eine Socke. Eine zweite Socke.
Dann sein Hemd.
Jetzt wird es interessant.
Mein Mann trug normalerweise keine Unterwäsche, also war nun vermutlich nicht mehr viel Kleidung übrig.
Ich erstarrte mitten in der Bewegung.
Mein Mann?
Was zum Teufel war denn jetzt los?
Ähm. Nein. Er ist nicht mein Mann. Er ist eine Affäre. Mehr nicht. Das ist alles. Ich tröste mich mit ihm nur über meine Trennung hinweg. Auch wenn es eine verbotene Affäre ist.
Noch während ich mir das einredete, wusste ich, dass ich log.
Lincoln Riscoff hatte aus mir bereits eine Süchtige gemacht, und ich war gefährlich nah dran, Dinge für ihn zu empfinden, die ich nicht empfinden durfte. Er hatte mich mit einem Bann belegt … Ansonsten hätte ich in diesem Moment sicher nicht in diesem Labyrinth auf dem Grundstück des Gables
gestanden. Bevor ich genauer darüber nachdenken konnte, hörte ich ein Flüstern.
»Blue, mir wird hier drüben langsam kalt.«
Ich drehte den Kopf ruckartig nach rechts, und jegliche Gedanken traten in den Hintergrund. Ich wusste nur noch, dass Lincoln nackt und nicht weit entfernt war.
Ich verschwendete keine Zeit und ging auf die Hose zu, die auf dem Boden lag. Doch bevor ich danach greifen konnte, schlang Lincoln die Arme von hinten um mich und hob mich hoch. Ich stieß ein Lachen aus, während ich die Kleidung und die Schuhe, die ich eingesammelt hatte, aufs Gras fallen ließ.
»Warst du ein wenig zu begierig darauf, mich zu finden?«
»Du bist derjenige, der nackt ist, oder?«
Ich spürte seinen heißen Atem an meinem Ohr. »Ist das alles, was du von mir willst? Meinen Körper? Schäm dich. Du weißt, dass ich mehr als das bin.«
Das wusste ich tatsächlich, und genau das war das Problem.
Ich schluckte und drehte mich in seinen Armen herum. »Ich will dich ganz sicher nicht wegen deines Namens oder deines Geldes.«
Einmal mehr gelang es mir, dem Augenblick die Leichtigkeit zu nehmen. Lincolns Miene verfinsterte sich, jedoch nicht vor Wut.
»Das ist eine deiner Eigenschaften, die ich am liebsten an dir mag.«
Er presste seinen Mund auf meinen und verschlang mich. Ich verlor jegliches Zeitgefühl und hatte keine Ahnung, wie lange wir uns küssten, während er nackt mit mir in diesem Labyrinth stand. Meine Hände waren überall und strichen über seine festen Muskeln. Schließlich umfasste ich seine Schultern.
»Ich will dich«, flüsterte ich.
»Wer ist da?«, rief ein Mann.
Wir erstarrten. Ich versuchte, mich aus Lincolns Umarmung zu lösen, doch er hielt mich fest.
»Lincoln Riscoff. Wer will das wissen?« Er sprach seinen Namen so selbstbewusst aus, dass niemand daran Zweifel haben konnte.
Ich zerrte fester, und er ließ mich endlich los, als jemand um die Ecke der letzten Hecke kam, die zur Mitte des Labyrinths führte. Ich duckte mich hinter Lincolns Rücken.
»Tut mir leid, Sir. Ich hatte nicht erwartet, dass Sie hier sind … Ich mache mich dann mal auf den Weg.«
Ich erkannte die Stimme. Sie gehörte einem Kerl, mit dem meine Tante Jackie hin und wieder ausging. Er war hier der Hausmeister. Mist.
»Und Sie werden das hier niemandem gegenüber erwähnen, richtig?«
»Nein, Sir. Natürlich nicht, Sir.«
Ich konnte mir vorstellen, wie er verstohlen über Lincolns Schulter lugte, um herauszufinden, wer sich bei ihm befand, also riskierte ich keinen Blick.
Wir hörten, wie er davonschlurfte, und ich blieb in Deckung, bis sich Lincoln umdrehte. Sofort trat ich zurück, griff nach dem Haufen Kleidung und warf sie ihm zu.
»Wir müssen von hier verschwinden. Sofort. Wir können nicht …«
Lincoln zog seine Hose an, packte mein Handgelenk und zog mich wieder in seine Arme. »Keine Panik. Es ist alles in Ordnung. Er wird kein Wort davon erwähnen. Er weiß, dass er seinen Job verliert, falls er es doch tut.«
»Aber …«
»Whitney, hör auf.« Normalerweise benutzte Lincoln meinen Namen nicht, daher schenkte ich ihm sofort meine ganze Aufmerksamkeit. »Ich werde nicht zulassen, dass jemand das mit uns herausfindet. Dir wird nichts Schlimmes passieren, nur weil wir zusammen sind. Versprochen.«
Sein Blick verriet mir, dass er es ernst meinte, aber in diesem Fall war ich nicht bereit, auf seine Zuversicht zu vertrauen.
»Das kannst du nicht versprechen. Wir beide wissen, dass das kein gutes Ende nehmen wird. Das kann es nicht.«
Seine Miene verfinsterte sich. »Wir entscheiden, wie diese Sache endet. Wir allein. Und wenn du mir nicht jetzt sofort sagst, dass ich dir nichts bedeute, werde ich dich nicht gehen lassen.«
Ich öffnete den Mund, um die Worte auszusprechen, die mich von diesem Irrsinn befreien und mich vor der Selbstzerstörung bewahren würden, doch nichts kam heraus. Die Vorstellung, ihn nie wieder zu sehen, rief bei mir Übelkeit hervor.
»Du kannst es nicht sagen. Ich weiß, dass du es nicht kannst, selbst wenn du es gern würdest. Ich sehe dich, Whitney. Ich sehe dich so klar und deutlich, dass ich nie wieder jemand anders anschauen will. Verstehst du, was ich damit sagen will?«
Ich ließ den Kopf sinken, um meine Stirn gegen seine nackte Brust zu pressen und den Pinien-Zitrus-Duft seiner Haut einzuatmen. »Ich habe Angst.«
Er legte die Arme um mich und drückte mich so fest an seinen starken Körper, dass ich tatsächlich glaubte, er könnte mich vor der Welt beschützen.
»Du musst keine Angst haben, Blue. Du hast doch mich.«