26. KAPITEL
Whitney
Ich weiß nicht, wo ich hinfahren soll. Ich will die Aura des Verderbens, die mich umgibt, nicht mit in Tante Jackies Haus tragen.
Herrgott, was ist, wenn Mrs Riscoff stirbt? Dann wird Tante Jackie mit Sicherheit ihren Job verlieren.
Es ist zwar nicht so, dass ein Job über Leben und Tod entscheidet, aber wenn das Gables Tante Jackie feuert, wird sie vermutlich an einen anderen Ort ziehen müssen. Wie sie schon sagte: Die Riscoffs besitzen so gut wie alles und vergeben den Großteil der Jobs in dieser Stadt.
Ich hätte niemals zurückkehren sollen.
Und warum habe ich zugelassen, dass er mich küsst?
Mein Leben wird nur noch komplizierter werden, wenn zu dem ganzen Chaos auch noch Lincoln Riscoff hinzukommt, und das kann ich wirklich nicht gebrauchen. Ich bin gerade mal seit ein paar Tagen hier, und alles bricht in sich zusammen.
Ich will das nicht noch mal durchmachen müssen. Das Tuscheln. Die Leute, die über mich reden, wo immer ich auch hingehe. Ich habe Gable verlassen, damit das ein Ende hat, und aus dem gleichen Grund bin ich auch aus L. A. geflohen.
Es spielt keine Rolle, wohin ich gehe – ich bin verflucht.
Ich lenke das Auto in die einzige Richtung, die mir einigermaßen möglich erscheint. Ich kenne nur eine Person, die mir vermutlich eine Auszeichnung überreichen würde, wenn mein bloßer Anblick für Sylvia Riscoffs Tod gesorgt hätte.
Mein Großonkel Magnus.
Seine Hütte ist eher ein maroder Schuppen, der an der Seite der Schlucht hängt, die zum Fluss hinunterführt. Ich habe keine Ahnung, wie es ihm gelingt, die klapprigen Stufen zu bewältigen, die sich zum Wasser hinunterwinden, da er keinen schicken hydraulischen Stuhl an einer Schiene hat wie das Haus nebenan. Aber die Angelrute auf der Plattform unterhalb von mir verrät, dass er kürzlich dort gewesen ist.
Ich klopfe an die verwitterte Holztür und werde vom Geräusch eines Schrotflintenhahns begrüßt, der gespannt wird.
»Wer ist da?«
Magnus war schon immer ein verschrobener alter Mann, und das hat sich nicht geändert.
»Hier ist Whitney. Deine Großnichte.«
Es poltert ein paarmal. Dann zieht er die Tür auf. »Ich weiß, wer zum Teufel du bist. Wurde aber auch Zeit, dass du mal wieder auftauchst, um deiner älteren Verwandtschaft Respekt zu erweisen.«
»Ich glaube, ich habe vielleicht Sylvia Riscoff umgebracht.«
Er reißt die wässrigen blauen Augen auf. »Wurde aber auch verdammt noch mal Zeit, dass das jemand erledigt.« Er nickt mit seinem kahlen Kopf in Richtung des Inneren der Hütte. »Komm rein. Ich habe noch etwas selbst gebrannten Schnaps, der sehr gut zu dieser Geschichte passen wird.«
Ich betrete die Hütte und bahne mir vorsichtig einen Weg über die unebenen Bodenbretter. Für einen so alten Mann bewegt er sich mit mehr Elan, als ich erwartet hätte. Tatsächlich scheint er noch genauso agil wie vor zehn Jahren zu sein.
Er holt ein Einmachglas von der Theke und geht auf die hintere Veranda hinaus. »Ich habe gehört, dass deine Schwiegertochter heute beinahe ins Gras gebissen hätte, Kommodore!«
Du meine Güte. Kommodore Riscoff wohnt nebenan?
Ich weiß nicht, seit wann das so ist, aber das ist das Schlimmste, was ich mir für diese beiden Männer vorstellen kann. Als ich Gable verließ, wohnte der Kommodore noch auf dem Riscoff-Anwesen. Doch weder er noch Magnus lassen sich je eine Gelegenheit entgehen, den anderen zu provozieren und die Fehde aufrechtzuerhalten.
Wie die Sache mit dem brennenden Lappen, der in den Benzintank des schicken Mercedes des Kommodores gestopft worden war. Das geschah, kurz bevor ich die Stadt verließ. Allen Augenzeugen zufolge explodierte das Auto genau wie im Film. Natürlich hatte niemand wirklich gesehen , dass Magnus es getan hatte – zumindest war keiner bereit, das zuzugeben. Trotzdem hatte ich nicht den geringsten Zweifel daran, dass mein Großonkel dahintersteckte.
»Was zum Teufel sagst du da, Gable?«
Wider besseres Wissen trete ich hinter Magnus auf die Veranda hinaus und habe sofort Angst um mein Leben. Das Geländer ist kaum richtig befestigt, und ansonsten gibt es nichts, was mich davor bewahren würde, in das rauschende Wasser des Flusses tief unter mir zu stürzen.
Ich bleibe in der Mitte stehen und drehe mich nach links. Ein weißhaariger, alter Mann auf einem modern wirkenden Rollstuhl sitzt auf einer deutlich prunkvolleren Veranda und zielt mit einer Schrotflinte auf mich.
»Oh mein Gott.« Ich gehe hinter Magnus in Deckung, der mit einem Arm wedelt.
»Schieß nicht auf meine Großnichte. Wenn du das tust, werde ich dich wirklich töten.«
Ich werfe einen vorsichtigen Blick über Magnus’ Schulter, und der Kommodore lässt das Gewehr auf seinen Schoß sinken.
»Haben Sie Sylvia endlich umgebracht, Mädchen?«
Ich schüttle den Kopf, doch dann wird mir klar, dass seine Augen vermutlich nicht mehr so gut sind, um es auf die Entfernung erkennen zu können.
»Man hat sie ins Krankenhaus gebracht. Sie hatte Schmerzen in der Brust. Ich weiß nicht, was passiert ist.«
Die Brust des alten Mannes bebt, als er laut auflacht. »Es sind immer Schmerzen in der Brust. Merken Sie sich meine Worte: Sie wird aus Boshaftigkeit sterben, wenn sie älter als ich ist.«
Ich weiß nicht, wie alt Kommodore Riscoff ist, aber ich glaube, dass er meinem alten Großonkel Magnus ein paar Jahre voraus hat.
»Vermutlich sollte ich besser mal bei meiner Familie anrufen, um zu erfahren, was es Neues gibt.« Er starrt mich durchdringend an, und mir kommt der Gedanke, dass ich mich in Bezug auf seine Sehkraft getäuscht haben könnte. »Halten Sie sich von meinem Enkel fern. Haben Sie gehört? Er wird der Familie einen Erben schenken, und durch die Adern dieses Jungen wird nicht ein Tropfen Gable-Blut fließen.«
Während Magnus ein paar ausgewählte Beleidigungen brüllt, fährt der Kommodore mit seinem Rollstuhl ins Haus. Begleitet wird er dabei von einem Hund, der neben ihm hertrottet.
Ich drehe mich und will wieder in die Hütte gehen, doch Magnus lässt sich auf der Veranda nieder. »Achte darauf, dass du nichts sagst, was dieser alte Mistkerl nicht hören soll. Selbst wenn er in seinem Haus hockt, ist er wie ein Falke.«
»Sollten wir dann nicht lieber reingehen?«
Magnus schüttelt den Kopf. »Nein. Ich weiß nicht, wie viele Jahre mir noch bleiben, aber ich werde so viel Zeit wie möglich draußen verbringen und diese Aussicht genießen.«
Ich werfe einen Blick auf die kleinen Dellen in der abblätternden Farbe der Holzwand. »Stammen die von Schrotkugeln?«
Magnus nickt, und der Ausdruck auf seinem Gesicht erinnert beinahe an ein Grinsen. »Wir sorgen hier gerne für etwas Abwechslung. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass wir uns so sehr langweilen würden, dass es keinen Grund zum Leben mehr gäbe.«
Ich betrachte ihn auf der Suche nach Spuren von Verletzungen und entdecke ein paar Stellen mit Schorf an seinen Armen. »Ihr zielt doch nicht etwa aufeinander … oder?«
Er zuckt mit den Schultern und ignoriert meine Frage. »Erzähl mir von diesem neuen Spektakel, das du veranstaltet hast.« Er trinkt einen Schluck von dem selbst gebrannten Schnaps und hält mir das Glas hin. »Denn mir scheint, dass das in letzter Zeit deine Spezialität ist.«
Fast hätte ich das Angebot abgelehnt, aber es war ein harter Tag. Ich umfasse das Einmachglas mit beiden Händen und nehme einen winzigen Schluck von dem hausgemachten Gebräu. Sofort bereue ich die Entscheidung, denn mein Mund fängt Feuer, und das Brennen breitet sich in meiner Kehle und bis in meinen Bauch aus. »Herrgott.« Ich huste, und Magnus nimmt mir das Glas ab, bevor ich etwas von dem Inhalt verschütte.
»Erzähl mir nicht, dass dich das Leben in dieser Stadt verweichlicht hat.«
Ich huste heftig, bis die Flammen in meinem Mund endlich verlöschen und ich nur noch den Geschmack von Benzin auf der Zunge habe. »Wie kannst du das trinken?«
Magnus zuckt erneut mit den Schultern und trinkt einen Schluck, der ausreichen würde, um mich ohnmächtig werden zu lassen. Er schnalzt jedoch nur mit den Lippen, als er fertig ist, so als wäre das Zeug köstlich. Ist er vielleicht wirklich verrückt?
»Wir reden hier nicht von mir, Kleine. Ich will alles wissen. Ich gehe davon aus, dass du hergekommen bist, weil du jemanden brauchst, der dir ein freundliches Ohr leiht, und ich bin bereit, jedes schmutzige Detail zu erfahren.«
Ich senke den Kopf und kneife mir mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken. »Ich habe noch nicht mal etwas gemacht. Ich muss nur existieren, um bei ihr eine Herzattacke auszulösen.«
»Das scheint dann wohl eher ihr als dein Problem zu sein, wenn mein seniles Hirn mich nicht täuscht.« Magnus trinkt einen weiteren Schluck.
»Es könnte aber auch zu Jackies Problem werden, wenn sie deswegen gefeuert wird.«
Magnus hebt und senkt die Schultern, worin schon immer die Hälfte seiner Kommunikation bestanden hat. »Jackie wird auf den Füßen landen. Sie ist klug. Sie ist eine Gable.«
»In dieser Stadt scheint das seit jeher eine Bürde zu sein.«
»Vielleicht in Sylvia Riscoffs Augen, aber diese alte Schreckschraube hasst alles und jeden. Warum ist dir ihre Meinung überhaupt so wichtig? Du hast ihr den größten Schlag ins Gesicht verpasst, als du ihren Sohn vor Gott und allen Anwesenden in der Kirche zurückgewiesen hast. Das war übrigens einer der unterhaltsamsten Tage meines Lebens, wenn ich das hinzufügen darf.«
Warum ist es mir so wichtig, was Mrs Riscoff von mir hält? Ach ja, richtig, wegen meiner Schuldgefühle.
»Aber …«
Magnus hebt eine Hand. »Ich weiß, was du sagen willst, aber nichts von dem, was vor einem Jahrzehnt passierte, war deine Schuld. Du hattest nichts mit diesem Chaos zu tun, also, warum willst du immer noch die Verantwortung dafür übernehmen?«
Der alte Mann steckt voller Fragen, für deren Beantwortung ich heute nicht bereit bin. »Ich weiß es nicht.« Ich stoße einen langen Atemzug aus. »Ich habe mich so lange daran festgeklammert, dass ich nicht weiß, wie ich loslassen soll.«
»Nein, du bist so lange davongelaufen, dass du nicht weiß, wie du stehen bleiben sollst. Vielleicht solltest du es mal versuchen und herausfinden, wie es ist, einfach nur zu sein
Während er einen weiteren Schluck Schnaps hinunterkippt, frage ich mich, wie viel er heute bereits getrunken hat und ob ich seinen Rat annehmen sollte. Andererseits ist er gegen die Auswirkungen mittlerweile wahrscheinlich immun.
Ich blicke auf die Schlucht hinaus. Gott, ich habe diese Aussicht vermisst. Aber das spielt jetzt keine Rolle.
»Sylvia wird niemals zulassen, dass ich in Gable einfach nur sein kann. Sie wird mich aus der Stadt vertreiben, selbst wenn es das Letzte ist, was sie tut.«
Magnus wirft einen Blick über die Schulter zu dem Haus, das etwa dreißig Meter entfernt steht. »Dann ist es ja gut, dass Sylvia nicht diejenige ist, deren Meinung in dieser Familie zählt.«
»Als würde sich der Kommodore je auf die Seite eines Mitglieds unserer Familie stellen. Ihr zwei schießt aufeinander
»Täglich. So bleiben wir beide wachsam. Aber er hat Einfluss auf Sylvia, oder vielleicht sollte ich besser sagen, dass er ihre Geldbörse unter Kontrolle hat.«
Ich kann sein Argument nicht ganz nachvollziehen. »Und was genau willst du damit andeuten?«
»Reiß dich zusammen, lass dich nicht unterkriegen und lass nicht zu, dass Sylvia Riscoff über deine Zukunft entscheidet.« Er neigt den Kopf nach rechts und sieht mich eindringlich an. »Man weiß nie, was passieren kann.«