34. KAPITEL
Whitney
Die Vergangenheit
»Ich kann nicht glauben, dass ich mich von dir dazu habe überreden lassen. Alle starren mich an.« Ich flüsterte die Worte und war mir sicher, dass Lincoln mich inmitten der empörten Keuchlaute um uns herum kaum verstehen konnte.
»Ignorier sie. Tu einfach so, als wären sie nicht da.«
Er hatte leicht reden. Lincoln hatte sich vermutlich in seinem ganzen Leben noch nie fehl am Platz gefühlt. Er betrat das Table
, als würde es ihm gehören.
Oh, Moment, so war es ja auch. Zumindest gehörte es seiner Familie. Es war das schickste Restaurant der Stadt und befand sich im Gables
.
Ich muss verrückt gewesen sein, als ich mich darauf eingelassen habe.
Ich zog mein bestes Kleid noch weiter nach unten, um meine Oberschenkel zu bedecken. Mir war nicht klar gewesen, dass es ein wenig kürzer als beim letzten Mal war, als ich es getragen hatte – bei meinem Abschlussball, für den Ricky nach Hause gekommen und zwei Stunden geblieben war, bevor er wieder abgehauen war.
Ich hatte es Lincoln noch nicht erzählt, aber Ricky rief mich ständig an und schickte mir eine Textnachricht nach der anderen. Er hatte mir sogar einen Brief mit einem Liebeslied geschickt, das er geschrieben hatte. Aber Ricky war selbst in seinen besten Phasen nur ein mittelmäßiger Liedtexter, und ich konnte mich nicht davon abhalten, den Refrain, die Überleitung und zweieinhalb der drei Strophen umzuschreiben, bevor ich es ihm zurückschickte.
Er würde es vermutlich aufnehmen und damit tonnenweise Geld scheffeln. Genau wie er es mit der Single gemacht hatte, die momentan im Radio lief. Niemand wusste, dass ich den Text für dieses Lied geschrieben hatte.
Ein Kellner in schwarzem Anzug und weißem Hemd trat an unseren Tisch. »Was darf ich Ihnen heute Abend bringen, Sir?«
Lincoln nannte ihm den Namen eines Weins, von dem ich noch nie gehört hatte, was nicht weiter überraschend war, weil ich nur Wein trank, der sich in Flaschen mit Schraubverschluss befand und wie Früchtepunsch schmeckte. Der Mann nickte und ging davon.
»Das Steak ist toll. Der Fisch ist frisch. Damit kann man wirklich nichts falsch machen.«
Der Drang davonzulaufen war so stark, dass mein ganzer Körper bebte. »Ich gehöre hier nicht her. Wir sollten im Cocko Taco
oder im Sub Shack
sein.«
Meine Finger zitterten, als ich nach meinem Wasserglas greifen wollte, und Lincoln umfasste meine Hand, bevor ich es erreichen konnte.
»Du bist besser als das.«
Und damit lag er falsch. Ich war nicht besser als das. An diesen Orten war nichts verkehrt. Sie waren nur nicht so teuer und schick, und sie waren nicht Teil einer Welt, in der ich mich niemals wohlfühlen würde.
Aber das konnte ich Lincoln nicht sagen. Vor allem nicht hier in diesem Moment. Aus den Augenwinkeln sah ich eine Frau, die mehr Diamanten um den Hals trug, als ich je im Leben gesehen hatte. Sie hatte das Gesicht zu einer Miene verzogen, als hätte sie etwas Verdorbenes gerochen.
Bevor ich irgendwas erwidern konnte, kehrte der Kellner mit der Weinflasche zurück. Er und Lincoln vollzogen ein affektiertes Ritual, das aus Riechen und Probieren bestand und vollkommen lächerlich wirkte.
Als der Mann eine kleine Menge in mein Glas goss, starrte ich es an wie ein fremdes Objekt. »Ich bin mir sicher, dass der Wein in Ordnung ist. Danke.«
Er nickte mir schweigend zu und ließ uns wieder allein.
»Ich habe keine Ahnung von Wein«, platzte es aus mir heraus.
»Und du denkst, dass mir so etwas wichtig ist?«
»Ich werde dich blamieren.« Ich warf einen Blick auf das ganze Besteck, das um den Teller herum aufgereiht war. »Ich weiß nicht, wofür man die Hälfte davon benutzt. Ich esse für gewöhnlich mit einem Messer, einer Gabel und einem Löffel. Ich kann nicht …« Bevor ich den Satz beenden konnte, trat ein weiterer Mann an unseren Tisch, und ich klappte den Mund so schnell zu, dass meine Zähne aufeinanderschlugen.
»Mr Riscoff, es ist uns eine Freude, Sie an diesem Abend begrüßen zu dürfen, Sir. Die Küche wurde über Ihren Besuch informiert, und all Ihre bevorzugten Gerichte, die nicht auf der Karte stehen, werden gerade vorbereitet für den Fall, dass Sie eines davon auswählen möchten.« Er schaute mich an. »Und auch Ihnen ein herzliches Willkommen, Ms …«
»Gable. Whitney Gable.« Als Lincoln mich vorstellte, schien es, als würden alle Anwesenden gleichzeitig verstummen, sodass mein Name in dem riesigen Raum mit den goldfarbenen Tapeten widerhallte.
Wenn uns nicht ohnehin schon alle im Restaurant beobachtet hätten, würden sie es jetzt ganz sicher tun.
Der Mann zog die dunklen Augenbrauen bis zu seinem zurückgehenden Haaransatz hoch und räusperte sich. »Willkommen, Ms Gable. Ich hoffe, dass die Küche des Table
an diesem Abend Ihren Gefallen findet.«
»Ich bin mir sicher, dass das Essen ein Traum sein wird«, sagte ich und griff nach meinem Wein.
Offenbar war der Traum eher ein Albtraum, denn ich griff daneben und stieß das Glas um. Während der Rotwein die blütenweiße Tischdecke befleckte, sprang ich vom Stuhl auf.
»Oh mein Gott, das tut mir so leid.« Ich tupfte mit meiner Serviette an dem Fleck herum und wand mich vor Verlegenheit.
»Blue, hör auf. Das ist schon in Ordnung. Man wird uns eine neue Tischdecke und neuen Wein bringen. Setz dich einfach wieder.«
Lincolns Lächeln wirkte aufrichtig, aber meine Wangen brannten vor Scham. Das war eine absolute Katastrophe.
»Ich muss mal auf die Toilette. Entschuldige mich.«
Ich eilte vom Tisch weg, ohne Ausschau nach den Toilettenräumen zu halten. Stattdessen hielt ich direkt auf den Eingang zu.
»Ich kann das nicht. Ich kann das nicht.« Ich wiederholte diesen Satz immer und immer wieder, während ich blind ins Hotel lief. Mein einziges Ziel bestand darin, ein Versteck zu finden.
Als ich eine Reihe von Wandnischen entdeckte, die offenbar dafür gedacht waren, darin ungestört Telefonate zu führen, verkroch ich mich in einer von ihnen. Ich schlang die Arme um meine Taille, atmete mehrmals tief ein und versuchte, nicht zu weinen, während ich mich auf meinen billigen Stöckelschuhen hin und her wiegte. Ich war nicht mal in der Lage gewesen, Lincoln ins Gesicht zu sehen, bevor ich davongelaufen war. Ich war mir sicher, dass er seine Entscheidung, mich heute Abend hierherzubringen, bereute.
Warum war er nur der Meinung gewesen, dass ausgerechnet dieses Restaurant ein guter Ort für unsere erste gemeinsame Verabredung in der Öffentlichkeit sein würde? Was wäre so falsch daran gewesen, eine Nummer kleiner anzufangen?
Andererseits war es ihm vermutlich gar nicht in den Sinn gekommen, einen anderen Ort als das beste Restaurant der Stadt zu wählen. Wahrscheinlich hatte er vorgehabt, mich zu beeindrucken. Ihm war sicher nicht klar, dass ich mit einem Picknick im Gartenlabyrinth, wo uns niemand stören würde und wir uns keine Gedanken wegen neugieriger Blicke und getuschelter Bemerkungen machen müssten, deutlich glücklicher gewesen wäre.
»Wo willst du hin?«
Die strenge Stimme eines Mannes riss mich aus meinen Gedanken, und einen Augenblick dachte ich, dass er mit mir redete. Ich lugte um die Ecke und sah, wie er eine Frau am Arm packte.
Zu meinem Entsetzen waren es nicht irgendein Mann und irgendeine Frau. Es waren Roosevelt und Sylvia Riscoff, Lincolns Eltern.
Mrs Riscoff versuchte, sich aus dem Griff ihres Mannes zu befreien. »Ich will diesem Irrsinn ein Ende bereiten! Unser Sohn befindet sich mit diesem Gable-Flittchen im Table
, und das werde ich nicht dulden.«
»Und was genau hast du vor? Willst du ihm in aller Öffentlichkeit eine Szene machen? Komm mit.«
Ich zog den Kopf zurück und ließ meine Haare vor mein Gesicht fallen, während er sie in die Nische nebenan zerrte.
Kann dieser Abend noch schlimmer werden?
Sobald mir die Frage in den Sinn kam, wusste ich, dass die Antwort definitiv Ja lautete.
»Ich weigere mich zuzulassen, dass er uns auf diese Weise demütigt.«
»Wenn du denkst, dass es irgendetwas bringen wird, ihn zusammen mit ihr zur Rede zu stellen, bist du verrückt, Sylvia. Damit würdest du nur bewirken, dass er sich noch weiter von dem Weg entfernt, den du für ihn vorgesehen hast.«
»Aber …«
»Er ist jung. Er ist wütend, dass mein Vater ihn nach Hause beordert hat, weil er sich jetzt nicht mehr in der Welt herumtreiben und nach Herzenslust rumvögeln kann. Jetzt sitzt er für den Rest seines Lebens in Gable fest. Verstehst du nicht, dass das seine Art der Rebellion ist? Er mag ein Mann sein, aber er ist auch ein Riscoff. Er nimmt nicht gerne Befehle entgegen. Hör auf, ihn wie ein Kind zu behandeln, und lass ihm diese kleine Affäre.«
»Und was ist, wenn es ihm mit diesem Mädchen ernst ist? Was ist, wenn es mehr als nur eine Affäre ist?«
Roosevelt stieß ein ersticktes freudloses Lachen aus. »Mach dich nicht lächerlich. Der Junge ist nicht dumm. Sie ist verboten. Eine Eroberung. Diese Faszination, die ihn gepackt hat, wird sich schnell wieder verflüchtigen – es sei denn, du machst ihm weiterhin Szenen, die dafür sorgen, dass er sich noch fester an dieses Mädchen klammert. Lass den Jungen für eine Weile sein kleines Flittchen haben. Er wird schon bald die Nase voll von ihr haben und bereit sein, sesshaft zu werden.«
»Wenn er sie schwängert …«
»Darum würde man sich kümmern. Der Kommodore würde das niemals zulassen. Ich werde morgen mit ihm reden. Wenn Lincoln darauf beharrt, seine Entscheidung anzufechten, wird mein Vater ihm klarmachen, dass sein Status als Erbe, der mir nachfolgen würde, aufgehoben wird. Er wird sich schon fügen. Wenn
du ihn in Ruhe lässt.«
Ich konnte den Hass, der von Mrs Riscoff ausging, praktisch spüren, als sie wieder sprach.
»Und in der Zwischenzeit soll ich einfach dabei zusehen, wie er uns demütigt? Dass er den Familiennamen in den Dreck zieht, indem er sich überall mit diesem Gable-Mädchen zeigt?«
Roosevelts Stimme nahm einen scherzhaften Tonfall an. »Keine Sorge. Er wird lernen, es besser zu verbergen, wenn er älter wird.«
Mrs Riscoff schnappte scharf nach Luft, und gleich darauf ertönte ein klatschendes Geräusch. Dann klapperte sie in ihren Stöckelschuhen schnell davon.
Ich war kurz davor, mich in dieser kleinen Nische zu übergeben, und fragte mich, wo der nächste Ausgang war, als die Schritte von Lincolns Vater auf dem Marmorfußboden ertönten – und er direkt vor mir stehen blieb.
»Haben Sie das alles gehört, Kleines?«
Ich schaute auf und erstarrte. Roosevelt starrte mich an. Auf seinem Gesicht lag ein Grinsen, das nicht mal ansatzweise so charmant wie das seines Sohnes war. Jegliche Erwiderung, die ich hätte äußern können, steckte hinter dem Kloß in meinem Hals fest.
»Bilden Sie sich nicht ein, dass Sie sich über Ihren sozialen Stand erheben könnten. Das hat bei keiner Frau aus Ihrer Familie funktioniert, und bei Ihnen wird es auch nicht funktionieren.« Er legte den Kopf schräg. »Aber wenigstens hat mein Sohn einen guten Geschmack.«
Er begaffte meinen Körper, bis sein Blick an meinen nackten Beinen haftete. Ich fühlte mich schmutzig.
»Der Angestellteneingang ist hinten im Gebäude. Sagen Sie einem der Fahrer, dass ich angewiesen habe, Sie nach Hause zu bringen. Wenn Sie heute Abend in dieses Restaurant zurückkehren, werde ich dafür sorgen, dass Sie es bereuen.«
Mit einem selbstgefälligen Lächeln ging er davon und ließ mich vollkommen verunsichert zurück.
Eins wusste ich jedoch mit Sicherheit: Ich würde nicht zurück ins Restaurant gehen.