42. KAPITEL
Whitney
Die Vergangenheit
Kommodore Riscoff ängstigte mich zu Tode, und zwar nicht nur weil er in der Dunkelheit über mir aufragte. Ich hatte ihn noch nie aus solcher Nähe gesehen, was auch nie mein Wunsch gewesen war.
Sein Gesicht war voller Falten, während er auf mich herunterstarrte. Wassertropfen bedeckten seine Regenjacke. »Ich will nicht wissen, was Sie hier machen, nicht wahr, Ms Gable?«
Ich hatte keine Ahnung, warum ich nicht überrascht war, dass er mich kannte. Kommodore Riscoff war in dieser Stadt so etwas wie der Zauberer von Oz. Er wusste alles, und niemand würde seine Position infrage stellen.
Ich antwortete so ehrlich, wie ich konnte. Wenn es um diese Familie ging, hatte ich schließlich nichts mehr zu verlieren. Sie hatten uns bereits die Farm genommen. Und ich hatte die zerfetzten Überreste meines Stolzes auf dem Boden der Hütte zurückgelassen, in der mich Lincoln im Grunde als Flittchen bezeichnet hatte.
»Nein, Sir. Aber ich vermute, dass Sie es trotzdem herausfinden werden.«
Er richtete seine Aufmerksamkeit auf meine nackten Füße. Meine Schuhe hatte ich bei dem Sturz irgendwo im Wald verloren, und ich würde sie jetzt ganz sicher nicht suchen gehen. Sie konnten als Grabmarkierung für den Tod der Beziehung dienen, von der Lincoln und ich gedacht hatten, dass wir sie führen würden.
»Brauchen Sie jemanden, der Sie nach Hause bringt?«
Seine Frage überraschte mich, und auch wenn ich es verneinen wollte, sagte ich die Wahrheit. »Ja, Sir. Eine Mitfahrgelegenheit würde ich zu schätzen wissen. Es ist ein langer Weg durch den Regen.«
Er schaute kurz zur Hütte, die hell erleuchtet war, und auf die lange Einfahrt. Dann presste er die Lippen zusammen, schaute wieder mich an und hielt mir eine Hand hin. »Kommen Sie.«
Ich streckte meine unverletzte Hand aus, und er half mir auf. Schock betäubte den Schmerz, den ich bei dem Gedanken daran, was in der Hütte passiert war, empfand, während mir der Patriarch der Riscoff-Familie in seinen SUV half. Die Hölle musste zugefroren sein. Er schloss die Autotür, und ich zitterte trotz der warmen Sommerluft auf dem Ledersitz.
Der Kommodore stieg auf den Fahrersitz und schaute mich an. »Ihr Dad hat ein Haus auf der anderen Seite der Bahnschienen gekauft, richtig?«
»Ja, Sir.«
Er fuhr mit dem SUV rückwärts auf die Straße und legte dann den Gang ein, um in die Richtung zu fahren, die uns zum Haus meiner Eltern bringen würde. Die ersten paar Minuten schwiegen wir beide, doch dann begann er zu sprechen.
»Wissen Sie, Ms Gable …«
Ich unterbrach ihn, weil ich mir nicht sicher war, ob ich mit dem, was immer er sagen wollte, umgehen konnte. »Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn Sie mir den Vortrag darüber ersparen könnten, dass ich nicht gut genug für Ihren Enkel bin und er für Besseres bestimmt ist und eine Frau bekommen soll, die nicht meinen Nachnamen trägt. Ich hatte eine miese Nacht, und er hat das bereits mehr als deutlich gemacht. Ich habe kein Auge auf Ihren Enkel geworfen. Er ist sicher vor mir.«
Der alte Mann schaute mich erneut an und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf die Straße.
Aus irgendeinem Grund wollte ich, dass er die Wahrheit erfuhr. Ich wollte, dass er wusste, dass ich nicht irgendeine Frau war, die es auf das Geld seines Enkels abgesehen hatte.
»Ich habe ihm gesagt, dass es ein Fehler sei, sobald ich seinen Nachnamen erfahren hatte. Er ist derjenige, der mich dazu gedrängt hat, ihm eine Chance zu geben.«
»Der Junge könnte eine Klapperschlange bezirzen, wenn er es sich in den Kopf setzen würde«, bemerkte der alte Mann, und ich nickte stumm, um meine Zustimmung auszudrücken. »Außerdem ist er ziemlich rebellisch.«
Ich verdrehte die Augen. »Das habe ich gehört. Außerdem habe ich erfahren, dass er mich benutzt hat, um sich an Ihnen zu rächen, weil sie ihn gezwungen haben, nach Hause zurückzukehren. Es war übrigens ziemlich toll, das zu hören.«
»Und von wem haben Sie das gehört?«
»Von Ihrem Sohn und Ihrer Schwiegertochter.« Ich schaute ihn an. »Ich sage das nur ungern, Sir, aber sie sind beide Arschlöcher.«
Anstatt auf die Bremse zu treten und mich aus dem Auto zu werfen, brach er in dröhnendes Gelächter aus. Das tiefe Rumpeln schien direkt aus seinem Bauch zu kommen.
Ich betrachtete sein Profil. Trotz des schneeweißen Haars und des dichten Barts war offensichtlich, von wem Lincoln seine Züge geerbt hatte. Beim Anblick seines Großvaters konnte man sich gut vorstellen, wie Lincoln vermutlich in etwa sechzig Jahren aussehe würde.
»Sie sind kühn, Kleines. Das respektiere ich. Und Sie haben außerdem recht. Mein Sohn ist nicht so in meine Fußstapfen getreten, wie ich es mir gewünscht hätte.«
Ich spürte, dass das nichts war, was er normalerweise sagen würde, aber in der heutigen Nacht war nichts normal. »Was meinen Sie damit?«
»Die Riscoff-Männer sind immer treu gewesen. Wir haben stets nicht nur des Geldes wegen geheiratet, sondern weil uns unsere Partnerinnen zu besseren Männern gemacht haben. Meine Ehefrau war eine gute Frau. Absolut loyal und ebenso klug wie schön. Sie war die Art von Frau, die in einer anderen Zeit jemand gewesen wäre, vor dem man sich am Verhandlungstisch hätte in Acht nehmen müssen. Hauptsächlich deswegen, weil sie so stur war. Sie hat mich auf Trab gehalten. Sie war der Grund, warum ich mich jeden Tag darauf freute aufzuwachen. Das habe ich mir auch für meinen Sohn gewünscht, aber Sylvia entpuppte sich als eine andere Art von Frau.«
»Das klingt so, als wären Lincolns Mom die Dinge, die Sie getan haben, ebenfalls nicht wichtig. Es klingt, als ginge es ihr nur darum, dass ihr Sohn aus Prestigegründen jemanden mit einem guten Namen heiratet.«
Wir näherten uns einem Stoppschild, und der Kommodore fuhr langsamer. Der Blick seiner dunkelbraunen Augen war aufmerksam. »Es geht darum, all diese Eigenschaften in einer Person zu finden – anstatt mehrere Frauen zu benötigen, um sie alle abzudecken. Was das betrifft, hat mein Sohn Fehler gemacht, und ich werde nicht zulassen, dass mein Enkel die gleichen Fehler begeht.«
Er musste das nicht ausführen, um mir begreiflich zu machen, dass ich einer dieser Fehler gewesen wäre.
»Ich bin mir sicher, dass Sie Lincoln nun, da Sie aus diesen Fehlern gelernt haben, sehr viel besser nach Ihren Vorstellungen werden formen können.«
Statt über die Kreuzung zu fahren, stellte er mir eine weitere Frage. »Werden Sie das ebenfalls tun, Whitney Gable? Aus Ihren Fehlern lernen?«
Ich wandte den Kopf, um aus dem Fenster zu schauen, damit er nicht die Tränen sah, die in meinen Augen brannten. »Ich werde es ganz sicher versuchen.«
Endlich trat er aufs Gas, und wir bogen ab. »Sie hätten einen harten Kampf führen müssen, wenn Sie versucht hätten, sich auf eine richtige Beziehung mit ihm einzulassen. Alle wären gegen Sie gewesen. Seine Familie. Ihre Familie.«
»Geht es im Leben nicht darum? Dass man harte Kämpfe führt, wenn eine Sache es wert ist? Und worum lohnt es sich mehr zu kämpfen als um die Beziehung zu dem Menschen, der jeden Tag dafür sorgt, dass man sich darauf freut aufzuwachen?«
»Sie klingen, als wären Sie ein kluges Mädchen, obwohl Sie einige fragwürdige Entscheidungen getroffen haben.«
»Haben wir das nicht alle?«
»In der Tat, das haben wir, Ms Gable.«
Den Rest der Fahrt legten wir schweigend zurück, hauptsächlich deswegen, weil es wirklich nicht mehr zu sagen gab.
Als der Kommodore vor dem Haus meiner Eltern hielt, war es vollkommen dunkel, wofür ich dankbar war. Das bedeutete, dass mein Dad nicht mit einer Schrotflinte herauskommen würde, um den alten Mann umzubringen. Der Himmel allein wusste, was er denken würde, wenn er sah, dass Kommodore Riscoff mich in seinem Auto mitgenommen hatte. Zweifellos würde er den schlimmsten Schluss ziehen, den man sich vorstellen konnte.
Ich streckte die Hand nach dem Türgriff aus und hielt inne. Ich wollte, dass Lincolns Großvater noch eine weitere Sache wusste. Das schuldete ich meinem Stolz.
»Ich wollte nie wegen Lincolns Namen oder wegen Ihres Geldes mit Ihrem Enkel zusammen sein. Das, was wir hatten, hatten wir trotz dieser beiden Dinge.«
Ich wartete seine Reaktion nicht ab, sondern stieg einfach aus dem Wagen und ging pitschnass wie ich war ins Haus. Dabei umklammerte ich mein schmerzendes Handgelenk und meinen zerstörten Stolz.