43. KAPITEL
Whitney
Gegenwart
»Wie nennt man diese Farbe überhaupt?« Cricket dreht das Etikett an dem grauen Kleid um, das ich in der Hand halte. »Quecksilber? Dieses Zeug ist giftig, also wirst du es nicht auf meiner Hochzeit tragen.«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Ich dachte, ich könnte mir aussuchen, was immer ich wollte.«
»Nicht wenn es giftig ist. Du brauchst so etwas wie Weide oder Wiese oder Klee.« Cricket deutet mit einer Geste auf die andere Seite des Kleiderständers.
»Also meintest du eigentlich, dass ich mir aussuchen kann, was ich will, solange es grün ist?«
Sie verzieht die Lippen zu einem Lächeln. »Du weißt, dass du in Grün umwerfend aussehen würdest, und ich bin selbst so was wie eine Waldelfe.« Ihr braunes Haar fliegt um ihre Schultern, als sie sich um sich selbst dreht.
»Wie wäre es, wenn du die Farbe aussuchst, die ich tragen soll, damit ich deine Vorstellungen nicht durcheinanderbringe, und ich dafür den Stil wähle?«
Das Lächeln meiner Cousine wird breiter, bis ich befürchte, dass sie sich einen Gesichtsmuskel zerren wird. »Du würdest mich wirklich die Farbe aussuchen lassen?«
»Natürlich. Es ist deine Hochzeit.« Im Stillen füge ich hinzu: Das Kleid ist nicht das Problem. Das Problem besteht eher darin, dass ich lange genug hierbleibe, um es tragen zu können.
Das Lied, das aus den Lautsprechern des Brautmodengeschäfts schallt, geht zu Ende, und ein neues erklingt. Ich zucke zusammen, als ich die vertrauten ersten Töne höre, die ich auswendig kenne.
Rickys Stimme wird mich auf ewig verfolgen. Wann immer ich ein Lied, das ich geschrieben habe, im Radio höre, verfluche ich meine eigene Dummheit. Dank meiner harten Arbeit sind in zehn Jahren vier Alben erschienen. Dazu kommen wer weiß wie viele Lieder, die er an andere Musiker verkauft hat.
Wann immer ich dafür irgendeine Art von Anerkennung erhalten wollte, redete Ricky es mir aus, indem er mich davon überzeugte, dass seine Karriere den Bach runtergehen würde, wenn es so ausähe, als wäre er ein Hochstapler, der seine Lieder nicht selbst schreiben könne.
Was der Wahrheit entsprach.
Als er vor sechs Monaten mit der Arbeit an seinem fünften Album begann und ich endlich ein Machtwort sprach, verschob er den Aufnahmetermin und bat mich nicht mehr um Hilfe. Das war sein Spiel. Er wartete so lange, bis der Termin nicht mehr verschoben werden konnte, wodurch das Risiko eines Vertragsbruchs entstand. Und dann überzeugte er mich davon, dass ich unser beider Leben ruinierte, wenn ich nicht wie versprochen meinen Part übernehmen würde.
Aber so weit kam es dieses Mal gar nicht. Und es gelang ihm ohnehin, jeden Penny auszugeben.
Ich tue so, als würde ich mir die Kleider ansehen, bin aber vor allem damit beschäftigt, die Musik auszublenden, weil ich das Gefühl habe, dass ich nicht richtig atmen kann, bis das Lied endlich in ein anderes übergeht.
Als der neue Song beginnt, der einen schrecklichen Refrain hat, denke ich an all die Notizbücher voller Liedtexte, die ich geschrieben habe und die nie verkauft oder aufgenommen worden sind. Ich weiß, dass ich Talent habe. Rickys Rockgottstatus hat das ohne Zweifel bewiesen. Aber diese Lieder sind auf dem Papier absolut nichts wert, und ich habe keinen Kontakt mehr zu Musikern, denen ich sie verkaufen könnte. Eine andere Möglichkeit bestünde darin zu versuchen, selbst Demotapes aufzunehmen … was ich niemals tun würde. Meine Gesangsstimme kommt einzig und allein unter der Dusche zum Einsatz. Außerdem war Ricky derjenige, der als Gitarrist großes Talent besaß. Meine Fähigkeit besteht lediglich darin, Lieder zu schreiben, die den Leuten gefallen haben.
»Was ist mit dem hier?« Cricket reißt mich aus meinen Gedanken, als sie ein grelles orangefarbenes Kleid hochhält, bei dem jeder in Kombination mit meinem Haar an Halloween denken würde. »Die Farbe heißt Persimone.«
Als ich einfach nur schweige, lacht sie. »Das war ein Test. Ich wusste, dass du es hassen würdest, und jetzt weiß ich auch, wie dein ›Auf gar keinen Fall‹-Gesicht aussieht.«
Ich muss lächeln. Meine Cousine kennt mich gut. »Touché.«
»Wenigstens zwinge ich dich nicht dazu, einen Pilz zu tragen.« Sie deutet auf eine Reihe von braunen Kleidern. »Trüffel und Morchel.«
»Wie wäre es, wenn wir die Farben, die nach Essbarem benannt sind, auslassen?«
Cricket dreht sich wieder zum Kleiderständer um und schiebt einen Bügel nach dem anderen weiter. »Das bedeutet also, kein Aprikose, Pfirsich, Kirsche, Apfel, Birne oder Guave. Du meine Güte, was hat es nur mit dieser Aversion gegen Obst auf sich?«
Ich greife nach einem strahlend blauen Kleid.
»Ohhh, was ist das?« Cricket greift nach dem Etikett. »Himmelblau. Ich liebe es. Und es würde umwerfend an dir und nur einigermaßen okay an Karma aussehen.«
Es gibt das Kleid als hochgeschlossene Neckholdervariante, die aussieht, als würde sie mich erwürgen … und als Modell, bei dem eine Schulter frei ist und das tatsächlich ganz hübsch aussieht.
Ich halte das Kleid an mich. »Wie wäre es hiermit?«
Cricket klatscht in die Hände. »Ja! Probier es an!«
Die Verkäuferin, die die ganze Zeit in der Nähe gestanden hat, ohne uns zu stören, kommt zu uns geeilt, als sie Crickets Ausruf hört. »Dieses Kleid ist eine Nummer zu groß für Sie, aber ich könnte es in Ihrer Größe bestellen. In einer Woche wäre es hier.«
»Gut, denn wir haben nur noch drei Wochen bis zur Hochzeit.«
Als Cricket das sagt, während ich in die Umkleidekabine gehe, wird mir plötzlich klar, dass ich eine furchtbar schlechte Cousine gewesen bin, weil ich sie nie nach dem Datum der Hochzeit gefragt habe.
Wie sich herausstellt, soll sie an dem gleichen Wochenende stattfinden, an dem ich vor Jahren Ricky geheiratet habe – als sich Lincolns legendärer Auftritt ereignete. Ich hoffe wirklich, dass das kein schlechtes Vorzeichen ist.
Und was sogar noch schlimmer ist … Morgen jährt sich zum zehnten Mal der Tag, an dem etwas passierte, das ich wirklich mit aller Macht zu vergessen versucht habe.