45. KAPITEL
Lincoln
Gegenwart
»Was machst du hier, Mann?«
Hunter lässt das Fenster seines Trucks runter, als ich heranfahre und neben ihm vor dem Mo’s
parke. Ich gebe nicht gerne zu, dass ich meinem Freund gefolgt bin und dabei darauf geachtet habe, dass er es nicht merkte. Ich hätte nur nicht erwartet, dass ich ihm hierher
folgen würde. Zurück an den Ort, an dem alles anfing. Vielleicht ist das irgendwie romantisch, aber so fühle ich mich gerade ganz sicher nicht.
»Was denkst du denn, was ich hier mache? Ich bin hier, um die Dinge in Ordnung zu bringen.«
»Hör zu, ich verstehe. Du willst noch eine Chance bei der Frau bekommen, die du nicht haben konntest. Das respektiere ich sogar. Aber im Moment solltest du dich zurückhalten.«
»Whitneys Tante hat einen Job im Gables
, sie muss ihn nur annehmen. Sogar einen noch besseren als den, den sie vorher hatte.«
Hunter zieht die Augenbrauen bis zum Haaransatz hoch. »Wirklich?«
»Außerdem habe ich eine schriftliche Entschuldigung von meiner Mutter dabei. Wenn Jackie die Entschuldigung meiner Mutter annimmt, wird McKinley sie befördern.«
»Heilige Scheiße. Du hast bei deiner Wunderwirkung keine Zeit verschwendet.« Hunter lehnt sich auf dem Sitz zurück und lächelt reumütig. »Ich hätte mir denken können, dass du eine Möglichkeit finden würdest, diese Situation in einen unverhofften Glücksfall zu verwandeln. So bist du eben.«
»Ist zwischen uns alles in Ordnung?«
»Ja.« Er nickt. »Alles bestens.«
Wir steigen aus unseren Autos, und ich folge Hunter. Ich bin froh, dass er nicht mehr vorhat, mir in den Hintern zu treten – und das nicht nur, weil ich nicht viele Freunde habe, denen ich so vertrauen kann, wie ich ihm vertraue.
Der Kopf dieses großen Mistkerls berührt fast den Türrahmen, als wir die Bar betreten. Er ist wie ein Möbelpacker gebaut, auch wenn seine Mutter gern so tut, als hätte ihre Familie nie auch nur einen Tag lang körperliche Arbeit verrichtet. Er ist ein paar Zentimeter größer und knapp fünfzehn Kilo schwerer als ich, wobei ich mit eins dreiundachtzig auch nicht gerade ein Zwerg bin.
»Ich bin lange nicht mehr hier gewesen«, sage ich, während unter meinen Schuhsohlen Erdnussschalen auf dem Betonboden knirschen.
»Es ist Crickets Lieblingsbar. Den Grund dafür werde ich nie verstehen.«
Das Mo’s
hat sich seit meinem ersten und einzigen Besuch kein bisschen verändert. Schon verrückt, dass man manchmal nur eine Sache anders machen muss, um den Lauf seines kompletten Lebens zu verändern.
Ich kann nur hoffen, dass der heutige Abend alles zum Besseren wendet.
Meine Augen gewöhnen sich an die schummrige Beleuchtung, und ich brauche nur drei Sekunden, um Whitney zu entdecken. Ihr dunkles Haar fällt ihr über die Schulter, als Cricket quietscht, weil sie Hunter erblickt hat. Sie springt auf und weicht den hohen Tischen und den Menschen, die daran sitzen, aus, um zu ihm zu gelangen.
Whitney richtet ihre blauen Augen auf mich, und alle anderen im Raum könnten sich ebenso gut in Rauch aufgelöst haben. Sie sieht mich sehr lange an, ohne zu blinzeln, und ich würde alles geben, um zu wissen, was zum Teufel sie denkt.
Erinnert sie sich an den Abend, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind? Ich würde wirklich alles geben, damit der heutige Abend genauso endet wie der vor zehn Jahren.
Ich betrachte Whitneys Gesicht, während sie sich Zeit dabei lässt, mich von oben bis unten zu mustern. Ihre Miene wirkt nicht wütend. Sie läuft nicht in der entgegengesetzten Richtung davon.
Vielleicht … Vielleicht habe ich tatsächlich eine Chance, das wieder in Ordnung zu bringen.
Cricket drängt sich an mir vorbei, vermutlich um sich auf Hunter zu stürzen, und ich gehe langsam auf Whitney zu, als wäre sie ein Tier, das ich nicht erschrecken will. Sie läuft nicht weg. Sie wendet nicht mal den Blick ab.
Als ich vor ihr stehen bleibe, kommt mir als Erstes eine Entschuldigung über die Lippen. »Es tut mir leid.«
»Mir tut es auch leid.«
Ihre Worte erstaunen mich. »Was tut dir leid?«
»Morgen ist der Tag …«
Als sie innehält, verspüre ich einen schmerzhaften Stich in der Brust, weil ich genau weiß, was sie sagen wird. Ich kann nicht glauben, dass ich es dieses Jahr tatsächlich vergessen habe. Whitney öffnet den Mund, um weiterzusprechen, doch eine rothaarige Bikertussi bleibt neben ihr stehen.
»Ich weiß, wer du bist. Ich dachte erst, dass ich träume. Aber du bis das Miststück, das Ricky Rango umgebracht hat.« Sie winkt einem Kerl in einer schwarzen Lederweste zu. »Bruno! Sie ist es tatsächlich! Whitney Rango!«
Um Himmels willen.
Die Frau baut sich drohend vor ihr auf, und ich trete um sie herum und schirme Whitney mit meinem Körper ab, ohne die Frau zu berühren.
»Ich werde Sie ein Mal auffordern, sie in Ruhe zu lassen …«
Bruno kommt auf mich zugestürmt. »Lass bloß die Finger von ihr, du Scheißkerl. Das ist meine Schwester.«
Verdammt noch mal.
Eine Kneipenschlägerei mit einem Biker ist wirklich das Letzte, was ich jetzt brauche, aber offenbar sind Schlägereien der einzige Grund, warum ich ins Mo’s
komme. Das und um Whitney Gable zu sehen.
Die Frau sticht mit einem Finger auf meine Brust ein. »Du bist mir egal, Arschloch. Ich bin wütend auf sie
. Sie hat die Legende umgebracht. Sie sollte für das, was sie ihm angetan hat, im Knast sitzen. Also geh mir verdammt noch mal aus dem Weg, damit ich ihr in ihren verfluchten Hintern treten kann.«
Whitney weicht zurück, und ich trete von der Frau weg. »Wir gehen.«
Bruno schiebt seine Schwester hinter sich. »Ich mach das.«
Seine Faust fliegt auf mein Gesicht zu. Ich wehre den ersten Schlag ab und spüre sehr deutlich, wie sich Whitney an meinen Rücken presst.
Die Frau greift mich von der Seite an, zweifellos um an Whitney heranzugelangen, doch Cricket packt ihren Arm und wirbelt sie herum.
»Heute nicht, Miststück. Das ist meine Cousine.«
Der Blick, den ich Cricket zuwerfe, kostet mich wertvolle Aufmerksamkeit. Knöchel treffen auf mein Kinn, und mein Kopf wird zur Seite gerissen. Meine Instinkte schalten sich ein, als Adrenalin durch meinen Körper gepumpt wird. Ich kontere mit einer Kombination. Der Kopf des Bikers fällt zurück, und er kracht gegen einen hohen Tisch. Die zwei Frauen, die daran sitzen, kreischen, während ihre Gläser durch die Luft fliegen, und er sackt zu Boden.
Hunter zerrt Cricket von der Frau weg, die dieses ganze Theater losgetreten hat, und Cricket nutzt die Hebelkraft, um nach ihr zu treten. Sie erwischt die Rothaarige an der Brust. Brunos Schwester fliegt nach hinten und landet vor einer Gruppe Biker auf dem Hintern. Hunter trägt Cricket unterdessen nach draußen. Die Biker stehen auf. Sie wissen noch nicht, wen sie sich vornehmen sollen, Hunter oder mich. Es ist an der Zeit zu verschwinden.
Ich lege einen Arm um Whitney und ziehe sie zum Hintereingang hinaus, genau wie ich es beim letzten Mal getan habe.