46. KAPITEL
Whitney
Ich stolpere auf der Stufe hinter dem Mo’s , und Lincoln hebt mich hoch und läuft mit mir auf einen Range Rover zu, der um die Ecke geparkt ist. Die Scheinwerfer blinken auf, und er setzt mich neben der Beifahrertür ab, um sie gleich darauf aufzuziehen.
»Steig ein.«
Ich klettere in den SUV und ziehe die Tür zu, während er um die Motorhaube herumläuft. Aus dem Fenster sehe ich, wie Hunter mit Cricket über seiner Schulter auf seinen Truck zuläuft. Cricket schlägt ihm bei jedem Schritt auf den Hintern.
Doch selbst dieser komische Anblick kann nicht verhindern, dass die Realität auf mich einstürmt und meine ganze Aufregung erstickt.
Ich werde das, was passiert ist, niemals hinter mir lassen können. Niemals. Ich werde immer die Frau sein, die Ricky Rango umgebracht hat, auch wenn ich es gar nicht getan habe.
Ich wollte doch nur die Scheidung.
Biker kommen aus der Bar herausgestürmt, während Lincoln den Rückwärtsgang einlegt.
»Es macht mir zwar wirklich nichts aus, deine Ehre zu verteidigen, aber wir sollten nie wieder ins Mo’s gehen. Dieser Ort ist …«
»Verflucht? So wie ich?« Ich stoße ein freudloses Lachen aus.
»Du bist nicht verflucht.«
Eine Bierflasche knallt gegen die Heckscheibe des SUV, und ich zucke zusammen und drehe mich um, während Lincoln mit voller Kraft aufs Gaspedal tritt. Hunter tut es ihm gleich, und seine durchdrehenden Reifen bespritzen die Biker mit Schotter. Als sie in Deckung gehen, verschwinden wir so schnell wie möglich vom Parkplatz.
»Es tut mir so leid. Ich würde ja anbieten, für den Schaden aufzukommen, aber ich weiß nicht, ob ich es mir leisten kann, einen Range Rover reparieren zu lassen.«
Meine Worte haben zur Folge, dass ich mich zutiefst gedemütigt fühle. Mein Leben ist ein Witz. Ich werde meiner Vergangenheit niemals entkommen. Ich bin dazu bestimmt, sie immer und immer wieder zu wiederholen.
Ich starre in den Seitenspiegel, während die Lichter des Mo’s hinter uns immer kleiner werden.
»Mach dir deswegen keine Gedanken.«
Lincoln wirft einen Blick in den Rückspiegel, und ich hoffe, dass uns niemand verfolgt. Ich sehe keine Scheinwerfer, also werden sie uns hoffentlich nicht jagen.
Als wir in sicherer Entfernung sind, schaut er mich an. »Geht es dir gut?«
Ich schlucke und nicke. Zumindest körperlich. Emotional gesehen bin ich ein totales Wrack.
Es spielt keine Rolle, wohin ich gehe oder was ich mache, alles, was ich angehe, verwandelt sich in ein Chaos. Ich kann nichts tun, ohne dass alles schiefgeht.
Die Stimmen in meinem Kopf werden mich nicht vergessen lassen, wie sehr ich in jeglicher Hinsicht versagt habe. Ich bin eine schlechte Tochter. Eine unzuverlässige Schwester. Eine schreckliche Cousine. Eine miese Nichte. Eine miserable Ehefrau. Ich werde alldem niemals entkommen.
»Es wird niemals aufhören. Niemals«, flüstere ich und würde mich am liebsten vollkommen in mich zurückziehen, um mich in meinem Selbstmitleid zu suhlen. »Ich muss einen Ort finden, wo niemand meinen Namen kennt, und dort als Einsiedlerin leben.«
»Auf keinen Fall. Du wirst nicht schon wieder davonlaufen. Das hier ist dein Zuhause. Bleib standhaft.«
Ich stoße ein ersticktes Lachen aus. »Ja, als ob das so einfach wäre.«
Lincoln biegt auf eine Straße ab, die, wie ich nur zu gut weiß, nicht zurück nach Gable führt.
»Wo fahren wir hin?«
»Zu mir.«
Ich lasse die Schultern gegen die Rücklehne sinken und fühle mich vollkommen erledigt. »Ich ertrage heute Abend nicht noch ein Erlebnis aus der Vergangenheit, das sich wiederholt. Es wäre besser, wenn du mich einfach zu Jackie bringen würdest.«
Lincoln wirft mir einen Blick zu. »Willst du heute Nacht wirklich in einem Schuppen schlafen und dich mit den Gedanken an das, was in der Bar passiert ist, quälen?«
Das ist ein gutes Argument. Aber es missfällt mir, dass er mich gut genug kennt, um zu wissen, was ich tun würde, wenn ich heute Nacht allein wäre.
»Nein«, flüstere ich. »Ich will das alles einfach nur vergessen.«
»Dann lass es für ein paar Stunden hinter dir.«
Sein Angebot ist verlockend.
»Und was erwartest du im Gegenzug von mir?«, frage ich, weil in meiner Welt alles einen Haken hat.
Lincoln fährt langsamer und hält an der Seite der Straße an. »Fragst du mich das ernsthaft?«
Ich schlucke. Das Zucken seines Kiefers zeigt mir, dass ich ihn verärgert habe. »Du weißt, was ich meine. Du willst Dinge von mir, von denen ich nicht weiß, ob ich sie dir geben kann.«
»Du hast mein Wort, dass heute Nacht – oder überhaupt jemals  – nichts zwischen uns passieren wird, das du nicht ebenso sehr willst wie ich. Du solltest mich gut genug kennen, um das zu wissen.«
Ich hasse es, dass ich diesen Mann kenne und doch gleichzeitig das Gefühl habe, ihn kein bisschen zu kennen.
Er umklammert das Lenkrad und dreht sich zu mir, um mir in die Augen zu schauen. »Ich muss dir noch etwas anderes sagen. Ich will absolut ehrlich sein, aber damit will ich nicht deine Entscheidung beeinflussen.«
Ich bekomme am ganzen Körper eine Gänsehaut. »Was?«
»Deine Tante erhält eine Entschuldigung von meiner Mutter und eine Beförderung von meiner Schwester, nun muss sie nur noch beides annehmen.«
Ich starre ihn an, und mein Mund klappt auf. »Ist das dein Ernst?«
»Ja.«
Ich schaue durch die Windschutzscheibe in die dunkle Nacht hinaus. Er hat bereits eines der größten Probleme gelöst, die mir auf der Seele lasteten. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Du musst gar nichts sagen. Ich wollte nur, dass du es weißt, aber auch … dass daran keine Bedingungen geknüpft sind. Du kannst mir sagen, dass ich sofort umdrehen und dich nach Hause fahren soll, und das Angebot wird immer noch gültig sein. Was auch immer zwischen dir und mir passiert, hat absolut nichts damit zu tun.«
»Und doch erzählst du es mir zu einem äußerst passenden Zeitpunkt.« Die Skepsis in meiner Stimme ist deutlich zu hören.
Lincoln zieht die Augenbrauen zusammen. »Ja, so ist es. Ich wollte nicht, dass du den Rest der Nacht damit verbringst, darüber nachzugrübeln, dass du das Leben deiner Tante mit deiner Rückkehr aus den Angeln gehoben hast.«
»Oh«, erwidere ich leise.
»Du kannst mich gerne für den Bösewicht halten, wenn du willst, Blue. Manchmal bin ich das auch. Es gibt viele Dinge, bei denen ich nicht zögern würde, sie zu meinem Vorteil zu nutzen, um von dir das zu bekommen, was ich will. Aber ich werde niemals deine Familie benutzen, um dich zu manipulieren. Das ist unter meiner Würde.«
Aus irgendeinem Grund glaube ich ihm das tatsächlich. Vielleicht weil er in Bezug auf seine Absichten aufrichtig ist.
»Dann sollte ich dir wohl danken.« Die Worte auszusprechen fühlt sich seltsam an, aber ich meine sie ernst.
»Du musst mir nicht danken. Es war von Anfang an die Schuld meiner Mutter. Sie hätte nie diese Dinge zu dir sagen dürfen.«
»Sie wird mich immer hassen.« Ich schaue aus dem Fenster, während mich Schamgefühle überkommen. Denn ich schäme mich immer noch für das, was vor zehn Jahren passiert ist. Selbst wenn es nicht meine Schuld war, trage ich die Last, die damit einherging, nach wie vor in meiner Seele mit mir herum. »Du müsstest mich ebenfalls hassen.«
Lincoln sagt nichts, bis ich mich ihm wieder zuwende. Seine Miene ist vollkommen ernst. »Ich hasse dich nicht. Das habe ich nie. Und das könnte ich nie. Du hast nichts Schlimmes getan, und ich auch nicht. Ich habe das hinter mir gelassen. Ich denke, es ist an der Zeit, dass du das ebenfalls tust.«