Kapitel  9    Am Anfang glaubte ich, ich hätte ihn falsch verstanden. Ich musste irgendetwas gehört haben, was er gar nicht gesagt hatte, denn auf keinen Fall war Jack sein Sohn. Jack war Jase’ Bruder.

Doch als ich ihn anstarrte, bemerkte ich, wie bleich sein Gesicht und wie klar seine grauen Augen waren. Da wusste ich, dass er diese Worte so selten ausgesprochen hatte, dass es die Wahrheit sein musste. Wahrscheinlich wusste so gut wie niemand davon.

Entgeistert schüttelte ich den Kopf. »Jack ist dein Sohn?«

Jase hielt meinen Blick noch einen Moment, dann wandte er den Kopf nach vorne und starrte aus der Windschutzscheibe. Es vergingen mehrere Sekunden, bevor er etwas sagte. »Scheiße. Ich … niemand weiß davon, Tess. Meine Eltern natürlich schon. Cam auch, aber er hätte nie etwas gesagt. Sonst weiß es niemand.«

Es überraschte mich nicht, dass Cam es wusste, aber es entsetzte mich ein wenig, dass mein Bruder mir nichts erzählt hatte. Allerdings war es mich bis jetzt auch nichts angegangen.

Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie ich diese Info verarbeiten sollte, also starrte ich Jase nur an. Meine Gedanken rasten. Jack und Jase sahen sich sehr ähnlich, aber das kam bei Brüdern auch vor. Jase stand Jack sehr nahe, hatte eine echte Verbindung mit dem Jungen, aber genauso war es oft bei Brüdern. Jack schien für Jase oft an erster Stelle zu stehen, aber bei Brüdern war das auch so.

Doch sie waren keine Brüder.

Sie waren Vater und Sohn.

Heilige Scheiße.

Plötzlich ergaben eine Menge Dinge Sinn. Ganz abgesehen davon, wie Jase sich in Jacks Nähe benahm … Da war auch noch unser Gespräch von vorhin. Er hatte am eigenen Leib erfahren, dass einige der besten Entwicklungen im Leben oft nicht geplant waren. Und es erklärte wahrscheinlich auch, warum er nicht mehr Fußball spielte oder nicht vorhatte, nach seinem Abschluss einen Job anzunehmen, der ihn von hier wegführen würde. Er wollte hier bei seinem Sohn sein, egal, wie die offizielle Version der Geschichte lautete. Außerdem erklärte es, warum er keine Freundin hatte. Denn auch wenn er seinen Sohn im Moment nicht selbst erzog, eines Tages könnte er das tun. Und für das Mädchen wäre das eine ziemlich harte Nummer. Ich verstand das. Ich stand selbst im Moment ein wenig unter Schock.

Jase war ein Vater.

Aber definitiv ein FV – fickbarer Vater.

Ich presste die Augen zu. Oh mein Gott, ich konnte einfach nicht glauben, dass ich das gerade gedacht hatte. Aber er war ein Vater.

Ich atmete tief aus, dann schluckte ich schwer, als er den Arm ausstreckte und etwas – einen Strohhalm – aus meinen Haaren zog. Er drehte ihn zwischen den Fingern, während ich ihn wieder anstarrte. »Weiß … Weiß er es?«

Jase schüttelte den Kopf. »Nein. Er hält seine Großeltern für seine Eltern.«

»Warum?« Ich hatte die Frage schon ausgesprochen, bevor ich darüber nachdenken konnte, wie aufdringlich sie war. Gott, das war wirklich unhöflich von mir. Aber ich wollte es wissen. Ich musste wissen, wieso Jase, der diesen Jungen doch so offensichtlich liebte, ihn bei jemand anderem aufwachsen ließ.

»Das Ganze ist ein ziemliches Chaos«, sagte Jase und lehnte sich in seinem Sitz zurück. Er rieb sich mit einer Hand übers Gesicht, dann seufzte er. »Sie ziehen ihn seit seiner Geburt als ihren eigenen Sohn auf. Haben ihn sogar adoptiert. Das lässt mich dastehen wie einen Arsch, oder?« Er legte den Kopf auf die Seite und sah mich mit schmerzerfüllten Augen an. Meine Brust verkrampfte sich. »Mein eigener Sohn wächst nicht bei mir auf, sondern bei meinen verdammten Eltern. Und er weiß es nicht einmal. Plötzlich klinge ich gar nicht mehr so attraktiv, oder?«

Ich blinzelte schnell. Mein Mund stand offen, und ich hatte keine Ahnung, was ich dazu sagen sollte.

Jase lachte harsch, bevor er den Kopf gegen den Sitz fallen ließ. Seine Schultern sackten nach unten. »Mein Sohn wächst nicht bei mir auf«, wiederholte er. Sofort wusste ich, dass das ein Satz war, den er sich selbst immer wieder sagte. »Seit fünf Jahren wächst er bei ihnen auf. Ich will das ändern. Aber ich kann die Zeit nicht zurückdrehen, und wie soll ich jetzt etwas daran ändern? Ich würde seine Welt zerstören, wenn ich es ihm erzählte. Und das will ich nicht. Außerdem würde es meinen Eltern das Herz brechen, weil sie ihn als ihren Sohn sehen.« Er schloss die Augen. »Ich bin ein schrecklicher Versager.«

Wieder lachte Jase vollkommen humorlos auf, und ich setzte mich aufrechter hin. »Du bist kein Versager.«

»Ach, komm schon.« Ein abfälliges Lächeln verzog seine Lippen. »Ich habe dir gerade erzählt, dass ich ein Kind habe. Ich bin fast zweiundzwanzig Jahre alt und habe einen fünfjährigen Sohn, der bei meinen Eltern aufwächst. Rechne es dir aus, Tess. Ich war sechzehn, als er gezeugt wurde. Sechzehn. Noch in der Highschool. Offensichtlich kann ich darauf nicht stolz sein.«

»Schämst du dich deswegen?«

Er musterte mich scharf, während er einen Moment auf der Frage herumkaute. »Nein«, erklärte er dann ruhig. »Ich schäme mich nicht wegen Jack. Das werde ich nie. Aber ich schäme mich, weil ich nicht zu meiner Verantwortung stehe und ihm ein guter Vater bin.«

Ich biss mir auf die Lippe. So viele Fragen drängten sich in meinem Kopf, während vor uns auf der Landstraße ein Lastwagen vorbeisauste. »Also warst du sechzehn, als er gezeugt wurde. Du warst noch ein Kind, richtig? Genauso wie ich ein Kind war, als ich mit Jeremy zusammen war.«

»Das ist etwas anderes.« Er schloss die Augen. »Das entschuldigt mich nicht.«

»Wie viele Sechzehnjährige kennst du, die sich als Eltern eignen würden?«, wollte ich wissen.

»Es gibt viele, die Eltern sind.«

»Und? Das bedeutet nicht, dass jeder Sechzehnjährige dafür bereit ist. Ich wäre es jedenfalls nicht gewesen. Und meine Eltern hätten mir geholfen.« Ich hielt inne und fühlte mich wie eine Idiotin: Es waren natürlich zwei Leute daran beteiligt, ein Kind zu zeugen. »Und du warst nicht der einzige Verantwortliche. Es muss auch eine Mom geben. Wo ist …«

»Ich rede nicht über sie«, erklärte er scharf genug, dass ich zusammenzuckte. »Nichts davon hat irgendetwas mit ihr zu tun.«

Hoppla. Irgendwo in dieser Geschichte lauerte definitiv ein Baby-Mama-Drama.

»Und helfen ist nicht dasselbe wie eine Adoption.« Seine Augen öffneten sich zu Schlitzen. »Als ich meinen Eltern erzählt habe, was los ist, waren sie bestürzt. Aber sie wollten, dass ich meinen Schulabschluss mache, aufs College gehe und weiter Fußball spiele. Sie wollten nicht, dass ich all das aufgebe.«

»Das kann ich ihnen nicht verübeln«, sagte ich leise. Doch was war mit der Mutter?

»Aber ich musste entweder genau das tun und alles aufgeben oder Jack zur Adoption freigeben, weil ich einfach nicht bereit war. So grauenhaft das auch klingt, am Anfang wollte ich ihn nicht. Ich wollte nichts mit ihm zu tun haben. Noch bevor er geboren war oder ich ihn auch nur einmal gesehen hatte, habe ich ihn auf eine Art aufgegeben …« Seine Stimme brach, und er räusperte sich. Es war offensichtlich, dass die Mutter, wer sie auch gewesen war, in dem Moment keine Rolle mehr spielte, in dem Jack geboren wurde. Und ich hätte alles dafür gegeben, das Warum zu erfahren. »Also haben meine Eltern die Adoption beantragt, und dem Antrag wurde stattgegeben. Wenn ich heute zurückschaue, kann ich erkennen, wie verdammt egoistisch ich mich benommen habe. Ich hätte damals zu ihm stehen sollen, doch ich habe es nicht getan. Und im Moment gibt es nichts, was ich daran ändern könnte.«

»Doch du bist Teil seines Lebens, Jase. Und ich sehe, dass du dir wünschst, die Dinge wären anders gelaufen. Aber ist das nicht das Wichtigste? Dass du ihn trotzdem liebst?«

Jase ließ den Kopf wieder nach hinten fallen und stieß den Atem aus. »Ich liebe ihn mehr als mein Leben, doch das entschuldigt nicht die Entscheidungen, die ich getroffen habe.«

Wut stieg in mir auf, und ich vergaß die ganze Mom-Sache. »Du hast mir vor nicht allzu langer Zeit erzählt, dass ich mit sechzehn zu jung war – dass ich nicht dafür verantwortlich war, dass ich den Mund gehalten und niemandem von Jeremy erzählt habe. Mir geben mein Alter und meine generelle Naivität also einen Freifahrtschein, aber für dich gilt dasselbe nicht?«

Er öffnete den Mund.

»Ist es so? Falls ja, dann ist das unfair und in jeder Hinsicht falsch und subjektiv.« Ich hatte einen Lauf, und ich würde den Mund nicht allzu bald halten. »Du kannst mir nicht erzählen, dass ich die Entscheidungen der Vergangenheit gehen lassen muss, während du dich selbst weigerst, dasselbe zu tun!«

Jase drehte sich zu mir um. Sein Mund bewegte sich, während er nach den richtigen Worten suchte, sie aber nicht fand. »Mist. Jetzt hast du mich erwischt.«

»Oh ja, das habe ich.«

Seine Mundwinkel wanderten nach oben, doch seine Augen wirkten ernst. »Du … du kannst nichts von alledem brauchen.« Er richtete seine stürmisch grauen Augen auf mich. »Du bist jung und hast noch dein gesamtes Leben vor dir.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Was zur Hölle hat das denn damit zu tun? Ich mag dich, Jase. Sehr. Okay? Und ich will mit dir zusammen sein.« Meine Wangen glühten, aber ich sprach trotzdem weiter: »Das ist offensichtlich. Aber du triffst Entscheidungen und stellst alles auf den Kopf, ohne mich auch nur zu fragen oder herausfinden zu wollen, wie ich die Sache sehe.«

»Und wie siehst du die Sache, Tess?« Er biss die Zähne zusammen, und seine Augen wurden dunkler und noch ernster. »Willst du wirklich mit mir zusammen sein? Nachdem du das alles jetzt weißt? Glaubst du, es wäre klug, wenn du und ich etwas miteinander anfangen? Was, wenn wir es wirklich machen? Und was, wenn du Jack ans Herz wächst?«

Ich verschränkte die Hände im Schoß. »Warum sollte ich ihn nicht besser kennenlernen? Ich dachte, du hättest gesagt, ich wäre …«

»Du planst, hier zu verschwinden, Tess. Du hast nicht vor hierzubleiben. Und ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, dass dieser Junge verletzt wird, nur weil du gerne flachgelegt werden würdest.«

Ich zuckte zusammen. Tränen stiegen mir in die Augen. Dachte er das wirklich? Nach allem, was ich gesagt hatte? Nach allem, was er gesagt und für mich getan hatte? War er wirklich der Meinung, ich wollte nur flachgelegt werden?

Zu wissen, was er wirklich über mich dachte, tat mehr weh als die Zurückweisung.

»Weißt du was, Jase?« Meine Stimme zitterte, doch ich sprach weiter. »Die Tatsache, dass du ein Kind hast, das von deinen Eltern großgezogen wird, ist nicht das, was mich abstößt oder anders über dich denken lässt. Auch nicht die Tatsache, dass du nicht mal den Namen der Mutter erwähnst. Es ist die Art, wie du dich benimmst, und deine vollkommen durchgeknallten Vorstellungen, die mich so empfinden lassen.«