Kapitel  10    Jase erschien am Freitag nicht im Kurs.

Ein Teil von mir war nicht überrascht, als die Vorlesung über die Barockmusik begann und ich Jase nirgendwo entdecken konnte. Die Rückfahrt zum Campus gestern hatten wir in angespanntem Schweigen hinter uns gebracht.

Doch das, was ich zu ihm gesagt hatte, stimmte. Ja, es haute mich um, dass Jack sein Kind war. Das war wirklich das Letzte gewesen, womit ich gerechnet hatte. Doch deswegen dachte ich nicht anders über ihn. Nicht wirklich. Okay. Das stimmte nicht ganz. Natürlich sah ich ihn jetzt mit ein wenig anderen Augen. Er war ein Dad, Himmelherrgott noch mal. Ich kannte keinerlei andere Väter in unserem Alter. Aber deswegen dachte ich nicht anders über ihn, und es beeinflusste auch nicht meine Gefühle für ihn. Na ja, zugegebenermaßen, eine Beziehung mit ihm wäre hart.

Aber die wäre auf jeden Fall hart gewesen.

Doch er hatte einen kleinen Jungen, dem er vielleicht eines Tages die Wahrheit sagen würde. Jedes Mädchen in Jase’ Zukunft musste damit einverstanden und dafür bereit sein. Wer wusste schon, ob ich das je sein würde – doch er hatte mir nicht mal die Chance gegeben, es herauszufinden.

Wie ich schon zu ihm gesagt hatte: Verletzt wurde ich davon, wie er mich sah. Dass er glaubte, ich würde ein Teil von Jacks Leben werden, ohne darüber nachzudenken, dass mein plötzliches Verschwinden den Jungen treffen könnte.

Ab und zu hatte Jase auf der Rückfahrt zu mir herübergesehen, um dann schnell den Blick wieder abzuwenden. Er hatte sich gerade noch von mir verabschiedet. Das war’s.

Und das tat mir im Herzen weh.

Jase hatte auch nicht angerufen, und ich weigerte mich, wie beim letzten Mal diejenige zu sein, die Kontakt aufnahm, nur um kühl ignoriert zu werden.

Jack ist mein Sohn.

Aber so dumm mich das vielleicht auch dastehen ließ, mir blutete das Herz. Trotz seines arschigen Verhaltens in Bezug auf mich, Jase liebte diesen kleinen Jungen. Und die Entscheidungen, die er als Jugendlicher getroffen hatte, brachten ihn fast um.

Genau wie meine Entscheidungen mich nicht losließen.

Und dann war da noch diese abwesende Mutter, über die er kein Wort sagen wollte. Wo war sie? Lebte sie immer noch in der Gegend? Und entsprang die Schärfe seiner Stimme einem gebrochenen Herzen?

Ich spürte einen kurzen Stich in der Brust und hätte mich am liebsten selbst geschlagen. Auf keinen Fall konnte ich eifersüchtig auf eine namenlose Frau sein. Doch da lauerte etwas – etwas Großes –, und ich hatte das Gefühl, dass Jase’ Weigerung, eine ernsthafte Beziehung einzugehen, mehr mit dieser mysteriösen Frau zu tun hatte als mit Jack.

Spielte das überhaupt eine Rolle?

Jase hatte erklärt, es sei ein Fehler gewesen, und obwohl er mir dieses Geständnis gemacht hatte, änderte es nichts an seiner Sicht auf mich. Klar, ich verstand, warum er mich von sich gestoßen hatte, doch das änderte nichts am Ergebnis.

Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass er mich küsste. Ich hätte wissen können, wie es enden musste. Doch trotzdem schnürte es mir die Luft ab, als ich auf den leeren Platz neben mir sah. Ich hatte in der Nacht kaum geschlafen, und als der Morgen kam, hatte sich der Schmerz tief in mir eingenistet. Meine Gefühle und Gedanken waren ein einziges Chaos.

Aber jetzt?

Jetzt war ich sauer.

Ich hatte ihn nicht geküsst – nicht dieses Mal und auch nicht beim ersten Mal. Nicht ich war diejenige mit Gründen, die eine Beziehung unmöglich machten. Das war er. Trotzdem war er derjenige, der ständig den ersten Schritt tat, um mich dann nach atemberaubenden Küssen einfach wegzustoßen.

Ich hatte wirklich nicht viel Erfahrung, wenn es um Jungs und Sex ging, doch ich wusste, dass er auf mich stehen musste, um mich zu küssen. Sein Körper hatte das in dem Moment bewiesen, in dem er die Arme um mich gelegt hatte, damit wir zusammen Blitz füttern konnten. Und ich verstand auch, dass Lust und Gefühle zwei unterschiedliche Paar Stiefel waren.

Zur Hölle, Lust überschwemmte mich mindestens dreimal die Woche, je nachdem, wen ich eben so zu sehen bekam.

Ich verstand auch, dass die Tatsache, dass Jase einen Sohn hatte, nichts an seinem Verlangen änderte. Jase verzehrte sich nach mir. Doch wollte er auch mehr?

Es musste mehr dahinterstecken. Er wollte mir dabei helfen, Freiheit in etwas anderem zu finden als dem Tanzen, und der Vortrag, den er mir gestern darüber gehalten hatte, dass ich nicht dafür verantwortlich war, was damals mit Jeremy geschehen war, hatte mir viel bedeutet. Das hieß doch, dass er etwas außer Lust für mich empfand, oder? Natürlich hing seine Fürsorglichkeit zum Teil auch damit zusammen, dass ich Cams Schwester war … verdammt.

Ich war so wütend, dass meine Haut kribbelte, während ich in meinem Sitz herumrutschte und meinen Stift so fest hielt, dass schließlich die Kappe zerbrach. Ich heizte die Flamme noch an, bis der Zorn heiß in mir brannte – Wut war besser als Schmerz.

Gott, und was mich noch wütender machte, war die Tatsache, dass ich verdammt noch mal im Musikkurs saß und wahrscheinlich durch meine Semesterprüfung fallen würde, weil ich die letzte halbe Stunde damit verbracht hatte, über diesen Trottel nachzudenken.

»Im Zeitalter des Barock kam es zur Erfindung der Tonalität«, sagte Professor Gibson. »Tonalität ist eine Musiksprache, in der hierarchische Tonhöhenbeziehungen gelten, die sich auf einen Grundton beziehen – den Tonika-Dreiklang.«

Häh?

Als ich mich zur Hälfte der Vorlesung wieder einschaltete, hatte ich keine Ahnung, wovon Gibson redete. Je länger der Professor sprach, desto verwirrter wurde ich.

»Der bekannteste Komponist der Barockzeit ist Johann Sebastian Bach …«

Ich würde Jase mitten ins Gesicht Bachen.

»Geht es dir gut?«, fragte Calla, als die Vorlesung sich ihrem Ende zuneigte.

Ich packte meinen Block ein und nickte. »Ja. Ich bin nur müde.«

Sie stand auf, ohne noch etwas zu sagen. Im Geschichtskurs hatte sie sich nach meinem Ausflug gestern erkundigt, und nachdem ich keine Ahnung hatte, wie ich ihr die Geschehnisse des gestrigen Tages erklären sollte, ohne dabei unablässig zu fluchen, hatte ich ihr erzählt, alles sei prima gelaufen.

Trotz des Sonnenscheins lag, als wir den Kunstbau verließen, eine Kühle in der Luft, die dafür sorgte, dass ich heute einmal froh war, Jeans zu tragen. Die arme Calla in ihrer kurzen roten Hose sah aus, als würde sie sich gleich den Hintern abfrieren.

»Weißt du, als Gibson über Sebastian Bach geredet hat, konnte ich nur an diesen Rocksänger aus den Achtzigerjahren denken, der echt heiß war. Ich bezweifle, dass der echte …« Wir bogen um eine Kurve, und sie schnappte nach Luft. »Oh Mann …«

Neugierig folgte ich ihrem Blick, während ich mir wärmend die Arme rieb. Ich blinzelte. Ein Kerl mit kurzgeschnittenen braunen Haaren kam über den Parkplatz auf uns zu. Es herrschte reger Verkehr, und er schlängelte sich zwischen einem VW und einem Lieferwagen hindurch. Er trug dunkelblaue Nylonhosen und ein graues Shepherd-Shirt, das sich über seinen breiten Schultern und der schicken Brust spannte. Um ehrlich zu sein, sah er aus, als sei er direkt aus dem Collegewerbespot entsprungen.

Er war mir schon ein paarmal um Whitehall herum aufgefallen. Er war schwer zu übersehen mit seinem attraktiven, kantigen Gesicht und den breiten, ausdrucksstarken Lippen. Ich sah Calla an. »Wer ist das?«

»Du kennst ihn nicht?«, fragte sie, während sie am Saum ihrer Shorts herumspielte. »Das ist Brandon Shriver.«

»Brandon Shriver?« Ich zog meine Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie auf. »Der Name gefällt mir.«

»Mir auch. Aber ich bin überrascht, dass du ihn nicht kennst. Er ist mit Cam und Jase befreundet.«

Ich zwang mich zu einem Grinsen. Jase. Im Moment tat ich so, als gäbe es diesen Kerl gar nicht. Funktionierte allerdings nicht besonders gut.

»Er hat letztes Semester angefangen zu studieren, aber er ist älter als ich.« Sie wurde rot. Calla war zwanzig, also dachte ich darüber nach, wie das funktionieren konnte. Sie antwortete, noch bevor ich die Frage stellen konnte. »Er war ein paar Jahre lang im Ausland stationiert. Ich glaube, er studiert Lehramt, was irgendwie seltsam ist. Er ist viel zu heiß, um Lehrer zu werden.«

»Hey«, meinte ich und stieß sie mit dem Ellbogen an. »Ich werde auch Lehrerin.«

»Aber mit dir will ich keine wunderschönen Babys zeugen. Mit ihm dagegen«, sie seufzte verträumt, »ist das eine ganz andere Geschichte – oh, er kommt in unsere Richtung.«

Und das tat er wirklich. Er sprang auf den Gehweg und hielt auf den Pavillon zu, unter dem wir standen. Erst ein paar Schritte entfernt sah er kurz zu uns herüber. Sofort bemerkte ich, dass er leuchtend grüne Augen hatte. Bis jetzt war ich ihm nie nah genug gekommen, um das zu bemerken. Dieser leuchtende Blick huschte über Calla, dann kurz über mich, bevor seine Augen zu meiner blonden Freundin zurückkehrten.

Calla winkte ihm kurz zu, während ihr Gesicht dieselbe rote Farbe annahm wie ihr Nagellack. »Hey.«

»Hi.« Seine Stimme war tief und angenehm. Er sah kurz über die Schulter zurück, dann kam er zu uns. »Der Verkehr ist ein Albtraum. Ich hoffe, ihr habt nicht vor, den Campus allzu bald zu verlassen.«

Eine Sekunde verging, dann schüttelte Calla den Kopf. »Nicht in den nächsten Stunden. Wie ist es bei dir?«

Sie wusste genau, dass ich nirgendwo hinging, aber ich spielte mit. »Nein. Ich werde wahrscheinlich nur zum östlichen Campus laufen.« Was mir bereits jetzt seltsam erschien, nachdem ich wochenlang herumkutschiert worden war. Wie das Wetter konnte alles sich in einem Moment verändern. Mit einem Kopfschütteln vertrieb ich diesen Gedanken.

Brandon nickte, während er sich mit seinem Block auf den Oberschenkel trommelte. »Ich kenne dich irgendwoher«, sagte er und kniff die Augen zusammen, bis ich nur noch einen smaragdfarbenen Strich sah. »Haben wir einen Kurs zusammen?«

Falls ja, würde mich dieser Kurs wohl um einiges mehr interessieren. Als die Sonne hinter einer dicken Wolkenfront verschwand, steckte ich mir die Sonnenbrille ins Haar.

»Du kennst ihren Bruder«, bot Calla an.

»Ja?« Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf sie.

»Ja.« Sie drehte ihren Kopf so, dass er nur ihr Profil sah – die Wange ohne Narbe. »Sie ist die Schwester von Cameron Hamilton.«

»Echt jetzt?« Seine Lippen verzogen sich zu einem ehrlichen Lächeln, während ich mich fragte, ob es einen Ort auf der Welt gab, an dem ich nicht als Cams Schwester erkannt werden würde. »Jetzt sehe ich es … an den Augen.«

Ich fühlte, wie meine Wangen heiß wurden.

»Na ja, jedenfalls ist er ein guter Kerl.« Brandon trat von einem Fuß auf den anderen. »Er gehört nicht zu dieser Verbindung, oder? Die, in der Jase Winstead ist?«

Verdammt noch mal, es gab wirklich kein Entkommen vor diesem Kerl. »Nein, aber er ist gut mit Jase und ein paar anderen aus der Verbindung befreundet und geht auf die meisten ihrer Partys.«

»Wie die dieses Wochenende?«, fragte er. Als ich nickte, warf er einen Blick zu der ungewöhnlich stillen Calla. »Gehst du auch hin?«

Calla räusperte sich. »Ich muss arbeiten.«

Interesse flackerte über seine sonst so ausdruckslose Miene. »Wo arbeitest du?«

Mann, dieses Gespräch war ungefähr so peinlich, wie Affen dabei zuzusehen, wie sie es mit einem Fußball trieben. Doch es war auch süß, wie Calla Brandon immer wieder heimlich anhimmelte. Ich wandte den Blick ab, dann trat ich einen überraschten Schritt zurück. Ein viel zu vertrauter schwarzgrauer Jeep kurvte um einen Truck herum, um dann am Randstein anzuhalten. Das Fenster wurde heruntergekurbelt, und ich stand nur mit offenem Mund da.

Hinter dem Steuer saß Jase, eine dunkelblaue Baseballkappe verkehrt herum auf dem Kopf. Dichte braune Locken standen unter dem Rand heraus.

Oh, ich stand einfach auf Kerle mit Kappen.

Anscheinend stand ich auf Kerle, die Väter waren und Kappen trugen.

Sein stahlgrauer Blick huschte von mir zu Brandon. Die finstere Miene, die er dann zog, sorgte dafür, dass mir das Herz in die Hose rutschte. »Hey, Shriver, was geht?«

Brandon grinste. »Nichts, Mann. Was läuft bei dir?«

Gute Frage.

»Ich bin hier, um Tess abzuholen.« Er lächelte angespannt. »Bist du bereit?«

Was zum Teufel? Meine Augenbrauen schossen nach oben. Er war hier, um mich abzuholen, und das nach gestern? Nachdem er den Musikkurs geschwänzt hatte? Nachdem er mich geküsst hatte, um sich dann dafür zu entschuldigen, mir die Daddy-Bombe vor die Füße zu schmeißen und mich dann zu beleidigen? Lebte er in einem Paralleluniversum, wo all das vollkommen in Ordnung war?

»Tess?«, rief er, und die Ungeduld in seiner Stimme war deutlich zu hören.

Wut kochte in mir hoch. Ich war schwer in Versuchung, mich einfach umzudrehen und davonzustiefeln, doch Brandon und Calla musterten mich beide neugierig. Obwohl ich Jase am liebsten meinen Mittelfinger ins Gesicht gerammt hätte, wollte ich trotzdem keine Szene mitten auf dem Hof veranstalten. Jetzt auszuticken hätte zu viel Aufmerksamkeit erregt, und mit öffentlicher Aufmerksamkeit kam ich nur klar, wenn ich gerade auf der Bühne stand. Hatte wahrscheinlich viel mit den Szenen zu tun, die Jeremy mir in der Vergangenheit gemacht hatte.

Ich umklammerte den Gurt meiner Tasche und wandte mich an Calla und Brandon. »Wir sehen uns später.«

Brandon wirkte ein wenig überrascht, als er mir zum Abschied kurz winkte. Calla grinste, als hätte ich gerade einen Heiratsantrag angenommen. Igitt. Angespannt trat ich unter dem Dach des Pavillons heraus, riss die Beifahrertür auf und knallte sie hinter mir wieder zu. Auf Jase’ Schoß stand eine rosafarbene Schachtel. Wenn er sie mir jetzt gab, würde ich ihm wahrscheinlich den Cupcake ins Gesicht rammen.

Seine Augen wurden dunkler, während er mich dabei beobachtete, wie ich mich anschnallte. Eine Sekunde verging, dann fragte er: »Brandon Shriver?«

Ich schürzte die Lippen, als ich mich in meinen Sitz zurückfallen ließ. »Ich glaube, ich habe den Anfang dieses Gesprächs verpasst, denn ich habe keine Ahnung, wieso du seinen Namen sagst.«

Er biss die Zähne zusammen. »Du hast dich mit ihm unterhalten.«

»Ja«, sagte ich gedehnt. »Genauso wie Calla. Eigentlich kenne ich ihn gar nicht.«

Jase legte den Gang ein und richtete den Blick nach vorne. »So sah es für mich aber nicht aus. Du weißt, dass er älter ist als ich, ja? Zu alt für dich …«

Ich richtete mich kerzengerade auf und keuchte. »Meinst du das verdammt noch mal ernst?«

Er blinzelte einmal, dann kniff er die Augen zusammen. »Du musst nicht fluchen.«

»Ich werde scheiße noch mal fluchen, wann immer ich verdammt und zum Teufel fluchen will«, blaffte ich. »Arschloch!«

Seine Lippen zuckten, und meine Wut kochte noch höher. »Aber ehrlich, Brandon ist … na ja, er hat eine Menge durchgemacht, und ich glaube, du könntest es nicht gebrauchen, das zu nah an dich heranzulassen.«

»Danke für den Ratschlag, Papa.« Er warf mir einen bösen Blick zu, den ich grimmig erwiderte. »Aber ich habe dich nicht darum gebeten. Und soweit ich unterrichtet bin, kann ich mich unterhalten, mit wem verdammt ich – Moment.« Ich spürte einen Stich in dem dämlichen, aber doch so notwendigen Muskel in meiner Brust. »Bist du eifersüchtig?«

»Was?« Er schnaubte, während wir uns dem Parkplatz vor den Wohnheimen näherten. »Ich bin nicht eifersüchtig oder irgendwas. Ehrlich, meine Gefühle haben überhaupt nichts mit dem zu tun, was ich gerade sage. Brandon ist ein guter Kerl, aber …«

»Du bist einfach unglaublich!« Ich bewegte mich heftig genug, dass meine Tasche von meinem Schoß rutschte. »Warum reden wir überhaupt über Brandon?«

Für einen Moment herrschte Stille. »Auf der Route 45 war ein Unfall, und ich kam von der Farm, also habe ich es einfach nicht zum Kurs geschafft«, sagte Jase dann, als erkläre das alles. »Hier ist der Cupcake. Mit Snickers …«

»Scheiß auf den Cupcake!« Ich starrte ihn an, und er starrte zurück, als hätte ich vorgeschlagen, dass wir ein Baby auf die Straße kickten. Meine Gedanken rasten. »Was zur Hölle hat das mit allem zu tun?«

»Ich habe nicht absichtlich geschwänzt. Ich will nicht, dass du das denkst.« Genau das hatte ich gedacht, aber das würde ich im Moment sicherlich nicht zugeben. Er fuhr sich mit einer Hand über die Baseballkappe und zog sie tiefer ins Gesicht. »Deswegen war ich nicht da, und deswegen bin ich jetzt hier. Und es hat auch geklappt, denn du hast auf mich gewartet …«

»Ich habe nicht auf dich gewartet.«

Er warf mir durch den Vorhang seiner Wimpern einen kurzen Blick zu. »Dann hast du dich mit Brandon unterhalten.«

»Oh mein Gott.« Ich warf die Hände in die Luft. »Das ist ein dämliches Gespräch, das nichts mit dem zu tun hat, worüber wir eigentlich reden sollten.«

»Worüber sollten wir eigentlich reden, Tess?«. Er bog auf die Straße ein, und sofort standen wir. Die Kreuzung vor uns war vollkommen dicht.

»Du weißt genau, worüber wir reden müssen. Gestern …«

»Gestern war gestern.« Er lehnte sich zurück und rieb sich das Kinn. »Die Dinge sind außer Kontrolle geraten. So was passiert.«

Ich starrte ihn an. »So was passiert? Oft? Rennst du ständig herum und plötzlich passiert es, dass du Mädchen küsst? Rutschst du aus, und dein Mund landet auf denen der Mädchen? Falls ja, muss das ein sehr peinliches Leben sein.«

»Nun …« Sein leises Lächeln war gleichzeitig spöttisch und schalkhaft, aber damit kam er bei mir nicht weiter. Er seufzte. »Tess, du bist ein wunderschönes Mädchen, und ich bin ein Kerl und …«

»Ach, halt die Klappe.«

Er riss die Augen auf.

»Beende auf keinen Fall diesen Satz, der wahrscheinlich der lahmste Satz in der Geschichte lahmer Sätze wird. Du fühlst dich von mir angezogen.«

»Ich habe nie etwas anderes behauptet.« Wir waren noch keinen Meter vorwärtsgekommen, doch der Muskel an seinem Kinn tickte wie ein Tacho.

»Und das ist das Problem, richtig? Du findest mich anziehend. Du willst mich, aber du möchtest es leugnen wegen Jack?« Die Wut sorgte dafür, dass mein Herz raste und mein Mund nicht stillstand, doch die Worte, die aus meinem tiefsten Inneren kamen, mussten einfach mal ausgesprochen werden. »Oh nein, stimmt ja. Es hat damit zu tun, dass ich nur flachgelegt werden will.«

Jase schlug mit beiden Händen aufs Lenkrad. Frustriert und getrieben von ungefähr einer halben Million anderer Gefühle, löste ich meinen Gurt. Er versteifte sich. »Tess …«

»Sei still. Ehrlich. Das ist nicht cool. Du kannst mich nicht einfach küssen und dich hinterher entschuldigen. Das war jetzt schon das zweite Mal. Das ist beleidigend. Und du kannst dich auch nicht einfach betrinken, bis du praktischerweise vergisst, was du zu mir gesagt hast.« Ich beugte mich vor und griff nach meiner Tasche. Ich musste hier verschwinden, bevor ich Jase eins über den Schädel zog oder anfing zu heulen. Beides erschien mir als ähnlich peinlich und gleichzeitig seltsam befriedigend. »Du weißt, dass ich dich mag. Das weißt du seit wie langer Zeit? Zur Hölle, du hast mir sogar das um die Ohren gehauen. Aber du wolltest mit mir befreundet sein, und ich verstehe, dass du kein normaler Kerl bist. Du hast ein Kind.«

»Ich ziehe ihn nicht …«

»Du bist trotzdem sein Vater!«, schrie ich, und als er sich zurücklehnte, kämpfte ich darum, mich ein wenig zu beruhigen. »Hey, ich versuche wirklich, mit all dem klarzukommen. Aber du kannst mich nicht küssen, wenn wir nur Freunde sind. Und du hast kein Recht, irgendetwas dazu zu sagen, dass ich mich mit anderen Kerlen unterhalte, wenn wir nur Freunde sind.«

Jase atmete tief ein. »Du hast recht.«

Ein nerviges Brennen breitete sich in meiner Kehle aus. Seine zustimmenden Worte waren nicht das, was ich hören wollte. Ich hatte keine Ahnung, warum, denn das war richtig und hätte alles einfacher machen sollen. Jase schleppte eine Menge Ballast mit sich herum. Aber dieses Brennen in meiner Kehle kroch trotzdem immer höher. Ich packte den Türgriff. Diese seltsame Eigenschaft namens Stolz machte es mir schwer, hier in diesem Auto zu sitzen und mir anzuhören, was er zu sagen hatte. »Wir sehen uns.«

»Tess!« Er griff nach mir, doch ich war bereits mitten auf der verstopften Straße aus dem Jeep geklettert. »Komm schon, tu das nicht. Wir müssen …«

»Wir müssen überhaupt nichts. Bis später.« Ich schlug die Tür zu und ging davon. Die Enge meiner Brust drohte, über meine Kehle nach oben zu steigen, und das war eine unschöne Vorstellung. Ebenso unschön und grausam wie die Vorstellung, alleine eine kitschige Romanze wie Wie ein einziger Tag im Fernsehen anzuschauen.

Doch ich ging weiter und eilte zwischen den Autos hindurch. Als ich Jase meinen Namen rufen hörte, ignorierte ich ihn. Ich fühlte mich wie erschlagen, doch ich schaffte es, die Reste meiner Würde um mich zu sammeln.

Jase und seine Küsse und sein Reiten und sein alles konnten einfach umfallen und sterben. Er war derjenige, der sich ständig zurückzog. Jetzt war ich mal dran.