Kapitel 17 Beim Abendessen mit Cam und Avery fühlte ich mich wie ein Voyeur, der ein Pärchen beobachtete, das nur Minuten davon entfernt war, sich aufeinanderzustürzen wie zwei bis vor Kurzem zölibatär lebende Kaninchen. Während des Essens zählte ich fünf Küsse auf Wange oder Schläfe. Vier Küsse auf die Lippen. Cams Hand verschwand mindestens zehn Mal unter dem Tisch, und halb so oft wanderte Averys Arm ein gutes Stück nach rechts.
Als wir endlich fertiggegessen hatten, waren sie zu sehr damit beschäftigt, sich zu befummeln, um sich die Frage zu stellen, warum ich zu Jase’ Jeep humpelte, statt mich von ihnen nach Hause fahren zu lassen. Irgendwann würde auffallen, wie viel Zeit ich mit Jase verbrachte. Aber das war kein Gespräch, das wir auf dem Parkplatz zwischen dem Outback und einem christlichen Buchladen führen konnten.
Obwohl Cam und Avery anscheinend keinerlei Probleme damit hatten, genau auf diesem Parkplatz ihre Gesichter miteinander zu verschmelzen.
Die Heimfahrt zu meinem Wohnheim war ruhig. Das Radio lief auf dem Neunzigerjahre-Kanal, aber leise. Es war immer noch recht früh, doch ich musste mir ständig die Hand vor den Mund halten. Heute war so viel passiert. In den letzten drei Tagen hatte sich so viel verändert. Ich war erschöpft bis ins Mark. Ich warf einen Blick zu Jase, dessen markantes Profil im Schatten lag. Schwindelgefühle überfielen mich, wann immer ich mir klarmachte, dass Jase und ich … nun, wir waren zusammen. Er war mein Freund. Ich hatte endlich ein Etikett, und ich fühlte mich, als müsse ich jeden Moment einen Kicheranfall erleiden, wie ich ihn zuletzt mit dreizehn gehabt hatte.
Doch auf das Glück folgte Trauer, und ich richtete meinen Blick wieder aus dem Beifahrerfenster, bevor ich die Augen schloss, weil sie plötzlich brannten. Ich konnte nicht mehr tanzen.
Das zu verlieren, was ich so geliebt hatte, war, als lege sich ein dunkler Schatten über alles andere. So hatte ich mich schon während des Abendessens gefühlt. In einzelnen Momenten war ich glücklich, lachte und lächelte, und dann fiel mir plötzlich wieder ein, was ich heute verloren hatte.
All meine Pläne. Meine Ziele. Meine Hoffnungen. Meine Zukunft. Alles weg.
Ich wollte mich nicht auf diesen verkorksten Teil meines Lebens konzentrieren, doch es fiel mir schwer, die Gedanken daran zu vertreiben. Irgendwo in meinem Hinterkopf lauerten sie ständig.
Jase fuhr mit mir im Aufzug in mein Stockwerk, nahm meine Schlüsselkarte und öffnete die Tür zu meiner Suite. Er betrat den Raum und schaltete das Licht an, damit ich mit meinen Krücken nicht gegen irgendwas lief. Wie gewöhnlich war die Tür zum Zimmer unserer Mitbewohner geschlossen. Auf der Tafel über dem Schreibtisch stand eine Nachricht von Debbie mit dem heutigen Datum, mit der sie mir mitteilte, dass sie die Nacht bei Erik verbringen würde.
»Willst du bleiben?« Ich wurde rot, weil das klang, als hätte ich ihn zu ein wenig Bow-chicka-bow-wow eingeladen. Nicht, dass ich etwas dagegen gehabt hätte, aber ich fühlte mich kaum sexy, wie ich hier mit meinen Krücken stand. »Ich meine, du kannst gerne hier abhängen.«
Gerne hier abhängen? Gott, ich klang wie ein Vollidiot.
Mit einem Grinsen schlenderte Jase ins Zimmer. »Es gibt wirklich keinen Ort, an dem ich lieber wäre.«
Meine Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen, und ich drehte mich um, bevor er erkennen konnte, wie überglücklich mich seine Antwort machte. »Bin gleich zurück.«
Ich ließ die Krücken in der Ecke stehen, dann sammelte ich vorsichtig meine Nachtklamotten und alles fürs Bad ein. Ich schlüpfte in eine leichte Baumwollhose und ein T-Shirt, ließ den BH aber weg. Das Shirt war schwarz, also sah man nicht viel. Die Schiene ließ ich an meinem Knie, dann wusch ich mir schnell das Gesicht. Danach löste ich meinen Pferdeschwanz und kämmte mir die Haare, bevor ich in mein Zimmer zurückkehrte.
Jase hatte es sich bereits auf meinem schmalen Bett gemütlich gemacht. Er lag ausgestreckt auf dem Rücken, die Fernbedienung, die sonst auf dem Sideboard lag, auf dem flachen Bauch. Er hatte sogar die Schuhe von den Füßen geworfen. Ihn so zu sehen sorgte dafür, dass ich ein Kribbeln im Bauch hatte. Das Gefühl verstärkte sich nur, als er neben sich auf das Bett klopfte.
»Solltest du ohne Krücken herumlaufen?«, fragte er.
Ich ignorierte den Schmerz in meinem Knie, humpelte langsam zu ihm hinüber und setzte mich. »So weit war es wirklich nicht. Außerdem sind diese Räume zu klein, um mit Krücken zu laufen.«
Er blieb auf dem Crime-Doku-Sender hängen, dann drehte er sich zur Seite und legte die Fernbedienung auf den Nachttisch. Danach schloss er seine Hand um meinen Ellbogen und zog an mir, während er mich durch seine dichten Wimpern anstarrte. »Legst du dich zu mir?«
Wie in aller Welt sollte ich dieser Bitte widerstehen? Jetzt, wo er auf der Seite lag, blieb genug Platz, dass ich mich neben ihn auf den Rücken legen konnte. Kaum berührte mein Kopf das Kissen, lächelte Jase auf eine Art, die mich bis ins Mark traf.
»Wie geht es dir?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich ehrlich.
»Verständlich.« Er spielte mit meinen Haaren, dann strich er mir ein paar Strähnen aus dem Gesicht. »Heute ist wirklich eine Menge passiert – eigentlich schon in den letzten Tagen.«
»Allerdings. Ich bin ein wenig durcheinander.« Ich atmete tief ein, als er meine Unterlippe mit dem Daumen nachfuhr. »Plötzlich fühlt sich alles anders an.«
»Tut es das?«
Ich nickte, um dann zu erstarren, als seine Hand durch das Tal zwischen meinen Brüsten glitt und direkt darunter anhielt. Ein Kribbeln folgte der Spur seiner Hand, und meine Brustwarzen wurden hart. Ich wusste, dass er es bemerkt hatte, als er den Blick senkte und sich auf die Unterlippe biss. Seine Wimpern hoben sich, und unsere Blicke saugten sich aneinander fest.
Er legte seine Hand um meine Rippen. »Redest du von uns oder …?«
»Von beidem«, flüsterte ich.
Sein Blick wanderte über mein Gesicht und blieb an meinen Lippen hängen. Hitze flackerte in meinem Bauch auf und schien sich zwischen meinen Beinen zu sammeln. Für einen Moment hörte ich nur mein klopfendes Herz und das leise Gemurmel des Fernsehers. »Es wird alles gut.«
Ich lächelte und legte meine Hand über seine. »Ich weiß.«
»Und was uns angeht: Wie ist der Unterschied? Gut oder schlecht?«
»Gut. Sehr gut.«
Er senkte den Kopf und ließ seine Lippen über meine Stirn gleiten. Ein Zittern überkam mich. »Wir müssen etwas Besseres hinbekommen als gut.«
»Müssen wir?«
»Hm-mmm«, murmelte er. Und dann küsste er mich.
Irgendetwas an diesem Kuss war anders. Vielleicht lag es daran, dass er in meinem Bett stattfand oder dass es unser erster richtiger Kuss nach unserem Gespräch war. Vielleicht lag es auch an etwas ganz anderem. Auf jeden Fall nippte er an meinen Lippen, trank aus meinem Mund. Der Kuss dauerte ewig, während er mich kostete und erforschte. Ich hatte nie geahnt, dass ein Kuss so mächtig sein konnte. Aber so war es.
»Wie ist es damit?«, fragte er, und sein Arm zitterte ein wenig, während seine Lippen wieder über meinen Mund glitten.
Mein Körper schien in die Matratze einzusinken. In diesem Moment, während meine Lippen noch von seiner Berührung kribbelten, dachte ich nicht an all die Dinge, die falsch liefen – ich konnte es nicht. »Das war besser als gut. Das war toll.«
Jase küsste mich wieder, doch dieses Mal war es ein langsames, süßes Streicheln seiner Lippen auf meinen. Es war einer dieser sanften, in die Länge gezogenen Küsse, die mich bei Weitem nicht nur körperlich berührten und diese Wärme in mir zum Erblühen brachte, die von Liebe und Ewigkeit und anderen dummen Träumen sprach, zu denen ich mich nicht bekennen wollte.
Doch natürlich ließ der Kuss meinen Körper nicht kalt. Trotz des dauerhaften Schmerzes in meinem Knie hatte sich das Sehnen in anderen Teilen meines Körpers nicht in Luft aufgelöst. Ich begehrte Jase so sehr, dass es fast wehtat. Die Idee, dass unsere Haut sich ohne Barrieren berührte, dass er sich in mir versenkte, trieb mich in einen Taumel des Verlangens.
Jase hob seinen Mund von meinem. Er atmete schwer, als er sich neben mir zurücklehnte. Ich wollte von ihm berührt werden. Meine Brüste fühlten sich voll und schwer an, weil seine Hand so nahe war, doch er tat nichts.
Ich drehte den Kopf zu ihm. Seine Augen zeigten ein glänzendes Silber, als er tief stöhnte. »Wenn du mich weiter so anschaust, werde ich dir die Kleidung vom Leib reißen und mich so tief in dir vergraben, dass ich nie wieder rauskomme.«
Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich an, während mein Bauch in Reaktion auf seine Worte anfing zu zittern. »Daran kann ich nichts Falsches ausmachen.«
Er stieß wieder einen leisen, sexy Fluch aus, und ich wurde rot, ein wenig erschrocken von meiner eigenen Kühnheit. »Das ist so hart.«
»Ist er das?« Ich griff nach ihm, doch als meine Finger über den sichtbaren Hügel unter seinen Jeans gleiten wollten, fing er sanft mein Handgelenk ein. Verwirrt hob ich den Blick.
Er schloss die Augen. »Ja, du machst mich hart. Ständig. In deiner Nähe bin ich eine einzige wandelnde Erektion, aber ich … ich will das richtig machen.«
Ich schloss die Hand halb, als er meine Finger an seine Brust drückte. »Richtig?«
Er wurde ein wenig rot, als er seine Augen wieder öffnete. »Auf die richtige Weise. Du weißt schon. Es soll bei uns nicht nur um Sex gehen.«
Meine Lippen öffneten sich, doch ich sagte nichts. Ich war genauso erstaunt über seine Worte wie darüber, dass Jase rot wurde.
Seine Wangen erröteten noch ein wenig mehr. »Glaub mir, es fällt mir schwer, die Sache langsam anzugehen. Denn verdammt, Baby, ich möchte dich auf jede nur vorstellbare Art.« Er zog meine Hand nach unten und drückte seine Erektion gegen meine Handfläche, wie um seine nächsten Worte zu beweisen. »Ich will dich im Moment so dringend, dass ich es kaum aushalten kann. Aber bei jedem Mädchen, mit dem ich seit … seit langer Zeit zusammen war, ging es nur um Sex. Rein. Raus. Und dann verschwinden.«
»Wie bei Steph?«, brach es aus mir heraus, bevor ich mich davon abhalten konnte.
Er wand sich. »Genau, wie bei Steph. Und mit ihr – mit ihnen – war das in Ordnung. Denn sosehr ich dabei auch klinge wie ein Arsch, sie haben mir nichts bedeutet. Doch du bedeutest mir etwas, Tess. Ich möchte, dass … dass wir anders sind. Ich möchte, dass es bei uns um mehr geht als nur um Sex. Es ist wichtig für mich, dass es um mehr geht als um Sex. Okay?«
Während ich ihn anstarrte, stieg mir langsam ein Kloß in die Kehle, und Tränen brannten in meinen Augen.
Seine Pupillen erweiterten sich, er ließ meine Hand fallen und legte seine Finger an meine Wange. »Baby, weinst du gleich? Habe ich …«
»Du hast überhaupt nichts falsch gemacht«, sagte ich schnell und mit brechender Stimme. »Alles war perfekt.«
Er wirkte verwirrt. »Ich verstehe nicht.«
Ich lachte heiser. »Es ist okay.« Ich lehnte mich vor, um ihn zu küssen. Wer auch immer Jacks Mom war, sie verpasste einiges. »Es ist perfekt.«
»Bist du dir sicher? Zum Teufel mit dem, was ich für richtig oder falsch halte. Denn ich kann dich schon in zwei Sekunden nackig haben und in weniger in dir sein.«
Ich nickte und lachte wieder.
Jase lehnte seine Stirn an meine und schloss die Augen. Sein warmer Atem tanzte über meine Lippen. »Ich möchte dich zu einem Date ausführen. Ich möchte mit dir reiten gehen. Ich möchte es deinem Bruder erzählen. Ich möchte dich zu meinen Eltern bringen und dich als meine Freundin vorstellen. Ich möchte beweisen, wie viel mir das hier bedeutet. Ich möchte es richtig machen.«
Meine Brust zog sich zusammen durch die Gefühle, die ich in diesem Moment für ihn empfand. Wäre ich nicht schon Hals über Kopf in ihn verliebt gewesen, wäre es heute Abend passiert. Doch ich hatte mich bereits an ihn verloren. Die drei kleinen, bedeutsamen Worte drängten sich auf meine Zunge, doch ich hielt sie zurück. Stattdessen kuschelte ich mich enger an ihn, schloss die Augen und erlaubte es mir, einfach seine Nähe und seinen fast verzweifelten Drang zu genießen, alles richtig zu machen.
Trotz all der Gedanken, die in meinem Kopf herumwirbelten, schlief ich wie eine Tote, nachdem Jase gegangen war. Als ich wieder aufwachte, war ich seltsam erfrischt. Ich hatte geglaubt, mich dem Mittwochmorgen zu stellen würde schwer, nachdem ich mit einer Zukunft aufwachte, die ich so nicht geplant hatte. Doch wenn ich überhaupt etwas Besonderes empfand, dann nur ein gewisses Gefühl der Vorfreude.
Als ich mich für die Uni fertig machte, bekam ich eine SMS von Jase. Er würde nicht zu Musik kommen, sondern mich hinterher abholen. Als ich ihn fragte, ob alles in Ordnung sei, schickte er nur eine kurze Nachricht, dass alles cool sei.
Die Aufregung in den Gängen von Whitehall war fast greifbar. Irgendwie war mir entfallen, dass Donnerstag und Freitag keine Vorlesungen stattfanden. Herbstferien – ein verlängertes Wochenende. Geschichte war bei Weitem nicht so voll wie sonst, aber trotzdem war es verdammt nervig, auf Krücken herumzuhumpeln.
Calla sah mich mitfühlend an, als sie mich und meine Krücken erblickte. »Was ist passiert?«
Ich setzte mich ungeschickt auf einen Stuhl und erzählte ihr, ich hätte am Sonntag das Gleichgewicht verloren. Ich sprach weder von Erik noch von Debbie. Nicht, um auf den Ruf dieses Arschlochs Rücksicht zu nehmen, sondern weil ich nicht wollte, dass Debbie sich damit herumschlagen musste. Irgendwann zwischen gestern Morgen und heute hatte ich beschlossen, dass Deb und ich bei unserem nächsten Treffen im Wohnheim ein schönes, langes Gespräch führen würden. Ich würde ihr die Wahrheit erzählen – darüber, was mit mir passiert war. Vielleicht würde das keinen Unterschied machen, vielleicht aber doch.
»Was ist mit dem Tanzen?«, fragte Calla. Ich verzog das Gesicht.
»Mein Knie ist zu instabil, und so wird es wahrscheinlich auch bleiben.« Bei diesen Worten wurde mir ein wenig übel, als würde die Situation irgendwie realer dadurch, dass ich es aussprach. »Es hätte schon Sonntag nicht nachgeben dürfen, also …«
Sie lehnte sich vor und senkte die Stimme. »Also kein Tanzen mehr?«
Unfähig, die Worte auszusprechen, schüttelte ich den Kopf.
Sie zog ein langes Gesicht. »Das tut mir so leid.«
»Danke«, krächzte ich.
Danach sagte ich nicht mehr viel. Die ganze »Frische«, mit der ich aufgewacht war, verschwand endgültig, als ich den Bus zum westlichen Campus verpasste und laufen musste. Als wir endlich das Kunstgebäude erreichten, brachten meine Achselhöhlen mich förmlich um. Sie taten immer noch weh, als ich den Kurs wieder verließ.
Keiner wusste, wie lange ich mich mit diesen Krücken rumschlagen musste. Ich zog eine grimmige Miene, während ich versuchte, mein Gleichgewicht zu halten und gleichzeitig mein T-Shirt hinten nach unten zu ziehen. Alles wäre so viel einfacher, wenn ich nicht an beiden Enden des Campus Kurse gehabt hätte. Ich könnte aus Musik aussteigen. Aber wenn ich den Geschichtskurs schmiss, müsste ich nur von meinem Wohnheim zu Musik und dann auf den östlichen Campus …
Ich unterband diese Gedanken. Kurse schmeißen roch nach Kapitulation. Nach Aufgeben. Das würde ich nicht tun. Egal, wie anstrengend es auch wurde.
»Da ist dein Mann«, sagte Calla und sorgte damit dafür, dass ich fast unter dem Vordach umgefallen wäre.
Fast hätte ich sie gefragt, woher sie das wusste, doch dann wurde mir klar, dass sie mich nur aufzog. Ich wollte Calla von uns erzählen, doch erst musste ich es Cam sagen. Seltsamerweise war es bis zu diesem Zeitpunkt irgendwie nicht real. Als wäre es noch nicht passiert, wenn ich es nicht auf Facebook verkünden konnte.
Bei diesem Gedanken verdrehte ich die Augen, dann wandte ich ihr den Kopf zu. »Wir sehen uns später.«
Sie winkte mir zum Abschied, als ich mich mühsam an den Randstein schleppte, wo Jase im Leerlauf in der Parkverbotszone stand. Jase stieg aus und joggte auf meine Seite des Jeeps. Braune Locken kringelten sich unter der grauen Strickmütze, die er trug. Ich entschied, dass ihm das gut stand.
Er öffnete meine Tür, dann nahm er meine Krücken und legte sie auf den Rücksitz. Nachdem er sich zu mir umgedreht hatte, machte er Anstalten, den Kopf zu senken, als wolle er mich zur Begrüßung küssen. Mir wurde ein bisschen übel. Er hielt inne, atmete einmal tief durch und schob stattdessen eine Hand unter meinen Ellbogen.
»Und hoch mit dir«, sagte er. Seine Stimme war so tief, dass mir ein Schauder über den Rücken lief.
Sobald er im Jeep saß, sah ich ihn an. »Hast du alles geschafft heute Morgen?«
»Ja.« Sein Blick huschte zum Rückspiegel. Ein Wagen der Campuspolizei bog gerade um die Kurve. Begleitet von einem kurzen, befriedigten Lächeln fuhr Jase los, bevor sie ihm wegen seines Parkplatzes Ärger machen konnte. »Mom hat mich heute sehr früh schon angerufen. Jack war die ganze Nacht krank. Hat gekotzt.«
Mir wurde flau im Magen. »Oh nein. Geht es ihm gut?«
Jase nickte. »Er hat sich einfach was eingefangen. Der Doc hat gesagt, er müsse viel trinken und sich ausruhen. Den Rest der Woche kann er nicht in den Kindergarten. Das hat ihn ziemlich aufgeregt.«
»Wirklich?«
»Ja, er mag seine Kindergärtnerin und geht gerne dorthin.« Er hielt kurz inne und rieb sich das Kinn. »Ich hoffe mal, das bleibt so.«
Ich lehnte mich zu ihm. »Bist du gern in die Schule – oder den Kindergarten – gegangen, als du klein warst?«
»Ja.«
»Ist es so geblieben?«
Er lachte. »Oh Mann, nein. Ich habe öfter geschwänzt, als ich da war – aber Jack ist anders. Er wird anders sein.«
Ich musste lächeln, während ich ihm im Stillen Glück wünschte.
»Wenn er sich dieses Wochenende besser fühlt, dachte ich, wir könnten … Ich weiß nicht, mit ihm zum Mittagessen gehen oder irgendwas?«
Das war eine große Sache. Ich nickte eifrig und auch ein wenig nervös. Was, wenn Jack eines Morgens aufwachte und beschloss, dass er mich hasste? Kinder konnten so wankelmütig sein.
»Gut«, sagte er und entspannte sich.
Nachdem eine Menge Studenten bereits ins verlängerte Wochenende aufgebrochen waren, hatten wir keinerlei Probleme, in der Nähe des Ram’s Den einen Parkplatz zu finden. Das Lokal war quasi leer, als wir hineingingen. Jase trug meine Tasche und bremste seine langen Schritte, um auf meiner Höhe zu bleiben.
An unserem Tisch saßen nur Cam und Avery, die sich ein Stück Pizza teilten. Ich entschied mich für ein Hotdog mit Pommes – um mal etwas anderes zu essen als Hamburger –, und Jase holte sich quasi eine ganze Pizza. Oder zumindest ging ich nach der Anzahl von Stücken auf seinem Teller davon aus.
Ich setzte mich gegenüber von den beiden hin und streckte mein rechtes Bein. »Ich bin überrascht, dass ihr noch da seid. Ich dachte, ihr wolltet hoch nach Pennsylvania?«
»Das machen wir auch.« Cam stahl sich eine Handvoll Pommes von meinem Teller und machte sich nicht mal die Mühe, eine schuldbewusste Miene aufzusetzen. »Wir fahren heute Abend.«
»Aufgeregt?«, fragte ich Avery.
Sie nickte so heftig, dass ihr Pferdeschwanz wippte. »Ich war noch nie da und kann es kaum erwarten.«
»Was habt ihr dort vor?« Jase stemmte einen Ellbogen auf den Tisch, lehnte sich vor und griff nach dem zweiten Stück Pizza, während er die andere Hand unter dem Tisch ließ. »Ich meine, was wollt ihr in den Poconos machen? Auf Bäume starren?«
Cam schnaubte. »Nein. Wir können wandern, in die Sauna gehen, Wein trinken, angeln – ich werde mit Avery angeln gehen. Sie hat das noch nie gemacht … «
Während mein Bruder weiterredete … und weiterredete, rutschte Jase näher an mich heran und drückte sein rechtes Bein gegen mein linkes. Eine Sekunde später landete seine Hand dicht über meinem Knie. Ich riss die Augen auf und erstarrte, mein Hotdog auf halbem Weg zum Mund.
»Und am Samstag mieten wir uns ein Boot«, fuhr Cam fort und warf Jase einen so bedeutungsvollen Blick zu, sodass ich mein Hotdog fallen ließ.
Konnte er sehen, was Jase tat? Oh Gott.
Cam sah mich stirnrunzelnd an. »Ist bei dir alles okay?«
»Sicher«, quietschte ich und griff wieder nach meinem Hotdog, während Jase’ Hand an meinem Bein nach oben wanderte. »Also, ähm, ein Boot?«
Mein Bruder sagte etwas, was dafür sorgte, dass die Haut um Averys Augen Fältchen warf, als sie lachte. Ich allerdings war zu sehr auf Jase’ Hand konzentriert, die sich um meinen Oberschenkel legte. Ich atmete tief durch, als er sich zu mir lehnte, um mir ein paar Pommes zu stehlen und gleichzeitig diese körperliche Nähe zu seinem Vorteil auszunutzen. Seine Hand glitt zwischen meine Schenkel.
Oh mein Gott.
Ich lief rot an und zog den Kopf ein, doch die Wärme breitete sich auch weiter unten aus, genau an der Stelle, auf die seine Hand zusteuerte. Das würde er nicht machen.
»Was für eine Art von Boot?«, fragte Jase, und lieber Himmel, er klang vollkommen entspannt.
Was für eine Art Boot Cam mieten wollte, ging vollkommen an mir vorbei. Jase’ Hand wanderte höher, bis seine Finger auf dem Reißverschluss meiner Jeans landeten.
Ich schnappte nach Luft und packte mein Hotdog fester, bis das Brötchen zerbröselte. Weiter würde er nicht gehen. Auf keinen Fall.
»Und was machst du?«, fragte Avery und stützte ihr Kinn in die Hände.
»Eigentlich gar nichts, ich werde …« Meine Worte brachen ab, als die langen Finger in meinen Hosenbund glitten. Unglaubliche Empfindungen überschwemmten mich. Ein seltsames Pulsieren erschütterte meinen Körper. Ich habe keine Ahnung, wie ich es schaffte, nicht zusammenzuzucken.
Cam legte den Kopf schräg. »Ja? Was?«
»Ich werde …« Ich legte meinen Hotdog auf den Teller, als Jase seine Finger erst tiefer schob, um sie dann ein Stück zurückzuziehen. Der Stoff meiner Jeans verrutschte, verstärkte das Gefühl und erzeugte tief in mir ein Sehnen.
»Werde … ?«, fragte Jase unschuldig.
Was für ein abscheulicher Mistkerl.
»Hierbleiben«, beendete ich meinen Satz.
»Du musst dir endlich ein Auto anschaffen«, sagte Cam. »Dann könntest du zumindest nach Hause fahren und Mom und Dad besuchen.«
Jase’ Hand lag wieder auf meinem Oberschenkel, und ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein sollte. Mein Körper pulsierte, doch wenigstens konnte ich jetzt wieder etwas klarer denken. »Nun, ich werde mir das Auto einfach mit dem eingebildeten Geld von meinem eingebildeten Job kaufen.«
Cam verzog das Gesicht. »Du weißt sehr gut, dass Mom und Dad dir Geld geben.«
»Ja, für solche Dinge wie Essen kaufen. Nicht für ein Auto«, antwortete ich.
»Du lässt doch deinen Truck hier, oder?« Avery griff nach ihrem Wasserglas. »Vielleicht könnte sie …«
»Oh, um Himmels willen, nein.« Cam warf Avery einen Blick zu, mit dem er sie quasi für verrückt erklärte. »Sie wird nicht meinen Truck fahren.«
Jase ließ seine Hand auf meinem Schenkel liegen. Als wir mit dem Essen fertig waren, war ich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Jase zu schlagen und auf seinen Schoß zu klettern, ihm die Hose zu öffnen und …
»Hey«, sagte Cam und unterbrach damit meine vollkommen unangemessenen Gedanken. »Ich will kurz mit dir reden. Bist du mit dem Essen fertig?«
Mein Magen vollführte einen Purzelbaum wie ein Baby, das einen Hügel herunterrollt. »Sicher«, sagte ich mit einem kurzen Blick zu Jase. Er wirkte nicht besorgt. Nicht, dass er besorgt sein sollte. Cam würde ihm wahrscheinlich nicht allzu sehr wehtun, sobald er es rausfand – besonders, weil Jase mir die Wahrheit über Jack gesagt hatte.
Ich verabschiedete mich von Avery, dann folgte ich Cam auf meinen Krücken nach draußen. Wir gingen nicht weit, sondern hielten unter einem der großen Ahornbäume an, die im Moment in leuchtenden Rot- und Goldtönen erstrahlten. Cam drehte seine Mütze mit dem Schirm nach hinten, während ich meine Strickjacke enger um mich zog. Es war noch nicht allzu kalt, doch die Luft hatte bereits einen gewissen Biss.
»Was ist?«, fragte ich, während ich mich fühlte, als müsse ich jeden Moment das wenige, was ich gegessen hatte, wieder loswerden.
Cam lächelte, doch das verblasste schnell. Er holte tief Luft. Nervosität machte sich in mir breit, als er mich ansah. Oh Gott, er wollte über Jase und mich reden. Er wusste es. Wir hätten es ihm gleich sagen müssen. Okay, es war eigentlich erst seit gestern offiziell, aber wir hätten …
»Ich werde dieses Wochenende um Averys Hand anhalten«, brach es aus ihm heraus.
»Moment.« Ich hätte fast meine Krücken fallen lassen. »Was?«
»Ich bitte Avery dieses Wochenende, mich zu heiraten – auf dem Boot. Dort werden nur sie und ich sein. Ich werde das Boot vollladen mit Blumen und Schokolade. Der Ring … ist nicht allzu groß. Nur zwei Karat.«
»Nur zwei Karat?«
»Ja, und ich werde ihn auf eine der Rosen stecken.« Er errötete. »Auf jeden Fall wollte ich es dir nur …«
Ich taute endlich wieder auf. Glück stieg perlend in mir auf wie Blasen im Champagner. In meiner Eile, meinen Bruder zu umarmen, wäre ich fast umgefallen, doch es gelang mir, meine Krücken festzuhalten und einen Arm um seinen Hals zu legen. »Oh mein Gott!«, quietschte ich. »Cam, du wirst heiraten!«
»Na ja, hoffentlich.« Er erwiderte die Umarmung, und als er sich wieder von mir löste, lächelte er. »Wenn sie Ja sagt.«
»Natürlich wird sie Ja sagen.« Ich grinste so breit, dass mir das Gesicht wehtat. »Oh, das freut mich ja so für euch zwei! Sie ist so ein supersüßes Mädchen, und ich liebe sie, und ich liebe dich!«
Cam lachte und umarmte mich noch mal. »Sie ist … Sie ist perfekt.«
Ich nickte. »Wann willst du es machen? Samstag?« Als er nickte, war ich unglaublich glücklich, dass ich nichts über Jase gesagt hatte. Nicht, wenn er so etwas vorhatte. Er sollte sich vollkommen auf Avery und seinen Plan konzentrieren. »Schick mir eine SMS oder ruf mich an, wenn sie Ja sagt. Das musst du mir versprechen.«
»Versprochen.«
Ich quietschte noch mal und fing mir dafür ein paar seltsame Blicke von Fußgängern auf dem Gehweg ein. Danach umarmte ich meinen Bruder noch einmal mit aller Kraft, dann sah ich, wie Jase mit meiner Tasche in der Hand aus dem Ram’s Den trat.
»Hier kommt dein kleiner Helfer.« Cam schmunzelte und küsste mich auf die Wange. »Ich gehe zurück zu Avery.«
»Viel Glück, auch wenn du es gar nicht brauchst.«
Seine gewöhnliche Großspurigkeit war verschwunden, als er zu mir zurücksah. »Glaubst du wirklich?«
Ich blinzelte gegen Tränen an – Tränen des Glücks. »Absolut. Glück hat nichts damit zu tun.«
»Danke«, antwortete er. »Ich hab dich lieb, Schwesterchen.«
»Ich dich auch.«
Ich beobachtete, wie Cam an Jase vorbeiging und ihn in den Arm boxte, während ich mehrmals tief durchatmete. In meinen Augen standen Tränen, und es bestand die reelle Chance, dass ich anfing, Kommilitonen um den Hals zu fallen. Oder normalen Passanten.
»Ich gehe mal davon aus, dass das breite Grinsen auf deinem Gesicht bedeutet, dass Cam dich nicht über uns ausgequetscht hat.« Jase schwang sich meine leuchtend rosafarbene Tasche über die Schulter. »Habe ich dir eigentlich schon gesagt, wie sehr ich dein Grinsen mag?«
Mein Grinsen wurde noch breiter. Ich konnte es einfach nicht kontrollieren. »Cam wird um Averys Hand anhalten!«
»Der hat ja wohl den Verstand verloren.«
»Was?« Ich klammerte mich mit einer Hand an der Krücke fest, während ich ihm mit der anderen auf die Brust schlug. »Er hat seinen Verstand nicht verloren. Er hat ihn gefunden.«
Jase lachte. »War nur ein Witz. Und ich wusste es schon.«
»Was?!«, rief ich und schlug ihn noch mal. »Was meinst du damit, dass du es schon wusstest?«
»Aua.« Er rieb sich die Brust. »Stört es dich, dass mich das gerade ziemlich anmacht?«
Ich schüttelte den Kopf. »Wirklich?«
»Vielleicht«, murmelte er. »Um ehrlich zu sein, bin ich gerade ziemlich steif.«
»Oh mein Gott …« Ich rieb mir mit der Hand über meine glühenden Wangen. »Okay. Zurück zum Heiratsantrag. Wann hat er es dir erzählt?«
»Ungefähr vor einem Monat. Willst du mich noch mal schlagen? Du könntest es mal mit meinem Hintern versuchen. Das würde mir wahrscheinlich gefallen.«
Ich starrte ihn nur an.
Er gluckste. »Ich bin mit ihm losgezogen, um den Ring auszusuchen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Juwelier davon ausging, dass wir beide heiraten würden.«
»Du hättest mir was sagen können«, moserte ich.
»Hey, er hat mich gebeten, das Geheimnis zu bewahren. Er möchte nicht, dass Avery etwas herausfindet.« Als ich zu einer Entgegnung ansetzte, verschränkte er die Arme. »Es ist dasselbe, wie als ich dich zu deinem Doc gefahren habe, Tess. Du wolltest nicht, dass er es erfährt …«
Ich kniff die Augen zusammen. »Erwischt.«
»Ich weiß.«
Doch ich war einfach zu glücklich über diese Entwicklung, um Jase lange böse zu sein. Stattdessen grinste ich wieder breit. »Das freut mich so für sie. Sie passen wirklich perfekt zueinander. Du weißt schon, als wären sie füreinander bestimmt. Ich weiß, das klingt wahrscheinlich ziemlich dämlich, aber ich glaube an so was.«
»Das klingt nicht dämlich. Ich weiß genau, was du meinst.« Er löste seine Arme.
In seinen Worten schwang eine versteckte Bedeutung mit, doch meine Aufmerksamkeit blieb an etwas anderem hängen. Nachdem seine Hände während des Mittagessens anderweitig beschäftigt gewesen waren, hatte ich sie mir bis jetzt kaum angesehen. Seine Fingerknöchel waren leuchtend rot, die Haut rau und geschwollen. Ich runzelte die Stirn und nahm eine seiner Hände. »Was ist mit deinen Knöcheln passiert?«
Er zog seine Hand zurück und musterte sie mit einem Stirnrunzeln. »Keine Ahnung. Ich muss sie mir an irgendetwas auf der Farm aufgeschürft haben.«
»Du weißt es nicht?«
Jase schüttelte den Kopf. »Und jetzt lass uns deinen hübschen Hintern zum Kurs schaffen. Komm schon, spring rein.«
Auch wenn er mich neckend angrinste, lag doch gleichzeitig etwas Finsteres in seiner Miene. Mein Blick suchte wieder seine Knöchel, und aus irgendeinem Grund musste ich an Cams Hände denken, nachdem er Jeremy verprügelt hatte. Ich verdrängte diesen Gedanken, denn das war … dieser Gedanke war zu seltsam. Jase hatte gesagt, er hätte sie sich auf der Farm aufgeschürft, und dann musste auch genau das passiert sein, weil es keine andere Möglichkeit gab, wie es sonst passiert sein konnte.
Absolut keine andere Möglichkeit.