Kapitel  19    Debbie und ich blieben noch lange wach und unterhielten uns. Zuerst war es mir schwergefallen, zu hören, dass Jase Erik an dem Morgen zur Rede gestellt hatte, während ich gedacht hatte, er wäre bei seinem kleinen Bruder. Vielleicht hatte er ja beides getan. Nicht, dass es eine Rolle spielte, denn das änderte nichts. Doch nach und nach erzählte ich Debbie alles über Jeremy. Ich spielte Cams Reaktion ein wenig herunter, doch trotzdem fühlte es sich so verdammt gut an, mir das mal von der Seele zu reden. Mich mit jemandem zu unterhalten, der es wirklich verstehen konnte. Und Deb erzählte mir von den guten Zeiten, den schlechten Zeiten und den absolut beängstigenden Momenten. Es gab Augenblicke, wo ich Debbies Zweifel förmlich spüren konnte, und das war nur natürlich. Sie war jahrelang mit Erik zusammen gewesen. Manchmal fiel es schwer, jemanden gehen zu lassen, selbst wenn er psychische Schwierigkeiten hatte. Leute, die sich nie in einer solchen Situation befunden hatten, konnten das einfach nicht verstehen. Sie würden uns für dumm und schwach halten, doch noch das klügste, stärkste Mädchen konnte auf einen Charmeur mit silberner Zunge hereinfallen.

Und jetzt gab es Tränen – reinigende Tränen. Die Art, die heilte, statt wehzutun.

Es endete damit, dass ich am Freitag ausschlief. Deb verschwand am späten Nachmittag, um ihre Eltern zu besuchen und ihnen die Nachricht zu überbringen. Ich wünschte ihr Glück – Glück, das ich ebenso brauchte.

Ich hatte das Mittagessen schließlich abgesagt, und jetzt würde in wenigen Minuten Jase auftauchen und mich zum Abendessen abholen – zu unserem ersten, echten Date –, und ich konnte, während ich draußen wartete und meine Krücken umklammerte, nur daran denken, dass Jase fast dasselbe getan hatte wie mein Bruder bei Jeremy.

Ich war mir immer noch nicht ganz darüber im Klaren, was genau ich wegen dem empfand, was er getan hatte. Sollte ich so wütend sein, wie ich mich fühlte, oder noch viel wütender? Jase wusste genau, dass ich mich wegen dem, was Cam getan hatte, schuldig fühlte.

Als Jase auftauchte, fuhr er an den Randstein, sprang aus dem Auto und ging um die Motorhaube herum. Er trug Jeans und einen dunklen Pulli mit V-Ausschnitt. Im Vergleich fühlte ich mich in meinen Jeans mit der Strickjacke irgendwie underdressed. Egal, was er trug, er sah verdammt gut aus … als sei er den Seiten eines GQ-Heftes entstiegen. Nicht wie alle anderen Kerle auf dem Campus, die einfach aussahen, als seien sie einem Sears-Katalog entsprungen.

Jase half mir ins Auto, indem er erst die Krücken nahm und meinen Arm stützte. Auf dem Armaturenbrett wartete eine rosafarbene Schachtel. Ich hob sie hoch und sah ihn an.

»Das Dessert«, erklärte er mit einem Grinsen.

Ich wollte die Schachtel nicht aufmachen, doch der hellbraune Zuckerguss sah lecker aus. »Welche Sorte?«

»Rate mal.«

»Schokolade?«

»Langweilig«, sagte er, als er losfuhr. »Sowohl das Topping als auch die Füllung sind Erdnussbutter.«

»Oh.« Für einen Moment war ich abgelenkt, weil mich der Gedanke an die Erdnussbutterfüllung umhaute und ich schwer in Versuchung war, die Schachtel zu öffnen und den Cupcake zu verschlingen.

»Du kannst ihn auch gerne jetzt essen. Vergiss die Regeln. Man kann auch die Nachspeise zuerst essen.«

Wieder lächelte ich. Ich hatte keine Ahnung, was mich an diesen Cupcakes so berührte. Mal abgesehen von der Tatsache, dass sie in neunundneunzig Prozent der Fälle einfach phantastisch schmeckten, waren sie zu etwas geworden, auf das ich mich freute.

»Woher bekommst du die immer her?«, fragte ich, selbst überrascht, dass ich mir diese Frage vorher noch nie gestellt hatte. »Aus der Bäckerei in der Stadt?«

»Nö.«

Mein Blick glitt zu den Knöcheln seiner Hand, während ich auf die ausführlichere Erklärung wartete. Die Haut war nicht mehr aufgeplatzt, aber immer noch leicht gerötet. Mein Magen zog sich zusammen.

»Die Schwester meiner Mom – ihre Tochter Jen macht sie.«

»Wow. Sie schmecken wie etwas, was man in einer Luxusbäckerei bekommt. Sie sollte wirklich ein Geschäft aufmachen.«

»Das sage ich ihr auch ständig.« Er sah zu mir herüber, und dieses schiefe Grinsen erschien. »Jen hat sich schon nach dem Mädchen erkundigt, für das sie ständig diese ganz besonderen Cupcakes macht. Ich habe ihr erklärt, dass ich sie eines Tages mitbringen werde.«

Meine Augen wollten wieder zu seinen Händen wandern, doch ich riss den Blick nach oben. »Das … das fände ich schön.«

»Ich auch.« Er streckte die Hand aus, verschränkte seine Finger mit meinen und drückte.

Ich spürte ein sanftes Kribbeln in der Brust, das in meinen Bauch sank, als ich wieder auf seine Knöchel starrte. Diese Finger hatten Erik geschlagen. Jase hatte den Kerl konfrontiert wegen etwas, was tatsächlich ein Unfall gewesen sein könnte. Dieser Moment war die perfekte Gelegenheit für mich, das Thema anzusprechen, aber ich war einfach noch nicht bereit.

»Weiß Jen von Jack?«, fragte ich, um an etwas anderes zu denken.

Er nickte. »Die Familie weiß es. Allerdings redet niemand darüber. Es ist so eine Art allgemein bekanntes, gut gehütetes Familiengeheimnis.«

Danach verstummte ich. Meine Gedanken waren woanders. Die Fahrt nach Frederick dauerte nicht allzu lang, und das Essen im Bone Fish Grill wurde schnell serviert. Ich aß eine Riesenportion frittierte Scampi und Muscheln, während Jase das Gespräch aufrechterhielt. Erst sprach er über Jack, dann wechselte er das Thema zu meinem Bruder.

»Morgen ist also der große Tag, richtig?«, fragte er, während er sich mit der Gabel eine Muschel von meinem Teller klaute. »Glaubst du, er zieht es wirklich durch?«

Der Gedanke, dass er kalte Füße bekommen könnte, war mir noch gar nicht gekommen. »Du glaubst, er könnte Muffensausen bekommen?«

»Er ist echt nervös.« Jase lehnte sich mit einem Lachen an die Bank zurück. »Alter, ich habe deinen Bruder noch nie so gesehen.«

»Ich auch nicht. Ich hoffe, er macht es. Die beiden passen perfekt zusammen.«

Jase ließ seine Finger über den Rand seines Glases gleiten, während er mich durch die gesenkten Wimpern beobachtete. »Wir müssen es Cam erzählen, sobald er zurückkommt.«

Mein Atem stockte, aber ich nickte. »Das müssen wir.«

Die Kellnerin erschien mit der Rechnung. Als Jase sich vorlehnte, um seinen Geldbeutel aus der hinteren Hosentasche zu ziehen, drückte er mir einen Kuss auf den Mundwinkel. Seine Augen glänzten silbern, als er sich wieder zurücklehnte, und mein Herz pochte.

»Debbie hat sich von Erik getrennt«, brach es aus mir heraus.

Er hielt für eine Sekunde inne, bevor er die Geldscheine aus dem Portemonnaie zog. »Das ist gut, oder? Ich meine, er hat sich dem Mädchen gegenüber immer benommen wie ein Trottel. Niemand hat verstanden, warum sie bei ihm geblieben ist.«

Ich beobachtete ihn, als er das Geld neben die Rechnung legte. Mein Herz raste. »Er … hat sie geschlagen.«

Jase erstarrte wieder, während er sich gerade nach hinten lehnen wollte. Seine dichten Wimpern hoben sich. »Was?«

Nichts in seiner Miene ließ mich vermuten, dass er etwas vor mir versteckte, doch ich wusste, dass es so war. »Er hat sie geschlagen. Wie Jeremy mich geschlagen hat.«

Ein harter Zug erschien um sein Kinn. Er schürzte die Lippen, pfiff leise und wandte den Blick ab. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Tess.«

»Vielleicht, dass es dich jetzt noch mehr freut, dass du ihn verprügelt hast?«

Er schaute mich an. Seine Augen leuchteten in einem erstaunlichen Silber. Er setzte an, dann schien er es sich anders zu überlegen. Seine breiten Schultern verspannten sich.

»Ich weiß es«, flüsterte ich. »Deb hat es mir letzte Nacht erzählt.«

»Letzte Nacht«, wiederholte er dumpf. »Und du sagst erst jetzt etwas?« Er lachte, während gleichzeitig ein Muskel an seinem Kinn zuckte. »Hey, irgendwoher wusste ich, dass etwas mit dir ist. Du warst einfach zu still. Du hast den Cupcake nicht sofort gegessen. Ich dachte, du hättest vielleicht Probleme mit dem Knie.«

Ich schob mir die Haare hinter die Ohren. »Du hast es mir nicht erzählt.«

Er atmete tief durch, dann schob er sich aus der Bank und griff nach meinen Krücken. »Lass uns draußen darüber reden.«

Nachdem es nicht gerade das richtige Gesprächsthema für ein Abendessen war, wartete ich, bis wir im Jeep saßen, bevor ich nachhakte. »Du hast ihn aufgespürt.«

»Ich habe ihn nicht aktiv gesucht, Tess. Es war nicht wie bei Cam damals. Ich weiß genau, dass du darauf hinauswillst. Das wollte ich nicht. Ich bin ihm im Verbindungshaus begegnet, als ich von meinen Eltern zurückkam. Er saß auf der Couch, als hätte er keine verdammte Sorge in der Welt.«

Ich hielt den Atem an und beobachtete, wie er sich vorlehnte und den Wagen anließ. Der Motor startete mit einem Röhren, und Jase schwieg, bis wir auf der Hauptstraße waren und in Richtung der Interstate 70 fuhren. »Ich konnte nur daran denken, dass er dir deine Träume zerstört hatte. Dass er dir das genommen hat. Mir ist vollkommen egal, ob es ein Unfall war oder nicht. Er hat es getan.«

Das stimmte. »Jase …«

»Nach allem, was du durchgemacht hattest, musste ich einfach etwas sagen. Ich musste einfach«, erklärte er. Ich konnte im dämmrigen Innenraum des Autos nur sein scharfes Profil sehen. »Ich habe ihm gesagt, dass er sich von dir fernhalten soll und dass besser keine Unfälle mehr passieren. Das war’s. Mehr wollte ich gar nicht sagen. Und ja, vielleicht habe ich es nicht besonders freundlich formuliert, aber ich wollte, dass er es wirklich versteht.«

Er erzählte mir gerade ungefähr dasselbe, was Deb auch berichtet hatte, also überraschten mich seine nächsten Worte nicht.

»Doch dann hat er echten Müll geredet, Tess. Niemand sollte je so über dich reden. Ich habe einfach nur sichergestellt, dass er nichts mehr sagen konnte.«

Es klang kein Stolz in seiner Stimme mit. Vielleicht die Selbstgefälligkeit eines Mannes, der wusste, dass er einen anderen Mann – und Erik war im weitesten Sinne ein Mann – in seine Schranken gewiesen hatte. »Du hast ihn geschlagen.«

Er sah mit harter Miene zu mir. »Habe ich.«

»Und mehr hast du dazu nicht zu sagen?«

Jase richtete seinen Blick wieder auf die dunkle Straße und fuhr sich mit einer Hand durch die wuscheligen Haare. »Ich bereue es nicht.«

Ich schnappte nach Luft. »Das hat Cam auch nicht getan.«

»Das ist nicht dasselbe. Ich habe Erik nicht zusammengeschlagen. Ich bin nicht im Gefängnis gelandet und er nicht im Krankenhaus«, stieß er hervor, und ich zuckte zusammen. »Scheiße, Tess. So habe ich das nicht gemeint …«

»Du weißt, wie ich mich wegen dem fühle, was Cam getan hat; wie viele Schuldgefühle ich deswegen mit mir herumschleppe. Cam hat meinetwegen sein Leben ruiniert …«

»Aber das war nicht dein Fehler! Was er getan hat, war nicht deine Schuld. Was ich getan habe, war nicht deine Schuld. Erik hat das Maul zu weit aufgerissen, und ich habe ihn geschlagen. Okay. Ich habe ihn zweimal geschlagen.«

Das Blut rauschte in meinen Adern, während ich darum kämpfte, mir über meine Gefühle klar zu werden. Ein Großteil meiner Verwirrung entsprang der Tatsache, dass es einen kleinen, winzigen Teil von mir gab, der froh war, dass Jase Erik mal seine eigene Medizin hatte kosten lassen. Und genauso hatte ich mich gefühlt, als ich zum ersten Mal gehört hatte, was Cam getan hatte.

Ich hatte keine Ahnung, was das über mich aussagte.

Ich starrte auf die Bäume neben der Interstate. »Warum hast du es mir nicht erzählt?«

»Ich …« Er fluchte wieder. »Ich wusste, dass du dich aufregen würdest. Ich hatte gehofft, Debbie würde den Mund halten.«

Ich ballte die Hände im Schoß zu Fäusten. »Hast du das wirklich geglaubt?«

»Würdest du wollen, dass die Leute erfahren, dass dein Freund vermöbelt wurde? Nein. Ich dachte, sie würde den Mund halten. Und ich weiß, dass das falsch ist. Aber mir wäre es lieber gewesen, du hättest es nicht erfahren.«

Sein ungerührter Tonfall erschwerte es mir, seine Entschuldigung zu akzeptieren. Es war nicht so, als würde er sich wie ein Trottel aufführen; er bereute es nur einfach nicht. »Du hast mir versprochen, dass du nichts sagen würdest.«

»Ich habe dir versprochen, dass ich Cam nichts erzählen würde, und das habe ich auch nicht getan. Und vertrau mir. Erik wird ihm gegenüber kein Wort sagen, denn dann müsste er deinem Bruder erklären, warum ich ihm ein Veilchen verpasst habe. Und mehr habe ich nicht getan.« Er schloss die Hand mit der geröteten Haut über den Knöcheln fester um das Lenkrad. »Mist, du hast dich heute Abend überhaupt nicht amüsiert, oder? Das soll doch unser erstes … Ich weiß nicht. Scheiße. Unser erstes Date, und du warst die ganze Zeit sauer.«

Mir stieg ein Kloß in die Kehle. Heute Abend war unser erstes Date … nur dass es sich nicht so anfühlte. Nicht, weil ich nicht mit ihm zusammen sein wollte, sondern wegen dem, was ihn und mich beschäftigt hatte.

»Ich hätte es dir Mittwoch schon erzählen sollen. Ich hätte nicht versuchen dürfen, es vor dir geheim zu halten. Das ist der Punkt, an dem ich Scheiße gebaut habe.« Es folgte ein kurzes Schweigen. »Tess, sag etwas.«

Ich schloss fest die Augen und öffnete langsam meine Hände. Was konnte ich sagen? Nicht nur Jase hatte diesen Abend ruiniert – ruiniert, was ein riesiger Schritt in unserer bisher geheimen Beziehung hätte sein sollen. Ich hätte das Thema ansprechen können, sobald er aufgetaucht war. Oder als er mir früher am Tag eine SMS geschrieben hatte oder als ich ihm eine SMS geschrieben hatte, bevor ich gestern überhaupt ins Bett gegangen war. Doch das hatte ich nicht getan. Ich hätte reinen Tisch machen können, und dann hätten wir uns amüsieren können. Hoffentlich.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, gab ich schließlich zu.

Jase antwortete nicht, und so schwiegen wir während der ungefähr halbstündigen Rückfahrt zu meinem Wohnheim. Vielleicht überreagierte ich. Er hatte nicht getan, was Cam getan hatte, doch trotzdem hatte er mich angelogen und letztendlich körperliche Rache geübt.

Doch Erik hatte Jase provoziert.

Als Jase den Jeep an den Randstein lenkte, tat mir der Kopf weh. Wie schon am Abend vorher machte er Anstalten, den Motor abzustellen, doch ich hielt ihn davon ab. Ich musste erst mal in Ruhe nachdenken.

»Ich rufe dich morgen an«, sagte ich.

Er starrte mich einen Moment an, dann nickte er. »Lass mich dir zumindest deine Krücken geben.«

»Okay.«

Ich schob mich vorsichtig aus dem Jeep, verlagerte mein Gewicht auf mein gutes Bein und wartete, bis er meine Krücken vom Rücksitz geholt und mir gegeben hatte. Als ich ihm in die stahlgrauen Augen sah, hatte ich das Gefühl, dass er sich mehr über das Ganze aufregte, als mir wirklich klar war.

Für einen Moment wollte ich ihn in meine Suite einladen, doch er umfasste sanft meine Wangen, beugte sich vor, drückte seine Lippen auf meine und küsste mich so liebevoll, dass ich wieder an die Zärtlichkeit erinnert wurde, die so sehr zu Jase gehörte. »Ist zwischen uns alles in Ordnung?«, fragte er, und ich konnte förmlich fühlen, wie ich den Boden unter den Füßen verlor.

Die Vorstellung, dass nicht alles in Ordnung sein könnte, bevor wir überhaupt die Chance gehabt hatten, etwas mit dieser Beziehung anzufangen, war wie ein Schlag ins Gesicht. Die Worte brachen aus mir heraus und überraschten mich selbst. »Es geht nicht nur darum, dass es mich daran erinnert, was Cam getan hat. Es hat mich an ihn erinnert – an alles, was ich gefühlt habe, als ich mit ihm zusammen war, und alles, was ich hinterher empfunden habe.«

Jase schloss für einen Moment die Augen. »Es tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht.«

»Es ist okay«, flüsterte ich.

Er wirkte nicht, als glaubte er mir. »Bist du dir sicher?«

Ich nickte, weil ich einfach nicht sprechen konnte. Seine Finger lösten sich von meinem Gesicht, und er nickte in Richtung des Eingangs.

»Ich warte, bis du drin bist.«

Gefühle schnürten mir die Kehle zu. »Gute Nacht, Jase.«

»Nacht«, murmelte er.

Erst in der hell erleuchteten Lobby fiel mir auf, dass ich meinen Cupcake und mein Herz dort draußen gelassen hatte. Ich drehte mich um, erfüllt von dem verzweifelten Wunsch, nach draußen zu humpeln und einfach alles zu vergessen – doch wie Jase versprochen hatte, hatte er gewartet, bis ich im Haus war.

Der Jeep war weg.

Ich schluckte gegen den Kloß in meiner Kehle an und stiefelte zum Aufzug. Bedauern brannte in mir, als hätte ich mein Essen nicht vertragen. Aber wahrscheinlich war es gut gewesen, Jase heute Abend wegzuschicken. Ich musste erst mal wieder klar denken.

Ich hatte keine Ahnung, was ich denken oder fühlen sollte, doch wie konnte ich sauer bleiben? Und sollte ich das überhaupt? Ich wollte nur noch schlafen. Morgen würde ich wissen, was ich zu ihm sagen sollte.

Als ich das Licht in unserer Suite einschaltete, flackerte es einmal, um dann zu verlöschen und den Raum in Dunkelheit zu tauchen.

»Verdammter Mist«, murmelte ich, als ich um den Couchtisch herumhumpelte und ihn dabei mit einer Krücke rammte. Ich fand die kleine Lampe und schaltete sie ein. Die Energiesparleuchte erzeugte genug Licht, dass ich mir zumindest nicht den Hals brechen würde. Ich lehnte meine Krücken in eine Ecke und drehte mich um.

Dann stöhnte ich. »Machst du verdammt noch mal Witze?«

Ein pinker Schal baumelte vom Griff der angelehnten Tür. Deb hatte mit dem Trottel Schluss gemacht! Und jetzt waren sie da drin und poppten? Wut stieg in mir auf und machte mich rasend. Ich würde sie beide mit meinen Krücken verdreschen. Und das wäre toll, denn dann könnte ich nicht länger wütend auf Jase sein, weil er Erik geschlagen hatte. Zumindest eines meiner Probleme wäre mit einem Schlag auf ihre Köpfe gelöst.

Ich humpelte auf die Tür zu. Schmerz flackerte in meinem Bein auf, als mein Knie in der Stütze herumrutschte, doch ich stürmte weiter und drückte die Tür auf. Im Raum war es vollkommen dunkel und überraschend still. Kein Grunzen oder Stöhnen und auch keine quietschenden Bettfedern, während jemand versuchte, sich zu bedecken.

Die winzigen Härchen in meinem Nacken stellten sich auf. »Debbie?« Meine Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt, als ich die Hand nach dem Lichtschalter ausstreckte. »Bist du …«

Das Licht ging nicht an.

Ich versuchte es noch einmal und hörte auch, wie der Schalter klickte, doch da war nichts … nichts, außer einem seltsamen, knirschendes Geräusch. Fast wie eine lose Bodendiele.

Ein kalter Schauder lief mir über den Rücken, und ich schluckte schwer. »Deb?«

Keine Antwort. Nur dieses Knirschen … knirsch … knirsch.

Meine Instinkte schrien mir zu, mich umzudrehen und wegzurennen. Angst grub ihre eisigen Klauen tief in meine Seele, als ich tiefer in den Raum trat und blinzelte. Ich wollte noch mal ihren Namen rufen, doch nichts geschah. Die Worte waren in mir festgefroren.

Langsam schien die Dunkelheit ihren Halt am Raum zu verlieren. Schatten traten hervor und bildeten die ersten Kontraste, erzeugten das erste Bild …

Ich lief gegen etwas. Etwas, was dort in der Mitte des Raums nicht sein sollte, nicht vor- und zurückschwingen und dabei auch knirschen sollte.

Mir blieb die Luft weg, als ich den Kopf hob und meine Augen langsam wieder funktionierten.

Zwei nackte Beine – fahle, nackte Beine.

Ein dunkles Schlafshirt.

Zwei Arme, die schlaff nach unten hingen.

Ich konnte nicht mehr atmen, als ich langsam verstand. Doch – oh Gott – ich wollte es nicht glauben. Ich konnte es nicht glauben. Auf keinen Fall. Ein Schrei stieg in meiner Kehle auf.

Das war sie nicht.

Das waren nicht ihre braunen Haare, die halb über das Gesicht hingen. Es war nicht ihr Mund, der da offen stand. Es war nicht Debbie, die von der Deckenlampe in unserem Zimmer hing. Sie konnte es nicht sein.

Ein schreckliches Geräusch erfüllte den Raum und tat mir in den Ohren weh. Das Geräusch hörte nicht auf, sondern erklang weiter und immer weiter. Im Hintergrund hörte ich Stimmen und entsetzte Rufe; spürte Hände, die meine Schultern packten, als meine Beine nachgaben; doch die Schreie waren lauter als alles andere.

Es war ich, die da schrie, realisierte ich wie betäubt. Ich konnte nicht aufhören. Ich würde nie aufhören.

Debbie hatte sich erhängt.