Kapitel 20 Alles Weitere geschah in einem allumfassenden Nebel, der nichts mit mir zu tun hatte. Irgendwann hörte ich auf zu schreien, aber nur, weil meine Stimme versagte. Die Hände, die versucht hatten, meinen Sturz zu verhindern, gehörten zu der unwahrscheinlichsten Person, die ich mir vorstellen konnte. Unserer Mitbewohnerin.
Und unsere Mitbewohnerin entpuppte sich als das halbnackte Mädchen aus Jase’ Zimmer – Steph. Zu jeder anderen Zeit hätte ich über die Ironie des Schicksals gelacht. Dass die geheimnisvolle Mitbewohnerin ausgerechnet sie war. Fast hätte ich wirklich gelacht, doch ich hielt mich zurück, bevor derartige Geräusche entkommen konnten. Denn ich wusste genau, wenn ich einmal anfing zu lachen, würde ich nicht mehr aufhören können.
Die schöne Steph mit ihren glänzenden, schwarzen Haaren in einem Pferdeschwanz und nur mit einer kurzen Schlafanzughose bekleidet, die kürzer war als alles, was eine Bedienung im Hooters trug. Sie hatte versucht, mit mir zu reden, sobald ich in der viel zu hell erleuchteten Lobby auf einem der unbequemen Stühle mit den harten Kissen saß. Doch sie hatte aufgegeben, als ich nichts anderes tun konnte, als sie dämlich anzublinzeln.
Debbie war tot.
Ein Schauder lief mir über den Rücken, gefolgt von einem beständigen Zittern.
Die Lobby war voller Personen, die sich in Ecken drückte. Einige flüsterten, manche weinten. Leute umarmten sich. Andere wirkten vollkommen entsetzt von dem Gedanken, dass sich nur ein paar Stockwerke über uns eine Leiche befand.
Steph kehrte mit einer Decke zu mir zurück, die sie über meine Schultern legte. Ich murmelte ein kaum hörbares »Danke«. Sie nickte, als sie sich neben mich setzte. Ein anderes Mädchen, das ich erkannte, aber einfach nicht einordnen konnte, trat zu uns.
»Nicht jetzt«, blaffte Steph und sorgte damit dafür, dass ich zusammenzuckte.
Das Mädchen hielt an und vergrub die nackten Zehen im Teppich der Lobby. »Aber …«
»Aber es ist mir egal«, unterbrach Steph sie. »Lass sie in Ruhe.«
Ich blinzelte dümmlich, als das Mädchen herumwirbelte und wieder in der Menge verschwand. Ein paar Minuten später kam ein Kerl auf uns zu, doch Steph jagte ihn ebenfalls zum Teufel. Sie war wie ein Wachhund.
Rote und blaue Lichter vor dem Wohnheim warfen seltsame Muster auf die Wände, und ich schloss die Augen.
Debbie hatte sich erhängt.
Ich konnte das einfach nicht verarbeiten. Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, warum sie das getan haben sollte. Letzte Nacht hatte sie eine so große Entscheidung getroffen, und heute Vormittag, als sie darüber geredet hatte, zu ihren Eltern zu fahren, war es ihr gut gegangen. Und jetzt …
Jetzt war sie tot.
Die Campuspolizei kam endlich nach unten, um mit mir zu sprechen; einer der jüngeren Beamten ging in die Hocke und bat mich mit ruhiger Stimme, ihnen zu erzählen, wie ich sie gefunden hatte. Als sie fragten, ob Debbie sich in den letzten Tagen seltsam verhalten hätte, holte ich zitternd Luft.
»Nein. Aber sie hat sich von ihrem Freund getrennt«, erklärte ich mit heiserer Stimme. »Sie war heute Morgen gut gelaunt.«
Die Polizisten wechselten einen Blick, als würde die Tatsache, dass Debbie sich von ihrem Freund getrennt hatte, alles erklären. Doch so war es nicht. Wenn überhaupt, dann machte es diese ganze Situation nur noch verwirrender. Warum sollte sie das tun, wo sie doch noch gesagt hatte, dass so viel Gutes vor ihr lag?
Sobald ich der Campuspolizei alles erzählt hatte, tauchten die Bezirkspolizei und die Staatspolizei auf und stellten noch mal dieselben Fragen.
»Sie hat diese Fragen bereits beantwortet«, blaffte Steph, als ein Beamter fragte, was ich getan hätte, bevor ich in die Suite zurückgekehrt war.
Der Beamte nickte. »Ich verstehe, aber …«
»Glauben Sie nicht zufällig auch, dass sie vielleicht, ich weiß ja nicht, im Moment vielleicht ein wenig traumatisiert ist? Dass Sie ihr mal ein wenig Luft zum Atmen lassen könnten? Vielleicht ein paar ruhige Minuten, um mit der Sache klarzukommen?«
Der Beamte riss die Augen ein wenig auf, doch bevor er antworten konnte, trat Steph plötzlich auf und ging um ihn herum. »Gott sei Dank bist du da. Hat ja lang genug gedauert.«
Ich bekam keine Chance, den Kopf zu heben und zu verstehen, mit wem sie sprach. Der Beamte trat zur Seite, als ein großer Schatten auf mich fiel, und in der nächsten Sekunde lagen Arme um meine Schultern. Ich atmete tief durch und erkannte den leichten Duft nach Rasierwasser, der zu ihm gehörte – zu Jase. Zitternd drückte ich mich in seine Umarmung und vergrub mein Gesicht an seiner Brust.
»Ich war auf der Farm, als du angerufen hast«, sagte er zu Steph. Sie hatte ihn angerufen? Wie bitte? Was? »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.« Seine Hand glitt an meinem Rücken nach oben und vergrub sich in meinen Haaren. »Oh, Süße, es tut mir so leid.«
Ich konnte nicht sprechen, als ich mich fester an ihn drückte und mich an demselben Pulli festklammerte, den er am Abend schon getragen hatte. Doch das war immer noch nicht nah genug. Mir war so kalt, dass ich am liebsten in ihn hineingekrochen wäre.
»Ich wünschte, ich wäre mit dir reingegangen. Verdammt, ich wünschte, du hättest das nicht sehen müssen.« Er legte sein Kinn auf meinen Kopf und hielt mich fester, wobei er dafür sorgte, dass die Decke nicht nach unten rutschte. »Es tut mir so leid, Süße.«
Der Beamte musste aufgegeben haben, denn er stellte keine Fragen mehr, über die ich nicht nachdenken wollte. Gott, ich wollte gar nicht mehr denken.
»Danke«, hörte ich Jase sagen, und dann hörte ich die leisen Schritte von Steph, die sich von uns entfernte.
Ich wollte Jase erzählen, wie sie mir geholfen hatte, doch ich bekam meine Lippen einfach nicht auseinander. Er hielt mich fest und flüsterte mir Worte ins Ohr, die nicht viel Sinn ergaben, aber irgendwie einen beruhigenden Effekt auf mich ausübten.
Plötzlich wurde es still in der Lobby, und ich spürte, dass Jase’ Körper sich an meinem versteifte. Dann schrie jemand, und das Weinen wurde lauter. Ein schreckliches Gefühl breitete sich in mir aus, und ich wollte mich von Jase lösen. Wollte hinschauen, weil ich einfach hinschauen musste.
»Nein.« Er legte eine Hand an meinen Hinterkopf und hielt mich fest. »Im Moment musst du nicht schauen, Süße. Ich werde nicht zulassen, dass du das siehst.«
Ich klammerte mich an seinem Pullover fest, bis mir die Hände wehtaten. Ich wusste auch so, was gerade vor sich ging. Sie brachten Debbie nach draußen. Ein weiterer Schauder überlief mich.
Die Minuten vergingen, und dann trat wieder die Polizei an uns heran. Sie wollte eine offizielle Aussage aufnehmen.
»Kann das warten?«, fragte Jase. »Bitte? Sie kann morgen aufs Revier kommen, aber im Moment möchte ich sie nur von hier wegbringen.«
Es folgte ein kurzes Zögern, dann gab der Beamte nach. »Für heute Abend haben wir ausreichend Informationen erhalten, aber hier haben Sie meine Karte. Sie muss morgen bei uns vorbeikommen.«
Jase bewegte sich und nahm die Karte. »Danke.«
Der Beamte räusperte sich. »Es tut mir leid, Miss Hamilton. Versuchen Sie, sich ein wenig auszuruhen, und wir sehen uns dann morgen.«
Ausruhen? Fast hätte ich gelacht.
»Wir werden hier verschwinden, aber ich muss deine Krücken holen, okay?«, sagte Jase, als er sich von mir löste und sanft mein Gesicht umfasste. Er sah so bleich aus, wie ich mich fühlte. »Kommst du klar, während ich sie holen gehe?«
Mir war bis jetzt gar nicht aufgefallen, dass ich ohne sie nach unten gekommen war. Ich schloss die Augen und atmete ein paarmal tief durch, um mich zusammenzureißen. »Okay. Es … ich komme schon klar.«
»Bist du dir sicher?«
Als ich nickte, wollte er aufstehen, doch ich umklammerte seine Handgelenke. »Wo gehen wir hin?«
»Wir können ins Verbindungshaus gehen oder zu meinen Eltern …«
Ich wollte niemandem begegnen und besonders nicht Erik. »Ich habe einen Schlüssel zu Cams Apartment. Er ist … in meiner Tasche. Können wir dorthin?«
»Sicher, Süße, wir können überallhin, wo du hinwillst.« Er warf einen kurzen Blick über meine Schulter. »Ich werde …«
Ich packte seine Handgelenke fester. »Bitte, erzähl Cam nichts. Bitte. Wenn du das tust, kommt er heim, und das ruiniert den beiden ihr Wochenende. Bitte, erzähl ihm nichts.«
»Ich werde ihm nichts sagen«, versprach Jase und küsste mich auf die Wange. »Und mach dir deswegen keine Sorgen. Okay? Mach dir einfach keine Sorgen.«
Erleichtert, dass diese Sache Cams Pläne nicht beeinträchtigen würde, entspannte ich mich ein wenig. Jase zog los, um einen der Beamten zu suchen, damit er nach oben gehen und mein Zeug holen konnte. Während ich auf ihn wartete, hielt ich meinen Blick unverwandt auf den Boden gerichtet. Ich konnte die Blicke spüren. Am liebsten wäre ich in meiner Decke geschrumpft und einfach verschwunden.
Es dauerte viel zu lange, bis Jase zurückkam. Mit meiner Tasche in der Hand half er mir auf die Beine und führte mich nach draußen. Ich fühlte die kühle Luft kaum, als er mich an den Streifenwagen vorbei zum Parkplatz führte.
Wir schwiegen während der Fahrt nach University Heights. Jase hielt meine Hand, doch ich konnte seine Berührung kaum spüren. Ich war vollkommen betäubt, äußerlich und innerlich. Dumpf fragte ich mich, wann ich wohl wieder etwas fühlen würde. Genau so hatte ich mich gefühlt, nachdem ich mir mein Knie zum ersten Mal verletzt hatte. Leer. Wie benebelt. Dieses losgelöste Gefühl hatte tagelang angehalten, doch dieses Mal war es anders, saß irgendwie tiefer.
Cams Apartment war dunkel, als wir es betraten. Jase trat um mich herum und fand mühelos den Lichtschalter. Für ihn war diese Wohnung wahrscheinlich wie ein drittes Zuhause.
Er hielt einen Meter vor mir an, drehte sich um und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Tess, Süße …« Er schüttelte den Kopf, als wisse er nicht, was er sagen sollte. Und was sagte man auch in einer Situation wie dieser?
Ich holte tief Luft, doch meine Knie waren weich. »Ich … ich habe noch nie vorher einen Toten gesehen.«
Jase schloss kurz die Augen.
»Und sie war tot.« Ich hielt inne und schluckte. Das war eine dumme, unnötige Klarstellung, doch ich musste es einfach laut aussprechen. »Sie hat sich umgebracht. Warum hat sie das getan?«
»Ich weiß es nicht.« Er kam auf mich zu, einen schmerzerfüllten Ausdruck in den Augen.
Meine Kehle brannte. »Sie hat mir gestern Abend noch erzählt, wie froh sie ist, mit Erik Schluss gemacht zu haben. Dass sie sich auf den Rest ihres Lebens freut.« Ich wollte einatmen, doch mein Atem stockte. »Heute Morgen ging es ihr gut. Ich verstehe das einfach nicht.«
»Ich weiß.« Er hielt vor mir an, und als er wieder sprach, war seine Stimme leise. »Und du wirst es vielleicht nie verstehen.«
Das wollte ich nicht glauben. Irgendetwas musste geschehen sein, um Debbie zu dem zu treiben, was sie getan hatte. Ich wollte nicht, dass diese Tragödie etwas war, was ich nie verstehen würde und einfach damit leben musste. Ich bewegte mich nicht, und trotzdem stolperte ich irgendwie. Die Krücken fielen mit einem gedämpften Knall auf den Boden. Jase fing meinen Ellbogen ein und führte mich zur Couch.
»Geht es dir gut?« Er setzte sich neben mich und legte eine warme Hand an meine kalte Wange.
Ich nickte, schloss die Augen und lehnte mich in seine Berührung. Die Worte – sie quollen einfach irgendwie aus mir heraus. »Vielleicht hätte ich früher etwas über Erik zu ihr sagen sollen – über das, was ich mit Jeremy durchgemacht habe. Ich hätte ihr helfen können. Vielleicht hätte ich besser aufpassen müssen …«
»Hör auf«, sagte Jase, umfasste mein Gesicht mit beiden Händen und drückte seine Stirn an meine. »Es gab absolut nichts, was du hättest tun können, um die Situation zu ändern. Verstehst du das?«
Ich war mir nicht sicher. Ich hatte von Anfang an in Bezug auf sie und Erik den Mund gehalten, und auch Debbie hatte nichts gesagt. Schweigen, egal, aus welchem Blickwinkel man es betrachtete, zerstörte Leben.
Jase sah mich eindringlich an. »Wenn sie sich umbringen wollte, hätte sie es getan, egal, was irgendwer gesagt oder gemacht hätte, Tess.«
Sich umbringen.
Irgendetwas daran klang falsch. Es fiel mir schwer zu glauben, dass Debbie sich wirklich erhängt hätte. Momentan steckte ich ziemlich tief in der Verleugnungsphase, doch irgendeine kleine Stimme in meinem Hinterkopf schrie, dass sie so etwas nie getan hätte.
»Ich frage mich, ob sie wohl einen Abschiedsbrief gefunden haben«, überlegte ich laut, während ich spürte, wie mir das Herz schwer wurde. »Glaubst du, das haben sie?«
Er zog sich zurück und ließ seine Hände auf meine Beine sinken, während er den Kopf schüttelte. »Ich weiß es nicht. Vielleicht sagen sie es dir morgen, wenn ich dich aufs Revier bringe.«
Daran wollte ich im Moment wirklich nicht denken. Ich rieb mir das Gesicht. So viele Gedanken schossen mir durch den Kopf, dass ich einen davon einfach aussprach. »Wusstest du, dass Steph dort lebt? Ich meine, dass sie meine Mitbewohnerin ist?«
»Nein. Ich war nie in ihrem Wohnheimzimmer. Und ich habe auch nie gefragt, wo sie wohnt.«
Für den Moment entschied ich mich, ihm einfach zu glauben, weil es dämlich war, mir darüber jetzt Gedanken zu machen. »Sie hat dich angerufen?«
»Das hat sie, und ich … Sie hat gesagt, du wärst wirklich fertig – würdest schreien – und deswegen hat sie mich angerufen.«
Ich zitterte, als ich mich an die schrecklichen Augenblicke erinnerte, nachdem ich Debbie gefunden hatte. »Woher wusste sie das?«
Er sah mich verwirrt an. »An dem Abend der Party – da hat sie den Schluss gezogen, dass du mir etwas bedeutest und dass zwischen uns irgendwas läuft.«
Das ergab Sinn. Ich drehte mich ein wenig zur Seite und konzentrierte mich darauf, tief durchzuatmen.
»Ich gehe mal schauen, ob Cam etwas zu trinken hat.«
»Nimm was Starkes«, murmelte ich.
»Bist du dir sicher?« Als ich nickte, küsste er mich auf die Wange. »Ich bin überzeugt, er hat was.«
Ich hob den Kopf, und meine Augen fielen auf meine Krücken, die auf Cams beigem Teppich lagen. Vor ein paar Tagen hatte ich gedacht, mein Leben sei zerstört. Nicht vollkommen, weil gleichzeitig mit dem Schlimmen auch Gutes passiert war. Ich hatte Jase gefunden. Endlich, nachdem ich mich jahrelang nach dem Kerl gesehnt hatte, gehörte er zu mir. Noch heute Abend hatte ich mich darüber aufgeregt, dass Jase Erik geschlagen hatte. Das erschien mir jetzt so unwichtig. Genauso wie mein kaputtes Knie. Im Vergleich zu dem, was gerade mit Debbie und ihrer Familie geschehen war, verblasste das alles zur Bedeutungslosigkeit. Meine Probleme waren lächerlich, denn Deb … sie war weg.
Jase kehrte mit einem kleinen Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit darin zurück. »Scotch«, sagte er, als er es mir in die Hand drückte. »Das sollte helfen.«
Ich nahm einen Schluck und verzog das Gesicht, als meine Kehle brannte. »Wow.«
»Der zweite Schluck wird einfacher.« Er hielt die ganze Flasche in der Hand und nahm einen Schluck. Offensichtlich war er ein Profi darin, das harte Zeug zu trinken.
Er hatte recht gehabt. Der zweite Schluck war einfacher und der dritte überhaupt kein Problem mehr. Als das Glas leer war, stellte ich es auf dem Couchtisch ab.
»Hat es geholfen?«, fragte er und stellte seine Flasche neben mein Glas.
Hatte es das? Ich drehte mich zu ihm um. »Ich möchte … ich möchte schlafen.«
Seine Miene wurde weich. »Das ist eine gute Idee.«
Ja. Das klang nach einer phantastischen Idee. »Bleibst du heute Nacht bei mir? Ich will nicht allein sein.«
»Natürlich bleibe ich bei dir. Auf keinen Fall lasse ich dich heute Nacht allein.«
Ich rutschte zu ihm und schlang die Arme um seinen Hals. »Vielen Dank dafür, dass du gekommen bist.«
Er erwiderte meine Umarmung. »Dafür musst du mir nicht danken.«
»Aber das will ich. Ich habe keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn du nicht da wärst. Wahrscheinlich hätte ich den Verstand verloren. Ich habe einfach …« Ich beendete den Satz nicht. Dankbarkeit erfüllte mich. »Danke dir.«
Jase drückte mir einen Kuss auf den Haaransatz, und mir fiel es schwer, meine Arme von ihm zu lösen. Ich fand ein altes, viel zu großes T-Shirt von Cam, das ich als Schlafshirt benutzen konnte, während Jase das zweite Schlafzimmer begutachtete.
»Tut mir leid. Ich kann nicht in Cams Zimmer schlafen. Das ist einfach zu seltsam.«
Ich humpelte in das zweite Zimmer und betrachtete das Doppelbett mit der blauen Überdecke. »Ist das nicht Ollies altes Zimmer?«
Jase sah über die Schulter zurück. Es war nur ein kurzer Blick, doch trotzdem bemerkte ich, dass er meine nackte Haut betrachtete. Cams Shirt rutschte mir über eine Schulter nach unten, und der Saum hing gerade mal auf der Mitte meiner Oberschenkel. Hätte ich mich vorgebeugt, hätte jemand einen guten Blick auf meinen Slip werfen können.
Er wandte den Blick ab und stellte sich breitbeinig vor das Bett. »Cam hat das Bett und noch ein paar Sachen ausgetauscht, weil das alte Ollie gehörte. Ich schlafe manchmal hier.«
»Bist du dir sicher?«
Jase lachte leise. »Ich würde niemals im selben Bett schlafen wie Ollie, außer es wäre vorher desinfiziert worden.«
Meine Lippen zuckten. »Wie gemein.«
»Ähm, du würdest auch nicht in seinem Bett schlafen wollen«, bemerkte er, als er sich zu mir umdrehte. »Der Junge ist ganz schön rumgekommen. Sein Bett hat mehr erlebt als ein U-Bahn-Waggon.«
Das zauberte ein kurzes Grinsen auf mein Gesicht.
Seine Augen fingen an zu leuchten. »Da sind sie.«
»Was?«
»Die Grübchen.«
Ich lächelte.
»Noch besser.« Er stürzte sich auf mich und küsste erst die eine Wange, dann die andere. »Ich liebe sie.«
Trotz allem wurde mir warm, und ich wusste, dass das nichts mit dem Alkohol zu tun hatte. Die Wärme hielt an, bis ich in das Bett kroch, das nach frischem Bettzeug roch, während Jase in den hinteren Teil der Wohnung verschwand, die Tür kontrollierte und sich etwas Wasser holte.
Zitternd zog ich die Decke über meine Schultern und rollte mich auf der Seite zusammen mit dem Rücken zur Tür. Als ich die Augen schloss, sah ich Debbies bleiche Beine und schlaffen Arme.
Warum hatte sie es getan? Nichts – egal was – war es wert, sich deswegen das Leben zu nehmen. Tränen brannten in meinen Augen und liefen über. Debbie und ich hatten uns nicht allzu nahegestanden, doch das spielte scheinbar keine Rolle. Es tat mir trotzdem im Herzen weh.
Ich hörte, wie die Tür sich leise schloss, und rieb mir schnell das Gesicht. Das Licht neben dem Bett ging aus, und dann hörte ich das leise Rascheln von Kleidung, die zu Boden fiel. Mein Herz setzte für einen Moment aus. Das Bett bewegte sich, und Jase legte sich hinter mich. Irgendwie fanden seine Finger in der Dunkelheit des Raums, der nach Kokosnuss und Vanille roch, die Tränenspuren auf meinen Wangen und wischten sie weg. Er sagte nichts, als er seinen Körper an meinen drückte und einen Arm über meine Hüfte legte.
Die Hitze seiner nackten Brust drückte sich an meinen Rücken, doch es war, als stecke die Hälfte meines Körpers in einer Schneewehe fest, während der Rest gemütlich vor einem Feuer saß. Ich bemühte mich, die Augen wieder zu schließen, doch sofort erschien wieder das Bild von Debbie. Ein Schauder überkam mich.
»Denk nicht dran.« Jase drückte mich fester.
»Ich sehe sie ständig«, gab ich nach ein paar Augenblicken zu. »Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich sie da hängen …« Ich brach ab. Ich wollte nicht daran denken oder irgendetwas fühlen. Jase bewegte sich hinter mir, und ich konzentrierte mich auf das Gefühl seines warmen, harten Körpers so nah an mir. In ihm konnte ich mich verlieren. Sobald die Idee sich einmal in meinem Kopf festgesetzt hatte, erschien sie mir brillant. Jase würde dafür sorgen, dass ich vergaß, und wenn es auch nur für eine kleine Weile war.
Ich bewegte die Hüften und fühlte, wie er härter wurde. »Jase?«
»Ja?« Seine Stimme klang tief und heiser.
Meine Wangen glühten, als ich weitersprach. »Lass mich vergessen.«
Seine Brust hob sich an meinem Rücken. »Worum bittest du?«
»Um dich«, flüsterte ich.
Er holte tief Luft. »Tess …«
»Mir ist so kalt.« Ich rollte mich auf den Rücken und drehte den Kopf in seine Richtung. Unsere Gesichter waren nur Zentimeter voneinander entfernt. »Ich möchte mich nicht so fühlen. Bitte, Jase, ich möchte, dass mir warm wird. Ich will nicht denken. Ich möchte sie dort nicht hängen sehen. Bitte. Lass mich vergessen. Auch wenn es nur für den Moment ist.«
Ich bewegte mich und rollte mich herum, bis ich halb auf ihm lag. Mein rechtes Bein, komplett mit Kniestütze, schob sich zwischen seine Beine, und ich legte meine Hände auf seine harte Brust. Bevor er Nein sagen konnte, drückte ich meinen Mund auf seinen und küsste ihn. Zuerst reagierte er nicht, als habe ich ihn mit meiner Dreistigkeit schockiert. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich je einen Kuss zwischen uns initiiert hatte. Doch bis auf den Abend der Party war es immer er gewesen. Und selbst an diesem Abend hatte ich ihn nicht geküsst.
Zumindest nicht auf den Mund.
Diejenige zu sein, die nach einem solch tragischen Vorfall so etwas initiierte, hinterließ ein schales Gefühl bei mir. Aber ich verdrängte es und packte es zu den anderen unangenehmen Gefühlen, die ich einfach nicht empfinden wollte.
Seine Lippen lagen hart und warm unter meinen. Absolut perfekt. Und dann bewegten sie sich und folgten sanft meiner Führung. Ich stöhnte, als unsere Zungen sich trafen und der Kuss sich vertiefte. Wärme breitete sich durch meinen Körper aus. Winzige Flammen des Verlangens flackerten tief in meinem Bauch auf.
Jase umfasste meine Oberarme, und die freudige Erwartung stieg an. Ich fühlte, wie er an meiner Hüfte hart wurde, und rechnete damit, dass er mich näher an sich zog, unsere Körper gegeneinander drückte, doch … er hob mich von sich.
Ich riss die Augen auf. »Was?«
Auf seinem Gesicht sammelten sich Schatten, und seine Miene war hart. »Nicht so, Tess.«
Das war nicht, was ich hören wollte. Ich drückte mich gegen ihn und entriss ihm damit ein Stöhnen, das Hitze zwischen meine Beine jagte. Er zitterte leicht, als ich den Kopf senkte und seine Unterlippe einfing. Ich saugte daran, bis er aufseufzte, die Hüften hob und sich gegen mich drückte. Das Feuer breitete sich durch meine Adern aus, und das – ja, das – war, was ich im Moment brauchte. Vergessen. Wärme. Leben.
Jase bewegte sich, und ohne Vorwarnung lag ich auf dem Rücken und er über mir. Seine Härte presste sich zwischen meine Beine. Lust überkam mich. Ich drückte den Rücken durch und zog ihn mit dem linke Bein enger an mich.
»Himmelherrgott, Tess …« Er schnappte sich meine Handgelenke und drückte sie aufs Bett. Seine Brust hob und senkte sich in schnellem Rhythmus. »Wir werden das nicht tun.«
Ich bewegte meine Hüften, und er pulsierte an mir. »Ich glaube, er ist da anderer Meinung.«
Jase lachte keuchend auf.
Als ich mich wieder an ihn drückte, packte er meine Handgelenke fester. »Willst du mich nicht?«
»Verdammt«, stieß er hervor. »Ich will dich immer. Ich will dich seit Jahren. Ich will dich in jeder Stellung, die der Menschheit bekannt ist.« Er hielt inne und drückte seine Stirn gegen meine. »Aber unser erstes Mal soll nicht nach so etwas stattfinden, weil du einfach nur vergessen willst, was du gesehen und empfunden hast.«
Mit klopfendem Herzen sah ich ihm in die Augen. »Unser erstes Mal?«, wiederholte ich, als sei mir gerade erst aufgefallen, dass wir noch nicht miteinander geschlafen hatten.
»Ich möchte, dass du dann nur an mich denkst. Ich möchte, dass du dich völlig auf mich konzentrierst, weil du das wirklich willst und nicht, weil du etwas anderem entkommen willst«, sagte er. Langsam lockerte er seinen Griff. »Ich möchte nicht, dass das, was zwischen uns geschehen wird, von etwas anderem überschattet wird.«
Alles tat mir weh, doch seine Worte durchdrangen langsam den Nebel um mich herum. Er beobachtete mich, während alles in mir seinen Platz fand. Was hatte ich mir dabei gedacht? Mein Gesicht verzog sich. »Es tut …«
»Entschuldige dich nicht.« Er drückte mir einen schnellen, süßen Kuss auf die Stirn, dann glitt er sanft zur Seite. »Das hier nicht mitzumachen ist mir verdammt noch mal unglaublich schwergefallen.«
Ich versuchte, mich zusammenzureißen, doch meine Augen brannten und füllten sich mit Tränen. Als es aus mir herausbrach, hatte das nichts damit zu tun, dass Jase meinen kleinen Sexanfall ausgebremst hatte. Ich empfand in diesem Moment, was ich empfinden musste – Trauer, Schmerz, Verwirrung und Leid. Das alles verband sich in mir zu einem brutalen Gefühlstrudel.
Jase schlang die Arme um mich und zog mich an seine Brust. Seine Hand lag um meinen Hinterkopf. Er wusste, warum die Tränen kamen, und er hielt mich, bis ich mich ausgeweint hatte und in das süße Nichts des Schlafes glitt.
Wir mussten Stunden geschlafen haben. Vielleicht hatten wir sogar den halben Tag verschlafen, denn als ich die Augen öffnete, drang sanftes Sonnenlicht durch das Fenster hinter dem Bett.
Und wir waren nicht allein.
Was zur …?
Schlaftrunken sah ich mich um, und der Raum gewann an Schärfe. Mein Bruder stand mit offenem Mund am Fußende des Bettes. Averys rote Haare erschienen über seiner Schulter, als sie darüber hinweg spähte. Ich blinzelte langsam. Was taten sie hier? Träumte ich? Hatte ich einen Albtraum?
Ein Muskel an Cams Kinn zuckte, als sein Blick über das Bett glitt. Ich sah nach unten, dann riss ich die Augen auf. Die Decke war irgendwann in der Nacht verrutscht. Mein linkes Bein lag außerhalb der Decke und eng zwischen Jase’ Beinen. Auch wenn ich wusste, dass er seine Boxershorts trug, sah es im Moment nicht so aus. Meine Güte, es sah aus, als seien wir nackt. Mein geborgtes Shirt war vollkommen über meine Schulter gerutscht, und so, wie ich mich in der Decke vergraben hatte, sah es aus, als hätte ich nichts an. Und Jase’ Brust war unbedeckt.
Und noch schlimmer, ich lag halb auf ihm.
Heilige Scheiße.
Ich versteifte mich, als ich Cam in die Augen sah. Seine blauen Augen brannten, als er den Mund zuklappte. Avery tauchte hinter meinem Bruder auf. Sie wirkte, als kämpfe sie mit einem Grinsen.
Jase’ Arm an meiner Hüfte zog mich enger an sich. Er drehte den Kopf und vergrub ihn an meinem Hals. Dann gähnte er, ein herzhaftes Geräusch, das durch den Raum hallte. »Was ist los, Süße?«
Ich war sprachlos.
Mein Bruder legte den Kopf schräg, und jeder Muskel in seinem Körper spannte sich an. Das sah nach üblem, echtem Ärger aus. »Süße?«
Jase hörte auf, sich zu bewegen, doch er zog nicht den Arm zurück, als er das Gesicht von meinem Hals löste. Er sah ans Fußende des Bettes und atmete einmal tief durch.
Es folgte ein kurzes Schweigen, dann sagte Cam: »Was zur Hölle?«