Marco Cavallo will raus. Zwei Monate lang hat er in einem zur Werkstatt umfunktionierten Pavillon gelebt, nun zieht es ihn hinaus in die Welt. Doch ganz so einfach scheint es nicht zu gehen: Marco Cavallo hält sich an keine Norm. Er ist groß, riesengroß, drei Meter hoch und gut sechs Meter lang. Für ein Pferd wie ihn sind Häuser nicht gemacht. Was also tun? Die Türstöcke herausreißen, wird kurzerhand beschlossen. Marco muss endlich ins Freie entlassen werden.
Am 25. Februar 1973 setzt sich in Pavillon P von San Giovanni, dem Psychiatrischen Krankenhaus von Triest, ein seltsamer Zug in Bewegung: Ein blaues Pferd aus Pappmaché wird durchs Anstaltsgelände zum Tor der Klinik geschoben. Dort versammeln sich Patienten, Ärzte, Schwestern und Sympathisanten, um Marco Cavallo quer durch die Stadt nach San Vito zu bringen. Eine lärmende Karawane, begleitet von Trommeln, Gesängen und Transparenten: »La libertà è terapeutica«. Freiheit ist die Therapie. Vor der Kathedrale kommt der Zug zum Stoppen. Hier findet ein Volksfest statt, mit Musik und Tanz, mit Sketches und flammenden Reden. Danach zieht man weiter, um in einer Turnhalle zu feiern. An jenem Sonntag im Februar 1973 manifestiert sich auf vitale Weise, dass sich neue Wege auftun: Ein blaues Pferd wird zum Symbol für die Autonomie der Psychiatrie. »Viva Marco Cavallo.«
Seit den frühen siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gelten der Arzt Franco Basaglia als Lichtgestalt und Triest als Vorreiter einer beispielgebenden Reform. Sie erfasste von hier aus ganz Italien und griff auf viele Länder Europas und Amerikas über. Basaglia ist es zu verdanken, dass sich geschlossene Anstalten von Orten der Abschiebung in Laboratorien einer humaneren Gesellschaft verwandelten.
Die Klinik von San Giovanni stammt ursprünglich aus jenen Tagen, da die Psychiatrie eine erste zaghafte Reform durchlief. Die riesigen Schlafsäle, in denen man Patienten bisher zusammengepfercht und gewaltsam unter Kontrolle gehalten hatte, sollten kleineren Häusern weichen: eine Stadt in der Stadt, so der Auftrag an den Architekten Ludovico Braidotti. Er orientierte sich an Otto Wagner und dessen Entwürfen für die Psychiatrische Anstalt Steinhof in Wien. Also wurden eine Reihe von Pavillons gebaut, eine Kapelle und ein Theatersaal, eine Wäscherei und eine Gärtnerei, untergebracht auf einem Areal von dreiundzwanzig Hektar.
San Giovanni wird 1908 eröffnet – zu einem Zeitpunkt, da Triest gerade Sigmund Freud entdeckt. Mit seinem Schüler Edoardo Weiss, der hier 1918 zu praktizieren beginnt, erfährt die Psychoanalyse eine besondere Blüte. Sie weckt, wie Claudio Magris befindet, »ein fast schon fieberhaftes kulturelles Interesse und führt zu einem neurotischen, endogam undurchdringlichen Kreislauf zwischen Patienten, Freunden und deren Therapeuten, die untereinander ihre Rollen tauschen und Therapie, Freundschaft und gesellschaftlichen Verkehr miteinander verwechseln«. Wer auf sich hält und es sich leisten kann, ist in Analyse. »Traumdeutung« und »Totem und Tabu« überrollen die Stadt, die ohnehin mit ihrer brüchigen Identität hadert.
Sigmund Freud, Edoardo Weiss, Franco Basaglia: Klemmen die Türen zum weiten Land der Seele in Triest weniger als anderswo? Basaglia, 1924 in Venedig geboren, hat in Padua studiert, geforscht und gelehrt, ehe es ihn 1961 in die Praxis zieht: Er will endlich ausprobieren, was er theoretisch erarbeitet hat. Die Klinik von Gorizia, fünfzig Kilometer nördlich von Triest, scheint ihm dafür der richtige Ort. Die Zustände im Spital erschüttern ihn. Ein Kerker, in dem die Patienten stumm vor sich hin vegetieren, in Zwangsjacken eingeschnürt und medikamentös sediert. Unruhige werden über Wochen und Monate in Käfigen arretiert. Elektroschocks dienen der Bestrafung unangepasster Kranker.
Basaglias Befund ist klar und scharf. Die Psychiatrie, so erklärt er, habe sich von der Justiz instrumentalisieren lassen und füge sich deren Direktiven. Beide sind dafür verantwortlich, dass all jene Menschen, die nicht dem System entsprechen, kriminalisiert und weggesperrt werden. Medizinische Untersuchungen entpuppten sich als Mittel der Repression, Diagnosen als Urteile, häufig lebenslänglich: Die Patienten würden in Unmündigkeit und Ohnmacht geschickt und damit in ein Gefängnis. Leere Körper, die sich manisch aufzubäumen suchen und zusammenbrechen.
Ein System, das Basaglia kraftvoll zu boykottieren beginnt. Gemeinsam mit einer Gruppe junger Ärzte, Psychologen und Soziologen entwirft er Behandlungsmodelle, um Hierarchien aufzubrechen und den Kranken zu Selbstbestimmung zu verhelfen. Die Ursachen psychischer Leiden seien nicht allein im Physiologischen zu suchen, sondern im Umfeld der Patienten und in der Gesellschaft, so Basaglias Überzeugung. Der Arzt, Anwalt und Kontrollorgan des Staates, müsse fortan den Patienten und dessen Willen vertreten. Nur so könne man dessen Lethargie aufbrechen und ihm Perspektiven zuspielen. »Für die Rehabilitation des in unseren Anstalten dahinvegetierenden institutionalisierten Kranken ist es vor allem nötig, dass wir uns bemühen – bevor wir einen neuen, freundlichen und menschenwürdigen Rahmen für ihn schaffen, den er gewiss auch braucht –, in ihm ein Gefühl der Auflehnung gegen die Macht zu wecken, die ihn bis dahin determiniert hat. Sobald in ihm eine derartige Emotion erwacht, wird die Leere, in der er jahrelang gelebt hat, sich wieder mit persönlichen Kräften der Reaktion und des Konflikts und mit einer Aggressivität füllen, über die allein seine Rehabilitation realisierbar wird.«
Als Franco Basaglia im August 1971 nach Triest übersiedelt und die Leitung von San Giovanni übernimmt, sind dort über tausend Menschen untergebracht. Die meisten sind via Zwangseinweisung interniert worden. Basaglia reagiert umgehend: Er schafft Schocktherapien ab, schränkt die medikamentöse Ruhigstellung ein oder hebt sie ganz auf. Gleichzeitig ermuntert er die Kranken, ihre Zimmer zu verlassen und sich frühere Lebensräume zurückzuerobern.
Regelmäßige Stationsversammlungen, an denen auch die Patienten teilnehmen, lassen andere Formen der Kommunikation entstehen. Eigeninitiative wird gefördert, der Arzt als alleinige Autorität infrage gestellt. Auf diese Weise transformieren sich die einstigen Machtverhältnisse. Schon 1973 beginnen sich die Kranken zu organisieren und für ihre eigene Stimme zu kämpfen. Eine Demokratisierung der Psychiatrie setzt ein. Kooperativen entstehen, mit regulären Werkverträgen und einer gerechten Entlohnung. Ihnen folgen betreute Wohngemeinschaften, einige in den Pavillons der weitläufigen Anlage, die meisten in anderen Stadtvierteln. Parallel dazu lädt man die Bevölkerung ein, San Giovanni zu erkunden, bei Konzerten, Lesungen oder Theaterabenden. Die Grenze zwischen Stadt und Psychiatrie wird durchlässig. Die Akzeptanz jener, die gesellschaftliche Normen sprengen, steigt.
Im Jänner 1973 zieht eine Gruppe von Künstlern nach San Giovanni, um zwei Monate lang mit ihnen zu arbeiten. Ein Atelier, offen für jede Form kreativen Ausdrucks, könnte die Patienten aus der Apathie reißen, so die Überlegung. Doch wie schafft man es, möglichst viele von ihnen anzusprechen und zum Mitmachen zu motivieren? Vielleicht mithilfe einer Identifikationsfigur, so einer der Vorschläge. Die Wahl fällt auf Marco Cavallo, einen alten Gaul. Ihn hatte man vor jenen Karren gespannt, auf dem die Wäsche durch das Anstaltsgelände transportiert wurde. Als er geschlachtet werden sollte, hatte sich ganz San Giovanni dagegen aufgelehnt und sein Gnadenbrot erwirkt. Und wenn man nun Marco Cavallo als Figur aus Pappmaché nachbilden würde, als Zeichen des Widerstands? Alle sind einverstanden.
Mit Marco Cavallo wachsen Mut und das Wissen, an einem Strang zu ziehen. Durch Wandzeitung und Flugblätter über das Fortschreiten der Arbeit informiert, finden sich immer mehr Patienten in Pavillon P ein, wo eine Werkstatt eingerichtet ist. Sie wird zum kreativen Labor. Hier wird gesungen, gedichtet und diskutiert. Leidenschaften und Sehnsüchte artikulieren sich in Spiel und Tanz. Wirklichkeit und Fiktion durchdringen einander und eröffnen neue Erfahrungen. Die einstige Passivität vieler Kranker bricht langsam auf, Freundschaften entstehen, die Gespräche nehmen zu. Gleichzeitig verschaffen sich Aggressionen Raum. Zeichnungen werden zerstört, Fotos gestohlen. Doch es gelingt, Unruhe und Feindseligkeit aufzulösen und sie im Miteinander zu überwinden.
Marco Cavallo wächst, sein Leib aus grauem Pappmaché ist riesig. Womit man ihn füllen solle, fragen sich Künstler und Patienten, und entwickeln eine Idee. Jeder der Beteiligten versenkt einen kleinen Brief mit seinen Wünschen in Marcos Bauch: Reh mit Polenta, Hasensalami, ein Lied, ein Fahrrad, ein Komet. In Marcos Wanst findet vieles Platz.
Zuletzt gilt es zu überlegen, in welcher Farbe man Marco streichen würde. Blau – wie das unendlich weite Meer vor der Küste Triests, wie das legendäre Pferd des Franz Marc? So soll es sein. Nun ist Marco bereit für seine Reise in die Welt. Auf sechshundert handbemalten Plakaten wird die Stadt auf den Zug der matti, wie man die Geisteskranken nennt, vorbereitet. Am 25. Februar 1973 stehen alle bereit. Patienten, Ärzte und Künstler geben sich kämpferisch: Sollen sie doch alle herschauen und uns begaffen, uns, das Lumpenpack aus San Giovanni. Aufbruchsstimmung macht sich breit. »Der Umzug der Verrückten, der armen Teufel, bewegte sich durch die Stadt«, wie sich einer der Psychiater erinnert. »Er bewegte sich durch die Stadt, wurde stärker, suchte seine eigene Geschichte, seine eigene Identität, seine eigene Wurzel, die negiert ist, die nicht ist und nicht sein darf.«
An jenem Sonntag im Februar scheint plötzlich vieles möglich. Am Abend, als das Fest zu Ende geht, sind alle euphorisch. Dieser Tag macht Mut. Zeitungen, Radio und Fernsehen berichten von der Aktion, das gesamte Kunstprojekt wird von Giuliano Scabia in einem Buch dokumentiert. »Das große Theater des Marco Cavallo«, so der Titel, »Phantasiearbeit in der Psychiatrischen Klinik Triest«. Die Künstler ziehen ab, doch Marco Cavallo bleibt in San Giovanni zurück. In seinem Bauch steckt die Hoffnung.
Franco Basaglia kann in jenen Tagen auf sein Team zählen. Er publiziert viel, häufig zusammen mit seiner Frau Franca Ongaro Basaglia. Der Austausch mit Freunden und Kollegen aus Frankreich, England oder den USA – darunter Michel Foucault, Ronald D. Laing und Erving Goffman – macht ihn international bekannt. Aus der ganzen Welt reisen Ärzte und Interessierte nach Triest, um Basaglias Ansatz vor Ort kennenzulernen. Bücher wie »Was ist Psychiatrie?« oder »Die negierte Institution oder Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen« werden zu Bibeln. Das Echo stärkt Basaglia den Rücken. Er erhält zusätzliche Unterstützung vom christdemokratischen Präsidenten der Provinzverwaltung, Michele Zanetti, der Basaglias Programm von politischer Seite mitträgt. Man arbeitet auf mehreren Ebenen: Einerseits gilt es, die Patienten von San Giovanni auf einen Alltag in Selbständigkeit vorzubereiten, andererseits kämpft man um die Zentren für mentale Gesundheit, wie sie heißen. Die ambulante Betreuung der Kranken außerhalb der Klinikmauern ist einer der Grundpfeiler, auf die Basaglia baut.
Und doch: Was sich im Rückblick als Erfolgsgeschichte liest, bedeutet in jenen Jahren eine Übung in Geduld, Durchhaltevermögen und Zuversicht. Viele Triestiner sind überfordert. Sie wollen keine psychisch Kranken in der Nachbarwohnung, sie wollen keine Verrückten in den Straßen ihrer Stadt herumirren sehen. Wer weiß, was denen einfällt, wenn die alle frei- und losgelassen sind. Kann man sich in Triest überhaupt noch sicher fühlen? Kritiker kommen auch aus den eigenen Reihen. Es sei zu früh für hochfliegende Pläne wie die eines Franco Basaglia, viele der Ideen seien naiv und angesichts eines maroden Gesundheitssystems nicht finanzierbar. Ob man sich hier nicht versteige mit solch abgehobenen Vorhaben, das Ende der geschlossenen Anstalten zu verkünden?
Basaglia bleibt unbeirrbar und behält recht. Nach und nach werden Widerstände schwächer und man nimmt die Kranken wieder in die Gemeinschaft auf. Triest scheint stolz auf seine Fähigkeiten, einer politischen Utopie auf die Sprünge zu helfen. Im Jahr 1977, als Franco Basaglia die Schließung von San Giovanni in Aussicht stellt, zählt man dort nur noch hunderteinunddreißig stationäre Patienten, von denen einundachtzig aus eigenem Antrieb da sind, als Gäste. Es gibt auf ganz Triest verstreute Beratungsstellen und dazu psychosoziale Ambulatorien, die sich auf ein großes Spektrum therapeutischer Behandlungen stützen.
Am 13. Mai 1978 wird in Rom die Legge 180 gebilligt. Das Gesetz sieht die graduelle Auflösung der Psychiatrischen Anstalten vor und verhilft den Kranken zu ungeahnten Rechten. Genugtuung und Ansporn für Franco Basaglia: Er hat sich lange für diese Novelle starkgemacht. Zwei Jahre später stirbt er, unerwartet. Man hütet sein Erbe. Die Legge 180 wird in den folgenden Jahren kritisiert, angefeindet, sabotiert. Man schreit nach einer Reform der Reform. Doch die Gesellschaft ist stark genug, sich nicht mehr hinter die darin festgeschriebenen Leitlinien für die Psychiatrie zurückzubewegen. Das Gesetz Basaglia lehrt den aufrechten Gang.
San Giovanni ist immer noch von Mauern umschlossen, doch die Tore nach außen stehen offen. Das Ex-Opp, wie es die Triestiner liebevoll-salopp nennen, ist heute ein Park mit einem prächtigen Rosengarten. Die Pavillons der früheren Psychiatrischen Klinik haben neue Bewohner bekommen. Studenten sind eingezogen, dazu Kultur- und Bildungseinrichtungen. An den Wänden die Parolen von einst: »La libertà è terapeutica.« Oder auch: »La verità è revoluzionaria.«
Und Marco Cavallo, wo ist der geblieben? Lange Jahre sah man ihn auf der Veranda des Pavillons des Dipartimento di Salute Mentale stehen, ein überdimensionales blaues Fabelwesen. Es hatte im Getümmel seinen Kopf verloren. Inzwischen hat man Marco in Bronze verewigt. Auf dass er ewig weiterlebe, so wie das Gedankengut des Franco Basaglia, und mit ihm die Erinnerungen an die Öffnung der Psychiatrie, an den Auszug der Patienten, den Ruf der Freiheit.
Wenn ein Löwe das Herz mir zerfleischt,
wenn eine Schlange mich beißt,
wenn ich suche nach dem Meer vor Shanghai oder vor Hongkong.
Oder wenn ich mich in dich verliebe:
Was unternimmst du?
So die Frage in einer der Moritaten über das Leiden der Psychiatrie.
Ich habe keine Waffe, um den Löwen zu töten,
und keinen Stock gegen die Schlange.
Nach Hongkong können wir nicht fliegen.
Wenn es überhaupt eine Antwort gibt, dann heißt sie: Keine Kontrolle.
Viva Marco Cavallo.