»Die Bevölkerung erwartet viel von dem Verbot des Waffentragens durch General Koenig [den Militärgouverneur von Paris] … Es wird darüber geklagt, daß nicht genügend Polizisten zu sehen sind. Tatsächlich ist die Polizei bei der Bevölkerung gegenwärtig so beliebt wie selten, wozu ihre Teilnahme an der Befreiung und die anschließenden Übergriffe unkontrollierter Elemente beigetragen haben.« General de Gaulle nahm den Bericht des Polizeipräfekten Charles Luizet über die Sicherheitslage in Paris zur Kenntnis, bevor er am 14. September 1944 zu Besuchen der Provinzmetropolen Lyon, Marseille, Toulouse und Bordeaux aufbrach, wo die Unsicherheit weit schlimmer war als in der Hauptstadt.
Die Forderung nach der Bestrafung von Kollaborateuren war lange vor der Befreiung laut geworden. Im Frühjahr 1942 erschienen in Untergrund-Blättern die ersten »Schwarzen Listen«. In dem Schlagwort »Säuberung« (»épuration«), einem Erbe der Französischen Revolution, mischte sich das Verlangen nach Vergeltung, Bestrafung und Neuanfang. Einige Tage vor dem Aufstand übertrug der Pariser Befreiungsausschuß (CPL) den örtlichen Ausschüssen die Aufgabe, so schnell wie möglich alle Kollaborateure und Verräter festzunehmen und Anklagematerial für »Volkstribunale« zusammenzustellen. Die Forces Françaises de l’Intérieur (FFI) und die Patriotischen Milizen, deren Zahl ständig wuchs, folgten bereitwillig dieser Aufforderung. Die Entdeckung der letzten Verbrechen der Gestapo und ihrer einheimischen Helfer steigerte den Drang nach Vergeltung. Hinzu kam die Vorstellung einer »Fünften Kollonne«, die angeblich im Verborgenen Schaden stiftete.
Zu den ersten Opfern gehörten Frauen, die von den Nachbarn beschuldigt wurden, intime Beziehungen mit Deutschen gehabt zu haben. Empörte Patrioten schoren ihnen den Kopf kahl und führten sie der wütenden Menge vor. In den ersten zwei Wochen nach der Befreiung von Paris wurden auch siebenhundert Polizeibeamte eingesperrt. Der neue Generalinspekteur der Polizeipräfektur hatte die Verhörmethoden der »Sonderbrigaden« am eigenen Leib erfahren. »Zahlreiche Verhaftungen. Schon ist die Reinheit der letzten Tage besudelt. All das war vorherzusehen und in gewissem Sinn sogar notwendig. Aber ich denke, meine Funktion verbietet mir, mich von gewissen Ausschreitungen zu distanzieren«, notierte Claude Mauriac elf Tage nach der Befreiung. Der Sohn des Schriftstellers François Mauriac gehörte seit kurzem zur Umgebung General de Gaulles. Oft reichte eine anonyme Anzeige oder ein bekannter Name zur Festnahme aus. Sacha Guitry wurde zwei Tage vor der Befreiung von Paris von fünf revolverschwingenden Jugendlichen aus seinem luxuriösen Heim geholt. Häufig war die Gefangennahme von Raub und Plünderung begleitet. Am 28. September wurden in Paris mehr als 150 Personen, darunter fast vierzig Frauen, »ordnungsgemäß« verhaftet, willkürliche Gefangennahmen nicht gerechnet.
Wer auf einer Polizeiwache oder einer Bürgermeisterei landete, hatte noch Glück. Schlimmer erging es denen, die für unbestimmte Zeit im Quartier einer bewaffneten Gruppe verschwanden: einer beschlagnahmten Wohnung, einem Hotel, einer Schule, einer Kaserne, einem Fort. Das »Institut Eastman«, die Ausbildungsstätte für Zahnärzte in der Nähe der Place d’Italie, erschien dem Zeitgeschichtler Robert Aron als »dritter Kreis der Hölle«. Die wichtigste Durchgangsstation für Festgenommene war das Polizeigefängnis neben dem Justiz-Palast, das »Dépôt«, wo sich politische Gefangene mit Kriminellen und Prostituierten mischten. Die düsteren Mauern hatten schon manches erlebt: In der »Conciergerie« hatten die Königin Marie Antoinette, die Girondisten und Robespierre die letzten Stunden ihres Lebens zugebracht. Dorthin begleitete Claude Mauriac am 21. September den leitenden Gefängnisarzt, der die Aufmerksamkeit de Gaulles auf die Haftbedingungen lenken wollte: »In einem schwarzen, feuchten Gewölbe liegen 209 Frauen auf dem Fußboden. Nach einem Monat Internierung ohne Verhör bringen sie es noch fertig, geschminkt und beinahe hübsch zu sein (mit zwei ›Toiletten‹ für alle und alles). Aber welche Müdigkeit im Blick! … Wie viele von ihnen mögen unschuldig sein, Opfer von Verleumdungen und Eifersucht? Es gibt Schwangere, Kranke, eine alte Frau von achtzig Jahren. Die Schauspielerin Alice Cocéa ist da und die Sängerin Germaine Lubin, gestern noch gefeiert und angebetet.« In den Einzelzellen waren bis zu zehn Männer zusammengesperrt: »niedergeschlagene junge Burschen, Männer mit verschlossenen Gesichtern. Und die Säle voll mit ehemaligen Polizisten als Gefangene.«
Die nächste Station war das Vélodrome d’Hiver, Sammelstelle bei der großen Razzia auf die Pariser Juden im Juli 1942. Abermals wurden Tausende von Männern und Frauen bei hochsommerlicher Wärme in der geschlossenen Radrennbahn zusammengepfercht. Diesmal gehörten keine Kinder zu ihnen. Auch das Internierungslager Drancy, aus dem die letzten jüdischen Gefangenen abgezogen waren, wurde wieder benutzt. Den Prozeß, wenn es dazu kam, erwarteten diejenigen, die in die Mühlen der »Säuberung« geraten waren, im Gefängnis. In Fresnes traf Sacha Guitry die Schauspielerin Arletty, den Sänger Tino Rossi, den Verleger Bernard Grasset und den Geschäftsführer des Restaurant Maxim’s. Im Dezember 1944 befanden sich in der Pariser Region rund zehntausend Männer und Frauen hinter Gittern oder Stacheldraht.
»In die Säuberungsausschüsse haben sich Widerstandskämpfer der letzten Minute eingeschlichen, die um so unnachsichtiger verfahren, als sie einiges gutzumachen haben«, notierte der Publizist Jean Galtier-Boissière. (8. Oktober 1944). Das traf auch auf Dr. Marcel Petiot zu, einen der schlimmsten Mörder in der Geschichte des Verbrechens. Im März 1944 hatte die Polizei, von einem Nachbarn gerufen, in Petiots Haus in der Rue Le Sueur, einer Nebenstraße der Avenue Foch, halbverkohlte Leichenteile entdeckt. Der Arzt hatte Verfolgte – Juden und Nichtjuden – mit dem Versprechen, ihnen bei der Flucht nach Spanien und Lateinamerika zu helfen, angelockt, ermordet, ausgeraubt und die Leichen beseitigt. Seit der grausigen Entdeckung hielt sich »Doktor Satan«, wie ihn die Zeitungen nannten, in Paris versteckt. Nach der Befreiung schloß er sich, mit falschen Papieren versehen, der Résistance an. Als Mitarbeiter des militärischen Sicherheitsdienstes machte sich Petiot bei Verhören nützlich, bis er Ende Oktober erkannt wurde. Im Mai 1946 wurde er wegen 27 Morden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Wie der Frauenmörder Landru nach dem Ersten Weltkrieg verkörperte Dr. Petiot eine aus den Fugen geratene Zeit.
Der einzige Weg, die »wilden Säuberungen« zu beenden, war die Eingliederung der FFI einschließlich der kommunistischen Francs-Tireurs et Partisans (FTP) in die regulären Streitkräfte und die Entwaffnung der »Patriotischen Milizen«. Aber viele Waffenträger zogen es vor, als »Hilfspolizei« in der Hauptstadt zu bleiben. Die Polizeiberichte sprechen eine deutliche Sprache. Für August bis Dezember 1944 weist die Polizeistatistik über vierhundert »ungeklärte Todesfälle« aus. Am 28. Oktober 1944 ordnete der Ministerrat die Auflösung und Entwaffnung der Patriotischen Milizen an. Die beiden kommunistischen Regierungsmitglieder erhoben keine Einwände. Der Preis für dieses Entgegenkommen war die Amnestie für den Parteichef Maurice Thorez, der im Moskauer Exil auf die Gelegenheit zur Rückkehr wartete.
Auf keinen Fall konnte es die Aufgabe örtlicher Befreiungsausschüsse bleiben, Unrecht zu bestrafen, das von Franzosen während der Okkupation begangen worden war. Das war die Pflicht des Staates. Für schwere Vergehen oder Verbrechen des Vichy-Regimes, der Miliz und der Kollaboration wurden Sondergerichtshöfe eingesetzt. Die Geschworenen gehörten zur Résistance: Opfer und Richter in einem. Für geringfügige Vergehen wie »unpatriotische Äußerungen« wurden Ehrengerichte (Chambre civique) geschaffen, die den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und befristete Berufsverbote verhängten. Die Feststellung »würdelosen Verhaltens« (indignité nationale) war eine Gelegenheit, alte Rechnungen zu begleichen und Konkurrenten auszuschalten. In allen Bereichen des öffentlichen Lebens – in Ministerien und Verwaltung, bei Parteien und Gewerkschaften, in allen Berufsverbänden – machten sich »Säuberungsausschüsse« mit Schwarzen Listen und Fragebogen an die Arbeit.
Zwischen dem 23. Oktober und dem 29. Dezember 1944 standen 82 Angeklagte vor dem Pariser Gerichtshof. Dazu gehörten zwölf Mitglieder der »französischen Gestapo«, der Bande Bonny und Lafont, und drei Milizionäre, die an der Ermordung des ehemaligen Innenministers Mandel beteiligt waren, 22 Publizisten, Journalisten und Rundfunk-Sprecher und vier Schauspieler, sowie ein Rechtsanwalt, ein Steuerberater, zwei Buchhalter, ein Teppichleger und zwei Hausfrauen. Dreizehn Angeklagte wurden freigesprochen. Gegen acht »Gestapisten« und zwei Miliz-Männer, aber auch gegen vier Publizisten ergingen Todesurteile. Die Verantwortung für das geschriebene Wort bekam plötzlich ungeahntes Gewicht.
Der Prozeß gegen Robert Brasillach im Januar 1945 erregte besonderes Aufsehen. Der einstige Chefredakteur der kollaborationistischen Wochenzeitung »Je suis partout« hatte sich den Behörden gestellt, nachdem seine Mutter festgenommen worden war. Für den Schriftsteller sprach sein Talent, das auch der Staatsanwalt anerkannte. Gegen ihn sprachen Äußerungen wie sein Appell nach den ersten Anschlägen aus dem Untergrund: »Worauf wartet man noch, um die bereits in Haft befindlichen kommunistischen Abgeordneten zu erschießen?« (»Je suis partout« vom 25. Oktober 1941) Auch was Brasillach über die Beziehungen von Franzosen und Deutschen geschrieben hatte, trug ihm keine Sympathie ein: »Ob man es will oder nicht, … die einigermaßen intelligenten Franzosen haben einige Jahre lang mehr oder weniger mit Deutschland geschlafen, … und die Erinnerung daran ist ihnen süß.« (»Révolution nationale« vom 19. Februar 1944) Wie mußten solche Worte auf Männer und Frauen wirken, die unter Verfolgungen gelitten hatten, deren Freunde deportiert oder ermordet worden waren? Brasillach wurde zum Tode verurteilt. Ein Gnadengesuch, von siebzig Schriftstellern und Künstlern unterzeichnet, hatte so wenig Erfolg wie das Eintreten François Mauriacs bei de Gaulle. Am Morgen des 6. Februar wurde Robert Brasillach im Fort Montrouge erschossen. Sein Kollege Drieu La Rochelle wählte sechs Wochen später den Freitod durch Gift und Gas.
Marschall Pétain, der von den Deutschen gegen seinen Willen nach Süddeutschland gebracht worden war, wartete das Kriegsende nicht ab, um sich der Justiz seines Landes zu stellen. Am 24. April 1945 begab er sich mit kleiner Begleitung in die Schweiz und zwei Tage später nach Frankreich. Am 23. Juli begann der Prozeß vor dem Staatsgerichtshof, bei dem der einstige Staatschef es ablehnte, sich zu äußern. Claude Mauriac sah Pétain am neunten Verhandlungstag »in seinem Schweigen, seiner stattlichen Erscheinung, seiner Verlassenheit und seinem hohen Alter, vernichtet, aber ohne das Geringste an Haltung zu verlieren, in einem großen Sessel … Auf seiner Uniform die obligate Militärmedaille; in den Händen ein Paar eleganter Handschuhe; vor sich das goldglänzende Képi: wie zur Zeit seines Ruhms und zur Zeit der Vichy-Komödie. Ein Gesicht wie aus weißem Marmor, manchmal aufmerksam, aber öfters abwesend, von einer Teilnahmslosigkeit, die bereits jenseits des Lebens scheint.« Die meisten Zeugenaussagen im Prozeß gegen Pétain konzentrierten sich auf Umstände und Folgen des Waffenstillstands 1940. Nur ein Zeuge der Verteidigung, Pastor Boegner, brachte die Mitschuld des Vichy-Regimes an der Verfolgung der Juden in Frankreich zur Sprache. Am 13. August fällte das Gericht, nach langer Beratung, mit einer Stimme Mehrheit das Todesurteil und verband es mit der Empfehlung, die Vollstreckung wegen des hohen Alters des Verurteilten auszusetzen. General de Gaulle begnadigte den einstigen Vorgesetzten und Widersacher zu lebenslanger Haft. 1951 starb Philippe Pétain im Alter von 95 Jahren als Gefangener auf der Île d’Yeu vor der Atlantik-Küste.
War der Prozeß gegen den Staatschef Pétain in würdiger Form verlaufen, so glich das Verfahren gegen den Regierungschef Laval im Oktober 1945 einer Farce, nicht zuletzt, weil der einstige Strafverteidiger hartnäckig um sein Leben kämpfte. Am 15. Oktober 1945 wurde Pierre Laval nach einem Selbstmordversuch und mehrstündiger Wiederbelebung im Zuchthaus Fresnes erschossen. Auch Lavals Vertrauensmann im besetzten Paris, der Botschafter Fernand de Brinon, endete am 15. April 1947 vor dem Erschießungspeloton.
Mit der Zeit verwischten sich die Spuren und die Fronten. Der dubiose Geschäftsmann Joseph Joanovici, der den Deutschen Altmetall geliefert hatte und damit reich geworden war, wurde Ende 1947 nicht wegen seiner Zusammenarbeit mit der »französischen Gestapo« eingesperrt, sondern wegen Schulden beim Finanzamt, ein Zeichen dafür, daß der Milliardär nicht nur in der Polizeipräfektur, sondern auch in den höchsten Etagen von Staat und Gesellschaft Beschützer hatte. Joanovicis fragwürdiger Ruhm als Unterstützer der Untergrundorganisation »Ehre der Polizei« bewahrte ihn nicht vor der Verurteilung zu fünf Jahren Haft, von denen er die Hälfte absaß. Der drohende Skandal war entschärft.
Insgesamt kamen in Paris fast zehntausend Angeklagte vor die Sondergerichte. 1600 wurden freigesprochen. Über 2300 erhielten Zuchthausstrafen. Von den 589 Todesurteilen wurden 116 vollstreckt. Noch mehr Personen mußten sich vor Ehrengerichten verantworten. Zehntausende waren als Familienangehörige indirekt von den »Säuberungen« betroffen. Wie die Besatzungszeit ließ die große Abrechnung Narben zurück, an die nicht gern gerührt wurde.
Bald wurden Stimmen gegen die »Säuberungen« laut. François Mauriac, als Wortführer des geistigen Widerstandes unverdächtig, äußerte im »Figaro« seine Bedenken. Albert Camus widersprach im »Combat«. Die politisch-moralische Auseinandersetzung um »Gerechtigkeit oder Mitleid« machte den Anspruch der Presse deutlich, bei der Neuordnung von Staat und Gesellschaft mitzureden. Während im August 1944 die Straßenkämpfe in Paris noch andauerten, wurden Résistance-Zeitungen in zehntausenden von Exemplaren verteilt, hergestellt in den Redaktionsräumen und Druckereien der von der Besatzungsmacht zugelassenen Zeitungen. Der Chefredakteur Camus hatte die erste freie Ausgabe des »Combat« schon im Juni vorbereitet: in der leerstehenden Wohnung André Gides in der Rue Vaneau. Am 21. August 1944 erschien »Combat« erstmals mit der programmatischen Unterzeile »De la Résistance à la Révolution«.
Auch die meisten anderen Zeitungen, die in den Tagen der Befreiung erschienen, führten die Namen von Widerstandsorganisationen als Titel: »Libération«, »Franc-Tireur«, »Défense de la France«, »Front national«, »France libre«. Der »Parisien libéré« beerbte den »Petit Parisien«. Die traditionellen Parteiorgane erschienen nach einem Schattendasein wieder im hellen Licht: die kommunistische »L’Humanité«, ergänzt durch das Abendblatt »Ce Soir«; der sozialistische »Le Populaire«, dessen Herausgeber Léon Blum noch in Deutschland gefangen war; »L’Aube«, das Forum der Christdemokraten, die mit dem Außenminister Bidault einen einflußreichen Vertreter fanden. Zu den wenigen alten Tageszeitungen, die unbehindert erscheinen durften, gehörte der »Figaro«, das Sprachrohr des Bürgertums. Der Herausgeber Pierre Brisson nahm noch während der Straßenkämpfe im Verlagsgebäude am Rond-Point des Champs-Élysées seine Arbeit wieder auf.
Bei allen materiellen Schwierigkeiten hatten die ehemaligen Untergrund-Zeitungen einen Startvorteil. Sie übernahmen die Gebäude und Maschinen der eingeführten Zeitungen und blieben monatelang ohne Konkurrenz. So erreichten die neuen Blätter sofort sechsstellige Auflagen. »Nie zuvor wurden die Zeitungen, wie kleinformatig auch immer, so geschätzt wie heute. Solange man Nachrichten nur im geheimen weitergeben konnte, waren sie gefährlich, rar und kostbar, und darum kann man in Paris noch immer nicht genug davon bekommen«, stellte Janet Flanner im Januar 1945 fest. Nur der Papiermangel setzte dem Anfangserfolg Grenzen. Das Verschwinden der Kollaborationspresse verstand sich von selbst. Aber die Résistance wollte nicht zur Zeitungslandschaft der Dritten Republik zurückkehren. Die Provisorische Regierung verfügte die Enteignung aller Zeitungen, die während der deutschen Okkupation erschienen waren, im Norden nach dem 22. Juni 1940, im Süden nach dem 25. November 1942. In dem Bestreben, die Zeitungen von Wirtschaftsunternehmen unabhängig zu machen, nahm der Staat sie von der Zulassung (bis März 1947) bis zum Vertrieb unter seine Fittiche.
Eine so reglementierte Meinungspresse konnte nur in einer Ausnahmesituation bestehen. Als sich die Verhältnisse normalisierten, machte sich der Kapitalmangel der Pariser Zeitungen bemerkbar. Manche der neuen Tageszeitungen gingen bald wieder ein. Andere kaschierten ihren Ursprung mit einer Namensänderung. Aus »Franc-Tireur« wurde »Paris-Jour«, »Défense de la France« mutierte zur auflagestarken Abendzeitung »France-Soir«. Ihr Chefredakteur Pierre Lazareff, ein erfahrener Zeitungsmann, zog 1947 die Bilanz: »Die Abwendung des Publikums von der Pariser Presse hat sich seit der Befreiung weiter verstärkt. Heute verkaufen die Pariser Zeitungen zwei Millionen Exemplare weniger als vor dem Krieg.« (»Réalités«, Mai 1947) Von über dreißig Tageszeitungen im Jahr 1945 blieben 1967 nur noch halb so viele. Der Einfluß der Pariser Presse auf die Provinz verringerte sich.
Die wichtigste Tageszeitung der Vorkriegszeit, »Le Temps«, der ihre enge Verbindung mit der Schwerindustrie zum Vorwurf gemacht wurde, sollte nach dem Willen der neuen Machthaber nicht wiedererstehen. »Le Temps« hatte bis zum deutschen Einmarsch in der Südzone 1942 in Lyon überdauert und dann das Erscheinen eingestellt – nach den genau kalkulierten neuen Bestimmungen einige Tage zu spät. Aber de Gaulle wollte auf eine seriöse Zeitung, die auch im Ausland Beachtung fand, nicht verzichten. So zog ein Nachfolger in das Verlagsgebäude und die Druckerei des »Temps« in der Rue des Italiens, einer Sackgasse neben dem gleichnamigen Boulevard, ein. Die erste Ausgabe, die das Datum des nächsten Tages, des 19. Dezember 1944, trug, wies in den vertrauten Frakturlettern einen anderen Namen auf: »Le Monde«. In Aufmachung und Stil ähnelte die neue Zeitung auch sonst der alten, von der sie sich durch das kleinere Format unterschied. Wie die meisten Mitglieder der Gründergeneration, hatte auch der erste Herausgeber, Hubert Beuve-Méry (1902–1989), zu »Le Temps« gehört, aber die Zeitung 1938 verlassen. Unter der Leitung von Beuve-Méry, die ein Vierteljahrhundert währte, wurde »Le Monde« die angesehenste Tageszeitung Frankreichs. Sie liefert der Elite in Politik, Wirtschaft und Kultur zuverlässige Fakten und bietet ihr ein Forum für unterschiedliche Meinungen: eine Pflichtlektüre auch für diejenigen, die mit ihrer politischen Ausrichtung nicht übereinstimmen.
Nicht weniger wichtig für die Meinungsvielfalt wurden die Wochenzeitschriften: der linkskatholische »Témoignage Chrétien«, 1941 im Untergrund in Lyon entstanden; seit 1950 »L’Observateur«, der sich später »France-Observateur« und schließlich »Nouvel Observateur« nannte; seit 1953 »L’Express«, die Gründung des dreißigjährigen Jean-Jacques Servan-Schreiber, dessen Familie – Nachkommen eines deutsch-jüdischen Einwanderers – die Wirtschaftszeitung »Les Échos« gehörte; seit 1949 die Illustrierte »Paris-Match«, die Lesern und Betrachtern mit Bildreportagen die Zeitereignisse vor Augen führte. Es sprach für die größere Weltoffenheit der Pariser Blattmacher, daß sie bei manchen Gründungen ausländischen Vorbildern folgten: »L’Observateur« der englischen Wochenzeitung »Spectator«; »L’Express« nach der Umgestaltung zum Nachrichtenmagazin dem amerikanischen »Time« und dem deutschen »Spiegel«; »Paris-Match« dem amerikanischen »Life«. Die Weltpolitik der nächsten Jahrzehnte lieferte Stoff im Übermaß. Der Kalte Krieg zwang die Publizisten, Stellung zu beziehen. Die Kolonialkriege in Indochina und Algerien stellten sie wie ihre Mitbürger vor schmerzliche Entscheidungen. Zeitungen wurden beschlagnahmt, Redaktionen durchsucht, Journalisten verhaftet. In Krisenzeiten erfuhr eine freie Presse die Grenzen der Pressefreiheit.
Eines erfüllte General de Gaulle im Rückblick auf den 26. August 1944, den Tag seines Triumphes, mit besonderer Genugtuung: »Keine amerikanische Truppe steht in Paris, und die [amerikanischen] Einheiten, die am Vortag an der Place d’Italie und der Gare de Lyon durchmarschiert sind, haben sich sogleich zurückgezogen. Die Anwesenheit von Reportern und Photographen ausgenommen, sind die Alliierten an der Parade nicht beteiligt«, vermerkte der général in seinen Kriegserinnerungen. Die Zurückhaltung der 4. US-Infanteriedivision, die général Leclercs 2. Panzerdivision begleitet hatte, mochte die Pariser in der Überzeugung bestärken, sie hätten ihre Stadt ganz allein befreit.
Die Präsenz der Verbündeten im befreiten Paris war trotzdem nicht zu übersehen. Dafür sorgten schon die rund tausend Kriegsberichterstatter, die den Vormarsch begleiteten. Sie fanden im Hotel Scribe in der Nähe der Oper ihr Pressezentrum nebst Unterkunft und Verpflegung. Dorthin zog auch Ernest Hemingway um, nachdem er an der Spitze einer Gruppe spanischer Freischärler das Hotel Ritz und dessen Bar erobert hatte. Den ersten Besuch in Paris stattete der berühmte Schriftsteller einer alten Freundin, der Buchhändlerin Sylvia Beach in der Rue de l’Odéon, ab. Nicht nur Hemingway kam in eine ihm wohlvertraute Stadt zurück. Ein Bild zeigt ihn im Gespräch mit Janet Flanner vom »New Yorker« in den »Deux-Magots«, beide in Uniform. Es gab andere prominente Gäste im Scribe: die Schriftsteller John Steinbeck, William Saroyan und George Orwell, den Photographen Robert Capa, die Journalisten William Shirer und Cyrus L. Sulzberger. Einen besonderen Ruf hatte sich der Rundfunkreporter Charles Colingwood erworben: Er hatte die Befreiung von Paris zwei Tage zu früh gemeldet und damit in England einen vorzeitigen Freudensturm ausgelöst.
Das alliierte Hauptquartier nahm seinen Sitz in Versailles.General Eisenhower wählte in Saint-Germain-en-Laye das Haus, das vor ihm der deutsche Oberbefehlshaber West bewohnt hatte. Der für den Nachschub verantwortliche umfangreiche Stab bezog in Paris das Hotel Majestic. Die Einheimischen fanden das Viertel in der Nähe des Étoile ebenso abgesperrt wie zuvor. Überhaupt schienen die amerikanischen Dienststellen nicht weniger Platz zu brauchen als die deutschen: Hunderte von Hotels, Büros und Wohnungen, vier Krankenhäuser, Kinos, Clubs und Sportanlagen und eine Kaserne am Boulevard Mortier als Militärgefängnis. Die Soldatenzeitung »Stars and Stripes« benutzte die Druckerei der »Herald Tribune« nahe den Champs-Élysées. SHAEF, die Abkürzung für »Supreme Headquarter Allied Expeditionary Forces«, übersetzten Spötter: »Société hôtelière des Américains en France«.
Schätzungsweise zwanzigtausend amerikanische Offiziere und Mannschaften hielten sich ständig in der Hauptstadt auf. Die anfängliche Dankbarkeit der Franzosen kam den zahlreichen Fronturlaubern zugute, die für drei Tage Paris besuchen durften. Stabsoffiziere wurden in großen Häusern empfangen, nicht selten dort, wo vor kurzem noch Deutsche verkehrt hatten. Über die Hälfte der Pariser, so eine Umfrage vom Februar 1945, waren der Meinung, daß sich die amerikanischen Soldaten ordentlich verhielten, aber nur ein Drittel fanden sie höflich. Immer wieder kam es zu Schlägereien in Cafés und Bars, Frauen und Mädchen wurden belästigt. Andererseits beschwerten sich die Soldaten über Nepp in den Lokalen. Hielten sie sich an den vorgeschriebenen Kurs von fünfzig Franc für einen Dollar, langte der Tagessold gerade für zwei Biere. Das änderte sich schlagartig, wenn der Uniformträger den Sold zum inoffiziellen Kurs eintauschte. Für einen Dollar bekam er dann bis zu 250 Franc.
Ein Krösus wurde, wer sich am Schwarzen Markt beteiligte. Und das taten viele. Die Einheimischen kamen so in den Genuß bislang unbekannter Dinge wie blonde Zigaretten und Kaffeepulver, Erdnußbutter und Schinkenspeck, Orangensaft und Dosenfrüchte. Nicht alles stammte aus den PX-Läden der Armee. Unbefugte bedienten sich in den unerschöpflichen Versorgungslagern. In wenigen Wochen verschwanden 15,5 Millionen Kanister Benzin, über drei Millionen Hektoliter. »Es war bekannt, daß amerikanische Soldaten am Fuß des Eiffelturms amerikanische Lebensmittel, Benzin und andere Waren an französische Zivilisten verkauften«, stellte der Chef der US-Zivilverwaltung in Paris, Oberstleutnant Frank O. Howley, im Februar 1945 fest. »Solche Tätigkeiten nahmen an Umfang zu und breiteten sich in die Stadtbezirke aus.« Die französische Polizei schreite ungern ein, »vielleicht, weil die wenigen Polizisten, die es wagten, verprügelt wurden«. Erst der Einsatz der amerikanischen Militärpolizei schränkte den Schwarzhandel ein.
Der Schritt in die Kriminalität war für manche nicht groß. »Die GIs bewiesen eine in Frankreich unbekannte Brutalität, sie führten eine neue Verbrechensweise von unerhörter Gewalttätigkeit ein«, erklärte Jahre später ein pensionierter Kriminalbeamter. »Sie überfielen Banken und Juweliere und zögerten nicht, kaltblütig zu töten … Ein Mord schien für sie eine ganz normale Sache zu sein.« (Marc Hillel, 1981) Der Aufenthalt von mehreren tausend Deserteuren, die in Paris untergetaucht waren, verschlimmerte die Lage. Die Pariser Zeitungen schwiegen lange über diese Zustände. Aber am 9. März 1946 erschien der kommunistische »Ce Soir« mit der Schlagzeile: »Paris ist nicht Chicago«. In der Rue de Beauregard (2. Arr.) waren Deserteure mit Waffen und Beute von Überfällen entdeckt worden. Einige Wochen später berichtete eine Zeitung: »Die Zusammenstöße zwischen amerikanischen Deserteuren und der Militärpolizei sind so häufig und so gefährlich, daß ordentliche Leute für ihre Sicherheit fürchten.« (»Le Parisien libere« vom 27. April 1946) An Hauswänden erschienen die ersten Schmierereien: »Go home, les Ricains!«
Die Nachricht von der Kapitulation des Deutschen Reiches verbreitete sich am Abend des 7. Mai 1945, einem Montag. Am nächsten Nachmittag, während général de Gaulle über den Rundfunk die Siegesbotschaft verkündete, machten sich die Pariser auf den Weg zum Arc de Triomphe. Nach den Beobachtungen der Diplomatenfrau Susan Mary Alsop boten die Champs-Élysées einen »wilden Anblick: Jeeps und Lastwagen mit jungen Männern und Frauen füllten die breite Fahrbahn, Bomber brausten mit fürchterlichem Lärm im Tiefflug die große Achse entlang.« Aus allen Richtungen strömten die Menschen zum Étoile. »Ihr Stimmengewirr und ihre Schritte waren lauter als die Kirchenglocken, die den Frieden einläuteten.« (Janet Flanner) Als die Dunkelheit begann, wurden die berühmten Bauwerke vom Arc de Triomphe bis Notre-Dame zum ersten Mal seit Jahren wieder beleuchtet. Die Springbrunnen sprühten in milchigem Licht. Immer wieder stimmte die Menge die Marseillaise an. Um Mitternacht bliesen Hornisten das Signal: »Feuer einstellen«.
Seit einigen Wochen erinnerte der Anblick der ehemaligen Kriegsgefangenen und Deportierten an das, was geschehen war. Fast eine Million Kriegsgefangene, über siebenhunderttauend Zwangsarbeiter und fast zweihunderttausend Deportierte kehrten bis Juli 1945 nach Frankreich zurück. 15 000 Repatriierte erreichten Tag für Tag die Hauptstadt. »Auf dem Bahnsteig ein Schwarm von Photographen und Journalisten. ›Großartig! Stellen Sie sich als Gruppe auf, die Kleinsten vorn! Etwas natürlicher, bitte! Stellen Sie sich vor, Sie wären noch dort. Gut. Perfekt.‹ Und dann die Fragen: ›Woher kommen Sie? Buchenwald! Wie war es da?‹« So erlebte Christian Pineau, ein führender Mann des Widerstandes, nach siebzehn Monaten im Konzentrationslager den Empfang am Nordbahnhof. Ein Adjutant brachte den Vertrauten de Gaulles zum Regierungschef: »Er läßt mich sprechen, offensichtlich verdutzt von der zusammenfassenden Beschreibung, die ich ihm von Buchenwald gebe. Auch er wußte nichts davon.« (»La simple vérité«, 1983) Zu den zurückkehrenden KZ-Insassen gehörten auch Pierre de Gaulle, der jüngere Bruder des Generals und seine Nichte Geneviève.
Als Auffangstation diente von April bis August 1945 das Hotel Lutetia am Boulevard Raspail. »Die Deportierten aus Buchenwald und Ravensbrück machen auf uns einen starken Eindruck, und uns wird klar, daß wir viele andere niemals wiedersehen werden«, erkannte Pastor Boegner. Ärzte untersuchten Menschen, die lebenden Skeletten glichen. Tausende von ihnen starben nach der Rückkehr an Entkräftung. Der Publizist Galtier-Boissière sah Anfang Mai in der Nähe des Hotel Lutetia Überlebende »in ihren gestreiften Häftlingspyjamas: Hände wie Kinder, die Gesichtsfarbe grünlich-wächsern, zusammengezogene, verkleinerte Gesichter, wie die Schrumpfköpfe der Wilden vom Amazonas«. Suchbilder in den Händen, umdrängten Angehörige und Freunde den Hoteleingang. Bei der ersten Mai-Kundgebung nach der Befreiung – an diesem Tag fiel Schnee in Paris – zogen ehemalige KZ-Gefangene an der Spitze des Zuges.
Die Realität der Konzentrationslager blieb für die, die sie nicht erlitten hatten, unfaßbar. Daran änderten auch die Zeitungsberichte und die Bilder der Wochenschau nichts. Am stärksten empfanden die Juden die Kluft des Nichtverstehens. Die neunzehnjährige Simone Jacob, die spätere Vorsitzende des Europa-Parlaments Simone Veil, und ihre Schwester Madeleine waren im März 1944 in Nizza festgenommen worden und hatten, im Gegensatz zu Eltern und Bruder, Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt. Am 23. Mai 1945 kamen die jungen Frauen mit einem Zug aus Hannover am Nordbahnhof an: »Wir hatten das Gefühl, daß unser Leben nicht viel galt, und es gab doch nur so wenige Überlebende.« Anders als die politischen Gefangenen wurden die »rassisch Verfolgten« nicht als Helden angesehen. (Maurice Szafran: Simone Veil, 1994)
Die Versorgung mit Lebensmitteln und Kohle blieb schlecht, schlechter als während der Besetzung, wie manche meinten. »In keinem anderen Kriegswinter haben die Menschen hier so gefroren«, berichtete Janet Flanner im Januar 1945. »Es gibt wirklich keine Lebensmittel, ausgenommen für Leute, die sich Schwarzmarktpreise leisten können«, schrieb Susan Alsop im April. In den leeren Schaufenstern des Tee-Salons Rumpelmeyer in der Rue de Rivoli seien nur ein Kuchen aus Pappmaché und eine leere Konfektschachtel ausgestellt, um den Mangel zu kaschieren. Auch im folgenden Jahr wurde das Ziel, jedem Erwachsenen eine Tagesration von 2500 Kalorien zu sichern, nicht erreicht. Die Brotkarten wurden im Herbst 1945 abgeschafft und kurz darauf wieder eingeführt. Zwischen Dirigismus und Schwarzmarkt suchte die Regierung nach Auswegen. Erst 1949 wurde die Rationierung vollständig aufgehoben.
Ausländischen Beobachtern, die Paris von früher kannten, drängte sich der Eindruck der Verelendung auf. Der Kunsthistoriker Wilhelm Hausenstein, der erste Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in Paris nach dem Krieg, fand bei einem Aufenthalt im November 1948 noch die vertraute Kulisse der alten Häuser und das Perlgrau des Himmels wieder, bemerkte aber: »Was sich als aktuelles Paris auf diese Folie projizierte, schien mir schon etwas von ›Volksdemokratie‹ zu enthalten … Ich gewann den Eindruck, … daß aus diesem Lande gegen den östlichen Leviathan kein Widerstand geleistet werden kann.«
Am Abend des 19. Januar 1946 berief General de Gaulle seine Minister überraschend zu einer außerordentlichen Sitzung am nächsten Tag, einem Sonntag, ein. Der Ministerrat kam wie üblich im Kriegsministerium in der Rue Saint-Dominique zusammen. Als de Gaulle gegen Mittag den »Saal der Rüstungen« betrat, ließ er die Versammelten, in lockerer Ordnung, am Kamin Platz nehmen. In knappen Worten teilte der Staats- und Regierungschef seine Absichten mit. Nach einer Bilanz der Regierungstätigkeit richtete er Vorwürfe gegen die Parteien, die einander die Verantwortung für alle Mißstände zuschöben und auch ihn kritisierten. Er sehe seine Aufgabe als beendet an. Ohne ein weiteres Wort zog sich der General in sein Arbeitszimmer im ersten Stock zurück und verließ kurz darauf das Ministerium.
Für die meisten Minister und erst recht für die Öffentlichkeit kam der Abschied de Gaulles völlig überraschend. Am 21. Oktober 1945 war die Verfassunggebende Nationalversammlung gewählt worden, erstmals mit den Stimmen der Frauen. Die Kommunisten stellten die stärkste Fraktion, gefolgt von der christlich-demokratischen »Bewegung der Volksrepublikaner« (MRP) und den Sozialisten. Gemeinsam hätten die drei Parteien eine handlungsfähige Mehrheit bilden können. Vorausgesetzt, sie verfolgten die gleichen Ziele, was selten der Fall war. Mit dem »Tripartismus« sah de Gaulle das Parteiensystem der Dritten Republik zurückkehren. Die Verfassung der Vierten Republik, die am 13. Oktober 1946 durch Volksentscheid angenommen wurde, machte die Regierung von den Parteien und den wechselnden Mehrheiten abhängig.
Trotz allem: Es gab wieder verfassungsmäßige staatliche Institutionen. Am 16. Januar 1947 wählten die Nationalversammlung und der »Rat der Republik« (der frühere Senat) im Schloß von Versailles den 62jährigen Vincent Auriol zum Präsidenten der Republik. Der Bäckerssohn aus dem Südwesten war der erste Sozialist im höchsten Staatsamt. Auriol hatte zu der Gruppe der achtzig mutigen Parlamentarier gehört, die im Unglücksjahr 1940 Marschall Pétain die Vollmachten verweigerten, er wurde eingesperrt, entkam und schloß sich in Algier dem Freiem Frankreich an. Als Staatsminister unter de Gaulle pflegte er zwischen dem Regierungschef und den Abgeordneten zu vermitteln. Die Fähigkeit, Spannungen zu beheben, bewies der erfahrene Parlamentarier auch als Staatsoberhaupt. Seine »Vorschläge« wurden bei vierzehn Regierungswechseln in sieben Jahren stets beachtet.
Die Eintragung in Auriols politischem Tagebuch nach dem Einzug in den Élysée-Palast verriet eine gewisse Enttäuschung: »Wenn uns auch [das heißt: dem Präsidenten und seiner Frau] vor dem Élysée wie auf dem ganzen Weg die Menge zugejubelt hat, so erscheint alles trist in diesem Haus. Nicht einmal die Marseillaise kann es beleben. Eine symbolische Handlung: ich küsse die Nationalfahne. Eine traditionelle Handlung: der Großkanzler legt mir die große Halskette der Ehrenlegion um und sagt: ›Wir erkennen Sie als Großmeister unseres Ordens an.‹ Das ist alles, das ist kalt.« Auch wenn der Präsident in seinem Auftreten betont schlicht blieb, war er von der Würde des »höchsten Amtes der Nation« durchdrungen. Das zeigte sich auch bei der Renovierung des lange vernachlässigten Amtssitzes. An der Front des Palastes verschwanden die »Bahnhofsuhr« im Giebel und der Glasvorbau, der sogenannte »Affenkäfig«. Auch im Innern gab es Veränderungen, für die vor allem Madame Auriol verantwortlich war. Sèvres-Vasen und Figuren aus der Belle Epoque verschwanden. Im ersten Stock wurden komfortable Räume für bevorzugte Staatsgäste eingerichtet. Die Hauskapelle, die die Vorgänger wenn nicht benutzt, so doch respektiert hatten, wurde ein Büro.
Ein Vierteljahr nachdem das erste Kabinett der Vierten Republik unter Paul Ramadier (Soz.) die Regierungsgeschäfte übernommen hatte, ergab sich eine einschneidende Veränderung. Als die fünf kommunistischen Minister, darunter der Generalsekretär Thorez als stellvertretender Ministerpräsident, gemeinsam mit ihrer Fraktion gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung stimmten, der sie angehörten, wurden sie am 4. Mai 1947 kurzerhand entlassen. Die Kommunisten hatten übersehen, daß die Verfassung dem Ministerpräsidenten die Handhabe zu diesem Schachzug bot. Eine Zeitlang hofften die Düpierten noch, in die Regierung zurückzukehren, um die Taktik von Unterstützung und Obstruktion fortzusetzen. Aber erst vierunddreißig Jahre später sollten sich die Kommunisten, unter dem zweiten sozialistischen Staatspräsidenten Frankreichs, wieder für kurze Zeit an der Regierung beteiligen.
Auch andere rechneten nicht damit, auf Jahre hinaus von den Staatsgeschäften ausgeschlossen zu bleiben. Für de Gaulle bedeutete der Verzicht auf die Regierungstätigkeit keineswegs den Rückzug aus der Politik. Mit der Gründung des »Rassemblement du Peuple Français« (RPF) im April 1947 schuf der General eine Basis für den Kampf gegen den Parteienstaat. »Ich verlasse Paris und gehe aufs Land«, hatte er bei seinem Rücktritt angekündigt. Das traf nur bedingt zu. De Gaulle wußte, daß die politischen Entscheidungen in der Hauptstadt fallen. Von seinem Refugium in Colombey-les-Deux-Églises, zwischen Troyes und Chaumont, kam er fast jede Woche nach Paris und bezog sein Arbeitszimmer im Hauptquartier des RPF in der Rue de Solférino Nr. 5, nicht weit von der Nationalversammlung. Wie in der Rue Saint-Dominique war der General auch hier von Ordonnanzen, Sekretären und Mitarbeitern umgeben, von denen einige später Führungspositionen in der Fünften Republik übernehmen sollten. Als Kabinettschef machte sich Georges Pompidou, Absolvent der École Normale Supérieure und Gymnasialprofessor, unentbehrlich, wiewohl er nicht zur Résistance gehörte. Im zweiten Stock wachte der Generalsekretär Jacques Soustelle, der in London den Geheimdienst des Freien Frankreich geleitet hatte, über die Organisation. Die Mitglieder der Führungsriege stimmten in ihren Ansichten nicht immer überein. »In der Umgebung eines Mannes wie de Gaulle gibt es zwangsläufig Intrigen, Clans, Streben nach Gunst. Und der General trägt dazu bei, indem er die Rivalitäten anstachelt«, beobachtete Pompidou.
Die »Sammlungsbewegung des französischen Volkes« war die einzige Massenpartei neben den Kommunisten. In kurzer Zeit zählte sie vierhunderttausend Mitglieder, 65 000 davon in Paris. Bei den Kommunalwahlen im Oktober 1947, ein halbes Jahr nach der Gründung, erhielten ihre Listen in den größeren Gemeinden fast 40 Prozent der Stimmen, in Paris sogar die absolute Mehrheit: über fünfzig der neunzig Sitze im Conseil municipal. Vier Jahre lang, bis zu seinem freiwilligen Verzicht, blieb Pierre de Gaulle (1897–1959), der jüngere Bruder des Generals, Vorsitzender des Gemeinderates. Seit den Wahlen im Juni 1951 war der RPF mit 120 Abgeordneten in der Nationalversammlung vertreten: die stärkste Fraktion, aber eine machtlose Minderheit gegenüber der Regierungsmehrheit von Sozialisten, Radikalen und Volksrepublikanern, der sogenannten »Dritten Kraft«. 1953 beendete der General das widersprüchliche Experiment. Er wollte Abstand gewinnen. Aber während er in Colombey an seinen »Kriegserinnerungen« arbeitete – der erste Band erschien 1954 –, beobachtete er die politischen Entwicklungen. Der Staatsmann hielt sich für den Augenblick höchster Gefahr bereit. Im Mai 1958 war seine Stunde gekommen.
Mit oder ohne Regierungsbeteiligung blieb die Kommunistische Partei über Jahre die stärkste politische Kraft, an Einsatzbereitschaft und Durchsetzungsvermögen allen anderen überlegen. Über ihr Verhalten zu Anfang des Krieges wurde nicht mehr gesprochen. Dabei hatte der Mitgliederzustrom seit den Monaten der Befreiung nachgelassen. 1944 zählte die KPF über achthunderttausend Mitglieder und erhielt bei den ersten Wahlen fast dreißig Prozent der Stimmen. 1952 betrug die Mitgliederzahl, nach unabhängigen Berechnungen, nur noch 330 000. Aber mit ihrem »verlängerten Arm«, der Gewerkschaft CGT, konnte die Partei Streiks entfachen und beenden. Mit der »Friedensbewegung« und anderen Organisationen lenkte sie die Massen und die Eliten gemäß den Befehlen Moskaus. Die Argumente marxistischer Wissenschaftler und Künstler beeindruckten die Öffentlichkeit. Kommunistische Professoren bildeten die künftigen Studienräte aus. Jeder vierte oder fünfte Student der École Normale Supérieure gehörte der Partei an.
In der Pariser Region zählte die KPF anfangs rund 100 000 Mitglieder, 1952 noch 60 000. Der Parteiverband des Départements Seine, der stärkste der Gesamtpartei, war in 110 Sektionen gegliedert, davon dreißig in Paris, mit 2500 Zellen in Stadtvierteln und Betrieben. Viele Mitglieder der Parteiführung gehörten zu einer Zelle dieses Verbandes, was seine Wichtigkeit erhöhte. In der Banlieue wich die soziale Mischung der Zellen einer größeren proletarischen Einheitlichkeit. Bei Kundgebungen in der Hauptstadt konnten die Mitglieder der Industrievororte jederzeit mobilisiert werden.
Die Parteizentrale, der Sitz des Zentralkomitees, des Politbüros und des Sekretariats, befand sich seit Volksfront-Zeiten an der Ecke der Rue Le Peletier und des Carrefour Châteaudun im 9. Arrondissement. Unter Genossen hieß der sechsstöckige graue Ziegelbau nach seiner Hausnummer kurz »le 44«. Die frühere Parteizentrale, »le 120« in der Rue La Fayette (10. Arr.), diente als Sitz des Parteiverbandes Seine. Nicht weit davon, Rue La Fayette Nr. 113, befand sich die Zentrale der Gewerkschaft CGT. Das Parteiorgan »L’Humanité« und die Abendzeitung »Ce Soir« fanden nach der Befreiung in der Rue du Louvre, dann am Boulevard Poissonière Redaktionsräume und Druckerei, hier wie dort in enteigneten Verlagen. Wie viele Immobilien den Feinden des Kapitalismus in der Hauptstadt zur Verfügung standen, blieb ihr Geheimnis. Ein Aushängeschild war das »Haus der Metallarbeiter« in der Rue Jean-Pierre Timbaud, nicht weit von der Place de la République, das auch für Ausstellungen diente. Thorez residierte hinter Parkmauern in einem kleinen Schloß in Choisy-le-Roi. Wie die Residenz des Generalsekretärs war auch die Parteizentrale gut bewacht. Trotzdem versuchten im November 1956 zur Zeit des Ungarn-Aufstandes wütende Demonstranten, das kommunistische Hauptquartier und das Gebäude von »L’Humanité« zu stürmen. Bei dem mehrstündigen Kampf kamen drei Verteidiger ums Leben. Der Gemeinderat gab dem Carrefour Châteaudun den Namen des ungarischen Freiheitshelden Kossuth, eine Umbenennung, mit der sich die Parteiführung abfinden konnte, bis sie 1980 ihren neuen Sitz an der Place du Colonel-Fabien (19. Arr.) bezog: ein Werk des Architekten Oscar Niemeyer, des Erbauers von Brasilia.
Der Kalte Krieg stellte die französischen Kommunisten wie die »Bruderparteien« vor besondere Aufgaben. Im April 1949 tagte in Paris im Konzertsaal Pleyel der erste »Weltkongreß der Friedenskämpfer«. Picasso, der 1944 der Partei beigetreten war, der seine Sympathien seit langem gehörten, stiftete das Symbolbild der Friedenstaube, die die Bewegung weltweit populär machte. Die Kominform führte die Regie, deren wichtigste Aufgabe es war, die Moskauer Fernlenkung zu verschleiern. Aus fünfzig Ländern kamen zweitausend Delegierte, viele von ihnen in bunten Volkstrachten. »Der Saal lärmte südländisch, Franzosen und Italiener stellten die stärksten Delegationen [die sowjetische Delegation bleibt unerwähnt]. Ich glaube, es war der erste internationale Kongreß nach dem Krieg, für die Jugend war das alles noch ganz neu«, erinnerte sich der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg, einer der Stars der Veranstaltung. Den Vorsitz führte der Physiker Frédéric Joliot-Curie, der erste Träger des Lenin-Friedenspreises, Professor am Collège de France, von 1945 bis 1950 Hochkommissar für Atomenergie. Die Redner prangerten den amerikanischen Imperialismus, den Marshall-Plan, den Nordatlantik-Pakt und besonders die Atombombe an: Vorbereitung für den Stockholmer Aufruf zur Ächtung der Atomwaffen. Die Nachricht von der Einnahme von Nanking durch die Volksarmee Mao Tse-tungs löste ungeheuren Jubel im Saal aus. Der chilenische Dichter Pablo Neruda trug Gedichte vor, der amerikanische Sänger Paul Robeson sang, der Moskauer Metropolit Nikolai erteilte der Versammlung den Segen. Den Abschluß bildete eine Massenkundgebung im Stadion Buffalo. In Sonderzügen und Omnibussen kamen »Friedenskarawanen« aus der Provinz, aus Holland, Belgien und Italien. Besonders eindrucksvoll wirkte der Vorbeimarsch ehemaliger Insassen der Konzentrationslager. »Sie zogen in ihren gestreiften Sträflingsanzügen mit den Nummern auf dem Rücken, die sie als Reliquien aufbewahrt hatten, an uns vorbei.« (Ehrenburg)
In den vorangegangenen Wochen waren andere Lager ins Scheinwerferlicht gerückt: die Arbeitslager in der Sowjetunion. Die Gelegenheit dazu gab ein Verleumdungsprozeß, den Viktor Krawtschenko, ein sowjetischer Dissident, der in den Vereinigten Staaten Asyl gesucht hatte, in Paris gegen die kommunistische Literaturzeitung »Les Lettres françaises« angestrengt hatte. Krawtschenkos autobiographischer Bericht »Ich wählte die Freiheit«, eine Darstellung des sowjetischen Unterdrückungssystems, wurde einer der größten Bucherfolge der Nachkriegszeit. In Paris wagte 1947 nur ein unbedeutender kleiner Verlag, die französische Übersetzung herauszubringen. Von Januar bis April 1949 fand im Palais de Justice unter großer Beteiligung der in- und ausländischen Presse der Prozeß statt. Woche für Woche marschierten die Zeugen auf, darunter ehemalige Gefangene aus sowjetischen Lagern wie die deutsche Kommunistin Margarete Buber-Neumann. »Les Lettres françaises« wurden zu einer Entschädigung verurteilt, die einen Bruchteil der geforderten Summe ausmachte. Aber zum erstenmal in Paris war das Unaussprechliche in aller Öffentlichkeit zur Sprache gekommen.
Seit dem Korea-Krieg wuchs die Sorge vor einem dritten Weltkrieg, der ein Atomkrieg sein würde. Im Mai 1952 kam der neue Nato-Befehlshaber général Ridgway als Nachfolger général Eisenhowers nach Paris. Das Nato-Hauptquartier »Supreme Headquarter of the Allied Powers in Europe« (SHAPE) befand sich seit dem Vorjahr in Rocquencourt bei Versailles. (1967 wurde es auf Verlangen Präsident de Gaulles nach Belgien verlegt.) Für die kommunistische Propaganda war der neue Befehlshaber ein Mann, der in Korea bakteriologische Waffen eingesetzt haben sollte: »Ridgway die Pest«. Französische Wissenschaftler untermauerten den unhaltbaren Vorwurf. Die Friedensbewegung rief zu einer Protestkundgebung am frühen Abend des 28. Mai auf, dem Tag nach Ridgways Ankunft. Seit dem Nachmittag drangen kleine Gruppen gewaltbereiter Demonstranten von den Randbezirken in die Innenstadt vor. In der Nähe des Nord- und des Ostbahnhofs, im Faubourg Montmartre, aber auch im Quartier Latin kam es zu Zusammenstößen mit zahlreichen Verletzten.
Die Demonstration hatte ein politisches Nachspiel. Gegen zehn Uhr abends, als bereits Ruhe eingekehrt war, wurde der stellvertretende Parteichef Jacques Duclos in seinem Wagen mit Fahrer und Leibwächter in der Nähe der Place de la République angehalten. Der Polizei fielen Aufzeichnungen über die Vorbereitung der Kundgebung und bei der anschließenden Durchsuchung der Parteizentrale weitere Unterlagen in die Hand. Duclos blieb eine Zeitlang in Untersuchungshaft, bis er dank einer Kampagne und ärztlicher Atteste freikam. Am 14. Juli marschierte er, offensichtlich wieder bei Kräften, an der Spitze eines Demonstrationszuges. Auch in der Folgezeit sollte es immer wieder zu Zusammenstößen kommen, aber nie mehr zu einer Kraftprobe wie die Demonstration gegen général Ridgway.
Der Parteichef Thorez befand sich zu dieser Zeit nicht in Frankreich. Im Oktober 1950, ein halbes Jahr nach seinem fünfzigsten Geburtstag, hatte er eine Gehirnblutung erlitten und war zu ärztlicher Behandlung nach Moskau gebracht worden. Erst nach dem Tod Stalins am 5. März 1953 konnte Thorez nach Frankreich zurückkehren. In einer veränderten Weltlage mußte sich die Kommunistische Partei der »Entstalinisierung« stellen.
Nirgendwo drückte sich das Lebensgefühl der jungen Generation in der Nachkriegszeit so deutlich aus wie in Saint-Germain-des-Prés. Seit den zwanziger Jahren galt das »Dorf« mit den Cafés »Aux Deux Magots« und »Flore« und der Brasserie Lipp, mit Buchhandlungen und Verlagen, Kunstgalerien und Antiquitätengeschäften als Reservat der Literaten. »Saint-Germain-des-Prés gefiel mit seiner Ruhe, seinem ein wenig provinziellen Charme«, zitierte der Schriftsteller und Liedermacher Boris Vian (1920–1959) die Älteren. Die frühmittelalterliche Kirche »in den Wiesen«, deren Name an den Bischof Germanus (gest. 576) erinnert, steht unverrückbar an ihrem Platz: als Mittelpunkt eines Gevierts von alten Gassen zwischen den Seine-Quais und der Place Saint-Sulpice, das der Boulevard Saint-Germain durchschneidet.
Während des Krieges wurde das Viertel wegen seiner billigen Hotels und Restaurants zu einem Zufluchtsort. Sartre und seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir zogen in ein Hotel in der Rue de Seine und arbeiteten täglich im Café de Flore, wo es wärmer war als in ihren Hotelzimmern und wo sie Gleichgesinnte trafen. Der Wirt, Paul Boubal, schenkte dem Herrn und der Dame, die an getrennten Tischen Seite um Seite vollschrieben – Sartres Hauptwerk »Das Sein und das Nichts« und Simone de Beauvoirs erster Roman erschienen 1943 –, anfangs wenig Beachtung. »Die kleine Gemeinde der Getreuen, die sich dort täglich traf, gehörte nicht ganz zur Bohème und nicht ganz zum Bürgertum. Die meisten hatten lose mit dem Film und dem Theater zu tun. Sie lebten von unsicheren Einkünften, Notbehelfen und Hoffnungen«, beschrieb Simone de Beauvoir die Atmosphäre des »Flore« in jener Zeit. Die jungen Müßiggänger flößten dem Schriftstellerpaar eine Sympathie ein, die nicht frei von Ungeduld war: »Ihr Nonkonformismus war hauptsächlich ein Vorwand für ihre Trägheit; sie langweilten sich sehr.«
Die »Familie« um Sartre und Simone de Beauvoir und die »Bande« des Dichters und Drehbuchautors Jacques Prévert (1900–1977) bildeten die Keimzellen des Saint-Germain der Nachkriegszeit. Prévert hatte seit seiner Arbeit mit der Theatergruppe »Octobre« viele Freunde. An seinem Tisch ging es lebhafter und fröhlicher zu als in Sartres Runde. Aber das ganze Viertel mit seinen Cafés und Bars wirkte wie ein großer Klub der »Germanopratins«, in dem sich die Surrealisten von gestern und die Kommunisten von heute mit den Hedonisten von morgen mischten. Dabei gab es, wie immer unter Kunstschaffenden, Mißgunst und Neid. Und es gab in einer Zeit politischer Spannungen unüberbrückbare Gegensätze.
Wie Montparnasse das einstige Künstlerdorf Montmarte ablöste, so wurde Montparnasse nun durch Saint-Germain abgelöst. Als Vehikel dieser Bewegung, die eine Jugendbewegung war, diente der Jazz, ihre Stützpunkte waren die Kellerlokale. Die erste »cave« entstand im Quartier Latin: der »Lorientais« in der Nähe der Place Maubert, wo sich Studenten billig vergnügten, bis sich die Nachbarn beschwerten. Der Durchbruch geschah im April 1947 im »Tabou«, einem unscheinbaren Café in der Rue Dauphine Nr. 33, dessen Wirt sich überreden ließ, den feuchten Keller gewinnbringender zu nutzen. »Jeden Abend, bis in den frühen Morgen, zehn Berühmtheiten, dreißig sehr Bekannte. Modeschöpfer, Mannequins, fünfzig oder sechzig Photographen, Journalisten, Vielschreiber, Studenten, Musiker, Amerikaner, Schweden, Engländer, Brasilianer. Drei-Groschen-Oper und Turm von Babel.« Aus der selbstironischen Übertreibung des Gründers Boris Vian spricht der Rummel, der mit Hilfe der geschmähten journalistischen Helfer in Szene gesetzt wurde. Montmartre brauchte eine Generation, um seinen »Mythos« zu begründen, Montparnasse mehrere Jahre. Saint-Germain schaffte es aus dem Stand.
Andere Kellerlokale versuchten, den Erfolg des »Tabou« mit größerem Aufwand zu kopieren. Der »Club Saint-Germain« in der Rue Saint-Benoît und der »Club du Vieux-Colombier« unter dem gleichnamigen Theater wurden in den fünfziger Jahren neben dem »Hot Club de Paris« auf dem rechten Ufer zu Zentren der europäischen Jazz-Szene, wo sich auch amerikanische Musiker hören ließen. Für das breite Publikum waren die jungen Leute in den rauchigen Kellern »die Existenzialisten«, auch wenn sie nie eine Zeile von Sartre gelesen hatten. Seit der Philosoph die dritte Etage des Eckhauses Rue Bonaparte Nr. 42 mit Blick auf die Place Saint-Germain bewohnte, galt er als Schutzpatron des Quartiers. Die zwanzigjährige Juliette Gréco in schwarzem Pullover und mit schulterlangem Haar, der Sartre als Ermutigung einen Liedtext schrieb, wurde die Muse dieser neuen Bohème.
Aus einer Reportage in »Life« erfuhren auch die Amerikaner, daß »the action« nicht mehr in Montparnasse, sondern in Saint-Germain war. Und sie kamen. Das Café de Flore diene »als Drugstore für hübsche Mädchen aus der Umgebung von New York und ihre boy-friends aus dem Mittelwesten«, schrieb Janet Flanner im Juni 1948. »Mitglieder der Touristen-Intelligenzija beehren die Bar des Hotels Pont-Royal in der Rue du Bac, die bisher voller französischer Existenzialisten war und nun voller Amerikaner ist, die miteinander über Existenzialismus streiten.« Bald wurden auch im Ausland Jazz-Keller eröffnet. Als in der Studentenstadt Heidelberg das »Cave ’54« aufmachte, neigte sich die Blütezeit von Saint-Germain bereits dem Ende zu. Aber Paris hatte der Welt wieder einmal seine Kreativität und seine Lebenslust bewiesen.
Noch immer meinte, wer in Paris das Wort ergriff, für die Menschheit zu sprechen. »Das bescheidenste Geschreibsel erhielt Beifall, mit dem Verfasser wurde großes Aufhebens gemacht. Das Ausland sah dem Lärm mit Wohlgefallen zu und verstärkte ihn noch.« Simone de Beauvoir, die sich im Rückblick so ironisch äußerte, trug Seite an Seite mit Jean-Paul Sartre das Ihre zu diesem Lärm bei. (»La Force des choses«, 1963) Paris schien ohne Konkurrenz. Deutschland lag am Boden, Italien war mit eigenen Sorgen beschäftigt, England stand wie gewöhnlich am Rande. Zentraleuropa verschwand hinter dem Eisernen Vorhang. Äußerungen aus den Vereinigten Staaten wurden mit Mißfallen zur Kenntnis genommen. Die Welt mußte sich weiter verändern, bis ein Exil-Schriftsteller wie der Tscheche Milan Kundera zu äußern wagte: »Lange Zeit das Nervenzentrum Europas, ist Paris noch heute die Hauptstadt von mehr als Frankreich. Unglücklicherweise ist es die untergehende Hauptstadt einer untergehenden Welt.« (»Lire«, Februar 1984)
Eine soziale Gruppe, die seit der Aufklärung neben den Künstlern am meisten zur Ausstrahlung von Paris beigetragen hatte, büßte in den vier Jahrzehnten, die zwischen der Befreiung und dem Nachruf Kunderas liegen, manches von ihrem Ansehen ein: die Intellektuellen. Viele der Wortführer im Streit, bei dem es um mehr ging als um Meinungen, zeigten sich verführbar gegenüber den Verlockungen der totalitären Diktatur, die den Kontinent von der Elbe bis zum Pazifik beherrschte. Aus dem brasilianischen Exil warnte der Schriftsteller Georges Bernanos vor der Einflußnahme der Kommunistischen Partei im Geistesleben. Er sah, daß die kommunistischen Intellektuellen, »gering an Zahl, aber gut organisiert, gut geführt, mit unerbittlicher Disziplin manövrierend, stets bereit, ihre persönliche Meinung und sogar ihre besten Freundschaften dem Parteiinteresse zu opfern, … eine Art Richteramt, um nicht zu sagen eine Kontrolle und Diktatur über die französische Intelligenz« beanspruchten. (»O Jornal« vom 3. Februar 1945) Die Bewunderung, die die Sowjetunion und mit ihr die Kommunisten durch den Sieg über Hitler-Deutschland errungen hatten, bot die Voraussetzung.
Das Parteiorgan »L’Humanité« versäumte keine Gelegenheit, den Eintritt eines Großen aus Literatur, Kunst und Wissenschaft in die Kommunistische Partei zu verkünden. Am 1. September 1944 hieß die Partei den Kernphysiker Frédéric Joliot-Curie willkommen, der bei den Straßenkämpfen in Paris Zutaten für Molotow-Cocktails geliefert hatte. Am 5. Oktober erschien »L’Humanité« mit der Schlagzeile: »Der größte lebende Maler, Picasso, hat seinen Beitritt zur Partei der französischen Wiedergeburt erklärt.« Picasso begründete seinen Entschluß in einem Interview, das Ende September gleichzeitig in »L’Humanité« und der amerikanischen Zeitschrift »New Masses« erschien: »Die Jahre der schrecklichen Unterdrückung haben mir gezeigt, daß ich nicht nur mit meiner Kunst, sondern mit meiner Person kämpfen muß.«
Ein Picasso brauchte sich für sein Schaffen keine Vorschriften machen zu lassen. Aber die Anweisungen des sowjetischen Kulturlenkers Schdanow für den »sozialistischen Realismus« hatten auch für französische Künstler Geltung. Die Kulturfunktionäre mochten sich unter vier Augen noch so verständnisvoll geben, wenn es die Parteilinie erforderte, blieben sie, schon im Interesse ihrer eigenen Stellung, unerbittlich. Kunst und Literatur sollten in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen – und dem Geschmack – der »werktätigen Massen« bleiben. Der Lieblingsmaler der Partei wurde André Fougeron mit seinem Bild »Pariserinnen auf dem Markt« (1948): verhärmte Frauen vor einem Fischstand. Im Januar 1951 mietete die Partei die Galerie Bernheim-Jeune im hochbourgeoisen Faubourg Saint-Honoré. Tout Paris strömte, um Fougerons düstere Genreszenen aus dem nordfranzösischen Kohlerevier zu sehen, wo zwei Jahre zuvor der Bürgerkrieg gedroht hatte.
Eine herausragende Rolle im kommunistischen Kulturbetrieb spielte Aragon. Der einstige Surrealist bewies dabei viel Realitätssinn. Als Poet und Apparatschik gehörte Aragon zum Vorstand des Nationalen Schriftstellerkomitees (CNE), der Friedensbewegung, der Französisch-Sowjetischen Gesellschaft und anderer Organisationen. Mit der Kulturzeitschrift »Les Lettres françaises« verfügte er über ein beträchtliches Einflußnetz. Aragon war einer der wenigen Intellektuellen, denen die Partei den Aufstieg in ihre Führungsränge gestattete. Er beriet Thorez in Dingen der Kunst und Kultur, veranstaltete Kongresse und Symposien, hielt Verbindung zu Kollegen innerhalb und außerhalb der Partei. Dem sozialistischen Realismus leistete Aragon mit der Romanfolge »Die Kommunisten« (1949/1951) Tribut. Bei jeder Machtprobe entschied sich der Vielerfahrene für die Vorgaben der Partei. »Die Partei bot denen, die in der Norm schrieben, ein riesiges Publikum … Die Ehrungen standen im direkten Verhältnis zu ihrer Gefügigkeit«, schrieb der ehemalige Kulturfunktionär Edgar Morin.
Mit seiner Frau, der Dichterin Elsa Triolet, hielt Aragon im Kreis von Bewunderern und Bittstellern hof. Den Rahmen boten die Samstagsempfänge im »Haus des französischen Denkens«, dem Sitz des Schriftstellerkomitees in der Rue de l’Élysée, das einst die Kaiserin Eugénie ihrer Mutter geschenkt hatte. »Eine schmeichlerische Gesellschaft fand sich in den Salons des CNE zusammen. Man traf sich und spreizte sich, plauderte und klatschte wie beim Cocktailempfang einer Unterpräfektur. Man hörte Wortfetzen ›Stellen Sie mich bitte vor‹, ›Ich bewundere Ihr Werk‹, ›Sie haben viel Talent‹, untermischt mit Ausrufen wie ›Der ist ein Faschist‹, ›Er hat jedes Nationalgefühl verloren‹, ›Ah, diese Dreckskerle!‹ Die meisten fanden dieses Getue schließlich ganz natürlich.« (Edgar Morin)
Es gab andere, die der Kommunistischen Partei nahestanden, ohne Mitglied zu werden. Simone Signoret und Yves Montand gehörten zu den Prominentesten, und die Beliebtheit des Schauspielerpaars strahlte auf die Partei zurück. Widersprüchlicher war die Wirkung Sartres. Der Philosoph und Schriftsteller, der seit der Befreiung gleichsam über Nacht berühmt geworden war, nahm im geistigen Leben eine führende Stellung ein, ähnlich wie André Gide vor dem Krieg. Literatur bedeutete für Sartre politisch engagiertes Schreiben, ob als Roman, Bühnenstück, Drehbuch oder Essay. Mit der Monatszeitschrift »Les Temps modernes«, deren erste Ausgabe im Oktober 1945 erschien, schuf Sartre ein Forum für Zeitfragen. Die neue Zeitschrift, die bald so einflußreich war wie früher die »Nouvelle Revue française«, wurde von den Kommunisten ins Visier genommen. Der Existenzialismus, als Symptom »bürgerlicher Dekadenz« von ihnen verachtet, wurde wegen seiner Wirkung auf die Jugend bekämpft wie zwanzig Jahre früher der Surrealismus.
Dabei war der Standpunkt der »Temps modernes« nicht so weit von der Parteilinie entfernt. Mehr als vier Jahre lang bewährte sich der berühmteste Intellektuelle als Weggefährte. 1954 unternahm Sartre, begleitet von Simone de Beauvoir, seine erste Reise in die Sowjetunion und verkündete nach seiner Rückkehr, dort herrsche »totale Freiheit der Kritik«. Diese Haltung kostete Sartre die Freundschaft Albert Camus’ und anderer. Die Unterdrückung der Freiheitsbewegung in Ungarn im Herbst 1956 setzte seinem selbstgewähltem Vasallentum ein Ende. Aber in China und Kuba fand der berühmte Vordenker andere Götzen.
Das große Tabu für Sartre wie für andere Linksintellektuelle war der Antikommunismus. Allfällige Zweifel oder Einwände durften sich nicht zu einer grundlegenden Kritik, gar Ablehnung des Kommunismus verfestigen. Die Linksintellektuellen wollten sich mit der »Klasse der Werktätigen« in Einklang fühlen. Der Ausspruch: »Man darf die Arbeiter nicht enttäuschen« (»Il ne faut pas désespérer Billancourt«) aus einem Stück Sartres wurde zum geflügelten Wort. Auch wollten sie für den Frieden kämpfen, dem nach ihrer Auffassung vom amerikanischen Imperialismus die größte Gefahr drohte. So blieb gelegentliche Kritik an Versagen und Verbrechen des Sowjet-Imperiums verhalten, wie von schlechtem Gewissen getrübt. In dem Bemühen, einen Weg zwischen den beiden Machtblöcken zu finden, opferten die Linksintellektuellen die intellektuelle Redlichkeit, ihre raison d’être.
Die Gründung des »Kongresses für kulturelle Freiheit« im Juni 1950, die Antwort auf den kommunistischen Friedens-Kongreß in Wroclaw (Breslau), fand nicht in Paris statt, sondern im amerikanischen Sektor von West-Berlin. Zu den französischen Initiatoren gehörten Gide, Mauriac, Camus, Léon Blum und Raymond Aron, zu den deutschen der Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter, Carlo Schmid, Karl Jaspers, Alfred Weber. Fast die Hälfte der Teilnehmer kamen aus der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten. Das ständige Sekretariat des Kongresses mit bis zu achtzig Mitarbeitern nahm seinen Sitz in Paris, am Boulevard Haussmann Nr. 104. Die Monatszeitschrift »Preuves« wurde das Sprachrohr. Die Pariser Mitglieder, Liberale wie Raymond Aron oder ehemalige Kommunisten wie Arthur Koestler und Manès Sperber, Sozialisten oder Trotzkisten, stimmten in der Ablehnung des Totalitarismus überein, aber das Meinungsspektrum blieb breit. Nur eines war unerwünscht: Neutralismus.
Die glanzvollste Veranstaltung des Kongresses für kulturelle Freiheit war der »Monat internationaler Meisterwerke des 20. Jahrhunderts« im Mai 1952 in Paris. Dieses Festival setzte mit Konzerten, Opern- und Ballettaufführungen, Kolloquien, Vorträgen, Lesungen und einer Ausstellung moderner Kunst neue Maßstäbe im Kulturbetrieb. Die Wiener Staatsoper bot Alban Bergs »Wozzek«, das Londoner Covent-Garden-Ensemble Benjamin Brittens »Billy Budd«. Der amerikanische Komponist Virgil Thomson dirigierte seine Oper »Four Saints in Three Acts« mit einem Libretto von Gertrude Stein. Die besten Orchester unter den berühmtesten Dirigenten – Igor Strawinsky, Charles Munch, Bruno Walter, Pierre Monteux – gaben Konzerte. In Paris waren Werke von Prokofjew und Schostakowitsch zu hören, die in Moskau verboten waren. Bezeichnenderweise fanden sich bei den Gesprächsrunden außer Malraux keine namhaften französischen Schriftsteller. Die erste Darstellung amerikanischer Kulturpolitik im Ausland litt unter dem Anti-Amerikanismus. »Wir hätten in jedem anderen Land der Welt mehr Sympathie und mehr Unterstützung gefunden. Wir hätten ein besseres Presseecho gehabt«, gab der Organisator Nicolas Nabokov zu. (Peter Coleman)
Aber Nabokov setzte auf die Pariser Gesellschaft als Resonanzboden und täuschte sich nicht. »Natürlich trafen sich überall täglich dieselben Leute, was niemanden hinderte, von einem Empfang zum nächsten zu eilen … Hier erfuhr man, was gelaufen war, und nur was man hier erfuhr, war lohnend«, erinnerte sich der Kultursoziologe Nicolaus Sombart, der munter im Pariser Getriebe mitschwamm: »Die alte capitale de l’occident war der ideale Ort für eine Kulturdemonstration, weil hier die gesellschaftlichen Prämissen einer säkularen abendländischen Kulturtradition noch intakt waren.« Schon damals fragte sich mancher, wer das Fest bezahlte. Die Antwort gaben 1966 amerikanische Zeitungen: Der Kongress für kulturelle Freiheit wurde vom Geheimdienst CIA finanziert, der Millionenbeträge durch private Stiftungen schleuste. Die Organisation verlor an Glaubwürdigkeit und bestand unter leicht geändertem Namen noch bis 1978.
Mit dem ersten Herbst-Salon nach der Befreiung versuchte Paris im Oktober 1944, sich seiner führenden Stellung in der Welt der Kunst zu versichern. Im Mittelpunkt stand die erste offizielle Ausstellung, die Picasso in Frankreich gegönnt wurde: achtzig Werke, die während der dunklen Jahre in seinem Atelier in der Rue des Grands-Augustins (6. Arr.) entstanden waren. Das bekannteste Bild des Meisters, »Guernica«, befand sich in New York, wo das Museum of Modern Art (MoMA) 1939 die erste Picasso-Retrospektive geboten hatte. Im staatlichen Kunstbesitz Frankreichs gab es bei Kriegsende nur ein einziges Bild des berühmtesten Malers des 20. Jahrhunderts, ein Frühwerk. Das änderte sich erst, als Picasso dem Museum für moderne Kunst vor der feierlichen Eröffnung im Juni 1947 ein Dutzend seiner Bilder schenkte.
Nach dem Jeu de Paume hatte die zeitgenössische Kunst ihren Platz im Palais de New-York (vorher: Palais de Tokyo) in der Nähe des Trocadéro, das zur Weltausstellung 1937 gebaut worden war. Dreißig Jahre später siedelte die staatliche Sammlung in das neue Kulturzentrum um, das den Namen des Präsidenten Pompidou trägt. Die Präsentation der zeitgenössischen Kunstwerke, die der französische Staat seit einem halben Jahrhundert erworben hatte, offenbarte schmerzlich die selbstverschuldeten Lücken: Die bedeutenden Schulen der Moderne seit dem Impressionismus, von den Fauvisten über die Kubisten bis zu den Surrealisten, waren nur spärlich vertreten. Der Chefkonservator des neuen Museums, Jean Cassou, bemühte sich, das durch die konservative Erwerbungspolitik Versäumte nachzuholen. Künstler wie Matisse, Braque, Bonnard, Rouault und Brancusi fühlten sich geehrt, dem Staat Arbeiten, die für ihr Lebenswerk wichtig waren, günstig zu überlassen. Private Sammler schlossen sich mit Donationen an. Hatte nicht auch die Dritte Republik ihren Bestand an Impressionisten durch vier große Schenkungen erhalten? Trotzdem befand sich am Ende der Vierten Republik kein Werk von Mondrian, Klee, Kokoschka, Duchamp, Magritte oder Pollock in staatlichem Besitz.
Solche Mißstände hinderten die Kulturverwalter freilich nicht, den Vorrang der französischen Kunst wieder und wieder zu behaupten. Parallel zum wirtschaftlichen Aufbau müsse es eine kulturelle Erneuerung geben, hieß es. Konservatoren, Kunsthistoriker, Kritiker und Künstler beschworen die traditionellen Werte der französischen Kunst, ihre Rationalität, ihren Optimismus, ihre Humanität, ihre handwerkliche Perfektion. Diese Tugenden garantierten jedem französischen Künstler »eine natürliche Eignung für die Meisterschaft«, versicherte Cassou, »und deshalb können ihm unsere ausländischen Freunde heute und morgen ihr Vertrauen schenken.« (»Arts« vom 20. August 1948) Der Rahmen, den die Offiziellen der Gegenwartskunst gaben, war die »École de Paris«. Der Sammelbegriff aus den zwanziger und dreißiger Jahren, der ausländische Künstler von ihren französischen Kollegen unterscheiden sollte, galt nun allem erfolgreichen Kunstschaffen: »Picasso ist Spanier, aber sein Ruhm ist französisch.« (Jean Cassou)
Eine experimentierfreudige Avantgarde hatte es nicht leicht, ihren Platz in diesem System zu finden. Mehr als die Museen des Staates und der Stadt Paris kümmerten sich fortschrittliche Galerien um sie, die auch die Entwicklung im Ausland mit Interesse beobachteten. Der Streit um gegenständliche und abstrakte Kunst erhitzte die Gemüter, und die Debatte wurde umso heftiger geführt, als die Verächter der naturgegebenen Form zwischen »geometrischer« und »lyrischer«, zwischen »kalter« und »warmer« Abstraktion unterschieden. Stilunterschiede wurden zu Grenzlinien zwischen Freundschaftsgruppen und Beziehungsgeflechten. Umtriebige Kunsttheoretiker entwickelten Konzeptionen für die Avantgarde, berieten Galerien und Sammler und knüpften Verbindungen zum Ausland, in die Vereinigten Staaten, nach Skandinavien, der Schweiz, später auch nach Deutschland.
Pierre Restany gründete 1960 die Gruppe der »Neuen Realisten«, die vom Dadaismus beeinflußt nach neuen Wegen suchten. Manche Mitglieder versuchten, durch »Happenings«, in Paris »action-spectacle« genannt, Aufmerksamkeit zu erregen. Der Monochromist Yves Klein druckte mit blauer Farbe bemalte weibliche Körper auf der Leinwand ab oder stellte weiße Wände aus: »Die Leere«. Niki de Saint-Phalle schoß mit dem Karabiner Farbbeutel auf einen Gipsuntergrund, bevor sie sich unförmigen, farbigen Pappmaché-Figuren zuwandte. Der Metall-Skulpteur César komprimierte ein Autowrack zu einem 1,50 Meter hohen Kubus. Christo sperrte, ein Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer, eine Gasse von Saint-Germain-des-Prés mit Benzinfässern; der Titel »Der eiserne Vorhang«, den der bulgarische Emigrant diesem nicht für die Ewigkeit bestimmten Werk gab, machte deutlich, daß die Realität der Neuen Realisten hinter den Dingen lag.
Der Schweizer Jean Tinguely, Spezialist für Pseudo-Maschinen von garantierter Nutzlosigkeit, auch er ein Mitglied dieser Gruppe, errichtete 1960 im Garten des Museum of Modern Art eine Metallkonstruktion, die sich in einer Dreiviertelstunde durch nacheinander gezündete Sprengladungen selbst zerstörte. Titel: »Hommage à New York«. In Amerika präsent zu sein, war für die Avantgarde wichtig geworden. Während des Krieges hatte sich die Kunst in den Vereinigten Staaten von den europäischen Vorbildern emanzipiert, nicht ohne vom Wirken europäischer Emigranten zu profitieren. Im Kampf der Kunstrichtungen setzte sich dort der »abstrakte Expressionismus« durch, dem in den sechziger Jahren die »Pop Art« folgte: die ironische Verfremdung der Konsumwelt. Beides galt als authentischer Ausdruck amerikanischen Kunstschaffens. Im Kalten Krieg beanspruchten die Vereinigten Staaten nicht nur die militärische und wirtschaftliche, sondern auch die kulturelle Führung. Damals »stahl« New York der französischen Kunstmetropole die Idee der Moderne, wie ein französischer Kritiker bemerkte. (Serge Guilbaut) New York stieg zur neuen Hauptstadt der internationalen Kunstszene auf.
Half es, vor der Herausforderung die Augen zu verschließen? Nach Amsterdam, Brüssel, Zürich und Venedig wurden im März 1952 endlich auch in einer Pariser Galerie Bilder von Jackson Pollock, des Hauptvertreters des abstrakten Expressionismus, gezeigt. Publikum und Presse nahmen von dem Ereignis kaum Notiz; von den fünfzehn gezeigten Werken wurden nur zwei verkauft, das eine an einen Schweizer, das andere an einen italienischen Sammler. Zwanzig Jahre vergingen, ehe der französische Staat einen Pollock erwarb, zu einem beträchtlich gestiegenen Preis.
Die Vergabe des Grand Prix bei der Biennale in Venedig an den Provokateur Robert Rauschenberg im Jahr 1964 traf Paris wie ein Schock. Die Auszeichnung wurde zu recht als internationale Anerkennung der amerikanischen Avantgarde verstanden. Manche äußerten den Verdacht, daß machtpolitische Manipulation durch die Regierung Kennedy dabei im Spiel sei. »Das Frankreich des Prix de Rome, der Académie des Beaux-Arts, des Herbst-Salons, der Museumskonservatoren und Ministerialen, diese ganze verkalkte und verstörte Freimaurerei hat sich für die gute alte École de Paris entschieden. Dieses Dornröschen braucht keinen Prinzen, um es zu erwecken, sondern einen kräftigen Tritt in den Hintern.« Das Urteil des französischen Kunstkritikers Pierre Cabanne war jedenfalls ehrlich. (»Arts et loisirs«, Juni 1967) Eine repräsentative Ausstellung mit dem Thema »Paris: Hauptstadt der Kunst«, die 2002 in der Royal Academy in London gezeigt wurde, endete mit dem Jahr 1968.
Die drei Jahrzehnte vom Kriegsende bis zur ersten Ölkrise Mitte der siebziger Jahre gingen nach dem Titel eines Buches des Soziologen Jean Fourastié als die »Trente Glorieuses«, die »glorreichen dreißig Jahre«, in die Geschichtsschreibung ein. In diesem Zeitraum habe sich Frankreich stärker verändert als in den hundert Jahren davor, befand der Autor. Aus einem noch immer agrarisch geprägten Land wurde einer der führenden Industriestaaten. Kernkraftwerke und Autobahnen, das Überschall-Flugzeug Concorde und der Hochgeschwindigkeitszug TGV waren die Symbole eines rasanten Fortschritts und eine Entschädigung für den Verlust des Kolonialreichs. Gleichzeitig nahm die Bevölkerung in einem Ausmaß zu, wie man es seit der Jahrhundertwende nicht mehr erlebt hatte: von vierzig Millionen (1946) auf 54 Millionen (1983). Die »Baby-Boomers«, die ersten Jahrgänge dieser Aufschwungszeit, wuchsen in eine Umgebung hinein, die nach amerikanischem Vorbild »Konsumgesellschaft« genannt wurde. Konsum, das war etwas anderes als die Befriedigung von Bedürfnissen. Eine Aura des Zusätzlichen, ja Überflüssigen umgab den Begriff, ein neuartiges Verhalten, das im Gegensatz zu den überlieferten Geboten der Genügsamkeit und Sparsamkeit stand und das Wirtschaftswachstum antrieb.
Eine »Luxusindustrie« hatte es in Paris seit eh und je gegeben, augenfälliger als in anderen Metropolen. Dafür standen die Haute Couture, die Kunst der Modeschöpfer, die Erzeugnisse der Juweliere, die Handwerkstradition der Goldschmiede, Bronzegießer, Vergolder, Ziselierer, der Kunsttischler, Buchbinder, Gobelin-Wirker, Kristall-Schleifer. Neuartig war das Versprechen, jedermann am Nützlichen und Schönen zu beteiligen, denn nur die Massenproduktion brachte den großen Gewinn. Eine Égalité genußfrohen Verbrauchs war angezeigt, die die Klassenunterschiede verschleierte und einen Horizont eröffnete, den nur noch die Wünsche der vielen Einzelnen zu begrenzen schienen.
»Wer das Frankreich dieser Zeit nicht gekannt hat, weiß nicht, was Appetit auf Konsumgüter ist, von Nylonstrümpfen bis zum Kühlschrank, über Schallplatten und Autos, für welch letztere es Kaufgenehmigungen gab, auf die man ein Jahr wartete«, schrieb Françoise Giroud, damals Chefredakteurin der neuen Frauenzeitschrift »Elle«, die dieses Lebensgefühl ausstrahlte. Seit den fünfziger Jahren nahm die Kaufkraft zu, auch wenn die Löhne hinter den Preisen herhinkten. Ende 1958 wurde nach einer weiteren Abwertung der Neue Franc eingeführt. In wenigen Jahrzehnten erhöhte sich der Lebensstandard um das Fünffache: »Diese Lebensfreude, dieser Optimismus, diese überbordende Erwartung, die das Land in dieser Epoche verströmte.« (Françoise Giroud)
Der »Salon des Arts ménagères«, die Ausstellung für Kücheneinrichtungen und Haushaltsgeräte im Grand Palais, zog 1955 eineinhalb Millionen Besucher an. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre gab es nur in jedem zehnten französischen Haushalt einen Kühlschrank, Ende der sechziger Jahre in drei von vier Haushalten. Mit den Neubauwohnungen verbesserte sich die technische Ausstattung. Das Auto wurde zum Inbegriff des modernen Lebens und der individuellen Unabhängigkeit. Anfangs mußten die Kunden auf einen 2 CV Citroën oder einen 4 CV Renault über ein Jahr lang warten. »1951 teilte mir Citroën einen der ersten 2 CV zu«, erinnerte sich eine alte Pariserin. »Diese wunderbare Konservenbüchse auf Rädern wurde ohne Bremslicht und ohne ›Richtungsanzeiger‹ geliefert. Es fing damit an, daß ich mir in einer Werkstatt das vorgeschriebene, aber nicht mitgelieferte Zubehör beschaffte.« (Mairie des Paris: »C’était Paris dans les années 50«, 1997)
In den meisten Pariser Wohnungen stand in den fünfziger Jahren ein Rundfunkempfänger, der Mittelpunkt des Familienlebens: »Die Tour de France wurde im Rundfunk verfolgt. Das gleiche geschah bei den Autorennen (die große Zeit von Fangio). Wir hörten die ›Familie Duraton‹ in Radio Luxemburg, die Ratespiele, Musikabende, Theaterstücke, France-Inter mit seinen Kriminalfällen.« Das Transistorradio machte die Jugend von diesem Familienvergnügen unabhängig. Später als in England oder Deutschland hielt das Fernsehen seinen Einzug, obwohl die ersten Sendeversuche während des Krieges beim Eiffelturm unternommen worden waren. Von einer halben Million Fernsehempfängern, die der Handel bei der Direktübertragung der Krönung von Königin Elisabeth II. im Juni 1952 an den Mann zu bringen hoffte, wurde nur ein Zehntel verkauft. Der Hauptgrund für die anfängliche Zurückhaltung der Käufer war der hohe Preis eines Fernsehempfängers: hunderttausend Alte Franc, das Monatsgehalt eines Lehrers. Als die »Trente Glorieuses« zu Ende gingen, flimmerte in acht von zehn Haushalten die Mattscheibe.
Die großen Modeschöpfer – Pierre Balmain, Cristobal Balenciaga, Jacques Fath, Jeanne Lanvin, Elsa Schiaparelli und ihre Nachfolger Yves Saint-Laurent, Hubert de Givenchy, Guy Laroche, Madame Carven, André Courrèges, Pierre Cardin, Émmanuel Ungaro, Sonia Rykiel, Jean-Louis Scherrer, Jacques Esterel – zeigten sich entschlossen, den Rang von Paris als Hauptstadt der Mode zu behaupten. Aber sie wußten auch, daß sie auf ein breiteres Publikum zielen mußten als die Käuferinnen exklusiver Roben. Christian Dior (1905–1957), der 1947 an der Avenue Montaigne seine erste Kollektion vorführte, hatte mit seinem »New Look«, einer betont weiblichen Linie, weltweit Erfolg. Zwei Jahre später brachten seine Modelle fünf Prozent der Exporteinnahmen Frankreichs ein. In der Dior-Filiale in New York gab es Dior-Kleider in Serie. Gleichzeitig beschlossen sieben Modehäuser je sieben Modelle zur Serienanfertigung freizugeben. Der Siegeszug des »Prêt-à-porter« bewies die Möglichkeiten des gehobenen Massenkonsums. 1957 fand in Paris der erste »Salon du Prêt-à-porter« statt, der seit 1963 eine internationale Veranstaltung wurde. Es fiel der Pariser Haute Couture nicht leicht, über ihren Schatten zu springen. Neben die großen Modeschöpfer traten die »Stylisten«, die dem Zeitgeschmack voraus waren. Letztlich lag die größte Gefahr für die Mode nicht in der hochwertigen Serienanfertigung, sondern in der provokanten Vernachlässigung des Äußeren durch die junge Generation. Auch Queyneaus Provinzgöre Zazie wird sich gleich beim ersten Ausgang in Paris ihren Wunsch nach einem Paar »bloudjinnzes« erfüllen.
Wie in den Vereinigten Staaten wurde die Werbung durch Markt- und Meinungsforschung untermauert. Marcel Bleustein-Blanchet, der Pionier der modernen Werbung, gründete an den Champs-Élysées und am Boulevard Saint-Germain die »Drugstore Publicis«. Mit den Ladenpassagen und den Kaufhäusern der Vergangenheit hatten diese Stätten des gehobenen Konsums nicht viel gemein. Man konnte dort »als angenehmes Shopping Lebensmittel einkaufen, Dinge für die Wohnung und das Landhaus, Kleidung, Blumen, den letzten Roman und das letzte Gadget, konnte einen Film ansehen und gemeinsam das Abendessen einnehmen«, wie ein Werbetext versprach. Die Verknüpfung von Kommerz und Kultur schien gelungen. Die Ideologie eines Konsums im Zeichen von Fortschritt und Wachstum fand Propheten und Gläubige: Technokraten und Liberale, Industrielle und Gewerkschafter, Ingenieure und Polytechniker, Menschenfreunde und progressive Geistliche, die Absolventen der Verwaltungshochschule ENA und die Mitarbeiter des Statistischen Amtes, die Fluggäste von Air France und die Ferienreisenden des »Club Méditerranée«, kurz »eine ganze Gesellschaft, die über die Sklerosen eines kurzatmigen Landes murrte«. (Michel Winock)
Würde sich Frankreich, würde sich Paris bis zur Unkenntlichkeit verwandeln? Am eindringlichsten setzte der Filmemacher Jacques Tati (1907–1982) die Veränderung der Lebensformen ins Bild. Monsieur Hulot, die Verkörperung des unangepaßten Zeitgenossen, überschreitet immer wieder die Grenze zwischen dem Alten und dem Neuen. Die Zeit der Kleinstadt, in der »Mon Oncle« (1958) ein beschauliches Dasein führt – die Außenaufnahmen wurden in Saint-Maur-des-Fossés an der Marne gemacht –, ging zu Ende. Die Zukunft gehörte der technisierten Umwelt, in der die modernistische Villa, eine Karikatur der Bauhaus-Architektur, und die Kunststoff-Fabrik ihren Platz haben. Für »Playtime« (1967), Tatis ehrgeizigstes und teuerstes Unternehmen, ließ der Regisseur und Produzent am Südostrand von Paris zwei Glas- und Metallgebäude mit allen technischen Innereien errichten: als Rahmen für die Verwirrspiele in Flughafen und Messehalle, in Büro, Drugstore, Supermarkt und Luxusrestaurant. Monsieur Hulot irrt durch ein rationalistisches Labyrinth. Die Sehenswürdigkeiten von Paris erscheinen als flüchtige Spiegelungen in Glaswänden. Die Büro- und Wohntürme von La Défense sind, ein Jahrzehnt vor ihrer Fertigstellung, im Film bereits Wirklichkeit. Noch während der letzten Dreharbeiten, begannen die Baubagger am Boulevard périphérique mit dem Abriß der Kulissen.
»Ich erfuhr von den Ereignissen mit zwei oder drei Tagen Verspätung. Damals lebte ich in Saint-Ouen [am nördlichen Stadtrand], hin und wieder las ich ›Libération‹, ›France-Observateur‹, ›L’Humanité‹. Die Neuigkeit hatte sich schon unter uns Emigranten verbreitet. Ich war an diesem Tag sehr glücklich, denn ich wußte, daß wir vom Kolonialismus nichts zu erwarten hatten.« (»Algérie-Actualité« vom 25. Oktober 1984) Aus der Erinnerung des ehemaligen algerischen Gastarbeiters sprach die freudige Überraschung über den Beginn des Unabhängigkeitskrieges in Algerien am 1. November 1954. Ein halbes Jahr früher hatten algerische Arbeiter den Sieg des Vietcong bei Dien Bien Phu gefeiert. Nun begann auch in ihrer Heimat der Kampf gegen die Kolonialmacht.
Zweihunderttausend Algerier lebten und arbeiteten in Frankreich. Während des Algerien-Krieges von 1954 bis 1962 verdoppelte sich ihre Zahl. In der Pariser Region gab es 120 000 Algerier (1958), ein Zehntel davon Frauen und Kinder: die größte algerische Gemeinde in Frankreich. In der Einwanderungsstatistik erschienen sie nicht als Ausländer, weil das Algerien-Statut von 1947 ihnen die französische Staatsangehörigkeit gab. In der Verwaltungssprache hießen sie »Français musulmans d’Algérie«, abgekürzt FMA. Alles beruhte auf einer Fiktion: Algerien war ein Teil Frankreichs, die Bewohner waren Franzosen, wenn auch mit unterschiedlichen Rechten, es gab keinen Krieg in Algerien, nur Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung. Im Laufe von sieben Jahren zerbröckelte die Fiktion, entstand eine neue Realität.
Die Wohngebiete der fünfzig- bis sechzigtausend algerischen Arbeiter innerhalb von Paris waren der 13. und 14. Bezirk auf dem linken Ufer und der 18., 19. und 20. Bezirk am nördlichen Stadtrand. Die Goutte d’Or, ein sanierungsbedürftiges Viertel am Fuß von Montmartre, galt als die »Kasba von Paris«. Die meisten fanden Unterkunft in heruntergekommenen Mietshäusern oder schäbigen Hotels, deren Benutzer ohne Anmeldung kamen und gingen. Abseits vom Arbeitsplatz blieben die Algerier unter sich, wie in einem Ghetto. Abends saßen die Männer teetrinkend und rauchend, schwatzend und kartenspielend im »arabischen Café« zusammen. Dort wurden politische Informationen und Ansichten ausgetauscht. 1500 Hotels und Cafés im Département Seine gehörten algerischen Wirten.
Mit schlechtem Gewissen duldeten die Behörden die »Bidonvilles« (bidon = Blechkanister), die Elendslager am Stadtrand, in denen auch Portugiesen mehr schlecht als recht unterkamen. Eine Sozialhelferin erlebte 1959 bei Nanterre eine »monströse Ansammlung« Tausender von Hütten aus Wellblech und Ziegeln, Teerpappe und plattgedrückten Kartons, brüchigem Holz und rostigem Blech. »Hinter den im Bau befindlichen Türmen von La Défense in ihrer blendenden Weiße klammern sich die Baracken in einer Kulisse von Bauschutt und Altmetall aneinander … Das Ganze erscheint unbelebt. Nur einige weibliche Gestalten verschwinden hinter wackligen Brettern.« (Monique Hervo) Jeder zehnte Algerier lebte in solchen Bidonvilles. Besonders die Familien mußten froh sein, ein Dach über dem Kopf zu haben.
Die erste algerische Massenpartei, die die Forderung nach Unabhängigkeit erhob, wurde in den zwanziger Jahren, mit Unterstützung der Kommunistischen Internationalen, in Paris gegründet: der »Nordafrikanische Stern« unter Messali Hadj. Seit 1954 nannte sie sich »Algerische Nationalbewegung« (MNA). Aber jüngere Revolutionäre hatten den »Zaim« (Parteiführer) überflügelt. Die »Nationale Befreiungsfront« (FLN) war ihr Machtinstrument, der Aufstand in Algerien ihr Werk. Im Untergrund entbrannte ein Kampf, bei dem es um die Kontrolle über die Algerier in Frankreich und um ihre Beiträge für die Kriegskasse ging. Die »Revolutionssteuer« betrug dreitausend Alte Franc monatlich, etwa acht Prozent des Monatslohns. Die Abgaben von Händlern und Hoteliers lagen erheblich höher. Der Gesamtertrag machte über hundert Millionen Alte Franc oder eine Million Neue Franc im Monat aus. Bei diesem mörderischen Verdrängungswettbewerb kamen in Frankreich im Verlauf des Algerien-Krieges viertausend Menschen ums Leben. »Es war ein Krieg im Krieg, finster, brudermörderisch«, klagte der Schriftsteller Kateb Yacine. (»Libération« vom 19. März 1987)
Anders als der Kolonialkrieg im fernen Indochina, wurde der Algerien-Krieg zu einer innenpolitischen Belastung, die Frankreich an den Rand des Bürgerkrieges brachte. Paris war das Zentrum widerstreitender Bestrebungen. Hier bildeten sich die schwankenden Mehrheiten im parlamentarischen System. Hier wurden die Ausnahmebestimmungen für Algerien erlassen, die nach und nach auch im Mutterland zur Anwendung kamen. Hier erhoben die Intellektuellen, geknebelt durch die Zensur, ihre Stimme. Hier schmiedeten die Verteidiger des »französischen Algerien« ihre Komplotte.
Der Staatsstreich der »Ultras« in Algier am 13. Mai 1958 ermöglichte de Gaulle die Rückkehr an die Macht. Angesichts der Drohung eines Luftlandeunternehmens im Raum Paris kürte ihn die Nationalversammlung am 1. Juni als Ministerpräsidenten, verbunden mit Vollmachten für sechs Monate und dem Recht zur Verfassungsänderung. Am 4. September, dem Geburtstag der Dritten Republik, teilte de Gaulle bei einer Massenkundgebung auf der Place de la République die Grundzüge der neuen Verfassung mit. Vier Fünftel der Wähler stimmten dem Verfassungsentwurf in einem Referendum zu. Am 8. Januar 1959 übergab René Coty, der zweite und letzte Präsident der Vierten Republik, das höchste Staatsamt an Charles de Gaulle, den ersten Präsidenten der Fünften Republik.
Dem Polizeipräfekten Maurice Papon (1958–1966) erteilte de Gaulle die Weisung: »Paris halten«, unter allen Umständen. Papon mußte dem Staatschef in der Hauptstadt den Rücken freihalten: für eine Politik, die, anders als erwartet, immer deutlicher auf die Unabhängigkeit Algeriens hinauslief. Für den Polizeipräfekten bedeutete das einen Zweifrontenkampf gegen algerische Separatisten und französische Aktivisten. Papon hatte die Leitung der Pariser Polizei im März 1958 übernommen, nachdem er sich zwei Jahre lang als »Super-Präfekt« in Ost-Algerien bewährt hatte. Manche Erfahrungen, die er im Aufstandsgebiet gemacht hatte, ließen sich auch in der Hauptstadt anwenden.
Denn Frankreich – und in erster Linie der Großraum Paris – wurde für die Befreiungsfront FLN zum Nebenkriegsschauplatz. In der Nacht vom 24. zum 25. August 1958 überraschten zahlreiche Anschläge im ganzen Land die Sicherheitsbehörden. In Paris griffen algerische Sabotagetrupps eine Polizeigarage, Treibstofflager, ein Militärdepot und die Munitionsfabrik in Vincennes an. Die Polizei reagierte umgehend. In den folgenden Wochen wurden 13 000 Algerier festgenommen und kürzere oder längere Zeit in »Erkennungszentren« (centre d’identification) festgehalten: im einschlägig bekannten Velodrome d’Hiver, im Sportpalast an der Porte de Versailles, in zwei Sporthallen, später auch in Militärbaracken im Bois de Vincennes, einer Hinterlassenschaft der Wehrmacht. Durch Razzien und Haussuchungen bekamen diese provisorischen Internierungslager immer neuen Nachschub. Simone de Beauvoir hielt in ihren Erinnerungen die Atmosphäre am Jahresanfang 1960 fest: »Man konnte keine hundert Meter weit gehen, ohne Zeuge zu sein, wie Nordafrikaner in Polizeiwagen verladen wurden.« Eine Beobachtung am Sonntagabend in der Rue de la Chapelle: »Dort durchsuchten Polizisten in kugelsicheren Westen, die Maschinenpistole in der Hand, einige Männer, die mit erhobenen Händen an der Wand standen: Algerier, sorgfältig rasiert und frisiert, in ihren besten Anzügen. Auch für sie war Sonntag.«
Seit März 1960 war neben den üblichen Sicherheitskräften eine algerische Hilfspolizei von mehreren Hundert Mann, die »Force de Police auxiliaire« (FPA), im Einsatz. Die »Harkis«, wie sie inoffiziell nach den Selbstschutzgruppen in Algerien genannt wurden, setzten sich in den Stadtteilen mit der dichtesten algerischen Bevölkerung, in Montparnasse und Montmartre, fest. »In dunkelblauen Polizeiuniformen und Soldatenmützen, die Pistole an der Seite, die Maschinenpistole in Hüfthöhe, zu dritt, zu sechst, zu acht, in Doppelreihen auf beiden Trottoirs, streiften sie durch die algerischen Viertel. Die französische Bevölkerung sah sie gleichgültig vorbeiziehen, die Algerier mit Mißtrauen und Zorn.« (Paulette Péju) Als Stützpunkte dienten beschlagnahmte algerische Hotels, wie sie auch von den Gastarbeitern benutzt wurden. Algerier, die vom FLN bedroht wurden, suchten in den Unterkünften der Harkis Zuflucht. Aber es war auch bekannt, daß dort Gefangene gefoltert wurden. So oder so, die Harkis waren dem FLN noch verhaßter als die französische Polizei.
Die Anschläge des FLN gegen Polizeiwachen und einzelne Beamte gehörten nun zum Alltag. In den ersten neun Monaten des Jahres 1961 kamen in Paris 47 Polizeibeamte im Dienst ums Leben, mehr als doppelt so viele wie in den zwei Jahren davor. Bei einer Haussuchung unter Exil-Algeriern in Aachen fand die deutsche Polizei eine Todesliste mit Namen und Adressen von dreißig Pariser Polizeibeamten. Am 6. Oktober 1961 verhängte der Polizeipräfekt eine nächtliche Ausgangssperre für Nordafrikaner. Die Mordkommandos des FLN verloren ihre Bewegungsfreiheit.
Am Spätnachmittag des 17. Oktober, einem Dienstag, bewegten sich mehr als zwanzigtausend Algerier, in den ersten Reihen Frauen und Kinder, mit Spruchbändern und grün-weißen Fahnen in die Innenstadt: ein gezielter Verstoß gegen die Ausgangssperre und eine Herausforderung der Staatsgewalt. Mit dieser Kundgebung bekräftigte die Befreiungsfront ihren Führungsanspruch. Kader des FLN schärften den Landsleuten ein, daß niemand zu Hause bleiben dürfe.
Die Demonstration von Tausenden von Algeriern in der Hauptstadt wirkte wie ein Schock. Der Polizeipräfekt hatte seine Männer angewiesen, »mit Festigkeit und ohne Brutalität« einzugreifen. Aber die Vorgesetzten hatten in jenen Wochen ihre Leute nicht mehr richtig im Griff. Für die Polizisten war das die ersehnte Gelegenheit, Vergeltung zu üben für die Anschläge der letzten Monate. Die mehr als siebentausend Algerier, die sogleich an den Métro-Stationen und Bahnhöfen festgenommen und zu den bald überfüllten »Erkennungszentren« gebracht wurden, wurden mit Schlagstöcken in Empfang genommen. Ärzte stellten später Kopfverletzungen und Knochenbrüche an Armen und Händen fest. Dabei stimmen alle Berichte darin überein, daß die Festgenommenen keinen Widerstand leisteten, sondern eher erleichtert schienen.
Zum Gedächtnisort dieses düsteren Tages wurde die Brücke von Neuilly. Als die Bewohner der Bidonvilles von Nanterre zu Tausenden gegen einige Dutzend Polizisten andrängten, die den Übergang sperrten, fielen Schüsse. Männer wurden – tot oder lebendig – in die Seine geworfen. Der politisch-historische Streit um die Zahl der Toten dieses Tages wollte nicht verstummen. Der Innenminister verweigerte vor der Nationalversammlung jede Auskunft, der Polizeipräfekt begnügte sich vor dem Conseil municipal mit der Versicherung: »Die Polizei hat getan, was sie tun mußte.« Der FLN und die Linke sprachen von zweihundert Todesopfern. Ein Zeithistoriker errechnete, gestützt auf das widerstrebend geöffnete Polizeiarchiv, die Zahl von etwa vierzig Toten, darunter auch Opfer des FLN. Die algerische Unabhängigkeitsbewegung wagte eine solche Kraftprobe in der französischen Hauptstadt kein zweites Mal. (Jean-Paul Brunet, 1999)
Mit zunehmender Radikalität versuchten die Verteidiger des »französischen Algerien«, den Gang der Ereignisse in ihrem Sinn zu wenden. Im Mai 1958 hatten sie offensichtlich dem falschen Mann zur Macht verholfen. Aber die Strategie, den Staat durch eine von Algier auf Paris übergreifende Revolte zu erschüttern, konnten sie beibehalten. Seit 1959 war Paris das Nervenzentrum konkurrierender Putschpläne. Ihre Verästelungen reichten in die Ministerien, in die Stäbe der Streitkräfte und in die Zentralen der Sicherheitsdienste. Staatsfeinde erfuhren, was im Ministerrat beschlossen wurde. Ein nie enttarnter Verräter im Élysée meldete Mordkommandos das Kommen und Gehen des Staatschefs. Paramilitärische Gruppen legten Waffen- und Sprengstofflager an. Als Fassade dienten patriotische Organisationen, denen Persönlichkeiten wie Marschall Juin, ein Algerien-Franzose, oder der ehemalige Generalgouverneur Jacques Soustelle vorstanden. Ihre Gefolgschaft demonstrierte auf den Champs-Élysées und im Quartier Latin. Das Hupsignal »Al-gé-rie fran-çaise!« – dreimal kurz, zweimal lang – klang den Parisern schrill in den Ohren.
Die Polizei und die Sicherheitsdienste trafen in aller Stille ihre Vorkehrungen. Trotzdem kam die »Generalsrevolte« im April 1961 überraschend. Am 21. April, einem Freitag, rissen in Algier vier Generäle im Ruhestand mit Hilfe von Fallschirmjägern und Marine-Infanterie die Macht an sich, ohne daß dies in Frankreich sogleich bemerkt wurde. Am nächsten Morgen liefen in Paris die Sicherheitsmaßnahmen an. Bei siebzig Haussuchungen fielen der Polizei Namenslisten und Einsatzpläne in die Hand. Ein halbes Hundert Verschwörer, darunter ein Dutzend Offiziere bis zum General, wurden festgenommen. Das ganze Ausmaß des »Komplotts von Paris«, das die Operationen jenseits des Mittelmeers ergänzte, zeichnete sich ab. Erst am Sonntagabend wandte sich der Staatschef im Fernsehen und Rundfunk an die Nation und die Armee. Die Ansprache schloß mit dem Appell: »Französinnen, Franzosen, helft mir!« Dramatischer noch klang die Ankündigung des Premierministers Debré gegen Mitternacht. Eine »Überraschungsaktion gegen das Mutterland« stehe unmittelbar bevor, rief Debré, ein Luftlandeunternehmen »zur Vorbereitung einer Machtübernahme«. Der Premierminister forderte die Bevölkerung auf, sich auf das Signal der Luftschutzsirenen hin zum nächsten Flugplatz aufzumachen, »im Auto oder zu Fuß«, um die »verführten Fallschirmjäger« von ihrem Vorhaben abzubringen. Anschließend nannte der Informationsminister die Namen der bedrohten Flugplätze: Orly, Le Bourget, Orléans, Chartres und ein halbes Dutzend kleiner Flugfelder bei Paris..
Der republikanische Reflex wirkte Wunder. Im Hof des Innenministeriums, neben dem Élysée, sammelten sich zweitausend Freiwillige. »Junge und Ältere drängen sich und bilden unter Anleitung selbsternannter Unteroffiziere Gruppen, Abteilungen und Kompanien«, erinnerte sich der Polizeipräfekt Papon. »Das ist eine Kaserne unter freiem Himmel, im Scheinwerferlicht von Fernsehen und Wochenschau. Blaue Armbinden mit dem Lothringer Kreuz werden verteilt, ein Geistlicher und zwei freiwillige Chirurgen sind für alle Fälle schon da. Ein Armee-Lastwagen bringt Schnürstiefel, Drillichanzüge und Helme, die sogleich verteilt werden. Die meisten Freiwilligen sind Gaullisten, viele kommen aus der Résistance oder den Streitkräften des Freien Frankreich.« Mit dem Erscheinen des Kulturministers Malraux erreichte die Erregung den Höhepunkt. Der Selbstdarsteller Malraux mochte sich wieder wie im spanischen Bürgerkrieg fühlen.
Der Militärputsch in Algerien fiel nach wenigen Tagen in sich zusammen, weil die Masse der Wehrpflichtigen, anders als die Berufssoldaten, den Putschisten die Gefolgschaft verweigerte. Die Gefährdung durch den Terrorismus im Zeichen des »französischen Algerien« blieb. Aktivistische Gruppen in Algerien schlossen sich zur »Organisation de l’Armée secrète« (OAS) zusammen, die Ableger in Frankreich bildete. Der rechtsextremistische Untergrund, in dem es von Teilnehmern früherer Verschwörungen wimmelte, bildete den Nährboden für die »OAS-Métropole«. Experten der Gewalt, im Umgang mit Waffen und Sprengstoff geübt, erzeugten ein Klima der Unsicherheit. Wie durch ein Wunder überlebten General de Gaulle und seine Frau auf der Fahrt nach Colombey einem Sprengstoffanschlag (8. September 1961) und einen Feuerüberfall (22. August 1962), nur zwei von mehreren Mordversuchen. Rund zweihundert Sprengstoffanschläge in Paris und Umgebung im Lauf des Jahres 1961 richteten sich gegen Bahnhöfe und Bürgermeistereien, gegen die Börse und den Drugstore Publicis auf den Champs-Élysées, gegen Zeitungen und Zeitschriften, gegen Politiker, Journalisten und Juristen, kurz: gegen alle, die ihre Stimme gegen Krieg und Folter erhoben.
Für die Serien nächtlicher Sprengstoffanschläge bürgerte sich die Bezeichnung »Blaue Nacht« ein: siebzehn Explosionen am 17. Januar 1962, über zwanzig am 24. Januar, elf am 15. Februar, fünfzehn am 28. März. Am 7. Februar verletzte eine Sprengladung am Haus des Kulturministers Malraux ein spielendes Kind. Das Bild der blutüberströmten kleinen Delphine Renard erschütterte die Menschen. Die Protestdemonstration gegen den OAS-Terror, zu der die Linke für den nächsten Tag aufrief, wurde verboten. Trotzdem drängten am Spätnachmittag des 8. Februar 1962 mehrere Demonstrationszüge zur Place de la Bastille. Gruppen jugendlicher Provokateure griffen die Sicherheitskräfte mit Knüppeln und Wurfgeschossen an, 140 Polizisten wurden verletzt.
Während die Kundgebung sich auflöste, gingen die Sicherheitskräfte zum Angriff über. Demonstranten, die am verschlossenen Eingang der Métro-Station Charonne am Boulevard Voltaire (11. Arr.) Schutz suchten, wurden von den Nachdrängenden auf der Treppe niedergetreten und erdrückt. Fünf Männer und drei Frauen, Mitglieder der Kommunistischen Partei, kamen bei der Panik ums Leben. Der Name »Charonne« bezeichnet seither einen schwarzen Tag in der Geschichte von Paris. Fünf Tage später begleiteten zweihunderttausend Menschen die Toten zum Friedhof Père-Lachaise: die größte Demonstration gegen den Algerien-Krieg, die Paris erlebte. Die französisch-algerischen Verhandlungen in Évian brachten am 19. März die Waffenruhe. Am 3. Juli 1962 wurde Algerien in die Unabhängigkeit entlassen.
Mehr als jemals zuvor war der Élysée-Palast das Zentrum der Macht. »Die Bestimmung der Geschichte hat mich in diesen Palast gebracht, an dem ich den etwas verstaubten Charme und die günstige Lage zu manchen Ministerien schätze, der aber in meinen Augen einige Nachteile hat.« So definierte de Gaulle in den »Memoiren der Hoffnung« seine ambivalente Einstellung zu dem Gebäude, das er am 8. Januar 1959, dem Tag seiner Amtseinführung, bezog und am 25. April 1969 für immer verließ. Der General liebte dieses Stadtpalais aus dem frühen 18. Jahrhundert nicht, mit dem sich ungute Erinnerungen an den Thronverzicht des Kaisers Napoleon 1815 und an den Staatsstreich seines Neffen 1851 verbanden. Dem eleganten Faubourg Saint-Honoré zog der Berufssoldat das 7. Arrondissement auf der anderen Seite des Flusses vor, wo er einen großen Teil seines Lebens verbracht hatte.
De Gaulle hatte sich an Hand von Plänen mit der Anordnung der Räume vertraut gemacht. Es galt Platz zu schaffen für ein halbes Hundert Mitarbeiter, dreimal so viele wie unter Präsident Coty, angesichts der gewachsenen Verantwortung des Staatsoberhaupts keine unmäßige Verstärkung. Als Arbeitszimmer behielt sich de Gaulle den »Salon doré« vor, den Zentralraum im ersten Stock. So brauchte er nicht in das Büro der Vorgänger im Erdgeschoß des östlichen Seitenflügels einzuziehen. Der Louis XV-Schreibtisch, an dem der General neun Stunden täglich arbeitete, stand seitlich zu den drei hohen Fenstern. Die Telefonapparate auf einem Seitentischchen fielen den Besuchern kaum auf. Aber der große altertümliche Globus in der Ecke, das Geschenk einiger Getreuer, gab Anlaß zu Betrachtungen über die weltpolitischen Ambitionen des Benutzers. Im Nebenraum waltete der Generalsekretär des Élysée, der wichtigste Mitarbeiter, durch dessen Büro der Präsident die Privaträume im östlichen Seitenflügel erreichte. Die Nachfolger, ausgenommen Giscard d’Estaing, behielten diesen Arbeitsplatz bei.
Wie das Arbeitszimmer wurde auch der Sitzungssaal des Ministerrates aus dem Erdgeschoß in den ersten Stock verlegt, eine Veränderung, die keinen Bestand hatte. An jedem Mittwoch nahmen der Staatspräsident und der Premierminister einander gegenüber am Konferenztisch platz, ihnen zur Seite, entsprechend der Rangordnung, die übrigen Regierungsmitglieder, zur Rechten de Gaulles unveränderlich der Kulturminister Malraux als Staatsminister. Die Tagesordnung wurde nicht wie bisher im Matignon festgelegt, sondern im Élysée. Die zuständigen Minister hielten Vortrag zu Sachfragen, alle Anwesenden konnten ihre Meinung äußern, der Premierminister faßte das Ergebnis zusammen, der Staatspräsident traf eine Entscheidung. Außenpolitik und Verteidigung, Algerien und die Atomrüstung galten als »Domäne« des Staatspräsidenten. In allen sonstigen Bereichen blieb der Regierung ein weiter Handlungsraum. De Gaulle sah seine Aufgabe darin, »Richtlinien zu ziehen, Ziele festzulegen, Anweisungen zu geben«, die andere ausführten – dramatische Situationen, die sein Eingreifen erforderten, ausgenommen. Die Direktwahl des Staatspräsidenten durch das Volk, im Oktober 1962 durch Referendum eingeführt und im Dezember 1965 erstmals angewandt, verstärkte die präsidialen Züge der neuen Verfassung.
Ein- oder zweimal im Jahr wurden französische und ausländische Journalisten zu einer Pressekonferenz einberufen: für de Gaulle die Gelegenheit, der Öffentlichkeit die großen Linien seiner Politik zu erläutern und seine Absichten anzukündigen. Diese großen, von Rundfunk und Fernsehen übertragenen Auftritte im Festsaal des Élysée mit etwa tausend Teilnehmern waren sorgfältig vorbereitet. Der Präsident nahm auf einer erhöhten Estrade hinter einem Tisch platz, etwas tiefer, einer Schulklasse ähnlich, die Minister und Sachbearbeiter. Die entscheidenden Fragen waren »bestellt« und lieferten de Gaulle das Stichwort für lange Monologe. Aber auch bei unerwünschten Einwürfen zeigte er sich mit bissigem Witz als Herr der Lage: »Sobald ich geendet habe, bricht der Ansturm auf die Fernschreiber und Telefone und die Redaktionsräume los. Am nächsten Tag erscheinen die Äußerungen der Sprecher aller politischen Richtungen, die Interpretationen der französischen und ausländischen Sender, die im allgemeinen feindseligen oder zumindest pointierten und stichelnden Artikel … Nachdem der Informationsbetrieb durch seinen eigenen Lärm gezeigt hat, daß meine Erklärungen ›übergekommen‹ sind, beruhigt er sich mit der Schlußfolgerung: ›Er hat nichts Neues gesagt!‹« (Memoires d’espoir«, 1971)
Die Repräsentationspflichten waren für de Gaulle keineswegs Nebensächlichkeiten. Die Selbstdarstellung des Staates sollte sich »mit Fülle und Maß, Anstand und Würde« vollziehen. De Gaulle verabscheute Improvisationen nicht weniger als Formverstöße. Die Protokollabteilung des Außenministeriums mußte einen ständigen Vertreter ins Élysée entsenden. Denn die Zahl der Staatsbesuche und offiziellen Besuche nahm mit der außenpolitischen Bedeutung Frankreichs unter de Gaulles Führung zu. Präsident Eisenhower kam 1959 gleich zweimal zu Konferenzen nach Paris. In den nächsten Jahren folgten Chruschtschow, Kennedy, König Baudouin, Nehru, Ben Gurion, Sukarno, Bundespräsident Lübke und, nicht weniger als sieben Mal, Bundeskanzler Adenauer, der am 22. Januar 1962 im Salon Murat mit de Gaulle den Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit, den »Élysée-Vertrag«, unterzeichnete sowie die Staatschefs der jungen afrikanischen Staaten, die auch nach dem Ende der Kolonialzeit mit Frankreich eng verbunden blieben. Der Höhepunkt jedes Staatsbesuchs war das Gala-Diner im Festsaal mit zweihundert Gedecken, untermalt von der Tischmusik der Garde Républicaine. Der vielbeschäftigte Hausherr versäumte nie, Tischordnung und Speisefolge zu prüfen.
Für besondere Gäste, vorzugsweise gekrönte Häupter, wurde das Grand Trianon, das Lustschloß des »Sonnenkönigs« im Park von Versailles, instand gesetzt. Das Rothschild-Palais in der Avenue Marigny Nr. 23, in unmittelbarer Nachbarschaft des Élysée, das der Staat 1972 erwerben konnte, erwies sich als Gästehaus besser geeignet. Der offizielle Aufwand kontrastierte merkwürdig mit der persönlichen Anspruchslosigkeit des Generals und seiner Frau Yvonne, die das Wochenende am liebsten im Familienkreis in Colombey-les-Deux-Églises verbrachten. Es war nicht der geliehene Glanz, der die Zeitgenossen dazu brachte, vom Élysée unter de Gaulle als dem »Schloß« und von seiner Umgebung als dem »Hofe« zu sprechen. Es war die Ausstrahlung des Staatsmannes, der sich im Palast der Republik als Erbe der Könige fühlen durfte.
Seit der Schöpfertat des Präfekten Haussmann wandelte sich Paris zu keiner Zeit so umfassend wie von der Mitte der fünfziger bis in die Mitte der siebziger Jahre. Der Wirtschaftsaufschwung der »Trente Glorieuses« und die Stärkung des Staates in der Fünften Republik brachten in der Hauptstadt Veränderungen mit sich, die manche in Begeisterung versetzten und viele bestürzten. Langfristige Planungen werden von der Allgemeinheit und selbst von den Betroffenen zunächst kaum wahrgenommen. Wenn »die da oben« es überhaupt für nötig halten, die Bevölkerung von ihren Absichten in Kenntnis zu setzen, geschieht dies in der Regel verspätet, dann nämlich, wenn nichts mehr zu ändern ist. So ist eines Tages das Alte verschwunden, gähnt hinter dem Bauzaun eine Grube, wachsen Gerüste, steht etwas anderes da. Dann ist das Erstaunen groß und der Jammer hebt an um ein Stück des »vieux Paris«, das unwiederbringlich dahin ist. Bis die Gewöhnung, die den Prozeß der Erneuerung begleitet, ihre Wirkung tut.
Die Notwendigkeit einer Stadtplanung zeichnete sich seit der Jahrhundertwende ab. Aber in den zwanziger und dreißiger Jahren stand die Finanzmisere der Stadt Paris kühnen Lösungen im Weg. Im Weltausstellungsjahr 1937 untersagte die Regierung der Gemeinde, neue Kredite aufzunehmen. Dann kam der Krieg. Ein Gesetz des Vichy-Staates von 15. Juni 1943, das Paris wie alle Gemeinden mit mehr als fünfzigtausend Einwohnern zu einem Bebauungsplan verpflichtete, blieb toter Buchstabe. Nach dem Krieg war der Wiederaufbau der zerbombten Städte die Hauptaufgabe des neuen »Ministeriums für Wiederaufbau und Stadtplanung« (MRU), das unter wechselnden Bezeichnungen weiterbestand.
1954 brachte der Vorsitzende des Pariser Gemeinderates, Bernard Lafay, mit einem umfassenden Planungsentwurf frischen Wind in die Diskussion. Paris sollte auf der Hälfte seiner Fläche umgestaltet, Wohnungen sollten gebaut werden. Als Zielgebiet nahm der Plan vor allem die äußeren Bezirke im Norden, Osten und Süden ins Visier, die 1860 eingemeindet worden waren. Verschont blieben die ersten sieben Arrondissements, der historische Stadtkern, sowie das 8., 16. und 17. Arrondissement mit ihrer vorzüglichen Bausubstanz. Der Architekt und Urbanist Raymond Lopez (1904–1966), der Lafay beriet und an den wichtigsten Vorhaben der nächsten Jahre beteiligt war, sah große Zeiten voraus: »Paris soll eine neue Ära Haussmann mit fünfzehn Jahren intensiver Urbanisierung und intensiver geordneter Bautätigkeit erleben.« (»La Nef«, Juni 1957)
Der Entwurf Lafays wirkte weiter. Aber die Initiative lag fortan beim Staat. 1959 legte der Präfekt Jean Benedetti (1958–1963) den »Plan d’urbanisme directeur de Paris« vor, 1968 folgte das »Schéma directeur d’aménagement et d’urbanisme de la Ville de Paris« (SDAU). Mit dem »Atelier parisien d’urbanisme« (APUR) schuf die Präfektur 1967 ein weiteres Planungsgremium. Die jungen Architekten des APUR wurden von den Technokraten der Bauverwaltung, von denen viele aus der Hochschule für Tiefbau (Ponts et Chaussées) und der École Polytechnique kamen, anfangs mit einigem Mißtrauen beobachtet. Tatsächlich bewiesen sie in der Folgezeit mehr Verständnis für die Stadtgestalt als ihre Kollegen. In der großzügig gestalteten Zeitschrift »Paris Projet« wurde die Fachwelt, bei zwei Ausstellungen im Grand Palais – »Morgen Paris« (1961) und »Vom Paris der Entwürfe zum Paris der Baustellen« (1967) – auch die breitere Öffentlichkeit mit neuen Entwürfen konfrontiert. »Paris Match« zeigte mit der Sondernummer »Paris in zwanzig Jahren« (1. Juli 1967) die vertraute Umgebung als utopisches Metropolis.
Aber die Planungen und Projekte bezogen sich nicht nur auf das Stadtgebiet von 105 Quadratkilometern (mit Bois de Boulogne und Bois de Vincennes). Sie erstreckten sich auf die Pariser Region. Während Paris in zwanzig Jahren mehr als eine halbe Million Einwohner verlor – von 2,85 Millionen (1955) auf 2,3 Millionen (1975) –, wuchs die Bevölkerung der Region um so schneller. 1955 lebten über 7 Millionen Menschen in der Pariser Region (Paris eingeschlossen), zwanzig Jahre später 9,5 Millionen. Der »Plan d’aménagement et d’organisation de la région parisienne« (PADOG) von 1955 verfolgte die Absicht, die Region auf zehn Millionen Menschen zu beschränken. Dafür sollten die Randstädte – Orleans, Rouen, Le Mans, Amiens und Reims – kräftig wachsen. Dieser Dezentralisierung lagen Vorstellungen zugrunde, wie sie der Geograph Jean-François Gravier in seiner schon erwähnten Schrift »Paris et le désert français« (1947) vertrat. Graviers These, das Wachsen der Pariser Region ziehe die Verödung Frankreichs nach sich und müsse gestoppt werden, fand in den Planungsgremien viele Anhänger.
Sie leuchtete auch dem Premierminister Debre ein, auf dessen Beschluß 1961 der »Distrikt der Pariser Region« geschaffen wurde: nicht als weitere Verwaltungseinheit, sondern als Planungsrahmen für ein Gebiet von 12 000 Quadratkilometern, von dem ein Zehntel auf den Ballungsraum (agglomeration) von Paris entfiel, wo vier Fünftel der Bevölkerung der Region lebten, fast sieben Millionen Menschen. Zum »Generaldelegierten für den Distrikt der Pariser Region« wurde Paul Delouvrier (1916–1997) ernannt, der zuvor die Verwaltung in Algerien geleitet hatte. Gestützt auf das Vertrauen des Staatschefs de Gaulle unterzog sich Delouvrier siebeneinhalb Jahre lang der Aufgabe, Ordnung in die unübersichtliche Pariser Region zu bringen: mit ähnlichem Eifer und Durchsetzungsvermögen wie hundert Jahre vor ihm der Präfekt Haussmann in der Hauptstadt. Dabei scheute sich der neue Verantwortliche nicht, den vorgefundenen Plan, den er anwenden sollte, bald außer Kraft zu setzen. Während die PADOG-Autoren das Bevölkerungswachstum der Region einzuschränken versuchten, rechnete Delouvrier bis zum Jahr 2000 mit einer Zunahme auf zwölf bis sechzehn Millionen.
De Gaulle gefielen solche Prognosen. Er billigte das »Schéma directeur d’aménagement et d’urbanisme de la region parisienne«, das ihm Delouvrier im November 1964 vorlegte. Vor allem hatten es die »Villes nouvelles« dem Staatschef angetan: Satellitenstädte für je drei- bis fünfhundertausend Einwohner, die rings um Paris entstehen sollten. Die Planer konnten weder mit der »Pille« noch mit der Ölkrise rechnen. Statt acht »Neuen Städten« wurden nur fünf gebaut, mit einer weit geringeren Einwohnerzahl: Cergy-Pontoise im Nordosten, Évry im Süden, Saint-Quentin-en-Yvelines im Südwesten, Marne-la-Vallée im Osten und Melun-Sénart im Südosten.
Parallel zu der Raumordnung fand eine Gebietsreform statt (Gesetz vom 10. Juli 1964). Die beiden Départements Seine (Paris und Banlieue) und Seine-et-Oise, die zusammen mit dem Département Val-de-Marne die Pariser Region bildeten, wurden in sieben Départements aufgeteilt: Paris (das einzige rein städtische Departement in Frankreich); die drei dichtbesiedelten Départements Hauts-de-Seine (Präfektur Nanterre), Seine-Saint-Denis (Bobigny) und Val-de-Marne (Creteil) als »Kleine Krone«; ferner die drei Départements Val-d’Oise (Cergy-Pointoise), Yvelines (Versailles) und Éssonne (Évry) als »Große Krone«. Aus dem Präfekten des Seine-Departements wurde 1968 der Präfekt von Paris, aus dem Conseil municipal der Conseil de Paris, der auch als Départementsrat fungierte.
Die Pläne mit beigefügten Karten verraten wenig von den administrativen und gesetzgeberischen Schwierigkeiten der Ausführung. »Wir waren Autokraten bei der Vorbereitung, weil général de Gaulle es bei Entscheidungen dieser Art war, und Demokraten bei der anschließenden Überzeugungsarbeit«, faßte Delouvrier am Ende seines Lebens die Methoden des »autoritären Urbanismus« zusammen. (Roselyne Chenu) Die Volksvertreter auf mehreren Ebenen mußten zumindest nachträglich ihre Zustimmung geben. Die Gemeinden waren weniger abhängig vom Staat als die Hauptstadt unter dem Sonderstatut.
Entscheidend war, daß die Probleme der Stadtplanung und Raumordnung unter der Fünften Republik mit ganz anderer Entschiedenheit angepackt wurden als unter den kurzlebigen Regierungen der Vierten Republik. Für General de Gaulle war Paris das steingewordene Symbol der Größe Frankreichs. »Was wir bei den Hallen machen, muß Frankreichs würdig sein«, beschied er seine Mitarbeiter, als ihm die Entwürfe für den Sektor der zum Abriß bestimmten Markthallen vorgeführt wurden. Der Stratege de Gaulle interessierte sich mehr für Fragen der Raumordnung als für die der Stadtplanung. Mit ästhetischen Urteilen hielt er sich zurück, auch wenn die moderne Architektur seinem klassischen Geschmack nicht entsprach. De Gaulle verließ sich auf das Urteil seines Kulturministers Malraux.
Der Schriftsteller André Malraux (1901–1976), in dessen Werk Paris kaum Spuren hinterlassen hat, hatte als Kulturminister in Fragen der Stadtgestaltung ein gewichtiges Wort mitzusprechen. Paris verdankt ihm die Renovierung des Louvre und des Hôtel des Invalides. An das neue farbenfrohe Deckengemälde der Oper, das Malraux bei seinem Freund Chagall in Auftrag gab, mußten sich die Pariser erst gewöhnen. Ähnlich erging es ihnen mit der Reinigung der historischen Bauwerke, beginnend an der Place de la Concorde. Viele befürchteten, Paris werde durch das »blanchiment« der rauchgeschwärzten Fassaden etwas von seiner Besonderheit verlieren. Die wichtigste Leistung des Kulturministers Malraux für Paris – und nicht nur für Paris – war das Gesetz über die »geschützten Stadtteile« (4. August 1962), das den Denkmalschutz von einzelnen Bauwerken auf ganze Viertel ausweitete. In Paris kam das »Malraux-Gesetz« vor allem dem Marais und dem Faubourg Saint-Germain zugute, ohne die Zerstörung einzelner Gebäude in jedem Fall zu verhindern. Aber Malraux gönnte auch dem Neuen Raum. »Von Ihrer Entscheidung hängt es ab, ob es in Paris – und damit in Frankreich – eine zeitgemäße Architektur geben wird«, ermahnte er die Mitglieder des »Generalrats der Bauwerke Frankreichs«. Dabei ging es um den Wolkenkratzer von Montparnasse. Frankreich müsse »die harmonische Kühnheit des modernen Urbanismus und der modernen Architektur würdigen«. Mit solcher Rhetorik ließ sich jede Bausünde mühelos entschuldigen.
Wie kein anderer machte Georges Pompidou als Premierminister und als Staatspräsident die Neugestaltung der Hauptstadt zu seinem Anliegen: von April 1962 bis zu seinem Tode am 2. April 1974, unterbrochen nur von einer elfmonatigen »Durststrecke« 1968/69. Der ehemalige Mitarbeiter des Bankhauses Rothschild verkörperte, realistisch und pragmatisch, den Wachstumsoptimismus und die Modernisierungsfreude der »Trente Glorieuses«. Der Ballungsraum Paris bedeutete für Pompidou die Konzentration der Wirtschaftskräfte Frankreichs und ein Potential im internationalen Wettbewerb. Paris als Hauptstadt Europas, das war eine Vorstellung, die in den sechziger und frühen siebziger Jahren nicht nur ihn beflügelte.
Als treibende Kraft bei der Modernisierung von Paris sah der Neo-Gaullist Pompidou neben dem Staat auch die Wirtschaft. Dem Präfekten Haas-Picard (1963–1966) riet der Premierminister im Oktober 1965, »die Privatinitiative anzuregen, sich tatkräftig für den Aufbau in Paris und insbesondere für das große Werk der Renovierung der Hauptstadt zu interessieren«. Dabei könnten die Bauvorschriften »auf ein Minimum reduziert« und »Zonen außergewöhnlicher Liberalisierung und Aktivität« geschaffen werden. (Sitzung des Conseil de Paris vom 13. Januar 1966) Der Auto-Schnellweg auf dem rechten Ufer und das Kulturzentrum Beaubourg erinnern mit ihrem Namen an den Stadtgestalter Georges Pompidou. Aber als der Nachfolger Giscard d’Estaing 1974 einige seiner Projekte stoppte, waren die Pariser erleichtert.
»Man soll sich nichts vormachen: fast die Hälfte von Paris ist überaltert. Nicht nur das Durchschnittsalter der Häuser liegt bei hundert Jahren, sondern auch das der gesamten Infrastruktur: Straßen, Kanalisation, Wasserleitungen, Schulen, Gymnasien, Krankenhäuser, Bahnhöfe, Kanäle, Friedhöfe, Gartenanlagen und so weiter, das alles stammt von Haussmann … Hinter den großartigen Kulissen an den Seine-Ufern verbergen sich baufällige Viertel, in denen fast eine Million Menschen leben, unter Bedingungen von Hygiene und Komfort, die unserer Zeit unwürdig sind.« Der Plan der Präfektur für die Stadterneuerung vom Jahr 1959 wollte nichts beschönigen.
Die Pariser hatten sich an die geschwärzten Fassaden, den bröckelnden Verputz und sogar an einsturzgefährdete Mauern, die mit Brettern und Balken gestützt werden mußten, gewöhnt. Sie nahmen es hin, daß noch 1974 fast die Hälfte der Wohnungen (45 Prozent) keine Toilette und mehr als ein Drittel (37 Prozent) keine Dusche hatten. (Ville de Paris, 1974) Die Festlegung der Mieten seit 1914 verewigte, was zunächst nach einer vorübergehenden Notlage aussah. Auch das neue Gesetz des Bauministers Eugène Claudius-Petit vom 1. September 1948 gestand den Eigentümern nur eine mäßige Verzinsung zu, für den privaten Wohnungsbau ein ungenügender Anreiz. Nach den Vorstellungen der Präfektur von 1946 hätten in Paris jährlich tausend neue Häuser mit zehntausend Wohnungen gebaut werden müssen, um dem ärgsten Mangel abzuhelfen, eine Vorgabe, die bis Ende der fünfziger Jahre nicht einmal zur Hälfte erfüllt wurde.
Der Wohnungsmangel in der Hauptstadt wurde zum Skandal. Anfang 1954, in einem ungewöhnlich strengen Winter, wandte sich Abbé Pierre (1912–2007), ein Franziskaner, in einem Offenen Bief an den Bauminister: »Herr Minister, in der Nacht vom 3. zum 4. Januar ist in [dem Vorort] Neuilly-Plaisance ein kleines Mädchen erfroren, während Sie vor der Nationalversammlung die Kredite für Notunterkünfte verweigerten.« Der Abbé, der eigentlich Henri Grouès hieß, kümmerte sich mit seiner »Emmaus-Gemeinde« seit mehreren Jahren um das wachsende Heer der Obdachlosen. Jetzt hatten seine Aufrufe im Rundfunk und in Versammlungssälen plötzlich Erfolg. In wenigen Wochen sammelte der Menschenfreund 500 Millionen Alte Franc. Unermüdlich im Einsatz, unterstützt von den Medien, wurde Abbé Pierre mit seinem Bart, der sich mit den Jahren weiß färbte, mit Pelerine und Baskenmütze zu einem Heiligen unserer Zeit. Denn Obdachlose gibt es immer.
Es war billiger, außerhalb der Stadt zu bauen, wo die Grundstückspreise niedriger lagen. Seit Ende der fünfziger Jahre wuchsen in der Umgebung von Paris, vor allem auf den Hochflächen längs der Flußtäler, wo vorher kein Haus stand, riesige Wohnanlagen. Die »Grands ensembles« wurden das Experimentierfeld der industriellen Bauweise, die sich unter den Zwängen des Wiederaufbaus durchsetzte: eine Aufgabe mehr für Techniker als für Architekten. Aus zwei Bauformen, dem Hochhaus oder dem Wohnblock, wurden Trabantenstädte kombiniert, die acht- bis zehntausend Wohnungen für dreißig- bis vierzigtausend Menschen umfaßten. Die Planer waren stolz, die Zersiedlung der Landschaft durch Einfamilienhäuschen zu vermeiden.
»In diesem Jahr hat Paris sich sichtbar in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hineingebaut«, hielt die Korrespondentin Janet Flanner im August 1959 fest. »Diese ›Cité-parcs‹ … ähneln einander wie Dominosteine oder Würfel, weiße, von Fenstern durchbrochene Zementblöcke … Der angeblich längste Wohnblock Frankreichs, in schlangenförmigen Windungen, ist gerade nahe der Vorstadt Pantin im Norden von Paris gebaut worden. Das nicht ganz einen Kilometer lange Gebäude faßt 450 Wohnungen für 1500 Bewohner. Bei den Renault-Werken in Boulogne-Billancourt wachsen riesige quadratische Türme von fünfzehn Stockwerken in die Höhe; neue fünfstöckige Wohnhäuser tauchen in den Seine-Wäldern bei Vermouillet, Rueil, Argenteuil und in Dutzenden anderer Vorstädte auf.« Zehn Jahre später lebte jeder sechste Einwohner der Pariser Region in einer neuen Cité.
Die jungen Familien waren glücklich, den dunklen Altbauwohnungen in der Stadt entkommen zu sein. Sie genossen den ungewohnten Komfort der neuen Wohnungen: die »salle d’eau« mit Waschbecken und Dusche, die getrennte Toilette, den Aufzug, auch wenn ein Arbeiterhaushalt ein Viertel des Einkommens für die neue Miete aufbringen mußte, während er vorher mit vier bis acht Prozent ausgekommen war. Der Umzug in die moderne Wohnung bedeutete den Eintritt in die Konsumgesellschaft. »Man gewöhnt sich an Strom, Fernsehapparat, Kühlschrank. Vorher war die Einrichtung sauber, aber alt. Heute hat sich die Einstellung geändert, wir sind modern geworden«, sagte ein ehemaliger Bewohner des 13. Bezirks um die Place d’Italie. (Henri Coing) Nach und nach zeigten sich auch die Schattenseiten der neuen Umgebung. Viele Bewohner der »Grands ensembles« fühlten sich vereinsamt, viele litten unter der Rücksichtslosigkeit der Mitbewohner, alle klagten über fehlende Einkaufsmöglichkeiten und ungenügende Verkehrsverbindungen. Die Zeitungen berichteten von Selbstmorden und von Jugendbanden, den »Blousons noirs« (»Lederjacken«). Seit den siebziger Jahren änderte sich das soziale Klima der Siedlungen. Die Cités, mit denen sich große sozialpolitischen Hoffnungen verbanden, sanken zu Problemvierteln ab.
Nächst der Wohnungsnot machte die Verkehrsdichte den Parisern das Leben schwer. 1960 waren täglich über eine Million Autos in der Stadt unterwegs, von denen nur die Hälfte den Stadtbewohnern gehörten. Der Sättigungsgrad für das Straßennetz von rund tausend Kilometern, ein Fünftel der Stadtfläche, schien erreicht. Die Nervosität der Fahrer entlud sich häufig in Tätlichkeiten. »Schlägereien sind so alltäglich und heftig geworden, daß das Justizministerium beschlossen hat, daß Autofahrer, die aussteigen, um sich auf der Straße zu prügeln, innerhalb von drei Tagen zu einer Woche Haft verurteilt werden«, notierte Janet Flanner Anfang 1965. Die Stadtverwaltung griff zu Notlösungen: Wichtige Straßen wurden auf Kosten von Bürgersteigen und Bäumen verbreitert.
Im Regionalplan von 1956 war der »Boulevard périphérique«, die äußere Umgehungsstraße am Fuß der einstigen Befestigungsanlagen, als eine der wichtigsten Neuerungen festgelegt: mit 36 Kilometer Länge und dreiunddreißig Zufahrten an den einstigen Stadttoren. Im Oktober 1956 begannen die Bauarbeiten. Der Regionaldelegierte Delouvrier setzte gegen erhebliche Bedenken acht statt sechs Fahrbahnen durch. Der erste Abschnitt zwischen der Porte d’Italie und der Porte de Châtillon wurde im April 1960 abgeschlossen, gleichzeitig mit der Eröffnung der Süd-Autobahn, der letzte Abschnitt zwischen der Porte Dauphine und der Porte d’Asnières im Nordwesten in April 1973. Wie früher die Festungsanlagen, bezeichnet seither der Boulevard périphérique die Stadtgrenze.
Die neue Umgehungsstraße erleichterte den »banlieusards« die Fahrt zur Stadt. Die Verkehrsnöte der Innenstadt löste sie nicht. Der Plan einer achtspurigen inneren Umgehungsstraße wurde vom Stadtrat verworfen. Die Stadtväter begnügten sich mit dem Ausbau der Äußeren Boulevards. Delouvrier konnte sich mit dem Vorschlag, den Kanal Saint-Martin als Schnellstraße zu überdecken ebensowenig durchsetzen wie der Urbanist Raymond Lopez mit einer Verbindung von Montparnasse bis zur Höhe von Chaillot. Spürbare Erleichterung brachte die Schnellstraße auf dem linken Ufer vom Pont de Bir-Hakeim bis zum Pont Royal (1956–1960) und mehr noch die Schnellstraße auf dem rechten Ufer von Boulogne bis zum Pont de Bercy (1964–1967). Die Freunde des alten Paris beklagten den Verlust der Uferpromenade, des Reservats der Liebespaare und Angler. Präsident Pompidou war entschlossen, Paris zu einer autogerechten Stadt zu machen. Die Äußerungen des Präsidenten bei einer Besichtigungsfahrt im November 1970 blieben als verkürztes Zitat haften: »Paris muß sich an das Auto gewöhnen und auf eine überholte Ästhetik verzichten.« Anders als die Vierte Republik war die Fünfte Republik bereit, erhebliche Mittel für die Infrastruktur der Hauptstadt aufzuwenden.
Die Sanierungsgebiete stellten eine verlockende Bodenreserve dar. Siebzehn »îlots insalubres«, fast dreitausend für unbewohnbar erklärte Häuser mit zweihunderttausend Bewohnern, warteten seit Jahrzehnten auf den Abbruch. Bisher war wenig geschehen. Aber die Bewertungsmaßstäbe hatten sich seit dem Krieg erweitert. Zu den Forderungen der Volksgesundheit kamen nun das Alter, die Größe und der Zustand der Häuser. Das Etikett »ungesundes Gebäude« wurde durch »mangelhaft« oder »schlechtgenutzt« ersetzt – keine neutrale Wortwahl. Der Begriff »Sanierungsgebiet« wurde dehnbar und paßte sich den Wünschen der Stadtplaner an. Wenn es nach ihnen ging, sollte ein erhaltenswertes Wohnhaus weniger als fünfzig Jahre alt und mindestens vier Stockwerke hoch sein und Strom, Gas und Wasser bieten. Achttausend Gebäude, »die, auch wenn sie nicht für ungesund erklärt worden sind, nach der Spitzhacke schreien«, verfehlten nach Ansicht des Baukommissars und späteren Minister Pierre Sudreau diese Bedingungen. Die Sanierung bot die erwünschte Gelegenheit für massive Eingriffe in die Bausubstanz der Innenstadt. Ein Viertel der Gesamtfläche von Paris war von der »Renovierung« betroffen, dem flächendeckenden Abriß und Neubau. Auf diese Weise wurden von 1954 bis 1975 mehr als zweihunderttausend neue Wohnungen gebaut.
Die größte dieser Unternehmungen war die Umgestaltung des 13. Bezirks zwischen der Place d’Italie, der Porte d’Italie und der Porte d’Ivry auf einer Fläche von fast 90 Hektar. Ein Zeitgenosse beschrieb den Îlot 4, um den es dabei ging: »Im Unterschied zur Place d’Italie mit ihren Fassaden aus der Haussmann-Zeit läßt der abgeblätterte Verputz des Boulevard de la Gare für den Komfort dieser Gebäude nichts Gutes ahnen. Billiges Baugelände, der Untergrund durch Gesteinsabbau unterhöhlt, ärmliche Bewohner, all das erklärt dieses Geflecht von niedrigen Häusern, die ohne Ordnung um labyrinthische Innenhöfe geklebt sind, von Feuchtigkeit zerfressen.« (Henri Coing)
Die Straßenführung in dem Neubaugebiet wurde zum Teil durch die »offene Anordnung« von Wohnblocks und Hochhäusern ersetzt – nicht anders als in den »Grands ensembles« der Banlieue, wenn auch von besserer Qualität. Von den rund dreihundert Hochhäusern mit mehr als dreizehn Stockwerken, die sich Mitte der siebziger Jahre in Paris erhoben, standen 85 im »Secteur Italie«. Den Parisern waren diese Wohntürme so fremd, daß die Bauträger anfangs Schwierigkeiten hatten, Mieter zu finden. Südostasiaten und Chinesen, die nach dem Vietnam-Krieg als Flüchtlinge nach Frankreich kamen, zeigten sich weniger empfindlich: Das 13. Arrondissement wurde zum größten »Chinatown« in Europa. Das Versprechen, die alten Mieter in den neuen Gebäuden unterzubringen – wenn es denn ernst gemeint war –, erwies sich als undurchführbar. Der Exodus der Arbeiterbevölkerung setzte sich fort. Die einstmals so lebendige Nachbarschaft um die Rue Nationale mit Kneipen und kleinen Läden gerann zur nostalgischen Erinnerung, die gutwillige Soziologen mit Befragungen und Dokumentarfilmen festzuhalten suchten.
Dichter am Zentrum bescherte die Zusammenlegung der Bahnhöfe Montparnasse und Maine der Stadt den höchsten Wolkenkratzer. Die »Tour Montparnasse«, als künftiges Geschäftszentrum des linken Ufers geplant, gab der Erneuerung des Bahnhofsviertels den weithin sichtbaren Akzent. Der Conseil de Paris hatte einem Gebäude von 154 Metern Höhe zugestimmt. Als die endgültigen Pläne der vier französischen Architekten (Eugène Beaudouin, Urbain Cassan, Louis de Hoyn de Marien, Jean Saubot), denen ein New Yorker Bauunternehmer die Hand führte, auf dem Tisch lagen, standen die Stadtväter vor einem 210 Meter hohen Büroturm von 56 Stockwerken mit einer konvexen, dunkel verkleideten Fassade. Im Augenblick der Fertigstellung war die Tour Montparnasse das höchste Gebäude in Europa.
Man mag in dieser Kraftanstrengung auch ein Aufbegehren gegen die Banalität der neuen Architektur in dieser Stadt sehen, die auf ihre Baudenkmäler so stolz ist. Zu der Handvoll monumentaler Bauten der Gegenwart gehörten das Unesco-Gebäude gegenüber der École Militaire (vollendet 1958, Architekten: Marcel Breuer, Pier-Luigi Nervi), dem Le Corbusier das zwiespältige Kompliment machte: »Es entbietet der Vergangenheit seinen respektvollen Gruß, während es sich der Zukunft öffnet«, und die »Maison de la Radio« (Henry Bernard) auf dem rechten Ufer, ein von geplanten hundert auf siebzig Meter verkürzter Turm in einer kreisrunden Anlage für Büro- und Senderäume (1956 bis 1963). Die Bauzeit der Tour Montparnasse vom 1969 bis 1973 bezeichnete den Höhepunkt der gaullistischen Modernisierungsbestrebungen. Die Pariser fanden, daß sich eine solche Provokation nicht wiederholen sollte.
Keine Neuerung erregte die Öffentlichkeit so sehr wie die Umwandlung des Hallen-Viertels, Zolas »Bauch von Paris«. Seit einem halben Jahrhundert wurde die Verlegung des beengten Zentralmarktes aus der Innenstadt gefordert. 1963 fiel die Entscheidung, den Großmarkt nach Rungis neben dem Flughafen Orly zu verlegen. Am 1. März 1969, einem Samstag, räumten die Großhändler die Markthallen, die seit über hundert Jahren ihre Arbeitswelt gewesen waren. Ein Konvoi von Lastwagen bewegte sich auf der Süd-Autobahn zum künftigen Arbeitsfeld auf einem fast zehnmal so großen Gelände. Manche Wirte der benachbarten Kneipen und Restaurants folgten ihren besten Kunden nach Rungis; andere blieben zurück und stellten sich auf Touristen ein.
Nicht die Verlegung des Marktes an sich machte die Auseinandersetzung so hitzig, sondern die Frage, wie das freigewordene Areal von 30 Hektar westlich des Boulevard Sébastopol zu nutzen sei. Ehrgeizige Architekten bauten im Geist zweihundert Meter hohe Bürotürme, die kommunistischen Stadtverordneten forderten Sozialwohnungen, die Regierung wollte ein neues Finanzministerium. Eine Kommission setzte sich schließlich mit dem Plan durch, den Untergrund als Verkehrsknotenpunkt für die Métro und die neue Nahverkehrsbahn »Réseau Express Régional« (RER) auszubauen. Im August 1971, als die Pariser in Ferien waren, begann die Zerstörung der zwölf Markthallen. Der Kulturminister Malraux hatte es abgelehnt, die berühmten Zweckbauten Baltards unter Denkmalschutz zu stellen. Alle Proteste verhallten wirkungslos. Wenigstens konnte der Bürgermeister von Nogent-sur-Marne eine davon für seine Gemeinde retten. Mehrere Jahre lang gab das »Loch der Hallen« den Passanten Rätsel auf. Die Entscheidung über die Verwendung fiel erst in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zwischen dem Staatspräsidenten Giscard d’Estaing und dem neuen Bürgermeister Chirac. In der Tiefe entstand das »Forum der Hallen«, unterirdische Ladenpassagen mit einem Patio (Architekten: Claude Casconi und Georges Pencréac’h), zu ebener Erde ein verspielter Garten mit Blick auf die Kirche Saint-Eustache.
Wenige hundert Meter vom Hallen-Viertel entfernt harrte östlich des Boulevard Sébastopol das Plateau Beaubourg, wo eines der schlimmsten Sanierungsgebiete beseitigt worden war, auf seine künftige Nutzung. Im Dezember 1969 kündigte Präsident Pompidou, ein Freund und Förderer zeitgenössischer Kunst, im Ministerrat seine Absicht an, dort ein Kulturzentrum bauen zu lassen, das außer dem Museum für moderne Kunst auch eine öffentliche Bibliothek und anderes aufnehmen sollte. Der Staatspräsident trug damit den Forderungen nach einer »Öffnung der Kunst« Rechnung, die im Ausland – in New York, Amsterdam, Bern oder Stockholm – erfüllt wurden, während die staatliche Sammlung zeitgenössischer Kunst im Palais de Tokyo ein Dornröschen-Dasein führte: mit beschränkten Mitteln und 160 000 Besuchern im Jahr, ein Zehntel der Eintritte im Louvre. »Ich wünsche leidenschaftlich, daß Paris ein Kulturzentrum haben soll, … zugleich ein Museum und ein Zentrum für künstlerisches Schaffen, wo die bildende Kunst in die Nähe von Musik, Film, Büchern, audiovisuellen Versuchen rückt«, begründete Pompidou das Vorhaben. (»Le Monde« vom 17. Okt. 1972). Bei allem guten Willen war der Präsident nicht erfreut, als ihm 1971 das Modell des Italieners Renzo Piano und des Briten Richard Rogers vorgeführt wurde, für das sich die Jury bei dem internationalen Wettbewerb entschieden hatte. Aber er war fair genug, das Ergebnis zu akzeptieren.
In den nächsten Jahren wuchs auf dem Plateau Beaubourg ein Wunderwerk der Bautechnik und architektonisches Monstrum heran: 166 Meter lang, 60 Meter breit, 42 Meter hoch. Der gigantische Behälter aus Glas und Metall sollte mit elf Hektar Nutzfläche auf sieben Ebenen das Museum für zeitgenössische Kunst, Ausstellungen, die größte Freihand-Bibliothek und Videothek, die Cinemathek und ein Musik-Labor aufnehmen. Über die Rolltreppen in einer Glasröhre an der Westseite erreichten die Besucher einen der eindrucksvollsten Aussichtspunkte der Stadt – zunächst ohne Eintritt, wodurch die Besucherstatistik zum Nachteil der übrigen Pariser Museen verfälscht wurde. Die blauen, roten und grünen Röhren an der Ostseite, in denen die Leitungen für Strom, Wasser, Heizung und Belüftung verlaufen, trugen dem Gebäude die lieblose Bezeichnung »Raffinerie« ein. Die schräge Piazza wurde ein Treffpunkt für Gaukler und Gammler. Georges Pompidou sollte die Eröffnung des »Centre national d’art et de culture«, das seinen Namen trägt, am 31. Januar 1977 nicht mehr erleben. Aber seine Absicht, vielen Menschen den Zugang zur Kultur ihrer Zeit zu erleichtern, war verwirklicht.
Wer dachte als erster daran, eine Ansammlung von Wolkenkratzern auf die Anhöhe von La Défense, jenseits der Seine, zu stellen? Überlegungen, dort einen Komplex von Büro- und Ausstellungsgebäuden zu schaffen, kamen schon in den frühen fünfziger Jahren auf. In der Stadt fehlten Geschäftsräume, immer mehr Wohnungen in bester Lage wurden in Büros umgewandelt, was die Gefahr nächtlicher Verödung mit sich brachte. Wenn Paris ein Wirtschaftszentrum von internationalem Rang werden sollte, brauchte es mehr Platz. 1954 wurde eine Fläche von fast tausend Hektar auf dem Gebiet der drei Randgemeinden Puteaux, Courbevoie und Nanterre zum Urbanisierungsgebiet erklärt. Eine Pionierfunktion kam dabei dem »Centre des nouvelles industries et technologies« (CNIT) zu, einer riesigen Ausstellungshalle, deren zeltartige Betonschale eine Spannweite von 220 Metern überwölbt und an drei Stellen auf dem Boden ruht: bautechnisch ein Rekord, geschäftlich ein Fehlschlag (Architekt: Bernard Zehrfuss; Ingenieur: Nicolas Esquillan).
Eine öffentlich-rechtliche Gesellschaft mit direktem Zugang zu Regierung, Verwaltung und Finanzwelt, das »Etablissement public d’aménagement de la Défense« (EPAD), nahm 1958 die Entwicklung in die Hand. Die wenigen Vorstadthäuser und Werkstätten und eine Gendarmerie-Kaserne waren kein Hindernis. Die Lokalpolitiker spielten mehr oder weniger bereitwillig mit. Allen Bemühungen, die Bodenspekulation zu unterbinden, zum Trotz kletterten die Grundstückspreise in kurzer Zeit von zehn auf tausend Franc für den Quadratmeter. War zunächst an dreißig Türme von maximal hundert Metern Höhe gedacht, so zwangen die Forderungen der beteiligten Banken und Versicherungen bald zu ganz anderen Maßstäben. Statt 26 wurden 45 Stockwerke genehmigt, die Bürofläche auf 750 000 Quadratmeter verdoppelt, statt 4500 Wohnungen sollte es 7500 geben.
Französische Konzerne entdeckten die Symbol- und Werbewirkung des Wolkenkratzers. Der staatliche Ölgigant Elf und die junge elektronische Industrie gehörten zu den ersten Bauherren. Der Versicherungskonzern »Groupement d’Assurances Nationales« (GAN) stellte mit seinem Turm von zweihundert Metern einen Höhenrekord auf. Fragen der Ästhetik kamen bei den Beratungen kaum zur Sprache, wie ein Dezernent im Kulturministerium zugab, »vielleicht, weil das Problem der Sichtbarkeit über eine große Entfernung damals nicht richtig verstanden wurde«. (»France-Soir« vom 9. September 1972) Aber Anfang der siebziger Jahre ließen sich die Totem-Pfähle, die über eine Entfernung von fünf Kilometern die Wirkung des Arc de Triomphe zu beeinträchtigen drohten, nicht mehr übersehen. Staatspräsident Pompidou mußte in einem ausführlichen Zeitungsgespräch ihre Notwendigkeit verteidigen: »Die Idee, ein neues Geschäftsviertel zu gründen, wo sich die Firmensitze großer Unternehmen gruppieren, entsprach den allgemeinen Bemühungen, Frankreich zu einer großen Wirtschaftsmacht und Paris zu einem großen Geschäftszentrum zu machen. Dies ermöglichte auch die Konzeption eines ungewöhnlichen Ensembles moderner Architektur.« (»Le Monde« vom 17. Oktober 1972)
Als Abschluß der neuen Perspektive sah der Präsident »ein großes Denkmal oder eine Fontäne«. Siebzehn Jahre später sollte sein Nachfolger, François Mitterrand, mit der »Arche de La Défense« diesen Wunsch erfüllen. Am Seine-Ufer erstand westlich des Eiffelturms eine weitere Ansammlung von Wohntürmen, der »Front de Seine«. Aus der Sicht des Autofahrers, der auf dem rechten Ufer-Schnellweg von Westen her in die Stadt kam, trug Paris die Bezeichnung eines »Manhattan an der Seine« nicht ganz zu Unrecht.
»Frankreich langweilt sich«, lautete die Überschrift des Leitartikels in »Le Monde« vom 15. März 1968. In einer Zeit wachsenden Wohlstands gab es gute Gründe für eine solche Stimmungsbilanz. Aber zwei Monate später erlebte Paris eine »Kulturrevolution« mit Straßenkämpfen und Barrikaden und Frankreich einen Generalstreik, der das Land lahmlegte und den Staat ins Wanken brachte. Nicht die Forderungen der Arbeiter standen am Anfang der Unruhen, sondern die Unzufriedenheit der Studenten. Der Pariser Mai 68 reihte sich ein in eine weltumspannende Protestbewegung der Jugend gegen die bestehenden Verhältnisse, die in den Vereinigten Staaten begann, Japan und Westeuropa erfaßte und auch auf den Ostblock und die »Dritte Welt« übergriff. Die Welle erreichte Paris später als andere westliche Zentren, doch der Pariser Mai wurde zu ihrem Höhepunkt.
Niemand hatte es kommen sehen. Aber mancher hatte frühzeitig vor der Überfüllung der Hochschulen gewarnt. 1955 gab es in Frankreich 150 000 Studierende, 1968 waren es viermal so viele, davon 130 000 an den zur Universität von Paris gehörenden Fakultäten. Die »Revolution« der Pariser Studenten nahm ihren Anfang an der neuen Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften in Nanterre, die die Faculté des Lettres, die ehrwürdige Sorbonne, entlasten sollte. Doch auch bei den mehr als zehntausend Studierenden der Reform-Universität Nanterre machten sich die Folgen der Überfüllung bemerkbar. Die halbfertige Anlage, umgeben von Sozialwohnungen und »Bidonvilles«, hatte nichts von der Wohnlichkeit eines amerikanischen Campus. Das empfanden die Söhne und Töchter aus den gutbürgerlichen Wohnvierteln der Hauptstadt, die jeden Abend nach Hause fuhren, weniger bedrückend als ihre Kommilitonen in den acht Wohnheimen, bei denen das Gefühl der Isolierung überwog. Mehr als die Hälfte der Studienanfänger blieben ohne Abschluß.
Aktivisten vom linken Rand des politischen Spektrums schürten die Mißstimmung. Der Protest gegen den Algerien-Krieg hatte ihren Aufstieg begünstigt. Im Studentenverband (UNEF) fanden sie die Basis für den Kampf gegen Studienlenkung und Zulassungsbeschränkungen. Stellten die politisch aktiven Studenten nur eine Minderheit, so waren die Linksextremisten die Minderheit der Minderheit. Die Trotzkisten, in zwei Richtungen gespalten, und die Maoisten bildeten den harten Kern. Ihr Hauptanliegen war die Agitation gegen den Vietnam-Krieg. Die Anarchisten, die sich im »Mouvement d’action universitaire« (MAU) sammelten, ließen sich schwerer einordnen. Sie fanden ihren Wortführer in dem Soziologie-Studenten Daniel Cohn-Bendit, der 1945 als Sohn deutsch-jüdischer Emigranten in Frankreich geboren war, aber die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hatte. Cohn-Bendit ließ nichts unversucht, Zwischenfälle zu provozieren und den Studienbetrieb lahmzulegen, wobei er stets wußte, wie weit er gehen konnte.
Am 2. Mai 1968 wurde die Fakultät Nanterre auf unbestimmte Zeit geschlossen. Am nächsten Tag, einem Freitag, griffen die Unruhen auf Paris über. Im Hof der Sorbonne versammelten sich Hunderte von Studenten zu einer Protestkundgebung. Am Spätnachmittag sah sich der Rektor genötigt, Polizeischutz anzufordern. Der Polizeipräfekt Maurice Grimaud (1966–1971) hätte ein solches Eingreifen gern vermieden. Als sechshundert Demonstranten zur Feststellung ihrer Personalien in Polizeifahrzeugen abtransportiert wurden, begehrten die Zuschauer auf. Der Mechanismus von Provokation, Repression und Solidarisierung, in Nanterre seit Monaten eingeübt, griff auch hier.
Die Polizei war von der Gewaltbereitschaft der Angreifer überrascht. »Ich habe Jungen gesehen, die wie verrückt Barrikaden bauten, Zerstörungen jeder Art anrichteten, mit Feuer den Asphalt zum Schmelzen brachten, um die Pflastersteine der Fahrbahn herauszulösen. Ich habe zum ersten Mal in meiner Laufbahn erlebt, daß Polizeikräfte vor dem Angriff Pflastersteine werfender Demonstranten zurückwichen«, erklärte ein Polzeioffizier bei der Verhandlung gegen dreizehn Aufrührer vor dem Schnellgericht. (Maurice Grimaud)
Nach wenigen Tagen schwollen die Demonstrationen und Kundgebungen auf zwanzig- bis dreißigtausend Teilnehmer an. An den nächtlichen Straßenkämpfen beteiligten sich nur kleine Gruppen. Ein Dutzendmal prallten gewaltbereite und gewalttätige Jugendliche im Mai und Juni mit der Polizei zusammen. In den Straßen und Gassen des Quartier Latin wurden Barrikaden gebaut, bis zu siebzig in einer Nacht, niedriger und weniger widerstandsfähig als die Vorbilder der Revolutionen des 19. Jahrhunderts. Doch nach den Beobachtungen des Polizeipräfekten verbesserten die Straßenkämpfer rasch ihre Technik: »Sie benutzen nicht nur Pflastersteine, sondern auch Balken und Planken von nahen Baustellen, die Pfosten der Verkehrsampeln, Plakatwände; dazu kommen umgestürzte Autos und Bäume, die systematisch mit der Motorsäge umgelegt werden.« In der Nacht des 24. Mai sägten Unbekannte an der Kreuzung der Boulevards Saint-Michel und Saint-Germain hundertdreißig Bäume ab. Beim Anrücken der Sicherheitskräfte setzten die Verteidiger Autos und Abfälle mit Benzin in Brand.
Der Polizeipräfekt Grimaud verfügte über 22 000 Beamte in Uniform und Zivil, von denen weniger als die Hälfte zur Aufrechterhaltung der Ordnung eingesetzt werden konnten, unterstützt von 3500 Mann der Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS) und 6000 Gendarmen. Die CRS, die Prätorianergarde der Republik, standen in vorderster Front: »Eine Mauer. Schwarzglänzende Wachstuchmäntel, dicht wie Beton. Darüber die Helme. Keine Gesichter, oder nur wenige. Manchmal Augen«, notierte der Reporter Jean-Claude Kerbourch. Als Waffen benutzten die Polizisten den Schlagstock, die Gendarmen den Karabinerkolben. Tränengas, als Handgranaten geschleudert oder als Raketen auf größere Entfernung abgeschossen, erzeugte Brennen auf der Haut, Atemnot und Brechreiz. Wasserwerfer kamen selten zum Einsatz.
Auf beiden Seiten wuchs die Erbitterung. Grimaud weist in seinen Erinnerungen an diese krisenhaften Wochen auf die Verhöhnungen hin, denen seine Männer stundenlang ausgesetzt waren, ehe der Befehl zum Vorgehen kam. Mehr als jedes Schimpfwort verriet die Gleichung »CRS = SS« den Verlust der Maßstäbe. Mit zwei »Schwarzbüchern« belegte der Studentenverband Übergriffe der Polizei. Nicht alles – und gewiß nicht die Vergewaltigung festgenommener Frauen – ließ sich mit der Hitze des Gefechts entschuldigen. Der Polizeipräfekt ermahnte seine Beamten zu größerer Selbstbeherrschung: »Einen auf dem Boden liegenden Demonstranten zu schlagen, heißt, sich selbst zu schlagen, da derjenige die gesamte Polizei in Mißkredit bringt. Schlimmer noch ist es, festgenommene Demonstranten zu schlagen, wenn sie zum Verhör auf die Polizeiwache gebracht werden.« Im Vergleich zu seinem Vorgänger Papon erschien Grimaud vielen seiner Untergebenen und manchen Politikern zu weich. Doch seinem Bemühen um Schadensbegrenzung war es zu verdanken, daß es bei den Ordnungskräften wie bei den Rebellen zwar Hunderte von Verletzten, aber nur einen Toten gab.
Im Ministerrat vertrat General de Gaulle die Auffassung: »Ein Aufstand ist wie ein Brand, man muß ihn in den ersten Minuten bekämpfen!« Der Regierungschef Pompidou zeigte sich flexibler. Er ließ es zu, daß die Studenten seit dem 13. Mai die Sorbonne, das Odéon-Theater, die Kunsthochschule und andere öffentliche Gebäude besetzten. Die Sorbonne wurde die Zitadelle einer Räte-Demokratie im Herzen von Paris. »In der warmen Nacht gingen Tausende von Menschen zur Sorbonne, viele zum ersten Mal … Victor Hugo und Pasteur auf ihren Sockeln hielten rote Fahnen im Arm … In den überfüllten Hörsälen herrschte völlige ›Redefreiheit‹, ein neues Recht, auf den Barrikaden erstritten. Man berauschte sich an begeisterten Tiraden. Hier ging es um die ›kritische Universität‹, dort um ›Kampf der Arbeiter, Kampf der Studenten‹ andernorts um ›Die Machtverteilung in der Universität‹. Überall riefen Redner unter tollem Beifall zum ›Prüfungsboykott‹ auf.« (»Le Monde« vom 15. Mai 1968) Der Ton der Reportage verrät die Faszination, die diese Jugendrevolte auch auf Ältere ausübte. Für das Tout-Paris galt es als schick, einen Abend in der Sorbonne oder besser noch im besetzten Odéon zu verbringen.
Die Pseudo-Revolution brachte Sprechblasen hervor, aber keinen Zukunftsentwurf. Die Poster von Lenin, Trotzki, Mao, Ho Chi Minh und Che Guevara im Hof der Sorbonne gaben deutlichere Hinweise auf die politischen Vorstellungen der Hauptbeteiligten als die Wandparolen.
Hingekritzelte Forderungen wie »Il est interdit d’interdire!« (»Verbieten verboten!«) oder »Sous les pavés la plage« (»Unter dem Pflaster der Strand«) mochten anarchisches Freiheitsstreben ausdrücken, eine Anleitung zum Handeln enthielten sie nicht. Alles war erlaubt, alles schien möglich: »Wir waren glücklich, denn wir fühlten uns stark.« (Cohn-Bendit)
Der Generalstreik in der zweiten Maihälfte, der bis zu zehn Millionen Arbeitnehmer erfaßte, war für die Fünfte Republik eine ernstere Herausforderung als die Studentenrevolte. Die Pariser litten vor allem unter dem Ausbleiben der Müllabfuhr. Abfälle vergammelten am Straßenrand. Der Staatssender und das Atomforschungszentrum verweigerten den Dienst. Als auch die Fernmeldezentrale des Innenministeriums die Arbeit einstellte, war die Verbindung mit den Départements unterbrochen. Der Regierungschef Pompidou behielt in diesen kritischen Tagen die Nerven. Doch das Abkommen, das der Premierminister nach einem Verhandlungs-Marathon am 27. Mai mit den Gewerkschaftsführern schloß – gegen erhebliche Lohnerhöhungen und sonstige Zugeständnisse –, wurde von den Belegschaften in den Betrieben zurückgewiesen. Der Streik ging weiter. Die nichtkommunistische Linke bereitete sich bei einer Kundgebung im Charléty-Stadion in der Nähe der Cité universitaire und mit einer Erklärung Mitterrands auf den Machtwechsel vor. In den Ministerien stellte sich mancher auf diese Möglichkeit ein. Einige blieben krankheitshalber zu Hause, andere verbrannten Akten. Die Korridore der Macht verödeten.
De Gaulle selbst führte die Wende herbei. Am 29. Mai, einem Mittwoch, verschwand der Staatschef gegen Mittag aus dem Élysée-Palast. Nur eine Handvoll der engsten Mitarbeiter wußten, daß sich der General, begleitet von seiner Frau, in einem Militärhubschrauber nach Baden-Baden begeben hatte: zum Hauptquartier der französischen Truppen in Deutschland. Über dieses Exil von wenigen Stunden wurde mancherlei gerätselt. Sicher ist, daß sich de Gaulle für den Fall eines Umsturzes in Paris der Zuverlässigkeit der militärischen Verbände in Deutschland und Ost-Frankreich versichern wollte. Das politische Paris schwirrte von Gerüchten.
Am Donnerstagnachmittag kündigte der Staatspräsident in einer Rundfunkansprache von viereinhalb Minuten an, daß er sich unter den gegebenen Umständen nicht aus seinem Amt zurückziehen werde. »Ich habe einen Auftrag des Volkes, ich werde ihn erfüllen.« Auch den bewährten Premierminister werde er nicht auswechseln. Dagegen machte der Präsident von seinem Recht Gebrauch, die Nationalversammlung aufzulösen, wozu ihm Pompidou eindringlich geraten hatte. »Die Republik wird nicht abdanken, das Volk wird sich wieder ermannen.«
Und das Volk, oder genauer: die schweigende Mehrheit der Franzosen, ermannte sich. Seit Tagen hatte die gaullistische Parteiorganisation die Massenkundgebung zur Unterstützung des Staatspräsidenten vorbereitet. Nach der Ansprache de Gaulles war es soweit. Am Spätnachmittag des 30. Mai strömten die Menschen durch die Rue de Rivoli und vom linken Ufer zur Place de la Concorde und weiter zum Arc de Triomphe, dem nationalen Sammelpunkt. Nicht eine Million, wie die Veranstalter behaupteten, aber gute dreihunderttausend nach den Schätzungen der Polizeipräfektur. Eine gewaltige Menge unter Fahnen und Spruchbändern, Sprechchöre und die Marseillaise auf den Lippen. In der ersten Reihe marschierten Arm in Arm der Kulturminister Malraux und der ehemalige Premierminister Debré mit anderen erprobten Gaullisten. Aber nicht nur die Anhänger waren gekommen, sondern zahllose Bürger, die vom revolutionären »chi-en-lit« (Durcheinander, wörtlich: »Schiet im Bett«) gründlich genug hatten. »Herr General, das gilt Ihnen!«, strahlte der Adjutant, der am offenen Fenster des Arbeitszimmers auf die Stimmen von den Champs-Élysées lauschte. De Gaulle winkte ab: »Wenn es nur um mich ginge!«
Die Rückkehr zur Normalität begann unverzüglich. Am Pfingstwochende konnten die Pariser aufs Land fahren, denn es gab plötzlich wieder Benzin. In den nächsten Wochen bröckelte die Streikbewegung ab. Der beginnende Wahlkampf gab der Regierung die Möglichkeit, Kundgebungen im Freien zu unterbinden und extremistische Gruppen zu verbieten. Am Morgen des 14. Juni wurde das Odéon-Theater geräumt: »Bald sehen wir die ersten herauskommen, mit bestürztem Ausdruck, wie Leute, die aus dem Schlaf gerissen wurden. Es sind Jugendliche, erbärmlich anzusehen, keine Studenten, eher Arbeitslose, Beatniks, ein paar Clochards, gestrandete junge Frauen.« Im Innern fand die Polizei außer einigen Waffen »ungeheuerliche Unordnung, unglaublichen Schmutz«. (Maurice Grimaud) Zwei Beamte warfen unter dem Beifall der Umstehenden die roten und schwarzen Fahnen, die vier Wochen lang auf dem Dach wehten, aufs Pflaster hinunter. Jean-Louis Barrault, der Direktor des Staatstheaters, der mit den Eindringlingen sympathisiert hatte, mußte gehen. Zwei Tage später zog auch die Besatzung der Sorbonne mit einiger Würde ab. Wie im Odéon machten sich auch in der Universität Reinigungskolonnen an die Arbeit.
Die Parlamentswahlen am 23. und 30. Juni 1968 brachten der gaullistischen »Union pour la défense de la République« (UDR) die absolute Mehrheit. Zusammen mit den Unabhängigen Republikanern unter Giscard d’Estaing verfügte die Regierungspartei über drei Viertel der Abgeordnetensitze. Die Linke erlitt bei diesen »Angstwahlen« eine beispiellose Niederlage. Trotzdem stellte Staatspräsident de Gaulle ein Dreivierteljahr später den Franzosen noch einmal die Vertrauensfrage. Am 27. April 1969 sollten die Wähler in einem Referendum über zwei Verfassungsänderungen (Regionalisierung, Senatsreform) entscheiden – und sie entschieden dagegen. De Gaulle tat, was jeder von ihm erwartet hatte: er legte unverzüglich sein Amt nieder. Georges Pompidou, von dem sich der Staatschef nach den Wahlen 1968 getrennt hatte, trat die Nachfolge an. Am Abend des 9. November 1970 starb Charles de Gaulle in seinem Haus in Colombey-les-Deux-Églises. Er wurde drei Tage später auf dem Dorffriedhof zur Ruhe gebettet, wie er es bestimmt hatte. Am selben Tag nahmen in der Kathedrale Notre-Dame in Paris die Großen der Welt Abschied von dem Staatslenker de Gaulle.