Nach der Ankunft galt es, eine Unterkunft zu finden: in einem einfachen Hotel, einem Dienstbotenzimmer, in einer nicht zu teuren Wohnung oder bei Freunden. Bevorzugt waren das 13. und 14. Arrondissement, die Straßen um die Place d’Italie und südlich des Boulevard Montparnasse. Das Marais, das Viertel der osteuropäischen Juden, kam für Deutsche nicht in Betracht. Der Philosoph Ernst Bloch wohnte mit seiner Frau in einem Hotel in der Rue de Tournon: »In diesem Zimmer schliefen wir, kochten wir, wuschen uns. Ernst arbeitete an einem kleinen Schreibtisch.« (Carola Bloch: »Aus meinem Leben«, 1981) Wie viel Entbehrung verbirgt sich hinter diesen einfachen Sätzen. Walter Benjamin wechselte fünfzehnmal die Adresse, bis er in der Rue Dombasle (15. Arr.) die erste wirkliche Bleibe fand. Anna Seghers führte mit ihrem Ehemann und den beiden Kindern in Meudon ein bürgerliches Leben. Die Familie Rosenthal aus München, Vater, Mutter und Sohn, begnügte sich jahrelang mit zwei kleinen Zimmern in einem einfachen Hotel am Stadtrand, ehe sie sich eine Wohnung in der Stadt leisten konnte. Der Sohn Joseph Rosenthal, der in der Resistance den Namen Rovan annahm, widmete seine Lebensarbeit als Publizist und Hochschullehrer der deutsch-französischen Verständigung.

Die beengten Verhältnisse machten den Aufenthalt in Cafés zu einer Notwendigkeit. Wer Paris kannte, fand die Stätten seiner jüngeren Jahre in Montparnasse, in Saint-Germain oder im Quartier Latin wieder. Schriftsteller trafen sich im »Mephisto«, an der Ecke des Boulevard Saint-Germain und der Rue de Seine. Joseph Roth war Nacht für Nacht an einem Ecktisch des Cafés »Le Tournon« zu finden, an dem er 1939 seine letzte Erzählung, »Die Legende vom heiligen Trinker«, beendete. Eine Berliner Wirtin machte in Montparnasse »Die Lunte« auf, die Klaus Mann in seinem Exil-Roman »Der Vulkan« (1939) beschrieb. An solchen Treffpunkten konnte die Polizei die unerwünschten Gäste ohne Mühe im Auge behalten. Über die Besucher des »Dôme« heißt es in einem Polizeibericht vom Oktober 1933: »Ein wichtiger Teil der Kundschaft dieses Etablissements besteht zur Zeit aus israelitischen Flüchtlingen, zu denen eine gewisse Anzahl von Schriftstellern und Journalisten der Avantgarde gehört, Kommunisten, Sozialisten, Libertäre, integrale Pazifisten u.s.w. und im allgemeinen Feinde der Hitlerschen Diktatur. Ihren Überzeugungen entsprechend, vereinigen sie sich in Gruppen von 5 bis 10 Personen, und ihre Diskussionen in deutscher Sprache erreichen manchmal eine Lautstärke, die die Aufmerksamkeit französischer Gäste erregt und gelegentlich das Einschreiten des Geschäftsführers nötig macht.«

Die Hilfsorganisationen erleichterten den Vertriebenen das Einleben, allen voran die französische Sektion der Liga für Menschenrechte. »Von allen Seiten klopft man an unsere Tür, an mich persönlich kommen Briefe von Professoren, Advokaten, Schriftstellern. Seit dem Exodus ist die ganze Arbeit unseres Büros unterbrochen und der Dienst den Deutschen gewidmet, die Identitätskarten, Visa, Rat, Hilfe verlangen«, schrieb der Vorsitzende der Liga, Professor Basch, dem Leiter der Demokratischen Flüchtlingsfürsorge in Prag, Kurt Grossmann, am 14. April 1933. Im Auftrag der Menschenrechts-Liga baute der Pazifist Hellmut von Gerlach den »Juristischen und sozialen Dienst für die deutschen Flüchtlinge« auf. 1936 schlossen sich zwanzig humanitäre, konfessionelle und politische Organisationen zum »Zentralverband der deutschen Emigranten in Frankreich« zusammen.

Die meisten Exilierten lebten unter der ständigen Drohung der Ausweisung. Das Visum war abgelaufen, der Paß ungültig geworden. Der Kampf um die Aufenthaltsgenehmigung mit stundenlangem Anstehen in der Polizeipräfektur gehörte zum Alltag. Gustav Stern hatte als Mitglied einer Widerstandsgruppe zwei Jahre Konzentrationslager hinter sich, als er 1937 über Dänemark nach Paris gelangte: »Für die Behörden war ich in Paris als papierloses Wesen, sozusagen gar nicht existent … Gelebt habe ich mit einem Papier, man sollte sagen einem Wisch, das sinnigerweise ›Refus de séjour‹ hieß, also eine Nichtaufenthaltsgenehmigung. Dieses Papier bewirkte die Aufschiebung der Abschiebung für kurze Zeit, manchmal für 14 Tage, manchmal nur für drei Tage. Es mußte andauernd verlängert werden; als Flüchtling wollten mich die französischen Behörden nicht anerkennen.« Erhielt solch ein Nicht-Flüchtling den Ausweisungsbescheid, bestand höchste Gefahr: »Einige kamen dann mit einem weißen Blatt in den fünften Stock [der Polizeipräfektur]. In dem gefalteten Formular, das sie durch den Schalter schoben, lag ein Geldschein. Dann erhielten sie einen Stempel: Verlängerung. Es gibt Menschen, die haben ganze Tage auf diesem Flur verbracht.« (»Dokumente«, April 1988) Gustav Stern, der sich später Gérard Sandoz nannte, überstand auf diese Weise die Zeit bis zum Krieg.

Auf dem Treibsand der Emigration gedieh eine Vielzahl von Zeitungen und Zeitschriften. Nur wenige hatten Bestand. Die wichtigsten waren das »Pariser Tageblatt« unter Georg Bernhard (1875–1944) und die Wochenzeitschrift »Das Neue Tage-Buch« unter Leopold Schwarzschild (1891–1950). Die beiden bekannten Berliner Journalisten – Bernhard war Chefredakteur der »Vossischen Zeitung«, Schwarzschild Herausgeber des »Tage-Buch« – gehörten zu den ersten, denen das NS-Regime die deutsche Staatsangehörigkeit nahm. Das »Pariser Tageblatt« (Auflage 10 000 Exemplare) war in jedem Emigrantenhaushalt zu finden. Wie eine Boulevardzeitung aufgemacht, brachte es den Lesern den Pariser Alltag mit unterhaltsamen Reportagen nahe. Im Sommer 1936 bootete die Redaktion den sparsamen Verleger Wladimir Poliakov aus und benannte das Blatt in »Pariser Tageszeitung« um. Die Auseinandersetzung, die Feuchtwanger in dem Roman »Exil« verwertete, sorgte für Aufregung unter den Emigranten. Das »Neue Tage-Buch« wirkte seriöser und fand wegen seiner klugen Darstellung der Entwicklung in Deutschland über den Kreis des Exils hinaus Beachtung. 1940 gelang Bernhard und Schwarzschild die Flucht nach Amerika.

Schriftsteller und Intellektuelle bildeten einen hohen Anteil der Exilierten. Sie unterhielten Beziehungen zu gleichgesinnten französischen Intellektuellen und warben als »Stimme ihres stumm gewordenen Volkes« (Heinrich Mann) um Verständnis. Auch wenn viele Schriftsteller darunter litten, daß in Frankreich sie niemand kannte, konnten deutschsprachige Autoren dort über dreihundert Bücher und 1300 Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge veröffentlichen, mehr als in jedem anderen Exil. Die politisch Aktiven verloren keine Zeit, den »Schutzverband deutscher Schriftsteller« (SDS), der in Deutschland aufgelöst worden war, neuzugründen. Der »SDS-Ausland« zählte dreihundert Mitglieder; als Sekretär fungierte Rudolf Leonhard, der schon seit 1927 in Paris lebte. Bei der ersten öffentlichen Veranstaltung im Juni 1933 ging es um die Abgrenzung der Exil-Schriftsteller von den in Deutschland gebliebenen Kollegen. Ein Jahr nach der Bücherverbrennung in Deutschland öffnete am Boulevard Arago die »Deutsche Freiheitsbibliothek«, die die in Deutschland geächteten Schriften sammelte: Heine und Marx wie Döblin und Freud. Die fünfzehntausend Bände, die in sechs Jahren zusammengetragen wurden, gingen während der deutschen Okkupation verloren.

An das Verbot politischer Tätigkeit im Gastland mochten sich die Exilierten nicht halten, auch wenn nur eine Minderheit politisch aktiv war. Sie mußten vor der Gefährlichkeit des Nationalsozialismus warnen. Die Gefahr des Krieges, die sich immer deutlicher abzeichnete, machte solche Warnungen zur Pflicht. Aber Kassandra ist nicht beliebt. Die deutsche Emigration in Paris war, wie der Schriftsteller Manès Sperber festhielt, im Vergleich zu anderen Exilgruppen: »Nicht die unglücklichste, nicht die apathischste und nicht einmal die zersplittertste; sie war die unbeliebteste. Weil sie deutsch, weil sie deutsch und jüdisch war, weil sie sich nicht nur eindringlich, vordringlich, zudringlich bemerkbar machte, sondern die Heimischen mit einer Warnung belästigte, die man nicht vernehmen und jedenfalls unbeachtet lassen wollte.«

Sperber arbeitete anfangs im »Institut zum Studium des Faschismus«, wo Informationen über die Zustände in Deutschland, Italien und Zentraleuropa gesammelt wurden. Das Institut in der Nähe des Jardin des Plantes gehörte zu den Gründungen des kommunistischen Propagandisten Willi Münzenberg (1889–1940), der in den zwanziger Jahren im Auftrag der Komintern in Berlin ein Presseimperium aufgebaut hatte. Nach dem Reichstagsbrand entkam Münzenberg, glücklicher als die meisten, im Dienstwagen mit Fahrer ins Saargebiet und weiter nach Paris. Sein Hauptquartier befand sich am Boulevard Montparnasse Nr. 83. Obwohl Münzenberg kaum Französisch sprach, wurde er im Exil zu einer Zentralfigur. Binnen kurzem verfügte er wieder über mehrere Verlage, einen Pressedienst und Zeitschriften. Unermüdlich schuf Münzenberg neue Gremien und organisierte Kongresse.

Am bekanntesten wurde das »Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus«, das nach dem ersten Tagungsort in Holland und dem größten Pariser Konzertsaal »Komitee Amsterdam-Pleyel« genannt wurde. Auch im Schutzbund deutscher Schriftsteller hielt Münzenberg die Fäden in der Hand. Ein unübertroffener Propagandacoup war das »Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror«, das Münzenberg im August 1933 herausbrachte und das in sechzehn Sprachen übersetzt wurde. »All das gründete sich auf Deduktion, Intuition und Poker-Bluff«, gab Arthur Koestler, einer der Autoren, später zu. Aber der Verdacht, das Regime selbst habe den Brand gelegt, verfestigte sich durch das »Braunbuch« zur Gewißheit.

Es lag nahe, daß Münzenberg seit 1934 die Bestrebungen engagierter Intellektueller für eine »deutsche Volksfront« unterstützte. Der Vorbereitungsausschuß hielt seine erste öffentliche Sitzung am 26. September 1935 im Hotel Lutetia ab, dem Art-Nouveau-Palast an der Ecke des Boulevard Raspail und der Rue de Sèvres. Zum Vorsitzenden des »Lutetia-Kreises« wählten die fünfzig Gründungsmitglieder Heinrich Mann. In diesem Kreis wurden auch Pläne für die Neuordnung Deutschlands und Europas nach dem Sturz der NS-Diktatur erörtert. Eine wirkliche Zusammenarbeit aber konnte nicht gelingen: Sozialdemokraten und Liberale befürchteten die Vereinnahmung ihrer »Exilregierung« durch die Kommunisten.

Die Auslandsleitung der Kommunistischen Partei Deutschlands unter Wilhelm Pieck hatte seit 1933 ihren Sitz in Paris. Seit 1936 wurde Walter Ulbricht zum eigentlichen Machthaber; auch Herbert Wehner hielt sich wiederholt in Paris auf. Die Exil-KPD operierte unter konspirativer Geheimhaltung, ohne erkennbare Adresse. Verbindungsleuten aus Deutschland wurde nach dem illegalen Grenzübertritt ein Treffpunkt in Paris genannt, wo sie Anweisungen und Geld erhielten und der Kontakt zur Auslandsleitung hergestellt wurde. Für Kuriere aus Moskau diente der Münzenberg-Verlag Edition du Carrefour am Boulevard Montparnasse als Anlaufstelle. Anfang 1939 hielt die Exil-KPD in der südlichen Banlieue ihre letzte Zusammenkunft in Westeuropa ab, die aus Gründen der Geheimhaltung als »Berner Konferenz« bezeichnet wurde.

Münzenberg war bei seinen weitgefächerten Aktivitäten von der Führung der KPD relativ unabhängig. Dafür wurde er 1937 parteiintern kaltgestellt. Als Vertreter der Partei saß nun der wenig geschmeidige Walter Ulbricht im »Lutetia-Komitee«. Das war auch dem gutwilligen Heinrich Mann zu viel. »Ich kann mich nicht mit einem Mann an einen Tisch setzen, der plötzlich behauptet, der Tisch, an dem wir sitzen, sei kein Tisch, sondern ein Ententeich, und der mich zwingen will, ihm zuzustimmen«, klagte er nach der ersten Begegnung mit dem künftigen Machthaber der DDR seinem Helfer Alfred Kantorowicz. Bei der letzten Sitzung des Komitees im Hotel Lutetia im September 1938 wurde dem 65jährigen Heinrich Mann ein vierzig Jahre jüngerer Lübecker Landsmann vorgestellt, der aus Skandinavien angereist war: Willy Brandt. Münzenberg schuf sich in der Zeit zunehmender Kriegsgefahr sein letztes Sprachrohr: eine Wochenzeitung mit dem hoffnungsvollen Namen »Die Zukunft«. Im Oktober 1940 fanden Gendarmen in der Nähe von Grenoble seine Leiche im Wald. Es ist nicht mehr zu klären, ob Münzenberg aus eigenem Entschluß aus dem Leben schied oder ob er ermordet wurde.

Nicht ohne Grund fühlten sich die Exilanten, auch die »Unpolitischen«, vom NS-Regime bespitzelt. Eine Exil-Broschüre zählte fast sechshundert »Propagandisten, Agenten, Spitzel und Spione« in Paris auf. (»Das braune Netz«, Ed. du Carrefour, 1935) Zur deutschen Botschaft in der Rue de Lille, bestand kaum Kontakt. Es änderte wenig, daß die beiden Botschafter unter dem NS-Regime Diplomaten der alten Schule waren. Roland Köster (1933–1935) war Leiter der Personalabteilung im Auswärtigen Amt als er, wohl wegen guter Beziehungen zum Reichskanzler von Papen, den Posten in Paris erhielt, wo er nach einer Blinddarmoperation starb. Der Nachfolger, Johannes Graf Welczeck (1936–1939), war zehn Jahre lang Botschafter in Madrid gewesen. »Meine Pariser Jahre wurden durch eine Spannung beunruhigt, die das politische Leben in fortwährender Wallung hielt und die jeden Deutschen zwang, Stellung zu beziehen«, heißt es in einem Rückblick Welczecks, der 1940 den Dienst quittierte. (Claus von Kameke: »L’Hôtel de Beauharnais«, Stuttgart 1968) Die Einflußnahme der NSDAP machte die Arbeit der Botschaft nicht einfacher. Feuchtwanger hat diese Kulissenkämpfe in seinem Roman »Exil« dargestellt.

Die NSDAP war seit der »Machtübernahme« auch in Paris präsent. Sie hatte ihre Dienststelle in einem Nebengebäude des Generalkonsulats in der Rue Huysmans Nr. 2 (6. Arr.), wo in der Regel die wöchentlichen Parteiversammlungen stattfanden. »Die Mitglieder der NS-Ortsgruppe müssen als heimliche Agenten des Hitlerismus in Frankreich betrachtet werden«, hieß es in einem für die britische Botschaft bestimmten Bericht des französischen Außenministeriums vom Mai 1938. (Serie Z - Europe 1939/40, dossier 757) Als Zusammenschluß der deutschen Vereine und Institutionen wirkte seit 1936 die »Deutsche Gemeinschaft«, die in der Rue Roquépine Nr. 3, unweit der Madeleine, ein eigenes Gebäude, das »Deutsche Haus«, ironisch auch »Braunes Haus« genannt, besaß. Den Veranstaltungen für die deutsche Kolonie, die dort stattfanden, konnten sich auch Nicht-Parteigenossen schwer entziehen. Im Diarium des Leiters des Goethe-Hauses in der Avenue d’Iéna, Thankmar Freiherr von Münchhausen, findet man einen Hinweis auf den Abend des 1. Mai 1937: »Zu Fuß nach Rue Roquépine … dort Foule. Es reden [der Landesgruppenleiter] Schleier, Lang, Obernitz, kurz Welczeck. Danach mit allen Botschaftsleuten … u. tutti quanti. – Gedrängel um Bier.« Am 22. November wird im Deutschen Haus eine Buchausstellung eröffnet; die Rede hält der Leiter der Pariser Zweigstelle des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes, Karl Epting. Am 12. Dezember 1937, nach dem Gottesdienst in der Madeleine, zum »Sonntagseintopf«: »Monde … Eintopf bereits vergriffen, also nach einigem Warten fort und eilig im Restaurant moderne Rue du Bac gegessen.« Ein Eindruck beim fünfzigsten Geburtstag des »Führers« am 20. April 1939: »… monde fou. Gute Ansprachen Ehrich und [Botschaftsrat] Bräuer. Nach vielem Händedrücken bald gegangen; Brasserie Weber.« (Privatarchiv)

Volksfront

Die Bedrohung der Demokratie durch den Faschismus von innen und außen machte den Zusammenschluß der Linken zu einer Notwendigkeit. Gewerkschafter und Intellektuelle zeigten sich dabei unbefangener als die Parteiführer, die immer und überall an den Machterhalt denken. Die Reaktionen der Linken nach dem 6. Februar 1934 erhielten Nachdruck durch den eintägigen Generalstreik. Auch bei der Gründung des »Wachsamkeitsausschusses der antifaschistischen Intellektuellen« (CVIA), der ersten parteiübergreifenden Organisation der Linken, standen die Gewerkschaften Pate. Der Schriftsteller Jean Guéhenno, mit Malraux, Breton und anderen Initiator eines Aufrufs der Intellektuellen zum Zusammenschluß, beschrieb in seinem Tagebuch diese Entwicklung: »Wir hielten Kongresse ab. Wir organisierten Versammlungen. Manchmal blieben wir als Auguren unter uns … Aber welcher gute Wille! Welche wunderbare Unterwerfung all dieser undisziplinierten, launischen Individuen … welche plötzliche Leidenschaft, so zu werden wie alle anderen, welches Verlangen nach Übereinstimmung!«

Freilich fiel die Entscheidung über die Volksfront nicht in Paris, sondern in Moskau. Erst als Kreml und Komintern, über die Entwicklung in Deutschland beunruhigt, nicht länger die demokratischen Parteien zum Feind erklärten und gemeinsame Gegenwehr anmahnten, konnten Kommunisten und Sozialisten am 27. Juli 1934 ein »Aktionsbündnis« schließen. Am 14. Juli 1935 traten die Parteien der Linken, die Gewerkschaften und über vierzig ihnen nahestehende Organisationen als »Rassemblement populaire« in Erscheinung. Im Buffalo-Stadion an der Porte d’Orléans schallte aus den Lautsprechern das Gelöbnis, vereint zu bleiben zur Verteidigung der Demokratie und für den Kampf gegen den Faschismus. Am Nachmittag strömte »der eindrucksvollste Demonstrationszug, den Paris je erlebt hat«, zur Place de la Bastille und weiter zur Place de la Nation. »Drei- bis vierhunderttausend Menschen nahmen daran teil. Die Polizei hielt sich abseits, der Ordnungsdienst der Volksfront hatte alles in der Hand«, beobachtete der Korrespondent des »Manchester Guardian«, Alexander Werth. »Die Demonstranten riefen: ›Les Soviets partout!‹ (»Alle Macht den Räten!«), und die Menge sang wie üblich die Internationale. Niemand sang die Marseillaise. Es waren nur wenige blau-weiß-rote Fahnen zu sehen – die Kommunisten hatten sich noch nicht an sie gewöhnt.«

Kundgebungen und Demonstrationen, Feste und Feiern gehörten zum Erscheinungsbild der Volksfront. Es gab die Tage des politischen Festkalenders: den 1. Mai, der seit 1937 als staatlicher Feiertag anerkannt war; das Gedenken an die Kommune in der zweiten Maihälfte; den Nationalfeiertag am 14. Juli; das Fest der »L’Humanité« im Herbst; den Waffenstillstandstag am 11. November. Und es gab besondere Anlässe wie den Trauerzug für den Friedenskämpfer Henri Barbusse 1935 oder das Siegesfest der Volksfront am 14. Juli 1936. Es gab Kundgebungen gegen den Faschismus und Kundgebungen für den Frieden. Von Juni 1936 bis November 1938 erlebte Paris im Durchschnitt jede Woche eine politische Veranstaltung unter freiem Himmel. Die Kommunisten zeigten sich bei dieser Form der Propaganda den Bündnispartnern überlegen. Der Vorbeizug der Teilnehmer, in den ersten Reihen die politischen Führer, konnte bis zu sechs Stunden dauern. Riesenporträts von Lenin, Stalin oder Gorki wurden nach Moskauer Vorbild vorangetragen, Sprechchöre wiederholten bis zur Heiserkeit: »Le pain! La paix! La liberté!« (»Brot! Frieden! Freiheit!) Am Flaggenschmuck der Häuser und am Beifall der Zuschauer am Straßenrand ließ sich die politische Einstellung der Stadtteile ablesen.

Den überwältigenden Sieg bei den Wahlen am 26. April und 3. Mai 1936 verdankte die Linke keineswegs einem »Erdrutsch«, sondern der gelungenen Stimmenübertragung auf den aussichtsreichsten Bewerber des eigenen Lagers im zweiten Wahlgang. Dank der »republikanischen Disziplin« fielen von den 614 Sitzen in der Nationalversammlung 378 Sitze an die Volksfront, 236 Sitze blieben der bürgerlichen Opposition aus Demokratischer Allianz und Republikanischer Föderation. Die Radikalsozialisten (115 Sitze) verloren ihre traditionelle Führungsstellung als stärkste Fraktion an die Sozialisten (147). Aber sie blieben das Zünglein an der Waage. Als Nutznießer dieser Wahl erschien die Kommunistische Partei, die mit der sechsfachen Zahl von Abgeordneten (72) ins Palais-Bourbon einzog. Ein Viertel der Pariser Wähler gaben den Kommunisten ihre Stimme.

Der Sozialist Léon Blum stand mit 64 Jahren als Regierungschef auf dem Höhepunkt seiner politischen Laufbahn. Als Sohn eines elsässischjüdischen Fabrikanten von Seidenbändern und Spitzen in Paris geboren, hatte er die École Normale Supérieure besucht, an der Sorbonne und der Juristischen Fakultät studiert und sich einen Namen als Literatur- und Theaterkritiker gemacht. Blum war Mitglied des Obersten Verwaltungsgerichts. Die Dreyfus-Affäre wurde für ihn zum prägenden Erlebnis. Beim Kampf für den zu Unrecht verurteilten jüdischen Offizier lernte er Jaurès kennen. Der Ästhet und Literat trat der Sozialistischen Partei bei. Seit 1919 gehörte er der Nationalversammlung an. Wie kein anderer verkörperte Léon Blum nach dem Bruch mit den Kommunisten 1920 die Sozialistische Partei, das »alte Haus«.

Die Kommunistische Partei versicherte der Regierung aus Sozialisten und Radikalen ihre Unterstützung, verweigerte aber die Beteiligung. So konnten die Kommunisten als Massenorganisation Druck auf die Regierung ausüben, ohne selbst Verantwortung zu übernehmen. Dabei war der Regierungschef auf den guten Willen dieser Bündnispartner dringend angewiesen. Die Arbeiter wollten die Früchte ihres Sieges ernten – sofort. Die größte Streikbewegung, die Frankreich je erlebt hatte, begann in Le Havre und Toulouse und erreichte wenige Tage später die Pariser Region, zuerst die Fabrik des Flugzeugkonstrukteurs Marcel Bloch, der sich im nächsten Krieg Dassault nannte. Wie ein Flächenbrand erfaßten die Arbeitsniederlegungen fünfzig verschiedene Wirtschaftszweige: das Baugewerbe, Mühlen und Zuckerfabriken, Kaufhäuser und Hotels, Filmateliers und Theater. Auf den Baustellen der Weltausstellung, die in einem Jahr beginnen sollte, ruhte die Arbeit. Den Bäckereien ging das Heizöl aus. Die Obst- und Gemüsezufuhr von den Bahnhöfen zum Zentralmarkt stockte. Es gab keine Zeitungen, weil die »Messagerie« die Kioske nicht belieferte. Achttausend Kellner und Zimmermädchen zogen mit Spruchbändern die Boulevards entlang. Über eine Million Arbeitnehmer im Großraum Paris befanden sich im Ausstand.

Viele Arbeitsniederlegungen gingen mit der Besetzung der Betriebe einher: eine revolutionäre Neuerung. Auf Fabrikdächern wehten rote Fahnen. Das Fabriktor wurde geschlossen, Streikposten aufgestellt. Bekannte Photographen hielten den Alltag der Streikenden fest. Man sieht Arbeiter beim Boulespiel auf dem Fabrikhof und Arbeiterinnen beim Tanzvergnügen in der Werkhalle. Wie die Bilder vom Ferienglück des ersten bezahlten Urlaubs halten auch die Bildreportagen aus den besetzten Fabriken den Beginn der Volksfront wie ein Freudenfest in Erinnerung.

Dem Regierungschef ging es darum, die »soziale Explosion« (Blum) rasch zu beenden. Sobald die Regierung am 4. Juni 1936 das Vertrauen der Abgeordneten erhalten hatte, forderte Blum Gewerkschaften und Unternehmer zu Verhandlungen in seinem Amtssitz auf. Das Hôtel de Matignon in der Rue de Varenne Nr. 57, eines der schönsten Palais des Faubourg Saint-Germain, war von 1889 bis 1914 die Botschaft Österreich-Ungarns und erst im Vorjahr zum Sitz des Ministerpräsidenten bestimmt worden. Die Verhandlungen unter der Vermittlung Blums am 7. Juni, einem Sonntag, zogen sich vom frühen Nachmittag bis nach Mitternacht hin. Dann stand die »Matignon-Vereinbarung« fest: Lohnerhöhungen von sieben bis 15 Prozent, ungehinderte Gewerkschaftstätigkeit und Wahl von Betriebsräten. Die Gewerkschaften hatten mehr erreicht, als sie erhofft hatten. Aber erst nach und nach verebbte die Streikbewegung, und auch in den folgenden Jahren ließen die Streiks und Fabrikbesetzungen Frankreich nicht zur Ruhe kommen.

 

Die Regierung verlor keine Zeit, die sozialpolitischen Forderungen ihres Programms wie die Vierzig-Stunden-Woche und den bezahlten Urlaub für Arbeiter (zwei Wochen) festzuschreiben. Die Verstaatlichungen beschränkten sich auf die Rüstungsindustrie, die Eisenbahnen und die Banque de France. Auch eine politische Forderung duldete keinen Aufschub: Am 18. Juni wurden die Kampfbünde der Rechten aufgelöst. Die aufgelösten Ligen formierten sich, mit Ausnahme von Action Française, als Parteien neu, aber ihr Einfluß blieb gering.

Die einzige faschistische Massenpartei verdankte ihre Entstehung einem enttäuschten Kommunisten. Der ehemalige Metallarbeiter Jacques Doriot hatte seine Laufbahn in der kommunistischen Jugendorganisation begonnen und sich in Saint-Denis, im »roten Gürtel«, eine Machtbasis geschaffen. Mit seiner Forderung nach Aktionseinheit der Linken war Doriot dem Politbüro einige Monate voraus und wurde im Juni 1934 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Zwei Jahre später gründete Doriot den »Parti Populaire Français« (PPF), der es in kurzer Zeit auf hunderttausend Mitglieder brachte. Bei den Reden des untersetzten »Chefs« wußten die Anhänger manchmal nicht, ob sie den rechten Arm oder die linke Faust heben sollten.

Nicht alle operierten so offen. An einem Septemberabend 1937 gingen in den Gebäuden des Unternehmerverbandes und der Metall-Industrie in der Nähe des Étoile zwei Sprengladungen hoch. Wie es der Absicht der Urheber entsprach, vermutete die Öffentlichkeit einen Anschlag von Kommunisten oder Anarchisten. Die Ermittlungen der Polizei führten in eine andere Richtung. In der westlichen Banlieue und in Paris wurden Waffenlager und vorbereitete Gefangenenzellen entdeckt: die Infrastruktur eines rechtsextremistischen Terrornetzes, der »Geheimorganisation der Revolutionären Aktion« (OSAR). An der Spitze stand Eugène Deloncle, ein Schiffsbauingenieur, ehemals Mitglied der Action Française. Seine Verbindungen reichten in die Chefetagen großer Firmen und ins Offizierskorps. Mehrere politische Morde, davon zwei im Auftrag des italienischen Geheimdienstes, wurden der OSAR zur Last gelegt, sechzig Verdächtige kamen in Haft. Ein Kommentator von »Action française« gab den Terroristen die verharmlosende Bezeichnung »Kapuzenmänner« (»cagoulards«). Als der Krieg begann, waren die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen. Versprengte Mitglieder der »Cagoule« trieben noch jahrelang ihr Unwesen. Der Innenminister, der die Geheimorganisation aufgedeckt hatte, Max Dormoy, wurde 1941 in Lyon ermordet.

Die Volksfront erfüllte weder die Befürchtungen vor einer drohenden Revolution noch die Hoffnungen auf ein besseres Dasein hier und jetzt. Sie war der Versuch einer Reform der Gesellschaft in einer Zeit wirtschaftlicher Schwierigkeiten und weltpolitischer Spannungen. Der Ministerpräsident Blum trat im Juni 1937 zurück, weil ihm der Senat die notwendigen Sondervollmachten verweigerte. Der Nachfolger Daladier machte keine Volksfront-Politik mehr. Er tastete sogar die wichtigste soziale Errungenschaft an, die Vierzig-Stunden-Woche: »Man muß Frankreich wieder an die Arbeit bringen.« Im Herbst 1938 kündigte die Radikale Partei das Linksbündnis auf. Die Regierungsmehrheit rückte nach rechts. Die Volksfront war tot und lebt als Mythos fort.

Weltausstellung 1937

Einen glücklichen Augenblick erlebte der vielgeplagte sozialistische Regierungschef noch vor seinem Rücktritt: die Eröffnung der »Internationalen Ausstellung für Kunst und Technik im modernen Leben«, der sechsten Pariser Weltausstellung, im Mai 1937. Das Ausstellungsgelände, insgesamt 110 Hektar, reichte von der Anhöhe von Chaillot zum Champ-de-Mars mit dem Eiffelturm und auf beiden Seiten des Flusses von der Place de la Concorde bis zur Île des Cygnes gegenüber von Passy; dazu gab es Ableger am Bois de Boulogne und neben der neuen Cité Universitaire. Die Weltausstellung 1937 sollte dauerhafte Spuren im Stadtbild hinterlassen: das Palais de Chaillot an der Stelle des alten Trocadero und die benachbarten neuen Museen. Trotz der Geldsorgen bewilligten die Abgeordneten fast eineinhalb Milliarden Franc, für die Ausschmückung der französischen Ausstellungsgebäude wurden über siebenhundert Aufträge an Maler und Bildhauer vergeben. 42 Staaten sagten ihre Teilnahme zu.

Was als Beweis französischen Leistungswillens in einer Krisenzeit geplant war, wurde zum Anlaß für Sozialkämpfe und politischen Streit. Achtzigtausend Bauarbeiter waren in der Pariser Region ohne Arbeit, aber auf dem Ausstellungsgelände gingen die Vorbereitungen nur im Schneckentempo voran. In den Baugruben sammelte sich das Regenwasser. »Die Eröffnung der Ausstellung am 1. Mai ist eine Schlacht der Arbeiter und der Volksfront gegen den Faschismus. Wir werden sie gewinnen!«, behauptete das rote Transparent über der Tribüne der Versammlung von zehntausend Bauarbeitern im halbfertigen Museum für moderne Kunst an einem kalten Februarabend. Alle wußten, daß die Arbeiten um zwei Monate in Verzug waren. Aber als der CGT-Generalsekretär Jouhaux die Genossen aufforderte, Nacht- und Sonntagsschichten einzulegen, schlug ihm höhnisches Gelächter entgegen. Die stimmschwachen Mahnungen des Regierungschefs Blum gingen im Durcheinander unter. Die Rechte schaute hämisch zu. Für sie bedeutete der Mißerfolg der Ausstellung eine Niederlage der Volksfront.

So begann die Weltausstellung 1937 nicht wie geplant am 1. Mai, sondern über drei Wochen später. Am Nachmittag des 24. Mai fuhr die Wagenkolonne des Staatspräsidenten Lebrun und der zuständigen Minister am Palais de Chaillot vor. Von der Terrasse erschien das Ausstellungsgelände als eine große Baustelle, die wie ein Potemkinsches Dorf getarnt worden war. Die Eröffnungszeremonie fand im Grand Palais von 1900 statt, das zum »Palast der naturwissenschaftlichen Entdeckungen« umfunktioniert worden war. Im Lauf der nächsten Monate wurden die verschiedenen Gebäude und Anlagen eingeweiht: im Juni der britische Pavillon durch den Lord Mayor von London, im Juli der Pavillon des Vatikans durch den Staatssekretär Pacelli, den späteren Papst Pius XII. Das mit Spannung erwartete neue Theater im Palais de Chaillot wurde erst am Ende der Ausstellung eröffnet.

Wie eine Herausforderung wirkte angesichts dieses Durcheinanders die Selbstdarstellung der totalitären Regime. Unterhalb des Palais de Chaillot standen, einander gegenüber, die Ausstellungsgebäude des Deutschen Reichs und der Sowjetunion – »eine beabsichtigte Pointe der französischen Ausstellungsleitung«, wie Albert Speer, der Erbauer des deutschen Pavillons, bemerkte. Der Architekt hatte bei seinen Besprechungen in Paris zufällig das Modell des sowjetischen Pavillons gesehen und den eigenen Entwurf danach ausgerichtet. Der Turm vor der 164 Meter langen Halle erhob sich 54 Meter hoch, gekrönt von einem Reichsadler mit dem Hakenkreuz. Der gefährliche Vogel blickte auf das sowjetische Idealpaar herab, Arbeiter und Kolchosebäuerin, die mit Hammer und Sichel in eine leuchtende Zukunft stürmten, ein Werk der Bildhauerin Vera Muchina, die bei Meister Bourdelle in Paris in die Lehre gegangen war. Die 22 Meter hohe Monumentalskulptur aus rostfreiem Stahl machte den 33 Meter hohen Turm, auf dem sie stand, zum bloßen Sockel.

Der deutsche Pavillon war einen Monat vor der Eröffnung der Ausstellung fertig, der sowjetische am 1. Mai. Schon deshalb prägten diese Bauten wesentlich das Bild dieser Weltausstellung. Deutsche Arbeiter schafften drei Monate lang in sechzig Wochenstunden, und beim Schaustück der Sowjetunion gab es für die französischen Bauarbeiter keinen Streik. Die Zerstörung der baskischen Stadt Guernica durch deutsche und italienische Bombenflugzeuge am 26. April 1937 gab Picasso das Motiv für seinen Beitrag im Pavillon der um ihr Überleben kämpfenden spanischen Republik. Mit den zerrissenen Gestalten in Schwarz, Grau und Weiß wurde »Guernica« (Museum Reina Sofia, Madrid) zum prophetischen Protest gegen den Krieg. »Picasso schickt uns unseren Trauerbrief: alles, was wir lieben, wird sterben«, erkannte der Kunsttheoretiker und Ethnologe Michel Leiris. (»Cahiers d’art«, Nr. 8/10, 1937) Die meisten Betrachter zeigten sich von Picassos Meisterwerk überfordert. Selbst der offizielle Ausstellungsführer überging es mit Schweigen.

 

Das moderne Leben, das Thema dieser Weltschau, sollte optimistischer aussehen. Die Ausstellungsleitung baute dabei auch auf die Anziehungskraft von Paris. »Wir wollen, daß Paris, das zu allen Zeiten die Stadt des Vergnügens war, seine Darbietungen, seine Beleuchtungen, sein Feenmärchen des Lichts hat«, proklamierte der Generalkommissar Emond Labbe. (»L’Architecture d’aujourd’hui«, Mai/Juni 1937) Am schönsten, darüber waren sich alle Berichterstatter einig, wirkte die Weltausstellung bei Nacht. Das Spiel der Scheinwerfer erweckte einen vielfarbigen Schimmer auf der Wasserfläche der Seine. Indirekte Beleuchtung hob die Gebäude an beiden Ufern aus der Dunkelheit. »Die Springbrunnen, wegen technischer Schwierigkeiten anfangs nur niedrig, haben eine künstlerische Vollkommenheit erreicht, die es mit den Wasserspielen von Versailles aufnimmt«, schrieb Janet Flanner bewundernd. Fontänen am Rand der Seine »brechen auf wie farbige Blüten und zeichnen Gartenperspektiven nach«, Fontänen mitten im Fluß »spielen wie Geysire aus flüssiger elektrischer Farbe«. (»The New Yorker« vom 28. August 1937) Wie bei den Festen des Barock begleitete Musik, für diesen Anlaß komponiert, die »Feste des Lichts und des Wassers«.

Über dreißig Millionen Menschen besuchten die Weltausstellung 1937, zwanzig Millionen weniger als bei der Weltausstellung 1900, die einen Monat länger gedauert hatte. Behelligungen wie die Streiks der Straßenreinigung und des Hotelpersonals, der Taxis und der Ausflugsdampfer wurden von den Ausländern als »typisch französisch« in Kauf genommen. Die Amerikaner erfreuten sich der Stadt wie vor der Wirtschaftskrise. Sie buchten gern auf dem französischen Luxus-Liner »Normandie«, der gerade das »Blaue Band« gewonnen hatte. Im nationalsozialistischen Deutschland wurden sogar die Devisenbeschränkungen gelockert.

Das letzte Fest, das die Dritte Republik und Paris der Welt bereiteten, endete mit einem Mißklang. Als die Ausstellung am 25. November schloß, forderten Aussteller und Betreiber, in ihren Erwartungen enttäuscht, die Weiterführung im nächsten Jahr. Der Stadtrat, die Regierung und die Abgeordneten stimmten zu. Der Senat widersetzte sich. Wieder einmal wirkten sich die innenpolitischen Gegensätze aus. Aber vermutlich wäre das riesige Defizit der Ausstellung von rund achthundert Millionen Franc bei einer Verlängerung noch größer geworden. Nach dem schönen Schein forderte die Wirklichkeit ihr Recht.

Die Gefahr wächst

Am Nachmittag des 30. September 1938 wartete eine dichte Menschenmenge am Rand des Flugfeldes Le Bourget. Der Ministerpräsident Daladier blickte besorgt aus dem Fenster der landenden Maschine auf die Wartenden herunter. Würden ihn seine Mitbürger so freundlich empfangen, wie ihn die Deutschen in München verabschiedet hatten? Einen Augenblick überlegt Daladier, ob es klüger wäre, auf einem Militärflugplatz zu landen. »Es ist nicht glänzend, aber ich habe getan, was ich konnte«, bekennt der Ministerpräsident dem Generalstabschef Gamelin, der ihn als einer der ersten begrüßt. Der beruhigt den Regierungschef: »Ah, Monsieur le Président, Sie werden nur allzu gut empfangen werden!« Hinter den Absperrgittern werden Rufe laut: »Vive Daladier!«, Arme heben sich, Unbekannte strecken dem Heimkehrenden die Hand entgegen. Der Jubel begleitet den Ministerpräsidenten auf dem Weg zur Stadt und durch Paris. Die Rue de Flandre zeigt Flaggenschmuck, aus den Fenstern der Rue de Rivoli regnen Blumen. Trotz der Absperrung braucht der offene Wagen zwei Stunden, bis das Kriegsministerium in der Rue Saint-Dominique erreicht ist, wo der Regierungschef als Kriegsminister amtiert. Bei aller Erleichterung über den Empfang wirkt Daladier auf den Pressefotos bedrückt, fast finster: ein auffallender Gegensatz zu dem strahlenden Außenminister Bonnet an seiner Seite. Bonnet, der Daladier nicht nach München begleiten durfte, hat dessen Rückkehr wie einen Triumphzug vorbereitet. Einen Triumph, der auch dem Außenminister und der von ihm verfolgten Beschwichtigungspolitik zugute kommt. Am Abend macht der Regierungschef, von den Frontkämpfern aufgefordert, am Grab des Unbekannten Soldaten die Gefallenen des letzten Krieges zu stummen Zeugen seines Nachgebens.

Für Hunderttausende Pariser wie für Millionen Franzosen war Daladier an diesem Tag der Friedensbringer. Die Sudeten-Krise, die sich seit dem Frühjahr 1938 aufgebaut hatte und zum Krieg zu führen drohte, war mit der Unterschrift des französischen Ministerpräsidenten und des britischen Premierministers Chamberlain unter das Münchner Abkommen in der vergangenen Nacht wie durch Zauber gelöst worden. Die Tschechoslowakische Republik mußte dem Großdeutschen Reich das Sudetenland abtreten. Die Franzosen waren eine Sorge los.

 

Erst eine Woche zuvor waren sechshunderttausend Reservisten einberufen worden, um dem Beistandspakt mit der Tschechoslowakei Glaubwürdigkeit zu geben. Die Plakate an den Bürgermeistereien erregten Unruhe: eine Teilmobilmachung, die einer allgemeinen Mobilmachung verdächtig ähnlich sah. Wie im August 1914 wurde der Ostbahnhof zum Zentrum, wo die Einberufenen von den Angehörigen Abschied nahmen. Die Stadt erschien merkwürdig still. Zwei Tage später gingen andere Transporte von anderen Bahnhöfen ab: die Schulkinder wurden vor Luftangriffen in Sicherheit gebracht. Gewiß, es gab die Zivilverteidigung, die »défense passive«. Verdunklung war angeordnet, in Parks und Grünanlagen wurden Splittergräben ausgehoben, Gasmasken wurden verteilt. Aber das alles wirkte eher wie Propaganda. »Die Wahrheit ist, daß sich Paris ziemlich ungeschützt fühlte.« (Alexander Werth)

Umso größer war nun die Erleichterung. Die Zeitungen begrüßten das Münchner Abkommen in seltener Einhelligkeit. Nur »L’Humanité« beschwor in der Schlagzeile ein »diplomatisches Sedan«. Die Nationalversammlung billigte die außenpolitische Erklärung des Ministerpräsidenten mit 537 Stimmen; dagegen stimmten nur die 73 Kommunisten und zwei Einzelgänger. Aber in jeder Partei, von den Sozialisten bis zur konservativen Rechten, mischten sich Befürworter und Kritiker des Münchner Abkommens. Bei einer der ersten Meinungsumfragen bejahten 57 Prozent der Befragten das Abkommen, 37 Prozent waren dagegen. Hinfort bestimmte der Gegensatz von »Munichois« und »Anti-Munichois« die innerfranzösischen Auseinandersetzungen.

Frankreich hatte sich für seine Sicherheit auf eine Verteidigungsstrategie festgelegt, deren sichtbarer Ausdruck die Maginot-Linie war, ergänzt durch Verträge, Bündnisse und Hilfezusagen. Diese Sicherheitspolitik erwies sich gegenüber dem von einer totalitären Diktatur beherrschten Deutschen Reich als gefährliche Illusion. Immer wieder wurden die westlichen Demokratien von Hitler vor vollendete Tatsachen gestellt. Auch als im Juli 1936 der Bürgerkrieg in Spanien begann, konnte Frankreich allein wenig unternehmen. Wenn bei den Kundgebungen der Linken die Sprechchöre: »Des avions – des canons – pour l’Espagne!« forderten, konnte der Sozialist Blum den Anhängern nur seine Sorge vor einem Konflikt in Europa entgegenhalten. Das erweckte begreiflicherweise weniger Begeisterung als der Auftritt der »Pasionaria« Dolores Ibarruri, der Verkörperung des antifaschistischen Widerstandes in Spanien, der im Velodrome d’Hiver frenetischer Beifall entgegenschlug.

Manches geschah verdeckt. Paris wurde Sammelpunkt und Nachschubbasis der Internationalen Brigaden, deren Aufstellung die Komintern angeordnet hatte. Die Organisation lag in den Händen der Kommunistischen Partei. Der logistische Stab unter der Leitung des Tschechen Klement Gottwald und des Italieners Palmiro Togliatti arbeitete in der Parteizentrale. Das größte Werbebüro befand sich im »Haus der Gewerkschaften« in der Rue des Mathurins, unweit der Oper. Zu den Komintern-Agenten, die dort arbeiteten, gehörte ein Kroate, der sich Tomanek nannte, in Wirklichkeit Josip Broz hieß und als Marschall Tito bekannt wurde. Die Freiwilligen wurden auf ihre Tauglichkeit untersucht, mußten Ausweise und Pässe abgeben und erhielten falsche Papiere. Der Transport mit der Bahn verlief über Toulouse und Perpignan und von dort mit Lastwagen zur Grenze. Im Dezember 1936 fuhren jeden Abend 130 Mann von der Gare d’Austerlitz nach Barcelona ab: »Unnötig, Fragen zu stellen, die Bahnangestellten haben Anweisung, keine Auskunft zu geben, und doch kann diese regelmäßige Abreise nicht ohne Genehmigung der Eisenbahndirektion vor sich gehen.« (»La République« vom 17. Dezember 1936) Vierzigtausend Freiwillige gelangten aus Frankreich nach Spanien, davon neuntausend Franzosen und dreitausend deutsche Emigranten. Ein Drittel von ihnen fielen. Manch einer der Zurückgekehrten nutzte die Kampferfahrungen wenig später in der Resistance.

Wie schon beim Abessinienkrieg zeigte sich auch während des Spanienkrieges die Einwirkung der Diktaturen Italien und Deutschland auf die öffentliche Meinung. Die NS-Propaganda fand einen Stützpunkt in der Nachrichtenagentur Prima-Presse in der Rue de Richelieu Nr. 106 unter der Leitung des französischen Journalisten Paul Ferdonnet. Zahlungen an Journalisten und Zeitungen liefen über die Botschaft, speziell über den vom Propagandaministerium entsandten Presseattache, aber auch in Form von Anzeigen über den »Werbeetat der deutschen Wirtschaft« und Firmenvertretungen, besonders der chemischen Industrie. Es bleibt schwierig, die Wirkung solcher Zuwendungen abzuschätzen. Einer Broschüre des »Petit Parisien« zufolge schlug sich nationalsozialistische Propaganda in zwanzig Pariser Zeitschriften nieder. (»Les Instructions secrètes de la Propagande allemande«, 1937) Der Leiter der Anzeigenabteilung des »Figaro« und der Nachrichtenchef von »Le Temps« wurden wenige Wochen vor Kriegsbeginn unter Korruptionsverdacht verhaftet.

Am nützlichsten im Sinn der nationalsozialistischen Propaganda waren die Überzeugten, die aus eigenem Antrieb redeten und schrieben. Bei Intellektuellen der äußersten Rechten wie Drieu La Rochelle, Robert Brasillach, Jacques Benoist-Méchin oder dem gebürtigen Schweizer Denis de Rougemont ging die Bewunderung für den »starken Staat« Hand in Hand mit dem Streben nach Frieden um jeden Preis. »Läßt sich mit Hitler reden?«, war das Thema eines Vortrags, den Friedrich Sieburg zwei Wochen nach dem deutschen Einmarsch ins entmilitarisierte Rheinland im Théâtre du Vieux-Colombier hielt.

Als idealer Partner für diese neuartigen Europäer erwies sich Otto Abetz (1903–1958), in seinen Anfängen Zeichenlehrer in Karlsruhe. Als Jugendführer hatte er 1930 im Schwarzwald das erste deutsch-französische Jugendtreffen veranstaltet. Der »Sohlberg-Kreis« wurde nach 1933 von der Hitlerjugend übernommen, und der Frankreichkenner Abetz trat in die Dienststelle des späteren Reichsaußenministers von Ribbentrop ein, ein »braunes« Gegengewicht zum Auswärtigen Amt. Als Forum diente Abetz die Deutsch-Französische Gesellschaft, der in Frankreich das Comité France-Allemagne unter der Leitung des Journalisten Fernand de Brinon entsprach. (Im besetzten Paris werden Brinon und Abetz ihre Zusammenarbeit fortführen: jener als Generalbevollmächtigter Pétains, dieser als deutscher Botschafter.) Abetz knüpfte in Frankreich Beziehungen zu Jugendorganisationen und Kriegsteilnehmerverbänden, zu Politikern und Intellektuellen und verkehrte mit zunehmender Gewandtheit in Pariser Salons. Dabei verstand es der frankophile Badener, die Standpunkte des NS-Regimes geschickt zu vertreten. »Er spionierte nicht, er spürte auf, informierte sich, suchte zu überzeugen«, faßte der Zeitungsmann Pierre Lazareff seinen Eindruck zusammen. Kurzum: »ein ruhiger und geduldiger Seelenfänger«. (»Dernière édition«, Montreal o.J.) Im Dezember 1938 durfte Abetz den Reichsaußenminister von Ribbentrop zur Unterzeichnung eines folgenlosen »Freundschaftsvertrags« nach Paris begleiten. Ein halbes Jahr später wurde er von der französischen Regierung zum Verlassen des Landes aufgefordert: eine Kränkung für den Betroffenen und ein Affront gegen die Auftraggeber.

Paris durchlebte in diesen Monaten die entscheidende außenpolitische Krise der Zwischenkriegszeit. Nach der Zerstörung der Tschechoslowakischen Republik im März 1939 schickte Hitler sich an, die »polnische Frage« mit Waffengewalt zu lösen, wobei er auch einen Krieg im Westen in Kauf nahm. Ein zweites »München« sollte es nicht geben. Mit der Artikelüberschrift »Sterben für Danzig?« lieferte der Neo-Sozialist Marcel Déat das Stichwort für den Meinungsstreit in Paris. (»L’Œuvre« vom 4. Mai 1939) Déat verkannte, daß es Hitler nicht um Danzig und den polnischen Korridor ging, sondern um die Herrschaft über Europa.

Der letzte Sommer

Wie ein nicht enden wollendes, nicht enden sollendes Fest nimmt sich der letzte Sommer vor dem Krieg aus. Mit einem Gartenfest feierte der polnische Botschafter Lukasciewicz im Hôtel de Sagan in der Rue Saint-Dominique, das seit zwei Jahren die Botschaft Polens war, den Sommeranfang. Gewiß fühlte er sich durch die jüngsten Beistandszusagen Großbritanniens und Frankreichs erleichtert. Am nächsten Abend traf sich Tout-Paris zum fünfzigsten Geburtstag des Eiffelturms. Graf Étienne de Beaumont lud zu einem Kostümfest, dem der 300. Geburtstag Racines als Thema diente: Der jugendschöne Jean Marais erschien mit Tigerfell und goldener Perücke als Hippolyt, Maurice de Rothschild in juwelenbesetztem Brokat als Sultan Béjazet, nur der deutsche Botschafter Graf Welceck blieb als schwarzer Domino unauffällig. Das größte Aufsehen erregte das Fest der Lady Mendl, einer schwerreichen Amerikanerin, im Park von Versailles. Die Gäste, darunter der Herzog und die Herzogin von Windsor, ergötzten sich an Vorführungen in einem Zirkuszelt.

Gab es keine Mißklänge? Man hörte sie und überhörte sie. Am 17. Juni endete der Mörder Eugen Weidmann aus Frankfurt am Main unter dem Fallbeil. Er hatte während der Weltausstellung 1937 ein halbes Dutzend Opfer angelockt, umgebracht und beraubt. Die Pöbelszenen bei der Exekution vor dem Gefängnis in Versailles waren so abstoßend, daß die Republik auf öffentliche Hinrichtungen verzichtete. Ausgerechnet beim Fest des Eiffelturms machte ein Neffe des tschechischen Ministerpräsidenten Benesch durch einen Sprung von der ersten Plattform seinem Leben ein Ende.

Am 27. Juni warnte Ministerpräsident Daladier in der Nationalversammlung vor weiterem Nachgeben gegenüber Hitler: »Für den Augenblick sage ich: wir müssen fest bleiben, sage ich: wir müssen alle Energien der Nation zusammenfassen.« Der Regierungschef und Kriegsminister handelte mit dem Mut der Verzweiflung. Die militärische Führung dagegen schien sich ihrer Sache sicher zu sein. General Weygand, bis 1935 Oberbefehlshaber der Streitkräfte, erklärte Anfang Juli: »Die französische Armee ist stärker als jemals in ihrer Geschichte. Sie besitzt eine Ausrüstung bester Beschaffenheit, Befestigungen ersten Ranges, eine ausgezeichnete Moral und ein hervorragendes Oberkommando« und werde gegebenenfalls »einen neuen Sieg erringen«. Nichts von dieser Lagebeurteilung, die Befestigungsanlagen vielleicht ausgenommen, traf zu, aber die Öffentlichkeit glaubte dem berühmten Heerführer nur zu gern.

Der 150. Jahrestag des Bastille-Sturms am 14. Juli 1939 wurde mit der größten Militärparade seit zwanzig Jahren begangen. Mehr als dreihundert französische und britische Kampfflugzeuge dröhnten über die Champs-Élysées. Hundert schwere Panzer zermalmten den Asphalt: ein verspäteter Tribut an die Erfordernisse der nahen Zukunft. Truppen aus allen Teilen des Kolonialreichs zwischen Indochina und Senegal gaben ein trügerisches Bild militärischer Stärke. Gemeinsam mit den französischen Soldaten nahmen britische Gardetruppen im Geist der Entente cordiale an der Parade teil. Auf der Ehrentribüne, in der Nähe des Staatspräsidenten Lebrun, nahm ein englischer Konservativer Platz, der sich mehr als andere für Frankreich interessierte: Winston Churchill.

Und dann begannen die Ferien. Die Volksfront hatte den bezahlten Urlaub eingeführt. Die Franzosen machten begeistert Gebrauch von der neuen Freiheit, gerade weil der nüchtern rechnende Wirtschaftsminister Reynaud die Arbeitszeit wieder auf 41 Wochenstunden heraufgesetzt hatte. Von den Planken von Deauville bis zur Promenade des Anglais in Nizza ging eine Gesellschaft, die sich noch nicht als »Freizeitgesellschaft« verstand, dem Badeleben nach. Im Hotel Eden Rock in Cap d’Antibes war wie in früheren Jahren der amerikanische Botschafter in London, Joseph Kennedy, mit seinem vielköpfigen Clan abgestiegen. Einer Dame, die sich besorgt nach der politischen Lage erkundigte, erwiderte der Botschafter: »Komische Frage. Wenn es ernst wäre, wäre ich dann hier?« In Antibes malte Picasso an einem »Fischfang bei Nacht«. Zwei Söhne seiner Schwester waren mit den letzten Versprengten der spanischen Republik über die Pyrenäen gekommen und mußten vor der Internierung bewahrt werden. Tage wie reife Früchte, aus dem Radio die Stimme von Tino Rossi, ländliche Stille. In der Zurückgezogenheit des Périgord notierte André Maurois: »Die Zeitungen, das Radio sagen uns, daß [der italienische Außenminister] Ciano bei Ribbentrop ist und daß Deutschland zwei Millionen Mann unter Waffen hat. Die Leute in den Dörfern reden von der Ernte.«

Die Nachricht von der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts in Moskau am 23. August 1939 kam wie ein Schock. Die Kommunistische Partei fand sich in einer zwiespältigen Lage und stand bald als Paria da. Trotzdem hielt sich zunächst noch die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung. Daran änderten auch die erneuten Einberufungen und Maßnahmen für den Zivilschutz nichts. »Der Optimusmus der Leute ist außerordentlich«, trug ein junger Marine-Offizier, der dem Regierungschef zugeteilt war, in sein Tagebuch ein. »Im letzten Jahr gab es schon die Verdunklung, die Telefonverbindungen mit der Provinz waren unterbrochen, die Zeitungen hatten weniger Seiten. Die Leute glauben, es wird sich einrenken. Sie wissen nicht, daß es im letzten Jahr die Generalprobe war, diesmal ist es die Premiere für das große Blutvergießen.« (Jacques Raphael-Leygues) Am frühen Morgen des 1. September unterrichtete der Direktor der Nachrichtenagentur Havas den Regierungschef über den deutschen Überfall auf Polen. Am Nachmittag des folgenden Tages erfuhr die Öffentlichkeit von Luftangriffen auf Warschau, Krakau und den Hafen Gdingen. Am 3. September 1939, einen Tag nach der allgemeinen Mobilmachung, erklärten Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg.