Von solchen Absichten ahnte Dietrich von Choltitz nichts, als er am 10. August 1944 als »Kommandierender General und Wehrmachtsbefehlshaber von Groß-Paris« die Verantwortung in der Stadt übernahm. Der Berufsoffizier aus sächsischem Adel hatte den Krieg kennengelernt: 1940 bei der Zerstörung von Rotterdam, 1942 bei der Belagerung von Sewastopol, 1943 beim Rückzug aus Stalingrad, zuletzt als Befehlshaber eines Armeekorps in der Normandie. Choltitz machte sich keine Illusionen über die militärische Lage, aber er war gewöhnt, jeden Befehl auszuführen. Hitler wies den neuen Befehlshaber von Groß-Paris selbst in seine Aufgaben ein. Im Hauptquartier in Ostpreußen traf Choltitz »einen alten, gebeugten, aufgeschwemmten Mann mit dünnem grauem Haar, einen zitternden, körperlich erledigten Menschen«. Doch die Befehle, die ihm auch schriftlich übergeben wurden, waren deutlich genug. Der General sollte dafür sorgen, daß »Paris seinen Charakter als Etappenstadt mit ihren üblen Erscheinungen in kürzester Zeit verliert«, daß »sofort alle überflüssigen deutschen Dienststellen und Einzelpersonen aus Paris entfernt … und die kampffähigen Männer der Front zugeführt werden« und »die Sicherung des Bereiches Groß-Paris gegen Aufstandsbewegungen, Terror- und Sabotageakte gewährleistet« werde. Von der Verteidigung von Paris war noch nicht die Rede.

General von Choltitz verschmähte die komfortable Residenz seines Vorgängers am Bois de Boulogne und bezog Zimmer im Hotel Meurice an der Rue de Rivoli, wo sein Stab untergebracht war. Was der Befehlshaber von Groß-Paris jetzt brauchte war ein Befehlsstand, keine Villa. Dem Befehlshaber blieben für die Sicherung von Paris zwanzigtausend Mann, meist ältere oder ganz junge Soldaten, und einige SS-Einheiten. Ein Teil dieser Mannschaften und die schweren Geschütze wurden für den äußeren Sperrgürtel gebraucht, der sich in einer Entfernung von 45 Kilometern im Westen und Süden vor die Stadt legte. Aus Schreibkräften und anderen Verbliebenen stellte der Befehlshaber »Alarmeinheiten« von zweifelhafter Kampfkraft zusammen. Die Garnison verfügte über siebzehn Panzer und ebensoviele Panzerspähwagen. Für den Fall von Unruhen waren befestigte Stützpunkte vorgesehen, zu denen einige der bekanntesten Bauwerke von Paris gehörten: das Palais du Luxembourg und das Palais-Bourbon, das Hôtel des Invalides, das Außenministerium und die École Militaire. Als Stützpunkt galt das ungeschützte Hotel Majestic ebenso wie die Prinz-Eugen-Kaserne an der Place de la République, eine wahre Zitadelle.

Selbst gegen diese bescheidene Macht versprach ein Aufstand wenig Erfolg. Die FFI der Pariser Region konnten auf zwanzig- bis dreißigtausend Mann zählen, eine Manövriermasse, die während der Unruhen und erst recht nach dem Ende der Kämpfe anschwoll. Den Kampfgruppen, vorwiegend ehemalige Jung-Kommunisten, fehlten kampferfahrene Anführer und eine übergreifende Koordination. Vor allem fehlten Waffen. Nur jeder zehnte Kämpfer hatte ein Gewehr, eine Maschinenpistole oder einen Revolver. Die »Maquisards« in der Provinz wurden seit langem auf dem Luftweg mit Waffen versorgt. Die Pariser Region ging leer aus. Die alliierten Befehlshaber wie die Führung des Freien Frankreich hatten Bedenken, der unberechenbaren Großstadt Waffen zu geben. Solche Vorsicht verschärfte die politischen Gegensätze innerhalb der Résistance.

Der Abzug der deutschen Dienststellen und Stäbe begann. Am 17. August – die Amerikaner hatten Orléans, Chartres und Dreux erreicht, 80 bis 130 Kilometer von Paris entfernt – sah der Zeitzeuge Galtier-Boissière dem Abzug zu: »Auf allen Wegen Dutzende, Hunderte von Lastwagen, überfüllte Busse, Geschütze, Krankenwagen mit Verwundeten. An der Kreuzung Strasbourg-Saint-Denis und vor den Bahnhöfen regeln Feldgendarmen mit ihren Kellen den Verkehr. In der Rue La Fayette fahren in glänzenden offenen Wagen rotgesichtige, monokeltragende Generäle vorbei, in Begleitung von eleganten blonden Frauen, als ginge es in einen Kurort … Auf den Café-Terrassen der Boulevards und der Avenue de l’Opéra sitzen Militärs aller Waffengattungen und trinken ihr Bier … Bemerkung eines Deutschen zu Franzosen: ›Na, ihr starrt uns vielleicht an! Habt ihr in vier Jahren nicht genug von uns gesehen?‹« Das Hauptquartier des Militärbefehlshabers in Frankreich wurde an diesem Tag nach Reims verlegt. Im Hotel Raphael nimmt der Kriegsverwaltungsrat Walter Bargatzky, ein überlebender Mitwisser des 20. Juli, das letzte Frühstück ein, bezahlt seinen Obstsaft und verabschiedet sich vom Personal. »Sie haben uns viele Jahre bedient und sich nicht ins Herz blicken lassen. Aber sie waren freundlich zu uns.«

An die Kollaborateure ergeht die Aufforderung, den Rückzug zu begleiten. In Parteizentralen werden Akten und Mitgliederkarteien vernichtet, werden Ausweise und gebündeltes Bares verteilt. Der PPF-Führer Doriot und der Miliz-Chef Darnand sammeln Tausende von Anhängern mit ihren Familien zu Konvois. Marcel Déat macht sich um fünf Uhr früh auf den Weg: »Wir raffen die letzten Pakete zusammen, die Legion sind. Wir zwängen uns sehr mühsam in den Wagen … Ich habe eine Maschinenpistole und einen Colt, der Fahrer hat eine Pistole, ein Milizmann begleitet mich.« (17. August 1944) Die Kollaborationisten wissen, wovor sie fliehen, aber sie wissen nicht, was sie erwartet. Der Vorsitzende der Presse-Vereinigung, Jean Luchaire, bleibt mit seiner Frau und drei hübschen Töchtern zwei Tage lang am Ostbahnhof, bis sich der letzte Zug in Bewegung setzt. In Baden-Baden, wo die Fahrt endet, führt Céline seit Juni das Dasein des politischen Emigranten, das er mit geübter Hähme beschreiben wird: »Von einem Schloß zum andern« (1957). Ministerpräsident Laval leitet im Matignon den letzten Ministerrat. Er überträgt die Verantwortung für die Hauptstadt den beiden Präfekten, wie es im Juni 1940 Ministerpräsident Reynaud getan hatte. Dann wird der Regierungschef unter deutscher Bewachung und in Begleitung der deutschen Botschaft nach Belfort geführt. Drei Tage später folgt aus Vichy Marschall Pétain. Belfort ist für das Marionetten-Regime die letzte Station auf französischem Boden vor dem Exil in Sigmaringen.

 

Ein Mann erwies sich in dieser Notlage als unermüdlicher Helfer: der schwedische Generalkonsul Raoul Nordling (1882–1962). Für den Doyen des Konsularischen Korps war Paris seit mehr als dreißig Jahren die Heimat. Nordlings Bemühungen, Paris zur offenen Stadt zu erklären, war kein Erfolg beschieden. Aber es gelang ihm, die politischen Gefangenen unter den Schutz des Roten Kreuzes zu stellen. Aus Haftanstalten, Lagern und Krankenhäusern der Pariser Region wurden 4213 politische Gefangene befreit. Nur zwei Tage früher waren 3240 Gefangene vom Verschiebebahnhof Pantin nach Buchenwald deportiert worden. Weniger als dreihundert kehrten zurück.

Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Befreiung von Paris, daß der Aufstand des Volkes mit dem Ausstand der Polizei begann. Seit dem 15. August befanden sich die rund zwanzigtausend Pariser Polizeibeamten im Streik. Kein Flic war mehr auf der Straße zu sehen, jedenfalls nicht in Uniform. In den Polizeiwachen blieb nur hier und dort ein pflichtbewußter Kommissar zurück. Von einem Tag zum anderen fand sich die Millionenstadt, in der Gewalttaten und Plünderungen zunahmen, ohne Ordnungshüter. Der Versuch der Besatzungsmacht, die Polizei zu entwaffnen, hatte den Streik ausgelöst. Vier Jahre lang war bei der Pariser Polizei von Widerstand wenig zu merken gewesen. Jetzt war der Augenblick – der letzte Augenblick! – gekommen, vier Jahre polizeilicher Kollaboration auszulöschen.

Das große Schauspiel begann am Morgen des 19. August, einem Samstag, mit der Besetzung der Polizeipräfektur durch mehrere Hundert Polizisten, am nächsten Tag gefolgt von der Übernahme des Rathauses durch die Résistance. Und es endete mit der Kapitulation des Befehlshabers von Groß-Paris am Nachmittag des 25. August. An den Mauern erschien neben anderen Aufrufen der Mobilmachungsbefehl des FFI-Chefs Rol-Tangy: Alle »wehrfähigen Franzosen und Französinnen« sollten sich in ihrem Stadtteil oder ihrer Fabrik unverzüglich den FFI oder den Patriotischen Milizen anschließen. Sie sollten sich »mit allen Mitteln« bewaffnen, den Feind angreifen, wo er sich fand, und die öffentlichen Versorgungsbetriebe vor der Zerstörung schützen. (Rol-Tanguy und Roger Burderon) In den Straßen tauchten Streifen mit blau-weiß-roten Armbinden auf. Die »wilden Säuberungen« ließen nicht auf sich warten. Gruppen von Bewaffneten besetzten Bürgermeistereien und andere öffentliche Gebäude. Bald wehte hier und dort die Nationalfahne.

Auf dem Rathaus hatte der Vorsitzende des Conseil municipal, Pierre Taittinger, schon am 18. August die Trikolore aufziehen lassen. Wie wenige hatte sich Taittinger für die Stadt und ihre Bewohner eingesetzt und General von Choltitz in bewegten Worten um Schonung für Paris gebeten. Der Bürgermeister sprach für diejenigen, vermutlich die Mehrheit, die Blutvergießen und Zerstörungen abwenden wollten. Nun wurde er von der Résistance in politische Haft genommen, nicht anders als der Polizeipräfekt Amédée Bussière (1942–1944) und der Präfekt des Seine-Départements, René Bouffet (1942–1944). An ihren Schreibtischen saßen neue Amtsinhaber: der Polizeipräfekt Charles Luizet (1944–1947), der im September 1943 zum Präfekten der befreiten Insel Korsika ernannt worden war, und der Präfekt Marcel Flouret (1944–1946), ein hoher Beamter. Generalsekretäre aus dem Untergrund übernahmen die Leitung der Ministerien, wo sie von den verbliebenen Beamten und Amtsdienern, aber auch von dem Befreiungsausschuß des Ministeriums und Bewaffneten empfangen wurden. Am 24. August hielten die provisorischen Behördenleiter unter dem Vorsitz des Generaldelegierten Parodi im Matignon ihre erste Sitzung ab. Noch drohte in jedem Augenblick die Festnahme. Aber die Kontinuität des Staates bewährte sich.

 

Zum Bild dieser Tage gehören die Barrikaden: wie im Juli 1830, im Juni 1848, im Mai 1871. Das historische Zitat erscheint deutlicher als der militärische Nutzen. Zuletzt gab es fast sechshundert solcher provisorischen Befestigungen in Paris. Wie bei früheren Aufständen zeichnete ihre Verdichtung die politische Geographie der Hauptstadt nach. Galtier-Boissière begutachtete am 20. August beim Morgenspaziergang eine der ersten Straßensperren im Quartier Latin: »Ein Maschinengewehr ist auf dem Gehsteig in Stellung gebracht, den Pont Saint-Michel im Visier; es wird von einem großen blonden jungen Mann, elegant gekleidet, bedient. Auf den Bürgersteigen des Boulevard Saint-Michel ein Dutzend junger Männer in Hemdsärmeln, die Armbinde um den Bizeps, die Muskete in der Hand oder kleine Revolver schwingend. Einige tragen den Helm des Poilu. Etwa fünfzig Neugierige, die darauf warten, daß etwas passiert, umstehen die Kämpfer. Sobald ein Fahrzeug auf der Brücke auftaucht, ziehen sie sich eilig in die Hauseingänge zurück. Über die Fahrbahn sind Latten mit großen Nägeln gelegt«.

Die jugendlichen Amateure schienen Szenen des spanischen Bürgerkrieges nachzustellen, wie man sie aus der Wochenschau kannte. Roger Stéphane, später Gründer der Wochenzeitschrift »France-Observateur«, der mit der Sicherung des Rathauses betraut wurde, gestand, daß ihn Malraux’ Schilderung der Belagerung von Madrid auf den Gedanken brachte, seine Männer mit blauen Monteursanzügen einzukleiden. Manche Bilder konservieren den Eindruck des Selbstbewußt-Gestellten. Sie dürfen nicht vergessen lassen, daß in diesen Tagen an vielen Orten in der Stadt gekämpft und gestorben wurde. Unerwarteterweise führte die bedrängte Garnison immer wieder Gegenangriffe aus. Die Schnittstelle der Boulevards Saint-Germain und Saint-Michel war als »Todeskreuzung« berüchtigt. Sartres Reportagen aus jenen Tagen liefern ein Bild der Kämpfe, das nichts beschönigt. Namenstafeln an Pariser Hauswänden erinnern an die Gefallenen. Auf französischer Seite gab es fast eineinhalbtausend Tote, darunter zahlreiche Opfer verirrter Kugeln; auf deutscher Seite fast doppelt so viele.

Ein Waffenstillstand, der durch die Vermittlung des schwedischen Generalkonsuls zustande kam, ließ die Kämpfe eine Weile abflauen. Die Scharfmacher sahen ihre Pläne in Gefahr. Nach heftigen Auseinandersetzungen kündigte der Pariser Befreiungsausschuß die Waffenruhe auf: »Der Kampf geht weiter. Er muß fortgesetzt werden, bis der Feind aus der Pariser Region verjagt ist … Ein siegreiches Volk wird die Alliierten empfangen.« (21. August) Der Aufruf wurde ergänzt durch den Befehl Rol-Tanguys zum Bau von Barrikaden. Die Bevölkerung solle jedes Stadtviertel in Verteidigungszustand setzen. (22. August) Die Untergrund-Zeitungen, die plötzlich am hellen Tag erschienen, wiederholten begeistert die Kampfrufe: »Jedem Pariser seinen Boche! Kämpft wie die Löwen! Zu den Waffen!« (»L’Humanité« vom 24. August 1944)

Alles hing davon ab, daß die Alliierten dem »siegreichen Volk« rechtzeitig zu Hilfe kamen. Das Drängen de Gaulles, der sich seit kurzem auf französischem Boden befand, und die Bitten aus der Stadt um rasche Unterstützung bewirkten eine Änderung der Strategie. Am Abend des 22. August erteilte General Bradley dem Kommandeur der französischen 2. Panzerdivision, General Leclerc, den Befehl, nach Paris vorzustoßen. Die 4. US-Infanteriedivision, die entscheidenden Anteil an den Kämpfen in der Normandie gehabt hatte, übernahm die Flankensicherung. Philippe de Hautecloque, bekannt unter dem Kriegsnamen Leclerc, war die Verkörperung des Kämpfenden Frankreich. Er hatte in Französisch-Zentralafrika den Kampf aufgenommen und sich den britischen Streitkräften in Nordafrika angeschlossen. Nun stand er unter amerikanischem Oberbefehl und drängte nach Paris. Allerdings mußte die Division Leclerc eine Strecke von zweihundert Kilometern zurücklegen, während amerikanische Einheiten schon fünfzig Kilometer vor Paris standen. »Aber um den Franzosen zu helfen, nach vier Jahren Besetzung ihren Nationalstolz zurückzugewinnen, suchte ich eine französische Einheit aus, mit der Trikolore auf den Sherman-Panzern«, schreibt General Bradley gönnerhaft. Im Morgengrauen des 23. August trat die 2. Panzerdivision in zwei Kolonnen den Marsch auf Paris an.

Auch dem Befehlshaber von Groß-Paris mußte am Vorstoß der Alliierten gelegen sein. General von Choltitz wollte sich, um der Ehre und mehr noch um der Sicherheit seiner Soldaten willen, regulären Truppen ergeben, nicht Freischärlern. Wie kritisch die Lage war, zeigte ihm der Führerbefehl, der ihn am 23. August als Fernschreiben erreichte: »Die Verteidigung des Brückenkopfes Paris ist von entscheidender militärischer und politischer Bedeutung. Sein Verlust reißt die gesamte Küstenfront nördl. der Seine auf und nimmt uns die Basis für den Fernkampf gegen England [mit den Langstreckenraketen V1 und V2]. In der Geschichte bedeutete der Verlust von Paris aber auch bisher immer den Fall von ganz Frankreich. Der Führer wiederholt deshalb seinen Befehl, daß Paris im Sperrgürtel vorwärts der Stadt verteidigt werden muß, und verweist dazu auf die für O.B. West angekündigten Verstärkungen. Innerhalb der Stadt muß gegen erste Anzeichen von Aufruhr mit schärfsten Mitteln eingeschritten werden, z. B. Sprengung von Häuserblocks, öffentliche Exekutierung der Rädelsführer, Evakuierung des betroffenen Stadtteils, da hierdurch eine weitere Ausbreitung am besten verhindert wird. Die Seine-Brücken sind zur Sprengung vorzubereiten. Paris darf nicht oder nur als Trümmerfeld in die Hand des Feindes fallen.«

Zwei Tage später wurde der »Trümmerfeldbefehl« durch Fernspruch beim Oberbefehlshaber West wiederholt. Darin hieß es, in Paris sei »wenigstens eine gesicherte Ost-West-Verbindung und eine größere Anzahl von Brücken« offen zu halten. Dem Befehlshaber seien dafür »alle für den Straßenkampf geeigneten Waffen, insbesondere Panzer und gepanzerte Kraftfahrzeuge«, zu belassen. »Im weiteren Verlauf ist durch Heranführen von Sicherungsverbänden von außen und Einsatz von Sonderkampfmitteln (Sturmmörser und Sturmpanzer) der Aufstandsherd einzuengen, um dann unter Einsatz der Luftwaffe (Abwurf von Spreng- und Brand-Munition) die in Aufruhr befindlichen Stadtteile zu vernichten.« So lange auf dem Flugplatz Le Bourget noch deutsche Maschinen standen, war das eine ernstzunehmende Möglichkeit, der Choltitz mit sachlichen Einwänden zu begegnen suchte.

Für den Befehlshaber von Groß-Paris ergaben solche Befehle keinen Sinn mehr, seit die Amerikaner flußabwärts und flußaufwärts die Seine überschritten hatten und ihre Panzerspitzen bereits ostwärts von Paris operierten. Hätte sich General von Choltitz in einer anderen militärischen Lage anders verhalten? »Man glaube nicht, daß mir das Spiel in Paris leicht gefallen ist … Wohl besaß ich eine allgemeine Linie, eine Grundeinstellung, doch in den schnell wechselnden Lagen hatte ich von Fall zu Fall jeweils neue Entscheidungen zu treffen.« So weit Dietrich von Choltitz in seinen Erinnerungen. Der General wußte sich in einer verlorenen Schlacht und, schlimmer, im Geflecht der totalitären Diktatur. Er mußte eine Entschlossenheit demonstrieren, die ihm abhanden gekommen war. Entscheidend ist, daß die Sprengkammern der mehr als dreißig Brücken im Stadtgebiet leer blieben, daß die von entsandten Experten vorbereitete Zerstörung von Fabriken, technischen Anlagen und öffentlichen Gebäuden nicht befohlen wurde.

Der deutsche General war erleichtert, als am Abend des 24. August die Kirchenglocken zu läuten begannen. Sie verkündeten das Eintreffen der Vorausabteilung der 2. Panzerdivision beim Rathaus, den Beginn der Befreiung. Choltitz telefonierte gerade mit dem Stabschef der Heeresgruppe, General Speidel: »Ich halte meinen Hörer aus dem Fenster: ›Bitte, hören Sie zu … haben Sie gehört?‹ ›Jawohl, ich höre Glockenläuten.‹ ›Sie haben recht gehört. Die amerikanisch-französische Armee zieht in Paris ein.‹« Der Chef des Stabes und der Oberbefehlshaber West, Feldmarschall Model, haben für den »Kommandierenden General ohne Truppen«, wie Choltitz sich nennt, keine Befehle mehr.

Die Kolonnen der 2. Panzerdivision erreichten nach harten Kämpfen am nächsten Morgen im Süden und Westen den Stadtrand. Ihr Einzug bot den Parisern einen unvergeßlichen Anblick: »Eine vibrierende Menge umdrängt die französischen Panzer, die mit Fahnen besteckt und mit Blumensträußen übersät sind. Auf jedem Tank, jedem Panzerspähwagen, neben der Mannschaft in khakifarbenen Monteursanzügen und mit roten Schiffchen Trauben von jungen Mädchen, von Frauen, von Buben, von ›Fifis‹ mit Armbinden. Das Volk bildet Spalier, klatscht Beifall, wirft Kußhände, schreit den Siegern seine Freude über die Befreiung zu! Diese französischen Soldaten – es sind Spahis – zeigen Haltung, sind freundlich, gutmütig. Sie … lächeln mit weißen Zähnen in gebräunten, übermüdeten Gesichtern. Ein Kameramann filmt die Szene.« (Galtier-Boissière) Und so bleibt der 25. August 1944, der Tag der Befreiung von Paris, in der Erinnerung: junge Frauen, die junge Soldaten in die Arme schließen, strahlende Gesichter, Blumen und Fahnen, Waffen und Material, die die Siegeserwartung zur Gewißheit machen.

 

Aber noch wurde hier und dort gekämpft. Einige Stützpunkte der Garnison ergaben sich rasch, andere leisteten Widerstand. Gegen drei Uhr nachmittags ließ sich der Befehlshaber von Groß-Paris mit seinem Stab im Hotel Meurice von zwei französischen Offzieren gefangennehmen. Eine Stunde später unterzeichneten General Leclerc und General von Choltitz in der Polizeipräfekur das Übergabe-Abkommen. Der FFI-Befehlshaber Rol-Tanguy bestand darauf, auch seinen Namen auf das Schriftstück zu setzen; Leclerc ließ es zu und mußte sich deshalb wenig später von de Gaulle Vorwürfe machen lassen. An der Gare Montparnasse fertigte Choltitz die Befehle zur Kampfeinstellung aus, die den verbliebenen Stützpunkten von deutschen und französischen Offizieren überbracht wurden. Zuletzt streckten die Besatzungen des Palais du Luxembourg und der Prinz-Eugen-Kaserne die Waffen. Über zwölftausend deutsche Soldaten gingen in Kriegsgefangenschaft, oft unter entwürdigenden und bedrohlichen Umständen. Mehr als einer wurde von der Menge gelyncht. Männer und Frauen, die sich jahrelang mit dem Anblick der fremden Uniformen abgefunden hatten, wollten mit Haßausbrüchen ihren Patriotismus beweisen.

Am Nachmittag traf General de Gaulle, der die Nacht im Königsschloß von Rambouillet verbracht hatte, an der Porte d’Orléans ein. Er suchte zunächst General Leclerc an seinem Befehlsstand am Bahnhof Montparnasse auf. Dann begab sich de Gaulle zum Kriegsministerium in der Rue Saint-Dominique Nr. 14, wo er im Juni 1940 einige Tage als Unterstaatssekretär gewirkt hatte: »Sofort erfaßt mich der Eindruck, daß sich im Innern dieser ehrwürdigen Stätte nichts geändert hat … Im Hof erweist eine Abteilung der Garde Républicaine die Ehrenbezeigung, wie früher. Die Vorhalle, die Treppe, der Waffenschmuck sind so, wie sie waren. Auch die Amtsdiener von damals sind noch da. Ich betrete das ›Ministerbüro‹, das Paul Reynaud und ich zusammen in der Nacht des 10. Juni 1940 verließen. Kein Möbelstück, kein Wandteppich, kein Vorhang ist geändert. Auf dem Tisch steht das Telefon noch an derselben Stelle, und man sieht an der Tastatur die Namen von damals.« In diesem Ministerium, dem historischen Hôtel de Brienne, das schon dem letzten Kriegsminister des Ancien Régime als Residenz gedient hatte, wollte de Gaulle die Staatsgeschäfte führen, nicht im Élysée-Palast.

Der Abend ist angebrochen. Der politische Beauftragte Parodi drängt den General, das Rathaus aufzusuchen, wo die Mitglieder des Nationalrats der Résistance und des Befreiungsausschusses ungeduldig warten. Aber zuerst sucht de Gaulle die Polizeipräfektur auf. Die Musikkapelle der Polizei spielt die Marseillaise und den Lothringer Marsch. Der General dankt den Beamten für ihre Teilnahme am Befreiungskampf, bei dem 170 von ihnen gefallen sind. Keine Regierung kann auf die Ordnungsmacht verzichten. Dann geht de Gaulle die kurze Strecke zum Rathaus hinüber. Auf die Begrüßungsansprachen von Anhängern, Konkurrenten oder Widersachern antwortet der General mit Worten für die Geschichte: »Paris. Paris beschimpft, Paris zerbrochen, Paris gemartert, aber – Paris befreit! Befreit durch sich selbst, befreit durch sein Volk, mit dem Beistand ganz Frankreichs, das heißt des kämpfenden Frankreich, also des wahren Frankreich, des ewigen Frankreich!« Diese Worte sind alles andere als eine Eingebung des Augenblicks, eine Improvisation. Ein nationaler Mythos ist geschaffen: die Selbstbefreiung von Paris. Die Verleihung der Croix de la Libération, der höchsten Auszeichnung der Résistance, an die Stadt Paris am 2. April 1945 wird diesem Mythos die Weihe geben.

Am folgenden Tag, einem Samstag, hielt General de Gaulle noch einmal Einzug in Paris. Sein Triumphweg von der Place de l’Étoile bis Notre-Dame am Nachmittag des 26. August hatte etwas vom Einzug der Könige nach der Krönung und viel vom Plebiszit der Massendemokratie. Der Rundfunk rief die Bevölkerung zur Teilnahme auf. Zahllose Fußgänger machten sich in einer Großstadt ohne Verkehrsmittel ins Zentrum auf. Einheiten der 2. Panzerdivision übernahmen am Arc de Triomphe, am Rond-Point des Champs-Élysées, im Tuilerien-Garten und vor der Kathedrale die Sicherung. Am Grab des Unbekannten Soldaten entzündete de Gaulle die Flamme, was, wie er bemerkte, seit dem 14. Juni 1940 nur »in Anwesenheit des Eindringlings« geschehen konnte. Dann begann der Marsch die Champs-Élysées hinab: an der Spitze vier Panzer der Division Leclerc, dann, die ganze Straßenbreite einnehmend, die Führer der Résistance, de Gaulle einen Schritt vor den Weggefährten. »Ah! Das ist das Meer!«, hebt de Gaulles Beschreibung des historischen Augenblicks an. »Eine ungeheure Menge steht zu beiden Seiten der Straße. Vielleicht zwei Millionen Seelen. An allen Fenstern drängen sich dichte Gruppen, dazwischen Fahnen. Menschentrauben hängen an Leitern, Strommasten und Straßenlaternen. So weit mein Blick reicht: eine einzige lebende Woge im Sonnenschein, unter der Trikolore.« Der Retter empfand diesen Augenblick als Höhepunkt nationaler Einheit, als Legitimierung und wußte doch: »Unter den Wellen des Vertrauens des Volkes lauern die Klippen der Politik.«

Am Concorde-Platz bestieg de Gaulle den offenen Wagen, um in schneller Fahrt die zwei Kilometer bis Notre-Dame zurückzulegen. Wer gab in diesem Augenblick die ersten Schüsse ab? Galtier-Boissière, der im Tuilerien-Garten das Schauspiel verfolgte, sah deutlich, wie Männer mit Maschinenpistolen aus drei Fenstern des Pavillon Marsan am Nordflügel des Louvre schossen. FFI-Kämpfer, Polizisten und Soldaten der 2. Panzerdivision erwiderten das Feuer in alle Richtungen. Auch als de Gaulle den Vorplatz von Notre-Dame erreichte, ging das Schießen weiter und setzte sich sogar im Innern der Kirche fort. Fußgänger warfen sich auf das Pflaster, Gottesdienstteilnehmer nahmen hinter dem Kirchengestühl Deckung. Ungerührt schritt der General durch das Mittelschiff zum Chor und nahm auf dem Ehrensitz Platz. Auch die engsten Gefährten in Uniform und Zivil bewahrten Haltung. Trotzdem hielt es de Gaulle für angebracht, den Gottesdienst abzukürzen.

Der seltsame Vorgang wurde bis heute nicht recht aufgeklärt. Die französische Presse machte Kollaborateure oder versprengte Deutsche dafür verantwortlich. In der Mitteilung des Polizeipräfekten hieß es: »Ein Schuß, versehentlich abgegeben, hat eine kurze Schießerei ausgelöst.« Auch de Gaulle spielte den Zwischenfall zunächst herunter. In seinen »Kriegserinnerungen« wurde er deutlicher: Eine »politische Richtung« habe den Eindruck erwecken wollen, daß weiterhin Gefahr drohe und der bewaffnete Widerstand die Aufgaben der Polizei und Justiz und die »Säuberung« selbst in die Hand nehmen müsse. Mehr ließ sich wohl nicht sagen, ohne das Dogma von der Einheit der Résistance anzutasten. Die Provokation bestärkte den Vorsitzenden der Provisorischen Regierung in seinem Entschluß, die bewaffneten Gruppen so schnell wie möglich in die regulären Streitkräfte einzugliedern.

In die Feststimmung schlug plötzlich gegen Mitternacht ein deutscher Luftangriff. Über hundert Flugzeuge griffen von Reims her Paris und die Banlieue an. Mehr als tausend Bomben fielen auf neun Stadtbezirke und die Randgemeinden Saint-Denis, Saint-Ouen, Pantin, Les Lilas, Saint-Maur, Montreuil und Ivry. Zweihundert Menschen wurden getötet, neunhundert verletzt, über hundert Gebäude zerstört. Das große Weinlager am Jardin des Plantes brannte drei Tage lang in bläulichen Flammen. Zwischen dem 8. September und dem 5. Oktober wurden einige Gemeinden östlich von Paris bis dicht an die Stadt von mehr als zwanzig Langstreckenraketen des Typs V2 erreicht, die zur selben Zeit London trafen. Der Beschuß hörte so plötzlich auf, wie er begonnen hatte.

Der Krieg ging weiter. Aber für Paris war er zu Ende. Paris war wieder die Hauptstadt Frankreichs. Die Befreiung 1944 löschte die Niederlage 1940 aus. Der Staatsmann de Gaulle nahm die Zügel des Staates fest in die Hand. Von einer alliierten Militärregierung war keine Rede mehr. Frankreich konnte zum Sieg beitragen und am Tisch der Sieger sitzen. Mehr als acht Monate lang dauerte der Krieg noch. Aber in Paris waren die dunklen Jahre vorüber.