VIERTES BUCH

ZWEI BELAGERUNGEN

Der Sturz des Kaiserreichs

Der Abschied des Kaisers vollzog sich mit größter Diskretion. Am 28. Juli 1870 bestieg Napoleon III., begleitet von dem vierzehnjährigen Thronfolger, in Saint-Cloud den Hofzug, der ihn auf den Kriegsschauplatz brachte. Der Salonwagen nahm den Weg auf der Großen Ringbahn um die Stadt und erreichte am Bahnhof von La Villette die Schienen der Ostbahn: Richtung Metz. Napoleon III. sollte Paris nicht wiedersehen. »Diese Dispositionen sind sonderbar genug«, wunderte sich der deutsche Zeitungskorrespondent Gustav Schneider. »War es Bescheidenheit, die sich dem Enthusiasmus und den Acclamationen der guten Pariser entziehen wollte, als Napoleon es vermied, den Weg zum Ostbahnhof mitten durch die Stadt zu nehmen?«

Dabei gab es an der Kriegsbegeisterung der Hauptstadt keinen Zweifel. Anders als die Vettern in der Provinz, wären die Pariser enttäuscht gewesen, wenn sich Frankreich mit dem formellen Verzicht eines süddeutschen Hohenzollernprinzen auf den ihm angetragenen spanischen Thron zufriedengegeben und nicht von Preußen weiterreichende Garantien gefordert hätte. Zu tief saß seit der Niederlage Österreichs 1866 die Abneigung gegen die neue Großmacht jenseits des Rheins. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung unterzeichnete Napoleon III. am 15. Juli 1870 in Saint-Cloud die Kriegserklärung, die vier Tage später in Berlin übergeben wurde.

»Banden von tausend Mann, ja von zwei- und dreitausend Mann in den späteren Abendstunden, durchziehen, mit einer Tricolore an der Spitze, die Straßen, während auf den Trottoirs eine so dichte Volksmasse als Zuschauer sich ansammelt, daß jede Circulation zur Unmöglichkeit wird«, beobachtete Schneider. »Es sind meistens Arbeiter und Studenten, die so unter dem Gesange der Marseillaise und jede Strophe mit dem Refrain: ›Nach Berlin! Nach Berlin! Nieder mit Preußen! Nieder mit Bismarck!‹ schließend, ihren Patriotismus an den Tag zu legen suchen und mit denen das vor den Caffeehäusern sitzende ›feine‹ Publikum gemeinschaftliche Sache macht, indem es mit dem Rufe antwortet: ›A bas la Prusse! Vive la France! Vive l’Empereur!‹« Plötzlich war die verbotene Revolutionshymne wieder zu hören. Die Polizei schritt erst ein, als eine Friedensdemonstration von mehreren tausend sozialistischen Arbeitern in Sicht kam: »Im Nu sind die weißen Fahnen den Trägern entrissen, die Glieder des Zuges durchbrochen und der Platz in ein Schlachtfeld verwandelt.«

Nutznießer und Anhänger des autoritären Regimes sahen im Krieg die letzte Möglichkeit, das Experiment des »liberalen Kaiserreichs« abzuwürgen. Von einem glänzenden Sieg erhoffte die Kaiserin Eugénie, die während der Abwesenheit des Kaisers die Regentschaft führte, die Sicherung des Throns für ihren Sohn. Ministerpräsident Ollivier dachte, wie der Kaiser selbst, vorsichtiger. Aber er wollte sich von der Kriegspartei, an deren Spitze der Außenminister und der Kriegsminister standen, nicht mangelndes Nationalgefühl vorwerfen lassen. Der erfahrene Adolphe Thiers, auf dem Grat zwischen Regierung und Opposition balancierend, mahnte zum Frieden. Die republikanische Linke erkannte in dem ungewissen Ausgang des Krieges die Möglichkeit, das Kaiserreich zu Fall zu bringen. Danach würde man mit dem äußeren Feind schon fertig werden.

Am 8. Mai 1870 hatten die Wähler die neue Verfassung mit fast siebeneinhalb Millionen gegen eineinhalb Millionen Stimmen gebilligt: ein überwältigendes Votum für Ruhe und Ordnung und der letzte Triumph des bonapartistischen Staates. In Paris freilich überwogen die Nein-Stimmen deutlich (184 000) die Ja-Stimmen (138 000), die Enthaltungen (83 000) nicht gerechnet. »Die Pariser waren immer Rebellen. Das ist ihr gutes Recht«, kommentierte Napoleon III. das Ergebnis. Auch in Lyon, Marseille, Bordeaux und Toulouse waren die Nein-Stimmen in der Mehrheit. Das letzte Plebiszit des Kaiserreichs machte die Kluft zwischen den großen Städten und dem flachen Land überdeutlich.

 

Mit den ersten französischen Niederlagen Anfang August war die Hoffnung, die Kriegsentscheidung auf deutschem Boden herbeizuführen, zerstoben. Paris mußte sich auf eine feindliche Invasion einstellen. Die Regierung Ollivier trat am 9. August zurück. Unter dem 74 Jahre alten General Cousin de Montauban, der sich beim Feldzug in China 1860 den Titel Graf von Palikao verdient hatte, wurde ein Kabinett autoritärer Bonapartisten gebildet. Unter Zeitdruck traf der General Maßnahmen, die Hauptstadt in Verteidigungszustand zu setzen. Die Festungswerke mußten ausgebessert, die Außenforts instand gesetzt werden. Munitionsvorräte wurden angelegt, Artillerie zusammengezogen. Schwere Geschütze der Küstenverteidigung rollten auf dem Schienenweg nach Paris. Den entgegengesetzten Weg nahmen die berühmtesten Gemälde des Louvre, die nach Brest und Toulon in Sicherheit gebracht wurden. Im Palais de l’Industrie, in Theatern und Hotels und sogar im Tuilerien-Palast wurden Lazarette vorbereitet. Vor allem mußten Nahrungsvorräte für die zwei Millionen Einwohner und die Soldaten angelegt werden: Getreide und Mehl, Trockenfrüchte und Reis, Fässer mit Salzfleisch, Öl oder Fett, Säcke voll Zucker und Kisten voll Konserven. Die Bauern trieben ihre Herden zur Stadt. Eine der Zeichnungen, mit denen Gustave Doré Szenen der Belagerung festhielt, zeigt eine Allee im Bois de Boulogne, in die Rinder und Schafe wie ein Sturzbach einbrechen. Der schönste Park von Paris bot einen traurigen Anblick: Der junge Bewuchs war einen Meter über dem Boden abgehauen, die Stämme und Äste in Palisaden, spanische Reiter und Faschinen verwandelt worden.

Die wohlhabenden Bürger brachten ihre Familien in der Provinz oder im Ausland in Sicherheit. Ausländer verließen die Stadt. Den sechzig- bis siebzigtausend Deutschen in Paris – Arbeiter und Handwerker, Dienstmädchen und Kellner, Geschäftsleute und Künstler, mit oder ohne Familie – stand die Entscheidung nicht frei. Mitte August begann die Ausweisung, eine Maßnahme, die inmitten der erregten Bevölkerung auch der Sicherheit der Betroffenen diente. Die Gesandtschaft der Vereinigten Staaten unter dem unerschütterlichen Elihu Washburne kümmerte sich als Schutzmachtvertretung um die Preußen und andere Norddeutsche, die Vertretung der Schweiz um die Süddeutschen. Gustav Schneider, der Korrespondent der »Kölnischen Zeitung« und der »National-Zeitung«, blieb mit einem zweifelhaften amerikanischen Ausweis zurück, besser legitimiert Wilhelm Cahn, der Kanzler der bayerischen Gesandtschaft, als delegiertes Mitglied der Schweizer Vertretung. Wir verdanken den beiden für diese ereignisreichen Monate Tagebuchaufzeichnungen aus deutscher Sicht.

Am 18. August ernannte der Kaiser im Militärlager von Châlons in der Champagne den General Louis Jules Trochu (1815–1896) zum Militärgouverneur von Paris. Trochu galt als Regimekritiker, seit er in einem Buch die Schwächen der französischen Armee aufgezeigt hatte, und war deshalb bei der Opposition beliebt. Sein Verhältnis zu dem Regierungschef Palikao war damit von vornherein belastet. Der Ministerpräsident schränkte die Befugnisse des Militärgouverneurs ein und geizte mit Auskünften über die militärische Lage. Und die war unübersichtlich genug. Hinter Beratungen und Verzögerungen, Beschlüssen und Bewegungen dieser Wochen läßt sich ein Verhaltensmuster erkennen, das man wohl das »Paris-Syndrom« nennen kann: Nicht die objektiven militärischen Gegebenheiten bestimmten die Entscheidungen, sondern die politischen Absichten. Die öffentliche Meinung der Hauptstadt hatte einen Krieg ausgelöst, für den das Land nicht gerüstet war. Und sie nahm in der Folge in einer bis dahin nicht üblichen Weise Einfluß auf die Kriegführung: antreibend oder hemmend, durchwegs ohne genaue Kenntnis der Lage.

Weit entfernt, die Aufstellung der Armee unter Marschall Mac-Mahon 150 Kilometer vor der Hauptstadt als Schutz gegen den heranrückenden Feind zu begrüßen, empörte sich die Öffentlichkeit über die scheinbare Untätigkeit der militärischen Führung. Mac-Mahon mußte dem Marschall Bazaine zu Hilfe kommen, der in Metz eingeschlossen war. Das Lager von Châlons wurde aufgelöst, Mac-Mahon setzte sich nach Osten in Marsch. Von Schmerzen gequält und von Opiaten betäubt – Napoleon III. litt an Blasensteinen – schleppte sich der Kaiser mit der Armee weiter, obwohl er nach den ersten Niederlagen den Oberbefehl abgegeben hatte. Wohin hätte er sich auch wenden sollen? »Denken Sie nicht daran, hierher zurückzukommen, wenn Sie nicht eine schreckliche Revolution entfesseln wollen«, lautete das letzte Telegramm der Gemahlin. Für Eugénie kam es nur noch darauf an, die Krone für ihren Sohn zu retten. Schicksalsergeben zog der Erbe Napoleons seinem Waterloo entgegen.

 

Die Nachricht von der Niederlage bei Sedan am 2. September 1870 – der Kaiser und die Armee mit über 80 000 Mann gefangen – verbreitete sich in Paris einen Tag später. Palikao versuchte, daß Debakel so lange wie möglich zu verheimlichen. Reisende brachten die Kunde aus Belgien mit. »Wer kann die Niedergeschlagenheit in den Mienen beschreiben, das ziellose Hin und Her auf dem Asphalt, die angsterfüllten Gespräche der Krämer und der Hausmeister vor der Haustür oder vor dem Laden, die dunkle Menge an den Straßenecken, vor den Bürgermeistereien, der Ansturm auf die Zeitungskioske?«, schrieb Edmond de Goncourt, der seit dem Tod des jüngeren Bruders Jules, einen Monat vor Kriegsbeginn, nun allein die selbstauferlegte Pflicht erfüllte, Alltagsäußerungen im Tagebuch festzuhalten. Und dann der Übergang von Ungläubigkeit zu Zorn: das Grollen der Menge, die Banden, die sich hinter Fahnen mit Trauerflor auf den Boulevards sammeln, die Schreie: »Abdankung! Es lebe Trochu!« Die Regierung zeigte sich ratlos. In der Nachtsitzung der Gesetzgebenden Körperschaft stellten siebenundzwanzig republikanische Abgeordnete den Antrag auf Absetzung der Dynastie.

Die Entscheidung fiel am 4. September, einem Sonntag. Eine unübersehbare Menschenmenge sammelte sich auf der Place de la Concorde gegenüber dem Palais-Bourbon, wo am frühen Nachmittag die Gesetzgebende Körperschaft zusammentreten sollte. Einen früheren Sitzungsbeginn hatte die Opposition zu verhindern gewußt, um ihren Anhängern, besonders den neuen Bataillonen der Nationalgarde, Zeit zum Sammeln zu geben. Die Zeit für konstitutionelle Spitzfindigkeiten war vorbei. Den Ruf: »Abdankung! Abdankung!«, den einige republikanische Abgeordnete auf der Freitreppe des Palais-Bourbon ausstießen, konnte die Menge jenseits des Flusses nicht hören. Aber das Hüteschwenken wurde sofort als Signal zum Vorrücken verstanden. Arbeiter, Studenten und Nationalgardisten drangen ins Parlament ein. Die Sicherheitskräfte, ohne eindeutige Befehle, setzten ihnen wenig Widerstand entgegen. Die Mehrheit der Abgeordneten zog sich eingeschüchtert zurück. Mit gewaltiger Stimme verkündete der junge Léon Gambetta, einer der Wortführer der Linken: »Louis-Napoléon Bonaparte und seine Dynastie haben für immer aufgehört, über Frankreich zu herrschen.«

Der nächste Akt, die Ausrufung der Republik, sollte an einem anderen Ort stattfinden: im Rathaus, seit jeher das Erdbebenzentrum jedes Umsturzes. Unter der Führung der Abgeordneten Jules Favre und Jules Ferry setzte sich die Menge vom Concorde-Platz an den Quais und in der Rue de Rivoli in Marsch. Eine zweite Kolonne, Léon Gambetta vornweg, zog am linken Ufer in der gleichen Richtung. Aber wer waren die Führer, wer die Geführten? Die gemäßigten Republikaner wollten den Extremisten bei der Machtergreifung zuvorkommen. Noch gab es keine Ausschreitungen. Doch dem Ordonnanzoffizier Graf d’Hérisson, der mit General Trochu vom Hauptquartier im Louvre zum Rathaus ritt, fielen die abgerissenen, schweigenden Gestalten vor dem Gitter der Tuilerien auf. Die Kaiserin befand sich zu dieser Stunde nicht mehr im Schloß. Die Minister und die Vertreter Österreichs und Italiens hatten sie endlich zur Flucht bewegt. Nur von ihrer Gesellschafterin begleitet verließ Eugénie durch einen Seiteneingang den Louvre und fand nach einigem Umherirren bei ihrem amerikanischen Zahnarzt Dr. Thomas Evans in der Avenue Malakoff (16. Arr.) Zuflucht. Am nächsten Tag brachte Evans die beiden Damen in seinem Wagen nach Deauville und sorgte für die sichere Überfahrt nach England auf der Segeljacht eines Lords.

Gegen vier Uhr kamen die Abgeordneten beim Hôtel de Ville an. »Ein zerlumpter Pöbel«, erinnerte sich der liberale Duc de Broglie an die Menge vor dem Hôtel de Ville. »Brutales Schreien, vom Wein gerötete Gesichter, eher Trunkenheit als revolutionäre Leidenschaft, das war der erste Eindruck der neuen Verhältnisse. Die Stille in der übrigen Stadt verstärkte den unangenehmen Eindruck.« Und nun ins Rathaus, um dem Staatsstreich einen Anschein von Legitimität zu geben. Im Ratssaal im ersten Stock proklamierte Jules Favre, unter Berufung auf den Volkswillen und das Vorbild der Französischen Revolution, die Republik. Wieder einmal zwang eine revolutionäre Minderheit in der Hauptstadt dem ganzen Land ihren Willen auf. Dann setzte man sich in der Kanzlei der Präfektur – seit dem Regierungswechsel im August gab es keinen Präfekten – zur Regierungsbildung zusammen. Es war ein Geniestreich, die Regierungsgewalt den Abgeordneten von Paris zu übertragen. So blieben die gemäßigten Republikaner unter sich und die Revolutionäre ausgeschlossen.

Die »Regierung der nationalen Verteidigung«, wie die Provisorische Regierung sich nannte, war eine Ansammlung von Advokaten und Journalisten, geübt in Agitation und Winkelzügen, aber ohne Erfahrung in der öffentlichen Verwaltung, geschweige in Diplomatie oder Militärfragen. Jules Favre, 61 Jahre alt, der neue Außenminister, hatte eine glänzende Karriere als Strafverteidiger hinter sich. Sein Plädoyer für den Attentäter Orsini hatte diesen zwar nicht vor dem Schaffott bewahrt, aber dem Anwalt zu einem Abgeordnetensitz verholfen. Seit 1869 erwuchsen dem Oppositionsführer Favre zwei jüngere Konkurrenten: Jules Ferry, der als Publizist durch seinen Angriff gegen den Präfekten Haussmann bekannt geworden war, und Léon Gambetta, der Sohn eines italienischen Kaufmanns in Lyon, dem seine Redegabe vor Gericht wie im Parlament Erfolg verschaffte. Gambetta, mit 32 Jahren das jüngste Mitglied der Regierung, übernahm das Innenministerium, während Ferry als Präfekt mehr ihm Hintergrund blieb.

Da man sich im Krieg befand, lag es nahe, General Trochu mit der Leitung der Regierung und des Kriegsministeriums zu betrauen, wobei er seine Stellung als Militärgouverneur von Paris behielt. Der vorsichtige Thiers, auf dessen Rat in diesen Wochen niemand gehört hatte, weigerte sich, in die Regierung einzutreten. Er übernahm stattdessen eine außenpolitische Mission, die ihn nach London, Wien, Sankt Petersburg und Florenz führte. Dem Schriftsteller Étienne Arago fiel das Amt des Bürgermeisters von Paris zu, das nach 1789 und 1848 zum drittenmal auflebte. Bei der Ernennung der zwanzig Bezirksbürgermeister, darunter der 29 Jahre alte Arzt Georges Clemenceau im 18. Arrondissement (Montmartre), berücksichtigte Arago seine politischen Freunde, war aber klug genug, die bewährten Verwaltungschefs der Ära Haussmann im Amt zu lassen. Nach einem Umsturzversuch gab Arago im November die Leitung des Rathauses an Jules Ferry ab. Auf ihren Kollegen Henri Rochefort (1832–1913), den Herausgeber von »La Lanterne«, den die Menge mit anderen politischen Gefangenen aus dem Gefängnis Sainte-Pélagie befreite, hätten die neuen Machthaber gern verzichtet: der Graf Henri de Rochefort-Luçay war der einzige wirkliche Revolutionär in der neuen Regierung. Er wurde mit der Leitung der »Kommission für Barrikadenbau« abgefunden.

Am selben Abend wurde das Parlament von der Regierungsbildung in Kenntnis gesetzt und anschließend aufgelöst. Die De-facto-Regierung, die aus einer selbstinszenierten Revolte hervorgegangen war, entledigte sich damit ihrer einzigen Legitimitätsgrundlage. Mit ungeteilter Verantwortung, aber wenig Macht stand sie den revolutionären Kräften gegenüber: Männern wie Auguste Blanqui, Charles Delescluze oder Félix Pyat. Diese Berufsrevolutionäre von über sechzig Jahren hatten seit ihrer Jugend an jeder Revolution und manchem Aufstand teilgenommen. Sie hatten unter jedem Regime in der Opposition, im Untergrund, in der Haft oder im Exil überlebt. Mit Gustave Flourens, 32 Jahre, erstand ihnen ein romantischer Nachfolger. Im Januar 1870 war Flourens nur durch seinen Freund Rochefort daran gehindert worden, aus dem Trauergeleit für den Journalisten Victor Noir, den ein unwürdiger Cousin des Kaisers feige erschossen hatte, einen Volksaufstand zu machen. Die künftigen Anführer der Kommune standen bereit.

In den Erinnerungen der Zeitgenossen überwogen in den nächsten Tagen noch die fröhlichen Eindrücke. Dazu trug das leuchtende Spätsommerwetter bei und die kurzlebige Erwartung, daß der Krieg nun zu Ende sei und der Feind sich zurückziehen werde. In diesem Sinne erließ das Pariser Büro der Internationalen Arbeiter-Assoziation einen »Aufruf an das deutsche Volk«, der ohne Echo verhallte. Das majestätische »N« und die Kaiserkrone an den öffentlichen Gebäuden wurden abgeschlagen, die Ladenschilder der Hoflieferanten verschwanden von allein. Die »Sergents de Ville«, die Stadtpolizisten, wurden angepöbelt. Sie taten gut, den Säbel abzuschnallen und den napoleonischen Knebelbart abzuschneiden. Behäbige Nationalgardisten patrouillierten in den Straßen. Die steinerne Verkörperung der Stadt Straßburg auf dem Concorde-Platz wurde nach dem Fall der Festung zum Ziel patriotischer Kundgebungen.

Die Belagerung beginnt

Der Exodus des Bürgertums verstärkte sich seit dem 4. September zu einer Fluchtbewegung, die viele mitriß, die dem gestürzten Regime nahestanden. Der ehemalige Präfekt Haussmann, der noch am Tag vor dem Umsturz eine Rede im Senat hielt, begab sich nach Bordeaux. Der Polizeipräfekt Piétri bestieg den Expresszug nach Genf und wurde auf dem Bahnsteig von zwei seiner bisherigen Untergebenen, die eben dies verhindern sollten, respektvoll verabschiedet. Aber verbreiteter als die Sorge vor den politischen Folgen des Umsturzes war die Angst vor dem heranrückenden Feind. Auf die Bahnhöfe der nach Westen und Süden führenden Linien setzte ein Ansturm ein. Gleichzeitig schwoll der Flüchtlingsstrom aus der näheren Umgebung an. Landbewohner, die noch nie in der Stadt gewesen waren, kampierten in Anlagen oder wurden in leerstehende Häuser und Wohnungen eingewiesen.

Einen Tag nach dem Ende des Kaiserreiches traf Victor Hugo mit dem Abendzug aus Brüssel ein, wo der Unversöhnliche seit einigen Wochen auf den Augenblick der Rückkehr gewartet hatte. Eine Menschenmenge begrüßte den rüstigen Endsechziger am Nord-Bahnhof. Von einer Café-Terrasse hielt der Dichter die erste Rede: »Paris zu retten ist mehr, als Frankreich zu retten, das heißt: die Errettung der Welt. Paris ist der Mittelpunkt der Menschheit. Paris ist die geheiligte Stadt! Wer Paris angreift, vergreift sich an der Menschheit!« Wenige Tage später mahnte Hugo in gleicher Tonart die Deutschen: »Wollt ihr wieder Vandalen werden, wollt ihr die Barbarei verkörpern, die die Zivilisation enthauptet?« In den nächsten Monaten sollte der Nationaldichter sein nie versiegendes Pathos immer wieder in den Dienst der Heimatstadt und des Vaterlandes stellen.

Zur Überraschung des Feindes zeigte sich die neue Regierung entschlossen, den Krieg fortzusetzen. »Wir werden keinen Zollbreit unseres Bodens und keinen Stein unserer Festungen hergeben«, hieß es in dem Rundschreiben des Außenministers Favre vom 6. September 1870. Nach längeren Beratungen beschloß die Regierung, in Paris auszuhalten, obwohl die nationale Verteidigung, ihre Hauptaufgabe, in der Provinz leichter ins Werk zu setzen war als in der Hauptstadt, deren Einschließung sich mit jedem Tag deutlicher abzeichnete. Doch nur Gambetta trat für die Verlegung des Regierungssitzes ein. Die übrigen scheuten den Vorwurf, die Hauptstadt im Stich zu lassen, auch dies eine Folge des »Paris-Syndroms«. Die Regierung begnügte sich, drei bejahrte Mitglieder nach Tours zu schicken. Erst als im Oktober Gambetta zu ihnen stieß, wurde der Widerstand im Lande energisch angefacht. An eine planvolle Abstimmung zwischen drinnen und draußen war nicht zu denken, die militärischen Operationen litten darunter.

Mit den fast vierzig Kilometer langen Festungswerken und sechzehn Außenforts war Paris die größte Festung der Welt. Doch die Vorstellung, eine moderne Großstadt, die drei Jahre zuvor die Gastgeberin der glanzvollsten Weltausstellung war, militärisch eingeschlossen zu sehen, war für die meisten unfaßbar. Allein die Ausdehnung der Stadt schien gegen eine solche Möglichkeit zu sprechen. Um einen Belagerungsring um Paris zu ziehen, so rechneten Fachleute vor, seien achthunderttausend Soldaten nötig, zu diesem Zeitpunkt fast das Doppelte der deutschen Streitmacht in Frankreich. Andererseits waren Freund und Feind davon überzeugt, daß der Ausgang des Krieges in und um Paris entschieden würde. Aber niemand glaubte, daß die Stadt eine längere Belagerung aushalten konnte. Selbst Thiers, der Schöpfer der Befestigungsanlagen, vertrat im kleinen Kreis die Ansicht: »Wenn Paris nur acht Tage aushält! Das ist alles, was man verlangen kann.« Auch General Trochu machte sich keine Hoffnungen: »Die Preußen werden nach Paris hineinkommen, wann und wie sie wollen. Es gibt keinen einigermaßen ausgebildeten Offizier, der das nicht weiß.« Tatsächlich hielt Paris länger als vier Monate stand, 132 Tage.

Die Zange schloß sich langsam, aber unaufhaltsam. Die Eisenbahn- und Telegrafenverbindungen brachen ab. Am 19. September legten sich die III. Armee unter Kronprinz Friedrich von Preußen, dem späteren Kaiser Friedrich III., im Süden und die IV. Armee unter Prinz Albert von Sachsen im Norden um Paris. Am nächsten Tag reichten sich die beiden Belagerungsheere in Versailles die Hand. Dort befand sich seit dem 4. Oktober das königliche Hauptquartier. Von der Terrasse von Saint-Cloud blickten der Kronprinz und sein Stab »auf das unmittelbar zu unseren Füßen liegende, hell im Sonnenschein erglänzende Paris mit seinem Häusermeer, der reich vergoldeten Kuppel des Invalidendomes und den zahlreichen Forts«. Aber dahinter erhob sich die sorgenvolle Frage: »Wenn Paris etwa längeren Widerstand leisten könnte, was dann?«

In einer Ellipse von achtzig Kilometer Umfang schlossen 150 000 preußische, bayerische, würtembergische und sächsische Soldaten mit über sechshundert Geschützen die Festung Paris ein. Im Süden waren die Belagerer zwei Kilometer von den Forts entfernt, im Norden und Osten gut doppelt so weit. Der preußische Generalstabschef Graf Helmuth von Moltke war sich bewußt, wie dünn dieser Belagerungsring war, bis Verstärkung kommen konnte.

Fünfhunderttausend Bewaffnete

In Paris gab es mehr als dreimal so viele Bewaffnete. Aber nur auf den fünften Teil dieser halben Million Verteidiger war Verlaß. Die regulären Truppen, insgesamt 130 000 Mann, bestanden zum großen Teil aus den Überresten der bei Sedan geschlagenen Armee, und entsprechend schlecht war ihre Verfassung. Die Forts und ein Dutzend Kanonenboote – umgerüstete Flußdampfer – waren mit 15 000 Mann Marine-Truppen unter dem Befehl von Admirälen besetzt. Die Seeleute taten ohne viel Aufhebens ihre Pflicht. Das ließ sich von der Mobilgarde mit über 100 000 Mann nicht behaupten. Die »Garde nationale mobile« war 1868 als Reserve für das Heer geschaffen worden, aber bloße Absicht geblieben. Nach Kriegsausbruch wurden 150 000 Mann einberufen, zur Ausbildung blieb keine Zeit. Im Gegensatz zu den 90 000 Mobilgardisten aus der Provinz, zeigten sich die 15 000 »Moblots« des Seine-Départements unzufrieden und aufsässig.

Probleme eigener Art brachte die Nationalgarde, insgesamt mehr als 300 000 Mann, die für den Wachdienst auf den Festungswällen oder für Patrouillen in der Stadt eingeteilt wurden. Unter dem Kaiserreich war die Pariser Bürgerwehr, auf 60 000 Mann (51 Bataillone) verringert und sorgfältig gesiebt, nur ein ungefährlicher Traditionsverein. Im August 1870 beschloß die Gesetzgebende Körperschaft, die Nationalgarde auf 90 000 Mann (60 Bataillone) zu verstärken und mit neuen Hinterladergewehren zu bewaffnen. Die neuen Bataillone in den Außenbezirken durften wie die Mobilgarde ihre Offiziere wählen; die rangälteren Offiziere traten daraufhin zurück. Ende September gab es 280 Bataillone Nationalgarde mit einer Gesamtstärke von 360 000 Mann. Die Randbezirke mit Arbeiterbevölkerung überwogen die bürgerlichen Stadtteile. Mit dem Tagessold von 1,50 Franc zuzüglich der Familienunterstützung wurde die Miliz zur Versorgungsanstalt: die militärische Form der Nationalwerkstätten von 1848.

Das Trinken und Politisieren im Kameradenkreis, eine Folge des lässigen Dienstes, führten bald zur Auflösung der Disziplin. Der Schrifsteller Alphonse Daudet erinnerte sich an »die Nächte in der Wachstube, die Säufer, die Dirnen, die Patrouillen, die betrunkenen Soldaten, die fruchtlosen, schwülstigen Reden, die blöden Versammlungen, die Offizierswahlen, das endlose Gerede, die politischen Diskussionen, das müßige Herumlaufen, … die Maske von Dreck und Müdigkeit nach diesen schmutzigen Nächten und die Schlachtenpläne, mit Streichhölzern auf Kneipentischen entworfen«. (Entwurf zu der Erzählung »Mon képi« vom Januar 1872) Bei dem Dichter Verlaine verstärkte der Wachdienst die Neigung zum Alkohol. Was das »Volk« in unruhigen Zeiten schon früher verlangt hatte, erhielt es jetzt im Überfluß: Waffen und Munition. Karl Marx in London knüpfte an diese Situation konkrete Hoffnungen: »Wie aber der Krieg immer endet, er hat das französische Proletariat in den Waffen geübt, und das ist die beste Garantie für die Zukunft.« (Brief an Ludwig Kugelmann vom 13. Dezember 1870)

Das Straßenbild nahm kriegerische Züge an, bei denen sich Ernst und Unernst mischten. »Sie würden Paris nicht wiedererkennen, mein Freund«, schrieb der Photograph Nadar. »Jeder Mann ist bewaffnet, alle Straßen stumm, alle Läden geschlossen. Auf allen Plätzen, Boulevards, Gehsteigen sieht man von morgens bis abends nur Mobil- und Nationalgarden beim Üben. Keine Frauen mehr auf der Straße, sogar am Tag, nur ernste, schweigende Citoyens, das Gewehr auf der Schulter, begegnen einander. Bataillone, die vor die Festungswälle hinausmarschieren, die Decke auf dem Rücken, ziehen an Bataillonen vorbei, die von draußen zurückkommen. Und im ganzen Volk nur ein Gedanke: die Niederlage [von Sedan] zu rächen.« (»L’Indépendance belge« vom 29. September 1870) Wie ähnlichlautende Pariser Zeitungsberichte enthielt Nadars Schilderung eine gehörige Portion patriotischen Wunschdenkens. Der Korrespondent des »Journal de Genève« nahm zur selben Zeit an der Sorglosigkeit der Bevölkerung Anstoß: »Die Stadt ist wie sonst, das heißt lärmend, lachend, ausgelassen. Man möchte fast an eine künstliche Überreizung glauben, als ob die Leute sich gewaltsam betäuben wollten.« Dem Journalisten fiel das »Zurschaustellen neuer Uniformen« auf. Als Ausweis des Vaterlandsverteidigers erfreute sich das schlichte Kepi auch bei Zivilisten großer Beliebtheit.

In diese Stimmung scholl am 2. Oktober Victor Hugos flammender Aufruf an die Pariser: »Paris wird sich verteidigen, Paris wird sich siegreich verteidigen. Alle in den Kampf, Citoyens!« Europa müsse sich auf das »unmögliche Schauspiel« gefaßt machen, »die außerordentliche Stadt in Flammen zu sehen«. Der Schlußsatz lautete: »Paris wird die Welt in Schrecken versetzen.« Welche Kulturnation, so die Erwartung des Nationaldichters, könnte der drohenden Zerstörung von Paris gleichgültig zusehen!

Seit sich der Belagerungsring geschlossen hatte, war Paris ohne Nachrichten von der Außenwelt und konnte selbst keine Nachrichten geben. Freiballons sollten, wie in der belagerten Festung Metz, Abhilfe schaffen. Wieder einmal erwies sich der Photograph Nadar, ein begeisterter Luftschiffer, als Pionier. Am 23. September schickte Nadar seinen Luftsportfreund Jules Dufour, genannt Duruof, mit dem alterschwachen »Neptune« nach draußen. Mit drei Postsäcken an Bord schaffte Dufour nach dreistündigem Flug über hundert Kilometer die gezielte Landung in der Nähe von Évreux. Für Victor Hugo war das ein Anlaß für einen neuen Begeisterungsausbruch: »Paris umschlossen, Paris eingeschlossen, Paris von der Welt abgeschlossen, und doch, mit Hilfe dieses Ballons, dieser Luftblase, korrespondiert Paris mit dem Rest der Welt!« Seit dem 29. September funktionierte ein offizieller Postdienst, mit zwei bis drei Flügen in der Woche. Die Rückverbindung durch Brieftauben, die die Luftschiffer in Käfigen mitnahmen, war weniger zuverlässig.

Am 7. Oktober erhob sich, nach mehrtägigem Warten auf günstigen Wind, an der Place Saint-Pierre auf halber Höhe der Butte Montmartre der »Armand Barbes« in die Lüfte. Neben dem Luftschiffer stand, in einen Pelzmantel gehüllt, der Regierungsbeauftragte Gambetta. Rufe: »Vive la France! Vive la République!«, dann das Kommando: »Leinen los!« Nach dem Start von feindlichen Feldwachen beschossen, verfing sich der Ballon gegen Abend im Geäst einer Eiche in der Nähe von Montdidier (107 Kilometer). Über Amiens und Rouen erreichte Gambetta zwei Tage später Tours und begann dort, den »Widerstand bis zum äußersten« ins Werk zu setzen. Insgesamt verließen während der Belagerung 66 Freiballons mit zweieinhalb Millionen photographisch verkleinerten Briefen die Hauptstadt. Nur sieben Ballons fielen in Feindeshand, davon zwei auf deutschem Boden in Hessen und in Bayern; zehn gingen in neutralem Gebiet in Belgien oder Holland nieder, einer in Norwegen. Zwei Ballons blieben über dem Meer verschollen.

Hunger und Kälte

Mehr als die Bedrohung draußen und die Spannungen drinnen beschäftigten die täglichen Nahrungssorgen die Eingeschlossenen. Nach den Berechnungen der Behörden reichten die Vorräte für drei Monate. Aber wer hatte bei den zersplitterten Zuständigkeiten zwischen mehreren Ministerien, der Versorgungskommission und der Stadtverwaltung noch einen Überblick? Bis Ende Oktober herrschte noch kein Hunger, nur Mangel. Vor allem Mangel an Fleisch, denn das Schlachtvieh war bald verzehrt. »Das Pferdefleisch schleicht sich in die Pariser Ernährung ein«, stellte Edmond de Goncourt schon am 1. Oktober fest. In den folgenden Wochen wird der Schriftsteller dieses wässrige, magere Fleisch wie ein Leitmotiv immer wieder erwähnen, der fade Geruch verfolgt ihn bis in seine Albträume.

Es gab Schlimmeres als Pferdefleisch. »Was wir essen, ist vielleicht nicht mehr Pferd. Vielleicht ist es Hund? Vielleicht ist es Ratte? … Wir essen Unbekanntes«, sorgte sich Victor Hugo Ende Dezember. Hunde, Katzen und Ratten, durch scharfe Saucen genießbar gemacht, gehörten seit der ersten Novemberhälfte zur Notnahrung der belagerten Stadt: der Inbegriff des Unzumutbaren, das einer verwöhnten Bevölkerung zugemutet wurde. Aber wie viele Pariser haben damals tatsächlich Ratten gegessen: zu 1,50 Franc das Stück, vom Käufer lebend ausgesucht und von einem Hund totgebissen? Wie viele hatten ein Stück Elefantenrüssel auf dem Teller? Die Zootiere aus dem Jardin des Plantes und dem Jardin d’Acclimatation – exotische Vögel und Wild, sechs Yaks, drei Zebras, ein Büffel, Wildschweine, Rentiere, Antilopen, ein Känguru und zuletzt die indischen Elefanten Castor und Pollux –, sie alle mußten im Oktober und November dran glauben und wurden von der »Boucherie Anglaise« am Boulevard Haussmann mit Gewinn vermarktet. Nur an Wein und Schnaps herrschte kein Mangel. Im leeren Magen wirkte der Alkohol tückischer als gewohnt.

»Die Hungersnoth ist noch nicht da, aber ihre Vorläuferin, die Theuerung«, schrieb der Generalstabschef Moltke in der zweiten Dezemberhälfte an seinen Bruder in Schlesien. »Die [Bankiers] Rothschild und Pereire haben noch immer ihr dindon truffé [Truthahn mit Trüffeln], die untersten Klassen sind von der Regierung bezahlt und ernährt, aber der ganze Mittelstand darbt und zwar schon seit langem. Solche Zustände sind auf die Dauer nicht haltbar.« Die Linke forderte Lebensmittelrationierung und Beschlagnahmung privater Vorräte. Die Regierung verstand sich ungern zu solchen Zwangsmaßnahmen. Dem Steigen der Preise – ein Korb Kartoffeln kostete anfangs 2,75 Franc, am Ende 30 Franc, ein Dutzend Eier 25 Franc statt 1,80 Franc – begegneten die Behörden mit der Verteilung verbilligter Lebensmittel und mit Volksküchen (»fours économiques«). Für Rindfleisch zweiter Wahl, Hammelfleisch und Pferdefleisch wurden die Preise festgesetzt. Der Brotpreis, ein sozialpolitisches Thermometer, blieb bei 45 Centimes je Kilo. Aber das dunkle, schwere Brot enthielt zur Hälfte Beimischungen von Reis und Hafer, sogar von gehäckseltem Stroh. Die Frauen, die, in ihre Umschlagtücher gehüllt, im Morgengrauen frierend vor den Bäckereien warteten, von Nationalgardisten in Reihen gehalten, gehörten zum Bild der Belagerung. Als am 19. Januar 1871 Brotrationen eingeführt wurden – 330 Gramm täglich für einen Erwachsenen, die Hälfte für Kinder unter fünf Jahren – spürte jeder, daß das Ende nahe war.

 

Die Pariser hungerten nicht nur, sie froren. Auf einen sonnigen Herbst folgte ein regnerischer November. Und dann kam der kälteste Winter seit Menschengedenken. Im Dezember fiel das Thermometer auf minus 17 Grad. Die Seine blieb drei Wochen hindurch vereist. Die Bedürftigen erhielten Gutscheine, mit denen sie acht oder zehn Stunden lang anstehen mußten, bis ihnen ein Nationalgardist ein Bündel Brennholz verkaufte. Aber das grüne Holz gab wenig Wärme. Mehr als ein verlassener Mensch ist damals erfroren. Das Volk machte sich über Bauzäune und Bauholz her, Bürger verheizten ihre alten Möbel. Einer der letzten Eindrücke des Korrespondenten Schneider im endenden Jahr 1870 war dieser: »In den Champs-Élysées im Cours-la-Reine fängt das Volk an, die hohen alten Bäume umzuhauen. Mehrere riesige Stämme liegen am Boden; einige hundert Menschen, meist alte Leute, sowie Frauen und Kinder sind wie die Fliegen um den Milchnapf, darum geschart, und emsig beschäftigt. Nachdem das Reisholz abgeschlagen, geht die Zerarbeitung des mächtigen Stammes vor sich … und in wenigen Stunden ist der Baum in lauter Späne verwandelt«. Die kohlefressende Gasbeleuchtung wurde durch Öl und Petroleum ersetzt. Die Ville lumière versank in Dunkelheit.

Durch Unterernährung und Kälte, auch durch den Alkoholkonsum geschwächt, waren die Menschen für Krankheiten anfällig. Vom 18. September 1870 bis zum 24. Januar 1871 starben in Paris 64154 Einwohner (die Verwundeten und Kranken in den Lazaretten nicht gerechnet), dreimal so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres (21978). Im August 1870, dem letzten normalen Monat, betrug die Sterblichkeit weniger als 5000; im Januar 1871, zu Ende der Belagerung, fast 18 000. Die häufigsten Todesursachen waren Pocken, Erkältungskrankheiten wie Bronchitis oder Lungenentzündung und Typhus. Kinder, die unter dem Fehlen der Milch litten, und Alte waren besonders gefährdet. Wie in den Zeiten der Cholera gehörten die Leichenwagen zum Straßenbild. »Am Friedhofseingang folgen die Kindersärge aufeinander, und die Frauen sagen: ›Noch ein Kleines!‹«, notierte Goncourt Anfang November.

Die Gegensätze bleiben

»Was diese Pariser Bevölkerung an Mut, Sorglosigkeit und guter Laune aufbringt, um allem zu widerstehen, was auf ihr lastet, wird die Geschichte kaum glauben«, schrieb der Bürgermeister Ferry in Januar 1871 an seinen Freund Gambetta in Tours. Das war sicherlich nicht unrichtig. Aber die erzwungene Einmütigkeit, die schon in der Anrede »Citoyen« zum Ausdruck kam, verlor sich nach und nach. Die lärmende Kriegsbegeisterung der Unterschicht verstärkte die Beklemmung des Bürgertums. Hoffnungen und Enttäuschungen folgten in jähem Wechsel aufeinander. Am 27. Oktober kapitulierte die Festung Metz. Marschall Bazaine ging mit 170 000 Mann in Gefangenschaft. Die II. Armee unter Prinz Friedrich Karl von Preußen wurde verfügbar, die Belagerungstruppen vor Paris gegen Überraschungen zu sichern. Die Loire-Armee, die Gambetta unter Schwierigkeiten aufgestellt hatte und auf die Paris große Hoffnungen setzte, gewann Anfang November Orléans zurück, wurde aber einen Monat später wieder zurückgedrängt.

Von der Außenwelt abgeschnitten, verlor die Bevölkerung, verloren auch die Verantwortlichen den Boden der Realität. Das Volk hielt Absurdes für möglich und weigerte sich, Tatsachen zu akzeptieren. Diese Mischung von Leichtgläubigkeit und Mißtrauen wurde später als »Belagerungspsychose« analysiert, in der man einen der Gründe für den Ausbruch der Kommune sah. Zu dieser Stimmung gehörte die Neigung, überall Verrat zu wittern. Da die Pariser Zeitungen wenig Faktisches zu berichten hatten, wurden Gerüchte gierig aufgegriffen. Seltsame Erfinder brachten eine Flut von hirnrissigen Vorschlägen für unfehlbare Verteidigungsmaßnahmen vor. Manche spielten mit der Möglichkeit, die Stadt in Brand zu setzen oder in die Luft zu sprengen, um die eindringenden Feinde zu vernichten. Der Feuersturm, den die Kommune ein halbes Jahr später ins Werk setzte, glimmte schon in manchen Köpfen.

Es gab keinen Burgfrieden zwischen der gemäßigten republikanischen Regierung und den Revolutionären. Die »Roten« verloren keine Zeit, ihre Gegenmacht auszubauen. Einen Tag nach dem Regimewechsel wurde das »Zentralkomitee der zwanzig Arrondissements« gegründet, das der Regierung als selbsternannter Partner gegenübertrat. Die Mehrheit bestand aus Mitgliedern der Internationalen Arbeiter-Assoziation, die seit fünf Jahren ein Büro in Paris unterhielt. Mit den bewaffneten »Überwachungsausschüssen« in den einzelnen Stadtbezirken schuf sich das Zentralkomitee die erste Machtbasis, mit der Erweiterung der Nationalgarde das künftige Sansculotten-Heer. Am 20. September erhob das Zentralkomitee zum erstenmal die Forderung nach Einführung der Kommune, dem Anschein nach der Ausdruck kommunaler Selbstverwaltung, tatsächlich die organisierte Form der Revolution. Die Regierung im Rathaus war ständig dem organisierten Druck von außen und der Gefahr von Revolten ausgesetzt. Sie wollte solchen Herausforderungen mit »moralischer Autorität« begegnen, nicht mit Gewalt.

In ihren politischen Klubs und Zeitungen warfen die Wortführer der radikalen Linken der Regierung Versagen, wenn nicht Verrat vor, riefen zum Widerstand und hetzten zum Aufstand. Die Blätter der revolutionären Linken, allen voran Blanquis »La Patrie en danger«, die ihr Erscheinen nach dem Revolutionskalender datierte und sich somit im Jahr 79 befand, beschworen die »levée en masse«, das Volksaufgebot von 1792, als einzige Möglichkeit, Paris zu befreien. Am 6. Januar 1871 erschien an den Häuserwänden ein rotes Plakat, im Auftrag des »Zentralkomitees der zwanzig Arrondissements« verfaßt von dem Schriftsteller Jules Valles und einigen Gesinnungsfreunden: »Wir sind 500 000 Kämpfer, und 200 000 Preußen erdrücken uns. Wer ist verantwortlich dafür, wenn nicht die, die uns regieren? … Wenn die Männer im Rathaus noch einen Rest von Vaterlandsliebe besitzen, dann müssen sie sich zurückziehen und zulassen, daß das Volk von Paris seine Befreiung selbst in die Hand nimmt.«

Zwischen dem 19. September 1870 und dem 19. Januar 1871 unternahm die Armee von Paris nicht weniger als neun Ausfälle. Das größte Unternehmen war Anfang Dezember ein Vorstoß mit 100 000 Mann über die Marne in südöstlicher Richtung. Das strategische Ziel war die Vereinigung mit der Loire-Armee. Aber Führungsschwäche und Führungsmängel waren nicht zu verkennen. Der Pessimismus – oder Realismus – des Oberbefehlshabers Trochu wirkte sich lähmend auf die militärischen Unternehmungen aus. Die Ausfälle kamen in der Regel für die Belagerer nicht überraschend. Selbst wenn Anfangserfolge erzielt wurden, liefen sich die Angriffe vor den deutschen Stellungen fest und wurden abgebrochen. Ein koordiniertes Vorgehen der Pariser Armee mit der Loire-Armee oder der Nord-Armee konnte wegen der fehlenden Nachrichtenverbindungen nicht gelingen. Die Pariser Strategen manövrierten wie im Nebel. Die regulären Truppen und die Mobilgarde schlugen sich meistens tapfer und ausdauernd, erlagen aber dem besser geführten Gegner mit überlegener Feuerkraft, den Anstrengungen und der Winterkälte. Ein Leutnant der Pariser Mobilgarde namens Henri de Gaulle wurde bei einem Ausfall verwundet, blieb aber bis zum Waffenstillstand weiter im Dienst. Seine Erfahrungen prägten die Vorstellungen seines Sohnes Charles vom Krieg und von den Deutschen.

Anders verhielt es sich mit der Nationalgarde. Gerade die größten Schreier, die am heftigsten auf Volksbewaffnung und Volkskrieg drängten wie die Bataillone von Belleville, hielten im Feuer nicht stand. Sie schienen ihre Kräfte für eine andere Auseinandersetzung aufzusparen. Mit dem Einsatz der Nationalgarde beim letzten Angriff in Richtung Versailles am 19. Januar gab General Trochu wider besseres Wissen den Forderungen der Klub-Redner nach – und setzte sich damit wenig später dem Vorwurf aus, das »bewaffnete Volk« ausbluten zu wollen. Edmond de Goncourt beobachtete am Vortag vor der Kulisse des Arc de Triomphe den Auszug der Nationalgarde bei kaltem, nebligem Wetter: »Zivilisten mit weißem Bart, die Väter, bartlose Gesichter, die Söhne, daneben Frauen, die das Gewehr des Ehemannes oder des Geliebten tragen. Und welche pittoresken Formen nimmt der Krieg durch die Menge von Zivilfahrzeugen an: Fiakern, Omnibussen, Möbelwagen, die zu Trainwagen bestimmt sind.« Das Unternehmen kostete viertausend Tote und Verwundete. Beim folgenden Kriegsrat, an dem die zwanzig Bezirksbürgermeister teilnahmen, erklärte General Trochu jeden weiteren Ausfall für sinnlos.

Beschießung und Kapitulation

Seit fast drei Wochen lag Paris unter dem Feuer deutscher Geschütze. General von Moltke dachte nicht daran, die Stadt im Sturmangriff zu nehmen, wie sein Gegenspieler Trochu anfangs erwartet hatte, noch glaubte er, sie durch Granaten zur Übergabe zu zwingen. Der Generalstabschef setzte auf die Wirkung des Hungers. Das aber dauerte länger, als der große Stratege angenommen hatte. Im Hauptquartier in Versailles und in der Heimat wuchs die Ungeduld. Bismarck machte sich Sorgen, wie lange die europäischen Mächte dem Krieg zuschauen würden, ohne sich einzumischen, einem Krieg, der sich zum Volkskrieg in der Tiefe des Landes auszuweiten drohte. In einem Bericht an den König drängte der preußische Ministerpräsident und Kanzler des Norddeutschen Bundes am 28. November, »die Inangriffnahme der Beschießung nicht der Stadt Paris, sondern der detachierten Forts als ein politisches Erfordernis anzusehen«. Wenig später war die Ost-Eisenbahn bis Lagny, dreißig Kilometer vor Paris, wieder in Betrieb. Mehr als 250 Belagerungsgeschütze mit einer Reichweite bis zu siebentausend Metern wurden aus Deutschland und Ostfrankreich herangeschafft und in Stellung gebracht.

Am Morgen des 5. Januar 1871 begann die Beschießung der Stadt. Die ersten Granaten schlugen auf dem Friedhof von Montparnasse und im Jardin du Luxembourg ein. Eine alte Frau und ein Mädchen auf dem Heimweg von der Schule waren die ersten Opfer. Victor Hugo entging auf der Montagne Sainte-Geneviève nur knapp einem Geschoß. Von dem »Bombardement«, wie Franzosen und Deutsche die Beschießung nannten, waren vor allem die weniger dicht besiedelten Stadtteile auf dem linken Ufer betroffen, wo jedoch mehrere Krankenhäuser lagen. »Zeitungen, die wir aus Paris wieder einmal heimlich erlangten, sprechen von Granaten, die in einen Haufen von Menschen, welche eben die Kirche verließen, einschlugen und natürlich Frauen und Kinder nicht verschonten. Mir kehrt eine solche Nachricht das Herz um«, notierte der preußische Kronprinz. Zwanzigtausend bedrohte Einwohner zogen auf das rechte Ufer. »Die Straßen sind voll von Karren, die den ärmlichen Hausrat nach der Innenstadt befördern, im Durcheinander manchmal ein bresthafter Alter, der nicht mehr laufen kann«, hielt Goncourt nach einem Gang durch das Quartier Latin am 12. Januar fest. Vier Tage später weckte ihn ein naher Einschlag in seinem Haus in Auteuil.

 

Das Grollen der Geschütze begleitete die Erhebung König Wilhelms von Preußen zum deutschen Kaiser am 18. Januar 1871. Zu den Abordnungen der Regimenter des Belagerungsheeres, die der Kaiserproklamation in der Spiegelgalerie des Schlosses von Versailles beiwohnten, gehörte auch der 23jährige Leutnant Paul von Hindenburg, der sechs Jahrzehnte später an der Spitze des Deutschen Reiches stehen sollte. Zwei Tage nach der Zeremonie diente die Spiegelgalerie wieder als Lazarett.

Drei Wochen lang dauerte die Beschießung von Paris, jeweils vier bis fünf Stunden hintereinander, Tag und Nacht. Drei- bis vierhundert Sprenggranaten schlugen täglich in der Stadt ein, insgesamt an die siebentausend. Auf die belagerte Festung Straßburg waren in fünf Tagen zwölftausend Geschosse niedergegangen. Verluste und Schäden blieben glücklicherweise gering. Etwa hundert Einwohner wurden getötet, dreihundert verletzt, 1400 Gebäude beschädigt oder zerstört. Die »Treffer« an den Kuppeln des Pantheon, der Sorbonne und des Militärkrankenhauses Val-de-Grace gehörten so wenig zu den militärischen Absichten der Belagerer wie die Zerstörung des Palmenhauses im Jardin des Plantes. Das Schloß von Saint-Cloud wurde nicht von den Deutschen in Brand geschossen. Es war bei den »Zielübungen« französischer Artilleristen vom Mont-Valérien in Flammen aufgegangen.

Die Hungersnot und die wachsende Umsturzgefahr vor Augen, ohne Aussicht auf Befreiung aus der Belagerung, führte Außenminister Favre vom 23. bis 28. Januar in Versailles die Waffenstillstandsverhandlungen mit Bismarck, die dritten in diesem Krieg. »Im Geheimen zwar wünscht die Mehrheit der Bevölkerung und besonders die Besitzenden auf das Allersehnlichste eine so schnelle Übergabe als nur möglich, patriotische Eitelkeit aber hindert sie, solchen Wunsch laut auszusprechen: Man lügt und täuscht sich gegenseitig mit falschen Hoffnungen, an welche man innerlich selbst nicht glaubt, und exaltiert sich gegenseitig zu einem unnatürlichen Enthusiasmus«, urteilte der deutsche Beobachter Gustav Schneider über die Stimmung. Noch ehe das Abkommen unterzeichnet war, schwiegen am 26. Januar um Mitternacht auf beiden Seiten die Geschütze. Den letzten Schuß billigte Bismarck den Belagerten zu. Vom Balkon des Außenministeriums am Quai d’Orsay blickte Favre in den Nachthimmel, an dem der Widerschein der Abschüsse erlosch.

Die »Convention von Versailles« vom 28. Januar 1871 – das Wort »Kapitulation« hatte Bismarck rücksichtsvoll vermieden –, sah einen dreiwöchigen Waffenstillstand für Paris und das ganze Land vor, die Region Belfort ausgenommen, mit der Möglichkeit der Verlängerung. In dieser Zeit sollte eine frei gewählte Nationalversammlung gebildet werden, die die Verantwortung für den Friedensschluß übernehmen konnte. Die Forts wurden den Belagerern als Faustpfand übergeben und die Festungswälle von Geschützen entblößt. Die Hauptstadt wurde nicht vom Feind besetzt. Die Gemeinde Paris wurde zu einer Kriegsentschädigung von zweihundert Millionen Franc verpflichtet. Linien-Truppen, Marine-Soldaten und Mobilgarden, insgesamt 220 000 Mann, galten als Kriegsgefangene. Sie mußten, mit Ausnahme der Offiziere und einer Garnison von 12 000 Mann, die Waffen abliefern, konnten aber in Paris bleiben. »Die Stadt ist für uns nur noch das große von uns zu bewachende Gefängniß für die gefangene Armee«, heißt es in einem Brief Moltkes vom 1. Februar. Gegen den Rat Bismarcks erreichte Favre, daß die Nationalgarde ihre Waffen behalten durfte. Er sollte diesen Verhandlungserfolg bitter bereuen.

Ohne Verzug wurde die Zufuhr von Lebensmitteln ins Werk gesetzt. Es bestätigte sich, daß die Vorräte in Paris nur noch für wenige Tage ausreichten. »Wenn die Preußen uns nicht Mehl gegeben hätten [insgesamt 60 000 Zentner], wären wir Hungers gestorben«, gab Favre zu. Bald trafen auch Hilfslieferungen aus England ein. Am 8. Februar konnte die Rationierung aufgehoben werden, zwei Tage später gab es wieder das lang entbehrte Weißbrot. Mancher Flüchtling kam zurück, um nach seinem Haus, seinem Geschäft zu sehen. Aber hunderttausend Einwohner kehrten nach dem Waffenstillstand der verwahrlosten, von politischen Spannungen erfüllten Stadt den Rücken.

 

Die Nationalversammlung, die aus den Wahlen vom 8. Februar 1871 hervorging und ihre Arbeit in Bordeaux aufnahm, fern von Paris, verkörperte den Wunsch des Landes nach Frieden und Ordnung. 400 Monarchisten und zwanzig Bonapartisten bildeten die Zwei-Drittel-Mehrheit der 645 Abgeordneten; die tonangebende Minderheit stellten 150 Republikaner und fast achtzig Liberale. Das Wahlergebnis in Paris stand zu dieser Ausrichtung in auffallendem Gegensatz. Sechzigtausend Pariser Wähler, ein Fünftel der abgegebenen Stimmen, unterstützten die radikale Linke. Unter den 43 Pariser Abgeordneten verlief die Trennungslinie nicht zwischen Monarchisten und Republikanern, sondern zwischen gemäßigten Republikanern und Revolutionären.

Die Nationalversammlung wählte Thiers, den Mann des Ausgleichs, zum »Chef der Exekutive der Französischen Republik«, das heißt zum Staats- und Regierungschef. Auf dem fast 74 Jahre alten Staatsmann lastete die Pflicht, Frieden zu machen. Am 26. Februar 1871 unterzeichneten Thiers und Bismarck in Versailles den Vorfriedensvertrag mit den beiden schmerzlichen Hauptpunkten: Abtretung des Elsaß und eines Teils von Lothringen mit der Festung Metz und Zahlung von fünf Milliarden Franc Reparationen innerhalb von drei Jahren.

Bis zur Ratifizierung des Vorfriedens durch die Nationalversammlung erhielten die Deutschen das Recht, Paris in einem begrenzten Bereich zu besetzen: vom Étoile bis zur Place de la Concorde, zwischen der Seine und dem Faubourg Saint-Honoré, zu beiden Seiten der Champs-Élysées. Die Regierung beschwor die Bevölkerung, sich ruhig zu verhalten. Und das Zentralkomitee der Arrondissements warnte auf schwarzumrandeten Plakaten: »Jeder Angriff würde das Volk den Schlägen des Feindes aussetzen und damit die sozialen Forderungen in Strömen von Blut ertränken.«

Die Besetzung von Paris zwischen dem 1. und 3. März 1871 verlief ohne ernsthafte Zwischenfälle. Sie war zu kurz nach den Wünschen des deutschen Kaisers, der seinen braven Soldaten diese Erinnerung gönnte. Nach der Truppenschau auf der Rennbahn von Longchamp, dort, wo Napoleon III. im Ausstellungsjahr 1867 dem König von Preußen und dem Zaren die Waffenmacht Frankreichs vorgeführt hatte, marschierten preußische und bayerische Regimenter, insgesamt dreißigtausend Mann, am Arc de Triomphe vorbei in die Stadt und bezogen Biwaks und Quartiere. Polizeibeamte und Nationalgardisten, denen der unangenehme Dienst durch höheren Sold schmackhaft gemacht wurde, sperrten den Bereich gegen Neugierige oder Händelsuchende ab.

»Der Anblick der Champs-Élysées war seltsam. Alle Läden, alle Fenster geschlossen. Die Soldaten waren überall in den Häusern einquartiert. Auf den vom Krieg verwüsteten Grünanlagen wurde abgekocht. Die preußischen Soldaten, die vor den Haustüren saßen, rauchten schwatzend ihre Pfeifen. Sie hatten absolut nichts Wildes … Auf der Place de la Conorde wurde schon Stroh für das Nachtlager ausgegeben. Eine Regimentskapelle spielte am Fuße der Straßburg-Statue verschiedene Weisen, und die Soldaten tanzten schwerfällig vor dem blassen Bildnis.« (Maurice d’Hérisson)

Am selben Abend nahm die Nationalversammlung in Bordeaux, von Thiers zur Eile gedrängt, den Vorfrieden an. Am nächsten Tag besichtigten noch weitere zwanzigtausend deutsche Soldaten gruppenweise die Champs-Élysées und den Tuilerien-Garten. »Die Deutschen begnügten sich, zu betrachten, zu bewundern und ihrem Behagen und ihrer Freude mittels Anstimmen ihrer heimischen Männerchöre einen Ausdruck zu geben, welchen die grollenden Pariser wider Willen schön fanden«, heißt es in einer zeitgenössischen deutschen Darstellung. (Johannes Scherr, 1880) Der Kaiser und der Kronprinz besuchten die Stadt eher beiläufig im offenen Wagen. »Bei dem Zapfenstreich am Donnerstag sind Tausende Pariser … gefolgt, und beim ›Helm ab zum Gebet‹ nahm alles die Hüte ab und sagte voilà ce qui nous manque [»Das fehlt uns!«], und das wird wohl richtig sein«, schrieb Bismarck an seine Frau. Am 3. März rückten die deutschen Truppen ab, diesmal unter dem Triumphbogen hindurch, wo die Hindernisse beseitigt waren. Am Abend strahlten die Boulevards zum erstenmal seit Monaten wieder im Schein der Gasbeleuchtung.

Die »Besetzung von Teilen von Paris«, wie der Vorgang auf deutscher Seite amtlich genannt wurde, hinterließ in Deutschland gemischte Gefühle. Die Berliner Presse hatte sich mit dem Verzicht auf einen Einmarsch abgefunden und begrüßte das als Zeichen von Mäßigung und Humanität. Um so mehr war man über den Hohn der Pariser Blätter über die »Barbaren« verärgert, die staunend vor den Wällen der »heiligen Stadt« verharrten und nicht wagten, sie zu betreten. Der Wahlerfolg bekannter Kriegsverlängerer und Revolutionäre in der Hauptstadt verstärkte die Besorgnis. Paris erschien nicht nur der »Spenerschen Zeitung« als »brodelnder Hexenkessel«. Der Fanfarenstoß des »Preußischen Staats-Anzeigers« vom 6. März 1871: »Mit Stolz wird jeder Deutsche auf den 1. März zurückblicken können« wurde von vielen deutschen Zeitungen wiederholt, klang jedoch nach Propaganda. Dem Leitartikler der »Staatsbürger-Zeitung« kam der kurze militärische Aufenthalt vor, als ob in ein »sauber geschriebenes Manuskript« der Geschichte dieses Krieges »der Schlußpunkt in einen häßlichen Tintenklecks ausgeartet wäre«. (9. März 1871)

Die Kanonen von Montmartre

Die Wahlen zur Nationalversammlung machten die Kluft zwischen der Hauptstadt und dem Land abermals deutlich. Paris fühlte sich von der Provinz im Stich gelassen, die Provinz von Paris in unaufhörliche Konflikte hineingezogen. Am 10. März 1871 faßte die Nationalversammlung den Beschluß über ihren provisorischen Sitz. Die ländlichen Konservativen, von den Parisern als »ruraux« verspottet und gehaßt, waren nicht gesonnen, sich den Gefahren der unruhigen Hauptstadt auszusetzen. Die Bedenklichsten schlugen Bourges vor, 240 Kilometer von Paris, andere Fontainebleau, immerhin 65 Kilometer entfernt. Thiers setzte eine praktischere Lösung durch: Versailles. »Man mußte nach Versailles gehen und dort versuchen, Herr von Paris zu bleiben«, versicherte Thiers später. Mit 427 gegen 154 Stimmen stimmten die Abgeordneten zu.

Die Entscheidung über den Frieden im Innern lag ebenso bei der Nationalgarde und ihren Wortführern wie bei der Regierung. Die Nationalgarde hatte während der Belagerung an Selbstbewußtsein gewonnen, mit dem Waffenstillstand aber ihre militärische Aufgabe verloren. »Zwei- oder dreihunderttausend Personen hatten mehrere Monate damit verbracht, nichts zu tun oder ein Gewehr zu tragen, von dem sie nicht viel Gebrauch machten. Sie lebten von der Unterstützung der Pariser Stadtverwaltung und fanden ihr Dasein recht bequem«, beschrieb Thiers ein halbes Jahr später vor der Kommission, die den Ausbruch der Kommune-Revolution untersuchte, die Stimmung. Von Anfang Februar bis Mitte März kristallisierte sich ein politischer Zusammenschluß der Nationalgarde heraus. Bei den Versammlungen der »Republikanischen Föderation der Nationalgarde« stimmten zweitausend Delegierte von über zweihundert Bataillonen diesem Zusammenschluß begeistert zu. Sie gelobten, die »bedrohte Republik« zu verteidigen und sich der Entwaffnung zu widersetzen. Die zur Revolution bereiten Milizionäre wurden fortan die »Föderierten« genannt. Als Lenkungsausschuß wurde ein Zentralkomitee mit 36 Mitgliedern eingesetzt (zu unterscheiden vom Zentralkomitee der zwanzig Arrondissements): eine Gegenmacht zur Regierung und der gewählten Volksvertretung. Das Zentralkomitee nahm seinen Sitz in der Nachbarschaft der Internationalen Arbeiter-Assoziation im Quartier du Temple.

Die Unruhe über den deutschen Einmarsch lieferte weiteren Zündstoff. Am 26. Februar schafften Nationalgardisten, unterstützt von der Bevölkerung, mehr als zweihundert Geschütze von der Place Wagram im Westen auf die Höhen von Montmartre und Belleville, vordergründig, um sie dem Zugriff des Feindes zu entziehen, wahrscheinlich mit dem Hintergedanken, sie gegen die eigene Regierung zu verwenden. Manche Kanonen waren während der Belagerung aus Spenden der Bevölkerung bezahlt worden und wurden deshalb als Volkseigentum angesehen. Diese Geschütze waren Symbole des Widerstandes gegen den äußeren Feind und gegen die »Kapitulationsregierung«. Über Nacht befanden sich Montmartre, La Villette, Belleville und Ménilmontant im Verteidigungszustand. Gustav Schneider sah »überall in den engen Gassen nach den Boulevards zu kleinere oder größere Barrikaden, hin und wieder sogar einige Geschütze, besonders auf den Plätzen der Mairien, überall Posten und Patrouillen«. – »Die Nationalgarde ist in vollem Aufstand«, warnte am 3. März der Außenminister Favre in einem Schreiben an den Staatschef Thiers.

Am Abend des 17. März versammelte Thiers, aus Bordeaux zurückgekehrt, im Außenministerium den Kriegsrat. Der Chef der Exekutive wollte versuchen, die Ordnung in der Hauptstadt wiederherzustellen, bevor am 20. März, dem Ostermontag, in Versailles die Nationalversammlung zusammentrat. Dabei gingen die Absichten des Regierungschefs über die Rücknahme der entführten Geschütze erheblich hinaus. Außer den Stadtteilen Montmartre und Belleville sollten der Osten um den Bastille-Platz und das Zentrum um das Rathaus militärisch gesichert werden. In einer Polizeiaktion sollten auch die Mitglieder des Zentralkomitees und die Anführer der Internationale und der revolutionären Vereinigungen festgenommen werden. Die Nationalgarde sollte entwaffnet und später aufgelöst werden. Die Plakate mit den entsprechenden Ankündigungen an die Bevölkerung und die Nationalgarde waren vorbereitet. Am selben Tag verschwand, fern von Paris, der 66 Jahre alte Revolutionär Auguste Blanqui hinter Festungsmauern.

Für das Unternehmen standen dem Oberbefehlshaber der Armee in Paris, General Vinoy, nicht mehr als 20 000 Soldaten zur Verfügung, unterstützt von 3000 Gendarmen und Polizisten. Diese Streitmacht machte weniger als ein Zehntel der Nationalgarde aus. Louis-Napoléon Bonaparte hatte zwanzig Jahre früher sechzigtausend Bewaffnete aufgeboten, um eine Großstadt zu unterwerfen, in der nur halb so viele Menschen lebten. Der Überraschungseffekt sollte den Erfolg verbürgen. In den frühen Morgenstunden des 18. März, bei feuchtkaltem Wetter, besetzte das 88. Linien-Regiment den Montmartre. Um fünf Uhr befanden sich die Kanonen, die auf einem unbebauten Gelände aufgereiht standen, in der Hand der Regierungstruppen. Was dann geschah, hatte niemand vorausgesehen. Eine Frau gab Alarm: Die Schullehrerin Louise Michel (1830–1905), eine geübte Agitatorin des lokalen »Wachsamkeitsausschusses«. Das Gewehr über der Schulter eilte sie durch die Gassen von Montmartre und rief zum Widerstand.

Die Pferdegespanne, die die Geschütze abschleppen sollten, ließen auf sich warten. Ein Planungsfehler oder böswillige Absicht? Viertelstunde um Viertelstunde verstrich. Als endlich die ersten Gespanne eintrafen, war der günstige Augenblick verpaßt. Männer, Frauen und Kinder sammelten sich um die jungen Soldaten. Scherzworte und freundlicher Spott flogen hin und her. Zwei Bataillone der Nationalgarde stießen dazu. Was nützte der Befehl, die Menge auseinanderzutreiben, gar zu schießen, über die Köpfe hinweg oder in die Menge hinein? Die Soldaten drehten die Gewehrkolben nach oben und verbrüderten sich mit dem Volk. Der Kommandeur, General Lecomte, wurde vom Pferd gezerrt und zum Gefangenen erklärt. Ähnliches ereignete sich, weniger dramatisch, in Belleville, auf den Buttes-Chaumont, an der Place de la Bastille. Ganze Einheiten lösten sich auf oder gingen zu den Föderierten über.

Es war Vormittag geworden. In der Stadt läuteten die Sturmglocken, erschallte das Signal zum Sammeln, wurden wieder einmal Barrikaden gebaut. Gegen Mittag befanden sich der Norden und der Osten in der Hand des bewaffneten Volkes. Im Außenministerium am Quai d’Orsay beratschlagten die Minister. Welche Machtmittel hatte die Regierung noch in der Hand? Was sollte geschehen? Am frühen Nachmittag faßte Thiers den Entschluß, sich nach Versailles in Sicherheit zu bringen. Er verließ das Ministerium durch den Hinterausgang zur Rue de l’Université und fuhr unter dem Schutz einer Kavallerie-Schwadron in einer Kutsche davon. Aber anders als für Karl X., Louis-Philippe und die Kaiserin Eugénie führte Thiers Flucht nicht ins Exil. Der Staatschef handelte nach einer wohlüberlegten Strategie: Paris räumen, um es mit überlegenen Kräften zurückzuerobern, wie er es schon 1848 dem Bürgerkönig geraten hatte. Die überraschten Minister brauchten eine Weile, bis sie die Absichten ihres Chefs begriffen. Sie folgten Thiers am nächsten Tag und mit ihnen die hohen Beamten. General Vinoy sammelte die ihm verbliebenen Truppen und führte sie über die Seine.

Das Zentralkomitee der Nationalgarde war von den Ereignissen völlig überrumpelt. Gegen ein Uhr mittags erging die erste Anweisung: »Überall Barrikaden. Nicht angreifen.« Hier und dort ergriffen einzelne die Initiative. Émile Duval, der im Vorjahr den Streik der Metallarbeiter angeführt hatte, organisierte den Widerstand auf dem linken Ufer; Eugène Varlin, ein Buchbinder, der beste Kopf im Pariser Büro der Internationale, besetzte das Hauptquartier der Nationalgarde an der Place Vendôme. Ein Mann bewies besondere Tatkraft: Paul Brunel, ein ehemaliger Offizier, der politischer Tagesschreiber geworden war, erzwang die Übergabe der Prince-Eugène-Kaserne an der Place du Château-d’Eau (heute Place de la République) und der Kaserne Lobau hinter dem Hôtel de Ville. Am späten Abend zog Brunel am Rathausturm die rote Fahne auf. Ein blutiger Zwischenfall störte die gelungene Improvisation. Auf Montmartre erzwang die aufgebrachte Menge die Erschießung des Generals Lecomte und des Generals Thomas, der bei einem Erkundungsgang in Zivil erkannt und festgenommen worden war. Der Bürgermeister von Montmartre, der junge Arzt Georges Clemenceau, versuchte vergeblich, den Lynchmord zu verhindern. Das doppelte Verbrechen, für das niemand die Verantwortung übernehmen wollte, lastete bis zum Ende auf der Kommune.

Gegen Mitternacht ergriffen Mitglieder des Zentralkomitees vom Hôtel de Ville Besitz, das festlich erleuchtet vor ihnen lag, als sie aus den dunklen Gassen des Marais auf den Rathausplatz traten. Seit Jahren hatten manche dieser Männer auf den Umsturz hingearbeitet. Nun war ihnen die Macht ohne ihr Zutun zugefallen. Die Entschlossensten drängten, den Erfolg auszunutzen, gegen Versailles zu marschieren, das Parlament auseinanderzujagen, die Regierung gefangenzunehmen. Aber die Mehrheit dieser uniformierten Zivilisten hatte Bedenken. Sollte ihre Revolution zum Bürgerkrieg führen? Und wie würden sich die preußischen Truppen verhalten, die die Forts im Norden und Osten in der Hand hatten? Worauf es jetzt ankam, war der Übergang zur Legalität: Wahlen abzuhalten für die neue Stadtregierung. Die Kommune mußte dem ganzen Land ein Beispiel geben.

Paris gegen Frankreich

Die Pariser rieben sich am nächsten Tag erstaunt die Augen. Hatten sie es mit einer Wiederholung des 4. September 1870 zu tun oder mit Schlimmerem? Goncourt wollte ein »blödes Erstaunen auf den Gesichtern der Pariser« erkennen, die aus den Morgenzeitungen von der Ermordung der beiden Generäle erfuhren: »Zahlreiche Gruppen, die Nase in der Luft, blicken durch die Öffnungen der Rue Le Peletier und der Rue Laffitte auf Montmartre und seine Kanonen.« Den Rathausplatz fand der betroffene Beobachter von Barrikaden und Nationalgardisten abgesperrt: »Man ist von Abscheu ergriffen, wenn man ihre stupiden und gemeinen Gesichter sieht, über die der Triumph und die Trunkenheit eine strahlende Verworfenheit legen. Jeden Augenblick sieht man sie, das Képi schief aufgesetzt, aus den halboffenen Türen der Weinhändler kommen, die einzigen, die heute [am Ostersonntag] geöffnet sind.« Wenig später sollte Goncourt eine noch schockierendere Erfahrung machen: »Gegenüber [dem Café] Tortoni treten die Kohorten von Belleville unseren eroberten Boulevard und marschieren vorüber, von etwas spöttischem Erstaunen begleitet, das sie zu genieren scheint.« (20. März 1871) Offenbar wußte das »Volk« nicht mehr, wo sein Platz war. An den Bahnhöfen Saint-Lazare und Montparnasse wurden die Züge gestürmt. Mindestens einhundertfünfzigtausend Bürger schlossen sich dem neuen Exodus an.

Eine Woche später fand die Wahl für die neue Vertretung von Paris statt, alles andere als eine bloße Gemeindewahl. Die »Kommune von Paris« zielte auf die Staatsform selbst. Weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten gaben am 26. März 1871 ihre Stimme ab. Von den 91 Sitzen fielen weniger als ein Drittel an gemäßigte Republikaner, darunter Bezirksbürgermeister und Abgeordnete, von denen die meisten auf das neue Mandat verzichteten. Die »Roten«, die bei den vorangegangenen Parlamentswahlen nur ein Zehntel der Pariser Abgeordnetensitze erhalten hatten, bildeten nun die Mehrheit. Nach den Ergänzungswahlen am 16. April – es ging um die Sitze, die durch Rücktritte und Todesfälle freigeworden waren – blieben Jakobiner, Blanquisten und Sozialisten verschiedener Schattierung unter sich. Die noch geringere Wahlbeteiligung zeigte, daß die Kommune in drei Wochen einen großen Teil der Mitläufer verloren hatte.

 

Ein »unvergeßliches Fest« sollte die Machtübergabe durch das Zentralkomitee der Nationalgarde an die Kommune am 28. März werden. Am Rande des Rathausplatzes, in den Zufahrtsstraßen und an den Quais sammelte sich seit Mittag eine unübersehbare Menge. Man darf annehmen, daß auch ein bürgerliches Publikum an diesem Tag auf der Straße war. Die rote Stoffverkleidung an der Rathausfassade verdeckte das Reiterstandbild Heinrichs IV. und hob die Büste der Republik hervor, geschmückt mit einer phrygischen Mütze, einer roten Schärpe und einem Bündel roter Fahnen. Solche Farbflecken waren jetzt überall in der Stadt zu sehen. Der Genius der Freiheit auf der Bastille-Säule hielt eine rote Fahne in der Hand. Das vergoldete Kreuz auf der Kuppel des Panthéon mußte der roten Fahne weichen. 1848 hatte Lamartine mit einer flammenden Rede im Rathaus die Änderung der Nationalfarben verhindert: »Ich werde bis zum Tod diese Blutfahne zurückweisen!« 1871 erhob sich keine solche Stimme. Im Kampf zwischen Paris und Versailles stand die rote Fahne gegen die Trikolore.

Auf der Ehrentribüne vor dem Mitteltrakt nahmen am Nachmittag des 28. März die Hauptpersonen Platz: das Zentralkomitee auf roten Samtsesseln in der vorderen Reihe, der Rat der Kommune auf samtbezogenen Sitzbänken dahinter. Die neuen Machthaber wirkten im dunklen Rock mit weißer Binde oder in der Uniform der Nationalgarde sehr würdig. Alle trugen die rote Schärpe, die Mitglieder der Kommune mit goldenen, die des Zentralkomitees mit silbernen Fransen. Ein Sprecher verlas die Namen der Gewählten, jeder einzelne wurde mit Beifall begrüßt. Dann der Ruf: »Im Namen des Volkes, die Kommune ist proklamiert!« und die begeisterte Antwort der Menge: »Es lebe die Kommune!« An den Quais schossen die Kanonen Salut. Die Marseillaise und der Chant du Depart wurden angestimmt. Die Zuschauer auf dem Platz, an den Fenstern, auf den Dächern schwenkten Hüte und Tücher, die Föderierten ließen ihre Kepis auf den erhobenen Bajonetten tanzen. Hinter Musikkapellen und Fahnen zogen mehr als hundert Bataillone der Nationalgarde drei Stunden lang an der Ehrentribüne vorbei. Das Paris der Kommune sollte keinen ähnlich glücklichen Tag mehr erleben. Zu den Gewählten auf der Tribüne gehörte Jules Vallès (1832–1885), ein Journalist und Schriftsteller mit sicherem Blick und aufmerksamem Ohr für einfache Menschen. In seinem autobiographischen Roman »L’Insurgé« (1886) hielt Vallès Aufstieg und Fall der Kommune fest.

Wer war die Kommune, und was wollte sie? Das Wort weckte Erinnerungen an die Französische Revolution. Als »Commune de Paris« bezeichnete sich die Stadtverwaltung nach dem Bastille-Sturm 1789. Die Revolutionäre Kommune wurde neben dem Wohlfahrtsausschuß zum Inbegriff des Terrors und endete mit dem Sturz Robespierres im Juli 1794. In den letzten Jahren des Zweiten Kaiserreiches wurde das Verlangen revolutionärer Gruppen nach einer Wiederherstellung der Kommune erkennbar. Bei allen Umsturzversuchen seit dem 4. September 1870 ertönte der Ruf: »Es lebe die Kommune!« Im Vordergrund stand das Verlangen nach Gemeindeautonomie, eine Reaktion auf Jahrzehnte des despotischen Zentralismus. Auch gemäßigte Pariser Abgeordnete teilten die Auffassung, daß die Stadt Paris über ihre Einnahmen und Ausgaben selbst bestimmen solle. Die feindselige Haltung der Vertreter der Provinz gegen die Hauptstadt gab solchen Bestrebungen eine neue Dynamik. Andererseits: Was blieb vom Staat, wenn dieses Beispiel Schule machte?

Die Vorstellungen von der Kommune als idealer Polis irrlichterten zwischen Gemeindeautonomie und Weltrepublik. Im Gegensatz zu der konservativen oder gemäßigt republikanischen Versammlung in Versailles versprach die Kommune, die Lebensbedingungen des einfachen Volkes zu verbessern. Dieses Versprechen gab der letzten Pariser Revolution ihren Ernst. Ihm verdankte sie ihre Wirkung über das »schreckliche Jahr« und über die Grenzen Frankreichs hinaus. Die Wortführer der Kommune waren keine Kommunisten, eine Verwechslung, zu der die Namensähnlichkeit immer wieder Anlaß gab. Sie rührten noch nicht am Besitzstand. Aber die Umverteilung oder Verstaatlichung des Eigentums stand unabweisbar am Horizont ihrer »Sozialen und demokratischen Republik«.

Man gewinnt ein Bild der Anhänger der Kommune, der »Kommunarden«, aus den Strafprozeßakten von mehr als 36 000 Angeklagten, die nach der Niederschlagung des Aufstandes vor das Kriegsgericht kamen. Die Röntgenaufnahme eines kranken Volkes war nicht absolut repräsentativ. Trotzdem gibt diese Auswahl wegen ihres ungewöhnlichen Umfangs aufschlußreiche Hinweise. Die meisten Männer gehörten zur Nationalgarde. Sieben von zehn stammten aus der Provinz (bei früheren Revolutionen war der Anteil der Zugezogenen etwas höher). Sechs von zehn waren zwischen 25 und 45 Jahren alt. Jeder vierte war jünger als 25 Jahre, hatte politische Erfahrungen also nur während des Zweiten Kaiserreichs gemacht. Aber ebenso viele waren alt genug, um bei der Revolution von 1848 dabeigewesen zu sein. Weniger als die Hälfte der Männer waren verheiratet, ein Drittel waren Familienväter. Weniger als ein Drittel konnte lesen und schreiben. Die Kommunarden entsprachen damit nicht dem Erziehungsstand der Pariser Bevölkerung und waren radikalen Parolen um so zugänglicher.

Zwei Drittel der Angeklagten waren Arbeiter, Handwerker oder Tagelöhner; der Tagessold der Nationalgarde, dieberühmten »30 Sous« (1,50 Franc), bedeutete für die meisten die einzige Einnahme. Die metallverarbeitenden Berufe, das Baugewerbe und die Holzverarbeitung stellten zusammen ein Drittel der Gesamtzahl; Angestellte in Handel und Verwaltung oder Hausangestellte jeweils etwas weniger als ein Zehntel. Etwas mehr als ein Fünftel (7460) war vorbestraft; davon jeder Dritte wegen Diebstahls und anderer Eigentumsdelikte. Der Anteil der Gesetzesbrecher lag bei den Festgenommenen sicherlich höher als bei den Kommunarden insgesamt. Die Regierungspropaganda ließ sich solche auffälligen Häufungen selbstverständlich nicht entgehen, wie sie auch die Beteiligung von Ausländern (1725 Festgenommene, davon über siebenhundert Belgier und fünf- bis sechshundert Polen) übertrieb. An keinem Pariser Volksaufstand waren die Frauen so eifrig beteiligt: als Hausfrauen, die mit ihrer Meinung nicht zurückhielten, als Zuhörerinnen und Rednerinnen in den Klubs, als Krankenpflegerinnen und Marketenderinnen, bis hin zur Beteiligung am Barrikadenkampf.

Der Erfolg der Pariser Kommune, das war den Urhebern klar, hing wesentlich von der Unterstützung durch andere Gemeinden ab. Ganz unbegründet war diese Hoffnung nicht. Auch in Lyon, Marseille, Toulouse und anderen Städten kam es zu kommunalistischen Aufständen. Bis Mitte April war das Umsichgreifen der Bewegung für die Regierung eine ernste Gefahr. Am 19. April rief die Kommune das Land auf, die Beendigung des Bürgerkrieges zu erzwingen. »Frankreich muß unser Verbündeter in diesem Kampf sein, der nur mit dem Triumph der kommunalistischen Idee oder mit der Zerstörung von Paris enden kann!« So sah das »Alles oder nichts« aus, das einen Monat später beim großen Brand Wirklichkeit wurde.

Frankreich gegen Paris

Aber Paris blieb isoliert. »Die Abneigung, die die Provinz gegenüber Paris bezeugt, ist nicht nur die gerechte Empörung über die Anschläge einer aufrührerischen Minderheit«, urteilte der Historiker Ernest Renan. »Frankreich lehnt nicht nur das revolutionäre, sondern auch das regierende Paris ab. Paris ist für Frankreich gleichbedeutend mit lästigen Forderungen. Paris zieht die Wehrpflichtigen ein, absorbiert das Geld und gibt es für eine Unmenge von Zwecken aus, die die Provinz nicht versteht.« (»La Réforme intellectuelle et morale de la France«, 1872) In der Nationalversammlung in Versailles gaben die konservativen Vertreter der Provinz den Ton an. Die Regierungspropaganda nutzte jede Gelegenheit, die »ehrlichen Leute« in der Provinz in ihrer Feindseligkeit gegen die »Faulenzer« und »Aufteiler«, die »Briganten«, »Plünderer« und »Mörder« in Paris zu bestärken. Zum erstenmal gelang es Paris nicht, Frankreich seine Revolution aufzuzwingen.

Thiers verlor keinen Augenblick, die Armee aufzustellen, die er für die Rückeroberung der Hauptstadt brauchte. Die Arbeitsräume des Staatschefs lagen in einem Seitenflügel der Präfektur von Versailles, im gegenüberliegenden Flügel beugte sich der Oberbefehlshaber über Karten und Pläne. Anfang April löste Marschall Mac-Mahon, aus der Kriegsgefangenschaft in Deutschland zurück, General Vinoy ab. Zu den aus Paris zurückgeführten Truppen kamen Verstärkungen aus der Provinz, Mobilgarden und etwas später heimkehrende Kriegsgefangene. Der Partner Bismarck bewies viel Verständnis: Die französische Regierung durfte das zugestandene Militärkontingent für die Pariser Region von 40 000 Mann bis auf 150 000 Mann erhöhen. Am 1. April kündigte Thiers, kräftig übertreibend, der Nationalversammlung an: »Die Aufstellung einer der besten Armeen, die Frankreich je hatte, ist beendet.«

Ob diese zusammengewürfelte Armee zuverlässig war, mußte sich noch zeigen. Am 2. April unternahmen die Regierungstruppen den ersten Vorstoß gegen die Stellung der Föderierten in der Gemeinde Courbevoie, gegenüber von Neuilly. Der Rond-Point-du-Monument in Courbevoie, das Zentrum der Kämpfe, verdankte seinen Namen einem Napoleon-Standbild, das nach dem 4. September in die Seine versenkt wurde. Es wurde später durch ein anderes Denkmal ersetzt, das an die Verteidigung von Paris 1870/71 – la Défense – erinnerte. Die Soldaten verhielten sich angesichts des unerwarteten Widerstandes der Föderierten eine Zeitlang schwankend. Herangeführte Feldartillerie entschied das Gefecht: die Verteidiger liefen Hals über Kopf davon. Den Abgeordneten, die an der Avenue de Paris besorgt den Ausgang des Gefechts erwarteten, verkündete der Handelsminister fröhlich: »Die Meute hat zugepackt!« Versailles atmete auf. In Auteuil notierte Edmond de Goncourt: »Gegen zehn Uhr eine Kanonade in der Richtung von Courbevoie. Gott sei Dank! Der Bürgerkrieg hat begonnen!«

Der Gegenangriff von 40 000 Föderierten in einer Zangenbewegung gegen Versailles erfolgte bereits am nächsten Tag und setzte Politiker und Militärs in Erstaunen. Die »Heerführer« der Kommune, Bergeret, Eudes und Duval, hatten das Unternehmen seit mehreren Tagen ins Auge gefaßt – ohne ihre politische Führung in Kenntnis zu setzen. Die Offensive zeugte vom übertriebenen Selbstbewußtsein der Nationalgarde und endete als Katastrophe, nicht anders als die militärischen Ausfälle während der deutschen Belagerung. Für die Angreifer, die auf der Landstraße dahinzogen wie zu einem Ausflug, kam der Beschuß vom Mont-Valérien als böse Überraschung: glaubten sie doch das stärkste Pariser Fort in ihren Händen. Der Vormarsch geriet in Verwirrung. Niemand hatte an den Einsatz von Artillerie gedacht, niemand an Verstärkungen und Nachschub. Und die Linien-Truppen wollten diesmal die Gewehre nicht umdrehen.

Das größte militärische Unternehmen der Kommune bleibt mit den Namen von zwei Toten verbunden. Dem Freiheitskämpfer Gustave Flourens spaltete ein Gendarmerie-Hauptmann mit einem Säbelhieb den Kopf, als er sich gefangen gab. Den Befehlshaber Émile Duval, der mit über tausend Mann die Waffen streckte, ließ General Vinoy erschießen, zusammen mit seinem Stabschef und einer Anzahl von übergelaufenen Soldaten. Versailles sah in den Föderierten nicht Gegner, sondern Rebellen. Von Anfang an brachten die Regierungstruppen ohne Bedenken Gefangene und Verwundete um. Während der »blutigen Woche« der Rückeroberung von Paris im Mai 1871 erreichten diese Verbrechen die Ausmaße eines Massakers. Die Kommune reagierte mit dem Geisel-Gesetz vom 5. April. Doch die Drohung, als Vergeltung politische Gefangene zu erschießen, wurde erst ausgeführt, als die Kommune in den letzten Zuckungen lag, und nicht mehr aus militärischen Gründen. Nach der Niederlage vom 3./4. April beschränkten sich die Föderierten auf die Verteidigung ihrer vorgeschobenen Stellungen und der Festungswälle. Die zweite Belagerung von Paris begann.

Die belagerte Diktatur

Die politischen Bedingungen, unter denen die Einwohner von Paris vom 18. März bis zum 28. Mai 1871 leben mußten, erschienen vielen Zeitgenossen wie ein wüster Traum. Die meisten Mitglieder des Rates der Kommune wie des Zentralkomitees der Nationalgarde waren der Bevölkerung unbekannt. Das heißt nicht, daß diese Männer unbeschriebene Blätter waren. Fast alle gehörten revolutionären Organisationen an und hatten einen Teil ihres Lebens in politischer Haft oder im Exil verbracht. Da gab es die Anhänger Blanquis, die am entschlossensten für den gewaltsamen Umsturz gekämpft hatten, die Jakobiner oder »Achtundvierziger«, die noch die Sprache der Französischen Revolution führten, die unabhängigen Revolutionäre, die sich keiner Lehre verpflichtet fühlten, die Sozialisten, Mitglieder der Internationalen Arbeiter-Assoziation, die Proudhon besser kannten als Marx. Den Ton der Debatten gaben zwei Dutzend Intellektuelle oder Freiberufliche an, jene »Deklassierten« der Bourgeoisie, auf die Blanqui als Avantgarde der Revolution setzte.

Der »Rat der Kommune« war Parlament und Regierung in einem. Zehn Kommissionen unter Delegierten waren für verschiedene Aufgabenbereiche zuständig wie Ministerien (Exekutive; Finanzen; Militär; Justiz; allgemeine Sicherheit; Versorgung; Arbeit, Industrie und Handel; Auswärtige Beziehungen; Öffentlicher Dienst; Unterricht). Von den täglichen Sitzungen des Rates erfuhr die Öffentlichkeit aus dem »Journal Officiel«, als dessen Chefredakteur der Sozialist Charles Longuet waltete, der später im Londoner Exil die älteste Tochter von Karl Marx heiratete. Die zahllosen Verordnungen der Kommune, mehr als dreihundert in zwei Monaten, wurden auf Plakaten bekanntgemacht, die sich auf den Hauswänden ausbreiteten. Die amtlichen Schriftstücke und Veröffentlichungen waren nach dem Revolutionskalender von 1792 datiert: Die Pariser lebten plötzlich im Jahr 79, im Germinal, Floréal und Prairial, ohne sich groß darum zu kümmern.

Obwohl die Kommune um ihr Überleben kämpfte, fehlte ihr der gemeinsame Wille, die einheitliche Führung. Das Zentralkomitee der Föderierten dachte nicht daran, sich wie versprochen aufzulösen. Die beiden Führungsgremien machten einander den Platz im Rathaus streitig. Parteiungen, Machtgelüste und persönliche Feindschaften zersplitterten sie noch mehr. Die Uneinigkeit setzte sich bis zu den Wachsamkeitsausschüssen in den Stadtteilen und den Soldatenräten in den Bataillonen fort. Als Anfang Mai ein Wohlfahrtsausschuß mit fünf Mitgliedern eingesetzt wurde, eine Maßnahme, die Erinnerungen an die Große Revolution weckte, kam es zum Bruch zwischen der radikalen Mehrheit und der gemäßigten Minderheit.

Nirgendwo trat das gegenseitige Mißtrauen so kraß zu Tage wie bei der Verfügung über die Nationalgarde. Drei militärische Delegierte, davon zwei Berufsoffiziere, der »General« Gustave Cluserets, der seinen Titel der Teilnahme am amerikanischen Bürgerkrieg verdankte, und der Oberstleutnant Louis Rossel, sein Stabschef und Nachfolger, scheiterten an der Aufgabe, der Bürgerkriegsarmee Disziplin beizubringen. Der dritte und letzte Kriegs-Delegierte war ein Zivilist: Charles Delescluze, einer der achtenswertesten Vertreter der Kommune, aber in der Deportation vorzeitig gealtert. Von einer Reorganisation der bewaffneten Macht wollte weder der Rat der Kommune noch das Zentralkomitee viel hören. Politische Rücksichten wogen schwerer als militärische Notwendigkeiten.

Nur jeder zehnte der dreihunderttausend Soldempfänger kam mit dem Feind in Berührung. Es hing von mancherlei ab, wie sie sich schlugen: von den örtlichen Gegebenheiten und vom Wetter, von der Gewöhnung, vom Einfluß der Kameraden, vom Beispiel der Vorgesetzten. Auf Ersatz oder Verstärkung konnten die Kämpfenden in der Regel nicht rechnen. Edmond de Goncourt fragte sich, warum diese Pariser so viel erbitterter gegen andere Franzosen kämpften als gegen die Preußen, und er fand die Antwort: »Weil das Volk diesen Krieg selbst führt und nicht unter dem Militarismus steht. Das macht diesen Männern Spaß … Man kann alles von ihnen verlangen, sogar, daß sie Helden werden.« (12. April 1871)

Die Beamten in Paris forderte Thiers umgehend auf, der Regierung nach Versailles zu folgen. Er wollte damit der Aufstandsbewegung den Sachverstand einer eingearbeiteten Verwaltung entziehen, ein Vakuum schaffen. Von vierhundert hohen Ministerialbeamten bis zum Abteilungsleiter ließ sich keiner mit den neuen Machthabern ein. Manche Behördenleiter brachten Amtskassen, Dienstsiegel und Unterlagen mit. Die Banque de France, ein gewinnträchtiges Privatunternehmen, hatte ihre Goldvorräte zum Teil schon vor der ersten Belagerung in Sicherheit gebracht. Sie stellte der Kommune im Lauf von zwei Monaten etwa zwanzig Millionen Franc zur Verfügung, der Regierung in Versailles mehr als das Zwölffache. Die unteren Ministerialbeamten und Behördenangestellten blieben in Paris, schon weil sie nicht über die Mittel verfügten, sich wochenlang in die Provinz zurückzuziehen. Manch einer konnte an seinem Platz Unheil verhindern, manch einer lieferte der Regierung in Versailles Informationen. Wie bei jedem Regimewechsel drängten zahllose Bewerber in die freigewordenen Stellen. Die revolutionäre Gesinnung mußte die Fachkenntnis ersetzen.

Die Stadtverwaltung arbeitete weiter fast wie gewohnt, schon weil es dort mehr Republikaner gab als in den Ministerien. Der Dichter Verlaine, der im Rathaus eine unbedeutende Stellung in der Haushaltsabteilung innehatte, avancierte zum Leiter der Presseabteilung und brachte ein Schild »Kein Zutritt für das Publikum« an der Tür seines Dienstzimmers an. »Einige Tage länger, und das Beiseiteschaffen der Kassen der Friedhofsverwaltung hätte ordentliche Beerdigungen unmöglich gemacht; es hätte kein Gas mehr gegeben, aus den öffentlichen Brunnen wäre kein Wasser mehr geflossen, die Abfälle hätten sich in den Straßen gehäuft, die Kanalisation wäre verstopft und übergelaufen. Verschärft durch den Bürgerkrieg, hätte Paris ohne etwas tun zu können ein Chaos erlebt.« Dieses Schreckensszenarium, das Jules Andrieu, ein langjähriger Angestellter der Präfektur, nun Mitglied der Kommune und neuer Verwaltungschef, als drohende Möglichkeit beschrieb, ist Paris erspart geblieben.

Trotzdem versuchten Zehntausende, Paris zu verlassen. »Es geht uns gut, und man läßt uns in Ruhe, nur ist es unmöglich, aus Paris herauszukommen«, schrieb der Schriftsteller Graf Gobineau an seine Frau. In der Zwei-Millionen-Stadt hielt ein Viertel der Bevölkerung die übrigen drei Viertel wie Geiseln fest. Die Zugbrücken der Festungszugänge blieben hochgezogen, die Nebenausgänge wurden bewacht. An den Bahnhöfen durchsuchten Nationalgardisten vor der Abfahrt die Züge. Seit Anfang April war die Bahnverbindung nach Westen gesperrt. Aber es gab Ausnahmen. Zola bestieg jeden Tag an der Gare Saint-Lazare den »Pressezug« nach Versailles, um über die Sitzungen der Nationalversammlung zu berichten, und kam abends nach Paris zurück. Der amerikanische Gesandte Elihu Washburne wunderte sich über den Andrang von Elsässern, die sich in dieser prekären Lage darauf besannen, daß sie nun zum Deutschen Reich gehörten und einen entsprechenden Ausweis der Schutzmachtvertretung verlangten. Passierscheine oder Visen stellten die Polizeipräfektur und das Zentralkomitee aus. Die Einführung der Wehrpflicht für die Nationalgarde brachte viele junge Männer auf Fluchtgedanken. »In Auteuil gibt es zur Zeit Leute, die Stricke kaufen, um sich mit Hilfe von Freunden an den Festungswällen herunterzulassen, weil sie der Wehrpflicht entgehen wollen«, notierte Goncourt am 8. April. Zehn Tage später: »An jeder Straßenecke begegnet man Leuten, Männern und Frauen, die eine Reisetasche oder ein kleines Paket in der Hand tragen, das einzige, womit man aus Paris fliehen kann.«

Bei allen Beteuerungen von Volksbeglückung mißtrauten die Machthaber der Bevölkerung, die ihnen hilflos ausgeliefert war. In einem Entschließungsantrag bei der ersten Sitzung des Rates der Kommune hieß es: »Wir müssen uns auf jede Art von Intrigen bis hin zum Verrat gefaßt machen … Paris taugt nur zu einem Viertel, und drei Viertel von Frankreich sind sehr schlecht.« Überall lauerte der innere Feind: Geistliche; wohlhabende Bürger; ehemalige Staatsdiener; Reaktionäre, die mit den »Konterrevolutionären« in Versailles gemeinsame Sache machten; entlassene Gendarmen und Polizisten; dazu alle Wehrdienstflüchtigen. Am interessantesten aber war der Feind in den eigenen Reihen, die »Verräter«. Der unübersichtliche Frontverlauf des Bürgerkrieges, mit Agenten und Doppelagenten in beiden Lagern, erzeugte eine Atmosphäre ständigen Mißtrauens und latenter Gewaltbereitschaft.

Als der Fouché und Saint-Just dieser Revolution prägte Raoul Rigault, mit 24 Jahren der Jüngste im Rat, das Bild der Kommune. Dieser rote Dandy, ein Anhänger Blanquis, war der Schattenwelt der Polizeidienste verfallen, die er als Oppositioneller bekämpfte hatte und als neuer Chef der »Ex-Polizeipräfektur« für seine Zwecke benutzte. In den ersten zehn Tagen des Aufstandes unterzeichnete Ringault nicht weniger als vierhundert Haftbefehle. Zu seinen ersten Opfern gehörte Monsieur Claude, der langjährige Leiter der Sûreté générale, der zu viel über die neuen Machthaber wußte. »Wir machen keine Justiz, wir machen Revolution«, erklärte Ringault dem Gerichtspräsidenten Bonjean nach dessen Verhaftung. Mehr als 3600 Gefangene gingen zur Zeit der Kommune durch das »Depot« der Polizeipräfektur. Als Haftgründe finden sich im Register: »Revolte«; »Drohungen gegen die Kommune«; »Beziehungen mit Versailles«; »bonapartistischer Agent«; und immer wieder: »ohne Grund«.

Von allen Verwaltungszweigen der Kommune arbeitete die »Delegation für die Sicherheit« am wirksamsten. Spitzel der politischen Polizei, die sogenannten »Reporter«, verfaßten für die Machthaber Berichte über die Stimmung der Bevölkerung. Das Vorhaben, jedem »Citoyen« eine Kennkarte mit Photographie und Personenbeschreibung auszustellen, kam über das Anfangsstadium nicht mehr hinaus, beweist aber die Absicht lückenloser Kontrolle. Bei den Razzien nach Dienstpflichtigen wurde das ganze Stadtviertel abgesperrt und die Häuser vom Boden bis zum Keller durchsucht. Es kam vor, daß die Ehefrau oder die Mutter des Gesuchten abgeführt wurde, wenn dieser nicht zu finden war. Die Haussuchungen gaben den Vorwand für Plünderungen und Erpressungen, zumindest für Diebstahl. Nicht nur die Polizeipräfektur, auch Mitglieder der Kommune, des Zentralkomitees, des Wohlfahrtsausschusses, der Überwachungsausschüsse und der Nationalgarde ließen politische Gegner verhaften oder politische Freunde laufen. Rigault mußte Ende April die Polizeipräfektur räumen. Aber seine neue Stellung als Hauptankläger machte ihn nicht weniger gefährlich, und sein Freund und Nachfolger Théophile Ferré verfuhr noch eifriger.

 

Es dauerte einige Zeit, bis die Pariser begriffen, wie sehr sich die Verhältnisse geändert hatten. Zunächst überwog bei aller Besorgnis die Neugierde: »Man rannte hinter Neuigkeiten her, bei der Börse, auf den Boulevards; man drängte sich um die Zeitungsverkäufer, um den neuesten Unsinn der neuen Regierung zu erfahren; am Abend traf man sich, bildete Gruppen, um alles mögliche Nutzlose, Unwahrscheinliche und sogar Skandalöse zu diskutieren; … aber niemand zweifelte am baldigen Sturz der Aufstandsregierung«, erinnerte sich Maxime Du Camp, dessen faktenreiche Darstellung der Kommune später die Empörung der Linken erregte. Es gab mehr Zeitungen denn je, in denen die Machthaber ihre Streitigkeiten austrugen. Die meistgelesenen waren Jules Vallès’ »Le Cri du peuple« mit 100 000 Exemplaren und »Le Père Duchêne« mit 60 000 Exemplaren. Nach und nach wich die Neugier der Bedrücktheit und der Sorge um die eigene Sicherheit. Einem Flüchtling, der heimlich für einige Tage zurückgekehrt war, erschien die Stadt verödet: »Fast niemand auf der Straße. Einige vereinzelte Omnibusse, … von vier Geschäften zwei geschlossen, ganze Reihen von Wohnungen mit geschlossenen Fenstern, ein Eindruck von Einsamkeit und Verlassenheit.« (Amédée Achard)

Die zweite Belagerung von Paris brachte Eindrücke eigener Art. Der Bau der Barrikaden – denn die Kommune stellte sich bald auf Straßenkämpfe ein – fesselte die Neugierigen. Die Föderierten ließen sich gern von Photographen, die unter schwarzen Tüchern verschwanden, vor ihren Schutzwehren aufnehmen. Später lagen die Bilder dem Kriegsgericht in Versailles als Beweismaterial vor. Selbst die neuerliche Beschießung, schlimmer als im vergangenen Januar, bot Abwechslung: »An der Barrière de l’Étoile beobachtet eine große Menge drei Versailler Batterien oberhalb der Brücke von Neuilly, die die Barrikade an der Brücke und die Festungswälle beschießen. Gruppen von Arbeitern sitzen auf den Dächern der beiden Wachhäuser. Junge Mädchen balancieren auf den eisernen Absperrketten.« (Tagebuch Goncourt vom 6. April 1871) Bürger und Arbeiter schienen sich in dieser gedankenlosen Neugierde einig. Aber die Einschläge lagen im Lauf der Wochen näher und näher: zunächst bis zur Porte Maillot, dann bis zum Arc de Triomphe, dann bis zum Rond-Point-des-Champs-Élysées und zuletzt in der Nähe des Obelisken. Die westlichen Stadtteile, deren Bewohner zur »Partei der Ordnung« gehörten, waren dem Beschuß am meisten ausgesetzt. Wenigstens brauchten die Pariser diesmal nicht Hunger zu leiden. Die deutschen Truppen ließen gemäß ihrer erklärten Neutralität die Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln zu.

Liest man die Berichte und Erinnerungen der Zeitgenossen, so erscheint die Stimmung der Bevölkerung als ein Gemisch von permanenter Erregung und Abstumpfung. Es ist kein Zufall, wenn bürgerliche Autoren die Kommune im Rückblick als einen Ausbruch von Massenwahnsinn zu erklären versuchten, verstärkt durch den Realitätsverlust während der ersten Belagerung. Die klassische Darstellung des Kollektvverhaltens, Gustave Le Bons »Psychologie der Massen« (1895), ist ohne die Erfahrungen der Kommune nicht zu denken. Die vorherrschende Meinung, wie sie in den Sitzungen des Rates der Kommune und des Zentralkomitees, aber auch in der Öffentlichkeit zum Ausdruck kam, war durchtränkt vom Haß gegen die »Konterrevolutionäre« in Versailles, gegen die Armee, gegen die Reichen und gegen die Kirche. Verglichen mit diesem klarkonturierten Haß blieben die Erwartungen für ein besseres Leben undeutlich. In den mehr als dreißig politischen Klubs, die sich in den beschlagnahmten Kirchen trafen, äußerten nicht nur die Redner, sondern auch die Zuhörer Vorschläge, die an den Rat der Kommune weitergeleitet wurden. Die Gewählten, so die Einstellung, mußten angetrieben, aber auch kontrolliert werden. Die Kommune geriet unter den Druck der »direkten Demokratie«.

Am 29. April unternahmen die Freimaurer, die in beiden Lagern Mitglieder hatten, einen spektakulären Versuch zur Rettung von Paris. Der »Grand Orient de France« trat hinter dem Schleier des Geheimnisses hervor. Mehrere tausend »Brüder« in mehr als sechzig Logen zogen hinter ihren Bannern vom Louvre zum Rathaus, die Oberen im Schmuck ihrer Rangzeichen in den ersten Reihen. Vom Rathaus bewegte sich der Zug zur Freiheitssäule am Bastille-Platz und von dort über die Großen Boulevards, am Arc de Triomphe vorbei bis zu den Festungswerken. An den westlichen Stadteingängen, der Porte Maillot und der benachbarten Porte Dauphine, wurden die Banner der Logen mit eingestickten Symbolen und Devisen auf dem Wällen aufgepflanzt wie antike Schutzzeichen und davor ein weißes Friedensbanner mit der roten Inschrift »Liebet einander!« In früheren Notzeiten hatten Geistliche und Gläubige die Reliquien der heiligen Genoveva durch die Stadt getragen. Der Befehlshaber auf der Gegenseite, auch er ein Freimaurer, befahl nach einigem Bedenken die Feuereinstellung. Bis zum Abend des nächsten Tages schwiegen die Waffen. Diese Frist wurde einer Abordnung des Grand Orient eingeräumt, der dritten Delegation, die den Staatschef Thiers um Schonung für Paris bat. Auch sie mußte sich mit der Bedingung abfinden, die Waffen zu strecken. Unter einem dunklen Regenhimmel zogen die Bannerträger in gedrückter Stimmung in die Stadt zurück.

Am 16. Mai ging es nicht um Versöhnung, sondern um den Bruch mit Frankreichs imperialer Vergangenheit. Die Kommune hatte den Sturz der Napoleon-Säule auf der Place Vendôme beschlossen, die seit kurzem »Place Internationale« hieß. Als Kunstbeauftragter der Kommune setzte der Maler Gustave Courbet den Abriß der Säule trotz mancher Hindernisse ins Werk. Elf Tage nach dem vorgesehenen Termin, dem fünfzigsten Todestag Napoleons am 5. Mai, war es endlich so weit. Am frühen Nachmittag drängten sich die Repräsentanten der Kommune, Bataillone der Nationalgarde und Ehrengäste am Rande des Platzes. Von der Plattform an der Spitze der Säule warf ein Offizier der Nationalgarde die Trikolore herab. Nach langem Warten wurde die 44 Meter hohe Säule mit Tauen und Winden endlich zu Fall gebracht. In drei Stücke zerbrechend, schlug sie in der vorgesehenen Richtung in der Rue de la Paix auf einem Teppich von Mist und Faschinen dumpf auf den Boden auf. »Die Menschenmenge am Anfang der Rue de la Paix und auf dem Boulevard verlief sich ohne ein Wort und wie beschämt von dem Schauspiel, das ihr die Kommune aufgenötigt hatte.« (Maxime Du Camp) Ein Unbekannter pflanzte eine rote Fahne auf den leeren Sockel. Zwei Jahre später verurteilte ein Gericht Gustave Courbet dazu, die Kosten der Wiedererrichtung des Denkmals aufzubringen. Vor der erdrückenden Schuldenlast von mehr als dreihunderttausend Franc entwich der Maler in die Schweiz.

Die Flammen der Kommune

Die Kommune hatte in diesem Augenblick dringendere Sorgen. Näher und näher schoben die Regierungstruppen im Westen und Süden ihre Stellungen an die Stadt heran, während im Norden und Osten die deutschen Besatzungstruppen einen Halbkreis um die Stadt bildeten. Die Hauptkampflinie verlief im Nordwesten zwischen Neuilly und Asnières, wo der polnische General Jaroslaw Dombrowski seit dem 9. April mit geringen Kräften die Stellung hielt. Dombrowski, früher Offizier in der Armee des Zaren, dann Kämpfer für die Freiheit Polens, lebte seit 1865 als Emigrant in Paris. Man übertrug ihm den Befehl über die Verteidigungskräfte auf dem rechten Seine-Ufer. Am 9. Mai fiel das Fort Issy im Südwesten, die wichtigste vorgelagerte Verteidigungsstellung. Am selben Tag wurde ein letzter Ausfall versucht. Aber statt der erforderlichen zwölftausend Mann sammelten sich nur siebentausend Föderierte auf der Place de la Concorde. Die Nationalgarde wollte nicht mehr kämpfen. Der Delegierte Rossel reichte seinen Rücktritt ein.

Den »Schlüssel für die Einnahme von Paris« sah Thiers in der Überlegenheit seiner Artillerie. Die Festungstore und Bastionen im Westen lagen seit dem 8. Mai unter dem Feuer von achtzig schweren Geschützen, die neben dem Park von Saint-Cloud auf der Terrasse von Montretout in Stellung gebracht wurden. Der Staatschef, die Hosen umgeschlagen, einen Diener mit Regenschirm zur Seite, besuchte fast täglich diese Batterien und freute sich des Schadens, den sie an den Festungswerken zwischen der Porte de Versailles und der Porte d’Auteuil anrichteten. Auf Pontonbrücken überschritten die Regierungstruppen die Seine und setzten sich im Bois de Boulgone fest, den die Granaten in eine Geisterlandschaft verwandelt hatten. Bis auf sechzig Meter schoben sich die Laufgräben an die Festungsmauern heran. Dem deutschen Reichskanzler, der mit dem Außenminister Favre am 10. Mai 1871 in Frankfurt am Main den Friedensvertrag unterzeichnet hatte und dem die ungewisse Lage vor Paris Sorgen machte, ließ Thiers melden: »Ich ersuche Herrn von Bismarck im Namen der Ordnung, uns die Unterdrückung dieses Banditenwesens selbst ausführen zu lassen … Anders vorzugehen würde der Partei der Ordnung in Frankreich und damit in Europa weiteren Schaden zufügen.« (Telegramm vom 21. Mai 1871)

Thiers und Bismarck konnten beruhigt sein. Am 21. Mai, einem Sonntag, begann der Kampf in der Stadt selbst. Das Signal dazu gab ein Zivilist. Jules Ducatel, ein Aufseher der Straßenbauverwaltung, bemerkte beim Erkundungsgang hinter den Festungsanlagen, daß die Porte de Saint-Cloud ohne Verteidiger war, eine grobe Nachlässigkeit. Ducatel kletterte auf den unbemannten Wall und winkte mit seinem Taschentuch. Ein Marine-Offizier im Vorfeld sah das Zeichen, prüfte die Lage und erstattete Meldung. Gegen drei Uhr nachmittags drangen die ersten Regierungstruppen in Paris ein, zunächst ohne auf Widerstand zu stoßen. Von seinem Hauptquartier im Château de la Muette am Ostrand des Bois de Boulogne sandte General Dombrowski die Meldung ins Rathaus: »Die Versailler sind durch die Porte de Saint-Cloud eingedrungen. Ich ergreife Maßnahmen, um sie zurückzuschlagen. Wenn Sie mir Verstärkungen schicken können, stehe ich für alles ein.«

Es war sieben Uhr abends, als die Kommune den Hilferuf erhielt. Die Verantwortlichen waren bei ihrer letzten ordentlichen Sitzung mit der Anklage gegen einen ehemaligen Kriegs-Delegierten beschäftigt. Verstärkungen waren nicht zur Hand. Dombrowski mußte sich zurückziehen. Der letzte »Delegierte für den Krieg«, Charles Delescluze, ein 62 Jahre alter »Jakobiner« ohne militärischen Überblick, ließ beruhigende Plakate anschlagen: »Der Beobachtungsposten am Arc de Triomphe bestreitet den Einzug der Versailler, zumindest sieht er nichts, was dem entspricht.« Immerhin betraute Delescluze den Berufsoffizier Paul Brunel, der beim Ausbruch des Aufstandes am 18. März Initiative bewiesen hatte, mit der Verteidigung des Stadtzentrums an der Place de la Concorde. Ein Mitglied des Zentralkomitees wurde zur Erkundung ausgeschickt und geriet gegen Mitternacht in Passy in Gefangenschaft.

Zuletzt verfaßte der zivile Kriegs-Delegierte einen Aufruf: »Schluß mit dem Militarismus! … Platz dem Volk, den Kämpfern mit bloßen Armen. Die Stunde des Revolutionskrieges hat geschlagen. Das Volk weiß nichts von klugen Manövern, aber wenn es ein Gewehr in der Hand und Pflastersteine unter den Füßen hat, dann fürchtet es keine Strategiker aus der monarchistischen Schule. Zu den Waffen, Citoyens, zu den Waffen!« Mit vielen Gleichgesinnten teilte der Nichtfachmann Delescluze die Überzeugung von der Unbesiegbarkeit des Volkes von Paris. Wenn der Feind wirklich in die Stadt eindrang, dann würde ihm Paris zum Grab werden. Der Aufruf bestärkte die Föderierten in ihrer Neigung, sich in die vertrauten Stadtviertel, man möchte sagen: ins eigene Dorf, zurückzuziehen und dort zu verteidigen, ohne sich um das Ganze zu kümmern. Der Mythos der »Levée en masse« zerstörte die kümmerlichen Reste von Disziplin und Koordination.

 

Goncourt wurde gegen Abend am Concorde-Platz Zeuge, wie eine feindselige Menge eine Mietdroschke umdrängte: Der Fahrgast hatte aus dem Wagenfenster gerufen, die »Versailler« seien in der Stadt und wurde umgehend festgenommen. Nach langen, vergeblichen Bemühungen, eine Bestätigung für den vereinzelten Alarmruf zu erhalten, begab sich Goncourt entmutigt in die Wohnung eines Freundes an den Großen Boulevards: »Ich lege mich verzweifelt zu Bett. Ich kann nicht schlafen. Durch die fest zugezogenen Vorhänge glaube ich, fernen Lärm zu hören. Ich stehe auf. Ich öffne das Fenster. Auf dem Pflaster, in entfernten Straßen, der Marschschritt von Kompanien bei der Ablösung, wie jede Nacht … Ich lege mich wieder hin. Aber jetzt ist es wirklich die Trommel, die Trompete! Ich springe wieder zum Fenster. In ganz Paris ertönt das Signal zum Sammeln. Und bald, nach der Trommel, nach der Trompete, nach dem Lärmen, nach den Rufen: Zu den Waffen!, die großen, tragischen Töne des Sturmgeläutes, das nach und nach von allen Kirchen tönt – unheilvoller Laut, der mich mit Freude erfüllt und der für Paris den Todeskampf dieser abscheulichen Tyrannei einläutet.« (Tagebuch vom 21. Mai 1871)

Die Rückeroberung von Paris ist in die Geschichtsbücher als die »blutige Woche« eingegangen. Die »blutige Woche«: das waren einige strategische Bewegungen und Hunderte von Einzelkämpfen, das war der Widerstand bis zum letzten Atemzug oder der Versuch, die eigene Haut zu retten, das waren einige Dutzend Geisel- und Lynchmorde, begangen in der Wut des verendenden Aufstandes und die Massenerschießungen von Tausenden, ausgeführt mit dem guten Gewissen staatlicher Autorität. Die »blutige Woche« war Paris in Flammen: das Brandopfer seines Reichtums, die Zerstörung seiner Bauwerke. Es war ein Vernichtungskrieg, den in der verfemten Hauptstadt Frankreichs ein Teil der Nation gegen den anderen führte.

Man kann das militärische Geschehen zwischen dem 21. und dem 28. Mai 1871, das planmäßige Vordringen der Regierungstruppen von Westen nach Osten und den aussichtslosen Widerstand der Kommunarden, nur mit einigen Strichen festhalten. Am Montag (22. Mai) befand sich das westliche Drittel der Hauptstadt mit dem Arc de Triomphe auf dem rechten und der École Militaire auf dem linken Ufer in der Hand der Armee. 60 000 Soldaten standen in Paris. Marschall Mac-Mahon nahm sein Hauptquartier am Trocadéro. Vor der Nationalversammlung in Versailles teilte Thiers mit: »Die Sache der Gerechtigkeit, der Ordnung, der Humanität, der Zivilisation hat triumphiert.« Die Verteidiger errichteten nach alter Erfahrung weitere Barrikaden, 160 am ersten Tag, insgesamt über sechshundert im Verlauf der Kämpfe. Eine zusammenhängende Verteidigungslinie ergab sich daraus nicht.

Am Dienstag (23. Mai) wurde die Höhe des Montmartre, von zweihundert Föderierten verteidigt, unvermutet von Norden und Süden angegriffen und erobert. Wie in Frankfurt vereinbart hatten die Deutschen den Regierungstruppen den Umgehungsmarsch durch das besetzte »neutrale« Gebiet am nördlichen Stadtrand erlaubt. Über achtzig Geschütze, der Anlaß dieses Volksaufstandes, fielen in die Hand der Sieger. Mit der Butte Montmartre hatte die Kommune ihre wichtigste Verteidigungsstellung verloren. Am Fuß des Berges wurde noch eine Zeitlang weitergekämpft. Das Frauen-Bataillon unter Führung von Louise Michel und der jungen Russin Elisabeth Dimitrijeff, einer Freundin von Karl Marx, schlug sich an der Place Blanche besser als die meisten Männer. General Dombrowski wurde bei den Kämpfen tödlich verwundet.

In der Nacht zum Mittwoch (24. Mai) begann der Brand von Paris. Der Kommandant Brunel räumte die große Barrikade an der Rue Royale und die Westterrasse des Tuilerien-Gartens, die die Place de la Concorde beherrschte und zog sich bis zum Rathaus zurück. Wie in der Rue Royale standen jenseits des Flusses im Faubourg Saint-Germain (Rue de Lille, Rue du Bac) viele Häuser in Flammen, um das Vordringen der Regierungstruppen zu hemmen. Für den Brand des Tuilerien-Palastes gab es, wie wir sehen werden, keine militärische Rechtfertigung. Am Vormittag verließ der Rat der Kommune, auf fünfzehn Mitglieder zusammengeschrumpft, das Hôtel de Ville und suchte Zuflucht in der Bürgermeisterei des 11. Bezirks an der Place Voltaire (heute: Place Léon-Blum) im Faubourg Saint-Antoine. Nach dem Königsschloß wurde auch das Stadthaus in Brand gesteckt. Am Abend erreichten die Regierungstruppen den Rathausplatz und das Panthéon.

Am Donnerstag (25. Mai) war mehr als die Hälfte der Stadt in der Hand der Armee, die eine Stärke von 130 000 Mann erreichte. Die Föderierten, verstärkt durch die Besatzungen der aufgegebenen südlichen Forts von Montrouge, Bicêtre und Ivry, räumten ihre letzte Verteidigungsstellung auf dem linken Ufer, die Erhebung Butte-aux-Cailles in der Nähe der Place d’Italie, und zogen sich über den Pont d’Austerlitz auf das rechte Ufer zurück. An der Place de la Bastille und der Place du Château d’Eau (heute: République) wurde hinter Barrikaden heftiger Widerstand geleistet. In aussichtsloser Lage suchte der Kriegs-Delegierte Delescluze am Abend den Tod auf der Barrikade.

Diese vorletzten Verteidigungsstellungen fielen am Freitag (26. Mai). Die Angreifer nahmen außer den Plätzen Château d’Eau und Bastille die Place du Trône (heute: Nation) und die Place de la Rotonde (heute: Stalingrad). Die Kommunarden zogen sich in die Arbeitervororte Belleville und Ménilmontant zurück. Die letzten zehn Mitglieder des Rates der Kommune sammelten sich in der Bürgermeisterei des 20. Bezirks in der Rue de Belleville und zuletzt in der Rue Haxo (nicht weit von der Porte des Lilas), bevor sie sich auf einzelne Gefechtsposten verteilten. Die Massenerschießungen durch die Armee machten den Widerstand zur Selbsterhaltung. Die deutschen Truppen am Stadtrand, um zehntausend Mann verstärkt, verstellten den Flüchtenden den Weg.

Bei Regenwetter gingen die Kämpfe am Samstag (27. Mai) weiter. Der Friedhof Père-Lachaise, von wo aus zwei Batterien der Föderierten die Stadt beschossen, wurde am Spätnachmittag erstürmt: zuletzt ein Kampf mit bloßer Waffe zwischen Mausoleen und Gräbern. Fast 150 Kämpfer wurden an der Friedhofsmauer erschossen. Am späten Abend wurde auch die Geschützstellung auf den Buttes-Chaumont genommen.

Der Pfingstsonntag (28. Mai) brachte das Ende der Kämpfe. An der Porte des Lilas, im Nordosten, schloß sich der Ring der Angreifer. Marschall Mac-Mahon erließ eine Proklamation an die Pariser: »Die Armee Frankreichs ist gekommen, euch zu retten. Paris ist befreit. Heute ist der Kampf beendet: Ordnung, Arbeit und Sicherheit werden wiederkehren.« Das Vordringen der Soldaten von den Höhen hinunter in die Stadt war nur noch eine »Säuberungsaktion«. In der Rue Haxo ergaben sich zweitausend Föderierte. Um zwei Uhr nachmittags verstummte bei der letzten Barrikade an der Kreuzung der Rue Ramponneau und der Rue de Tourtille, östlich des Boulevard de Belleville, das Schießen. Ein unbekannter Einzelkämpfer, der sie eine Viertelstunde lang verteidigt hatte, ging nach Hause.

 

Paris brannte. Aus der Ferne, von Saint-Cloud und Saint-Germain-en-Laye, gewannen die Beobachter den Eindruck, die ganze Stadt stehe in Flammen. Die Vielzahl von lodernden Brandherden und der rotglühende Widerschein am Nachthimmel täuschten ein einziges großes Flammenmeer vor. »In verschiedenen Teilen der Stadt wurden den ganzen Tag über Brände gesehen; aber am Abend, gegen neun Uhr, war der Himmel in Richtung der unglücklichen Stadt völlig erhellt«, faßte der englische Methodistenprediger William Gibson am Mittwoch in Saint-Denis seine Eindrücke zusammen. Goncourt erschien innerhalb der Stadt das Tageslicht wie bei einer Sonnenfinsternis und der Nachthimmel wie die neapolitanische Gouachemalerei eines Vesuv-Ausbruchs. Achtzig Kilometer weit wirbelte der Wind die Asche verbrannter Akten aus dem Finanzministerium.

Während Paris in Flammen stand, ging der Kampf weiter. »Versetze dich in Gedanken bei Sonnenaufgang mit dem Gesicht zum brennenden und qualmenden Hôtel de Ville, dessen geborstene Fassade sich von dem schwarzen Rauch und den petroleumgenährten Flammen abhebt«, schrieb Jules Ferry am Donnerstag seinem Bruder Charles. »Eine Barrikade erhebt sich zwischen den beiden Nebengebäuden [hinter dem Rathaus], die beide Funken sprühen wie trockene Reisigbündel; unsere Soldaten haben sie besetzt, während gegenüber, beim Pont Louis-Philippe [vom Rathaus-Quai zur Île Saint-Louis], die scheußliche rote Fahne ihren blutigen Fetzen über einer Barrikade entfaltet, von der noch auf uns geschossen wird. Hinter uns brennt das Théâtre-Lyrique [an der Place du Châtelet], die Polizeipräfektur [neben dem Justizpalast] ist nur noch ein schwarzer, qualmender Haufen. Vor uns wird gekämpft, mit Gewehren wird aus den Fenstern geschossen, mit Kanonen von den Buttes-Chaumont: Ich habe den Kopf im Feuer, die Füße im Blut.« Auch dort, wo der Kampf zu Ende war, in den Stadtteilen, die von der Armee besetzt waren, blieb die Angst vor Brandstiftung. Die Bevölkerung sah überall die »Petroleusen« am Werk: Weiber, die petroleumgefüllte Flaschen mit einem brennenden Fetzen in Kelleröffnungen schleuderten: der Prototyp des »Molotow-Cocktails«. Bei den Kriegsgerichtsverhandlungen ergab sich später keine Bestätigung für diesen neuzeitlichen Hexenwahn. Aber die Brände waren eine Realität.

Man muß sich das Ausmaß der Zerstörung vor Augen halten, der schwersten, die Paris in seiner neueren Geschichte erlitten hat. Das ist um so wichtiger, als die Spuren des großen Brandes bald getilgt wurden. Es ist bekannt, daß der Tuilerien-Palast und das Rathaus ausbrannten, daß jener aus politischen Gründen abgerissen, dieses wiederaufgebaut wurde. Was sonst? Die Bibliothek des Louvre mit achtzigtausend Bänden; Teile des Palais-Royal; das Finanzministerium gegenüber dem Tuilerien-Garten; die Polizeipräfektur; ein Teil des Palais de Justice; der Sitz des Ordens der Ehrenlegion (Hôtel de Salm); der Conseil d’État und der Rechnungshof, das sogenannte »Palais d’Orsay«, heute Museum für die Kunst des 19. Jahrhunderts; die Wandteppich-Manufaktur Gobelins; die Depositenkasse (Hôtel de Praslin); das Arsenal, die Artillerie-Verwaltung, verbunden mit einer Pulverfabrik; mehrere Kirchen; vier Bürgermeistereien (1., 4., 11. und 13. Bezirk); drei Theater; zwei Kaufhäuser; eine Kaserne; Vorratslager und Lagerhäuser; eine Fabrik. In zwei Dutzend Straßen brannten mehr als zweihundert Privathäuser nieder, ein Zehntel davon in der Rue de Lille, wo die preußische Gesandtschaft, das Hôtel de Beauharnais, unter dem Schutz der amerikanischen Flagge der Zerstörung entging.

Unersetzliches ging damals in Flammen auf. Paläste und Amtssitze, Adels- und Bürgerhäuser bargen Kunstschätze, Bücher, Dokumente. Mit dem Hôtel de Ville verbrannten die Bibliothek von hunderttausend Büchern und Handschriften und die Sammlung von Stadtplänen, darunter die wandfüllende Karte des Präfekten Haussmann; im Archiv der Stadt und des Départements, in der Nähe des Rathauses, Akten und Dokumente vom 16. Jahrhundert bis 1869; im Justizpalast die Strafprozeß-Akten seit 1790 und die Bibliothek mit fünfzigtausend Bänden; in der Polizeipräfektur Dossiers, die über Zehntausende von Personen Aufschluß gaben. Das schriftliche Gedächtnis der Stadt war zum großen Teil ausgelöscht.

Verteidiger der Kommune wollen die Brandstiftung mit den Notwendigkeiten des Straßenkampfes erklären, mit der Beschießung durch die Armee, sogar als Versicherungsbetrug von Hausbesitzern. Die verbrecherische Absicht der Aufständischen wollen sie nicht sehen. Die Schönfärber machen geltend, es habe keine förmliche Anweisung des Rates der Kommune gegeben, Paris in Brand zu stecken, und verschweigen die zahllosen Äußerungen einzelner Verantwortlicher, die nichts anderes bezweckten. Die Kommune brauchte das Feuer als Mittel revolutionärer Kriegführung nicht zu erfinden. Die Vorstellung, zugleich mit der bestehenden Gesellschaft ihr Zentrum zu vernichten, war Revolutionären nicht neu. In einem Brief des späteren Kriegs-Delegierten Gustave Cluseret aus New York an Eugène Varlin hieß es im Hinblick auf den erwarteten Sturz des Kaiserreiches: »An diesem Tag, ich versichere es Ihnen, und ich meine es ernst, wird Paris uns gehören oder es wird nicht mehr existieren.« (Brief vom 17. Februar 1870, zitiert bei Maxime Du Camp, 2. Bd.)

Während der ersten Belagerung nahmen solche Gedankenspiele festere Form an. Die Versicherung, sich eher unter den Trümmern zu begraben als dem Feind die Hauptstadt zu überlassen, gehörte zur Propaganda des »Krieges bis zum äußersten«. Dabei mischte sich in den Haß gegen den äußeren Feind der Haß gegen den Klassenfeind. »Paris muß verbrannt werden oder den Proletariern gehören«, hieß es Ende November 1870 in einer Erklärung der »Ligue à outrance«. Klubredner konnten auf Beifall rechnen, wenn sie der Beschießung durch die Preußen eine gute Seite abgewannen: weil dabei auch die Kirchen, die Museen und vor allem die Häuser der Reichen in Gefahr gerieten.

Seit dem Ausbruch des Kommune-Aufstandes setzten die Revolutionäre die Drohung mit der Zerstörung von Paris als Druckmittel gegenüber der Regierung in Versailles ein. Die Stadt und ihre Einwohner erschienen ihnen als Faustpfand. Bei der Sitzung des Zentralkomitees am 20. März drohte ein Mitglied: »Wenn wir unterliegen, werden wir Paris verbrennen, und wir werden Frankreich in ein zweites Polen verwandeln.« Ähnliche Äußerungen waren in der linken Presse zu lesen. Da hieß es im Ton der Apokalypse: »Die Revolution zieht wie eine Feuersbrunst vorbei, in einer Wolke von dunklem Rauch, gestreift mit Flammenzungen … Und wenn die verfaulte Gesellschaft, die kranken Institutionen im großen Brand versunken sind, dann erbauen wir auf dem gereinigten Grund die neue Stadt, das Jerusalem des Apostels, die vollkommene Stadt. Dann werden unsere Nachbarn, die anderen Völker, selbst das Feuer in ihre morschen Behausungen werfen, reinen Tisch machen und nach unserem Vorbild neu aufbauen.« (»Le Vengeur« vom 23. April 1871) Wie das Volk über solche Ankündigungen dachte, bekam Goncourt von einem Arbeiter zu hören, der die Wirkung der Beschießung durch die Versailler beobachtete: »Was macht mir das schon aus, ob es noch Baudenkmäler, Opern, Konzert-Cafés gibt? Ich kann ohnehin nicht den Fuß hineinsetzen, weil mir das Geld fehlt!« (21. April 1871)

Es blieb nicht bei Worten. Seit April bereitete die Wissenschaftliche Delegation unter dem Arzt und Apotheker François Parisel in einem Laboratorium der École des Mines, nicht weit von der Place Denfert-Rochereau, Methoden der »wissenschaftlichen Kriegführung« vor: Brandgranaten, zu Flammenwerfern umfunktionierte Feuerspritzen, aber auch Säuregranaten, Gifte und andere »Wunderwaffen«, wie sie auch während der ersten Belagerung in manchen Köpfen herumgespukt hatten. Der Verantwortliche für den Barrikadenbau, ein gesinnungstüchtiger Schuhmacher namens Napoléon Gaillard, schlug vor, in der Kanalisation neben den Gasleitungen Sprengladungen vorzubereiten, die beim Eindringen des Feindes gezündet werden sollten. Solche Pläne blieben in Versailles nicht unbekannt und machen das langsame Vordringen der Regierungstruppen verständlicher.

Die Kommunarden waren nicht auf Spezialisten angewiesen, als das Zerstörungswerk begann. Ein ehemaliger Buchhandlungsgehilfe, Jules Bergeret, der sich zum Stadtkommandanten aufgeschwungen hatte, verwirklichte den Revolutionärstraum, den Palast der Könige und Kaiser in Brand zu stecken. Am Dienstagmittag holte er im Rathaus die entsprechenden Anweisungen des Wohlfahrtsausschusses ein. Einige Stunden später rollten fünf Lastkarren mit Fässern voll Pulver, Petroleum und Teer in den Schloßhof. Die Ladung wurde in der Eingangshalle des Zentralbaus, des Pavillon de l’Horloge, gestapelt. Drei eifrige Helfer, begleitet von Nationalgardisten des Wachbataillons, verteilten den Brandstoff in den Räumen. Parkett, Vorhänge, Wandtäfelungen und Gemälde, selbst der Altar und die Orgel in der Schloßkapelle wurden mit Petroleum getränkt, schaufelweise wurde Schießpulver ausgestreut. Im Zentralraum im ersten Stock, dem Saal der Marschälle, wurden zwei Pulverfässer geöffnet. Die Vorbereitungen zogen sich über vier Stunden hin. Der Gouverneur der Tuilerien, Alexis Dardelle, befahl dem Personal, das Gebäude zu verlassen: »Ich kann nichts tun, Bergeret will es so!« Dann ritt er auf Nimmerwiedersehen davon.

Bergeret und sein Stab beobachteten den Beginn des Brandes vom kleinen Triumphbogen her, später zogen sie sich zum Souper in den benachbarten Louvre zurück. Von der Terrasse zwischen dem Pavillon Colbert und dem Pavillon Richelieu genossen sie in der Nacht das einmalige Schauspiel, bis unter dem Donner einer Explosion die große Zentralkuppel zusammenstürzte. Begeret warf eine Meldung an den Wohlfahrtsausschuß auf ein Blatt Papier: »Die letzten Spuren des Königtums sind soeben verschwunden; ich wünsche, daß allen Monumenten in Paris ein Gleiches geschieht.« Ein Ordonnanzoffizier brachte die Nachricht zum Rathaus: Victor Thomas, der Neffe des ermordeten Generals Clément Thomas. »Die wenigen Mitglieder des Ausschusses, die anwesend waren, begrüßten diese Nachricht mit lauten Bravorufen und luden mich ein, mit ihnen zu trinken. Nur Delescluze wirkte nachdenklich.« (Edgar Rodriguès: »Le Carnaval rouge«, 1872)

An anderen Stellen verfuhren andere Machthaber ähnlich. Der Gouverneur des Rathauses, Jean-Louis Pindy, ein zum Oberst beförderter Tischler und ehemaliger Polizeispitzel, ließ am Mittwochvormittag auftragsgemäß das Rathaus in Brand stecken. Im Festsaal waren zu diesem Zweck Petroleum und Pulver vorbereitet. »Eine dünne Säule von schwarzem Rauch stieg aus dem Uhrturm, und nach höchstens zwei, drei Minuten zersprangen alle Fenster des Gebäudes, und das Dach stürzte unter ungeheurem Funkenregen ein. Das Feuer dauerte bis zum Abend und wurde zu einem riesigen Brandherd, der sich später in Glut und Asche verwandelte.« (Paul Verlaine: »Confessions«, 1895) Der Blanquist Émile Eudes, auch er ein Amateur-Militär, ließ das Palais des Ordens der Ehrenlegion niederbrennen, wo er mit seiner Gefährtin, der »Generalin«, seit Wochen gehaust und geplündert hatte. Die Polizeipräfektur und das Palais de Justice wurden auf Befehl des Polizeichefs und Hauptanklägers Rigault angezündet. Nicht nur die Sainte-Chapelle, ein Wunderwerk der Gotik, sondern auch das Polizeigefängnis mit dreihundert Gefangenen gerieten dadurch in Gefahr. Die Verantwortlichkeiten ließen sich im Nachhinein schwer klären. Aber die Kommunarden waren sich im Verlangen, ein Höchstmaß an Zerstörung zu hinterlassen, weitgehend einig. Den Batterien auf dem Père-Lachaise befahl Eudes noch am Samstag: »Schießt vor allem auf die Kirchen!«

 

Glücklicherweise fanden sich auch mutige Bewahrer, die doppelt ihr Leben einsetzten: gegen das Feuer und gegen die Kommunarden. Im Louvre verhinderte das Museumspersonal unter den Konservatoren Henri Barbet de Jouy und Antoine Héron de Villefosse das Übergreifen des Brandes von den Tuilerien und bewahrte die größte Kunstsammlung der Welt vor der Vernichtung. Aber ihre Pflichttreue wäre vergeblich geblieben, wenn nicht ein junger Offizier, Félicien Bernardy de Ségoyer, entgegen dem Befehl, seine Einheit schneller als vorgesehen zum Louvre geführt hätte, wo die Soldaten die Brandherde bekämpften. Der Offizier wurde zwei Tage später bei einem Erkundungsgang in der Nähe der Place de la Bastille getötet. Für die Bibliothek des Louvre im neuen Flügel an der Rue de Rivoli kam die Hilfe zu spät. Der beginnende Brand im Palais-Royal wurde von Einwohnern des Viertels gelöscht. Solcher Einsatz aus Sorge um das eigene Haus war eher die Ausnahme. »Die Truppen sind außergewöhnlich, die Einwohner von Paris von unerhörter Schwäche. In der ganzen Rue de Richelieu habe ich nur ein Dutzend Personen finden können, um eine Eimerkette zu bilden«, hieß es im Bericht eines Bürochefs bei der Kunst-Direktion im Louvre vom 25. Mai.

Das Palais du Luxembourg wurde durch das Vordringen der Regierungstruppen vor der Zerstörung bewahrt, ebenso das Institut de France, der Sitz der Académie Française, und das Observatorium. Die Vorbereitungen für die Zerstörung waren schon getroffen. Das Staatsarchiv im Marais wurde durch den neuen Direktor, einen sozialistischen Schriftsetzer, gerettet. Um das Panthéon entspannten sich zwischen Kommunarden heftige Auseinandersetzungen: Sollte der Kuppelbau, die Zitadelle des Quartier Latin, als Ruhmestempel geschont oder als Kirche gesprengt werden? Die Munitionsvorräte in der Krypta mit den Sarkophagen großer Männer hätten es leicht möglich gemacht, das Bauwerk in die Luft zu jagen. Es kam nicht dazu. Die Kathedrale Notre-Dame, das Wahrzeichen von Paris, wurde von den Assistenzärzten und Pflegern des benachbarten Zentralkrankenhauses vor der Vernichtung bewahrt. Ein Trupp von Föderierten hatte am Mittwochmorgen im Innern der Kirche Feuer gelegt und die schweren Türen verschlossen. Gegen Mittag drang dichter Rauch aus den Turmöffnungen. Die Retter, in Sorge um ihre Kranken, verschafften sich Zugang und löschten die drei Brandherde aus petroleumgetränktem Kirchengestühl und Meßgewändern. Selbst die Freiheitssäule auf dem Bastille-Platz wollte die Kommune mit in ihren Untergang reißen. Fünf Lastkähne mit Petroleumfässern wurden im Kanal Saint-Martin unter dem Platz zur Explosion gebracht. Aber nur die Krypta der Barrikadenkämpfer von 1830 nahm Schaden, die Säule stand.

Massaker und Exekutionen

Bei alledem hatten die Verantwortlichen die Gefangenen nicht vergessen, die seit Wochen in ihrer Gewalt waren. Der Hauptankläger Rigault ordnete am 22. Mai an, sechzig Geiseln, an erster Stelle der Erzbischof von Paris, aus dem Gefängnis Mazas im Marais in das Gefängnis La Roquette in der Nähe des Friedhofs Père-Lachaise zu verlegen. Für den Transport wurden zwei Fuhrwerke der Eisenbahnverwaltung bereitgestellt. Die größte Gefahr drohte von der aufgebrachten Bevölkerung. »Kaum waren wir in den Faubourg Saint-Antoine gelangt«, berichtete Gaston Da Costa, den Rigault mit der Überführung der Gefangenen beauftragt hatte, »als wir plötzlich von einer Gruppe zum Halten gezwungen wurden, die rasch zu einer dichtgedrängten Menge anwuchs. Sie schrien: ›Tod den Pfaffen!‹ Die Leute wollten wissen, wohin wir die Gefangenen brachten … Wie immer zeigten sich die Frauen am schlimmsten.« (Gaston Da Costa 3. Bd) Die Schilderung macht deutlich, daß die Kommune unter dem Druck des Mobs stand. Wie häufig bei Volksaufständen kehrte sich das Verhältnis von Führern und Geführten schnell um.

Die zunehmende Erbitterung über die Massenerschießungen durch die Armee gab den Ausschlag. Am 24. Mai unterschrieb Théophile Ferré, Rigaults Nachfolger als Polizeichef, den Befehl für die Erschießung von sechs Geiseln in La Roquette: des Erzbischofs Darboy und vier anderer Geistlichen sowie des Gerichtspräsidenten Bonjean. Am Abend führte eine Schar von Freiwilligen, die sich zu dieser Aufgabe drängten, den Befehl aus. Nach dem Erzbischof Affre, der im Juni 1848 vor einer Barrikade ums Leben kam, war Darboy der zweite Erzbischof von Paris, der bei einer Revolution den Tod fand. Auf die Klagen von Valles über die »schreckliche Schlächterei« entgegnete einer der Todesschützen: »Die Kommune mag es mit ihren [Geisel-] Dekreten nicht ernst gemeint haben. Aber das Volk sorgt dafür, daß sie ausgeführt werden!« Rigault, der Hauptverantwortliche, war in diesem Augenblick seit einigen Stunden tot. Er war im Quartier Latin, seinem alten Viertel, von einer Armeestreife aufgegriffen und erschossen worden.

Das abscheulichste Verbrechen, das der Kommune zur Last gelegt wurde, ereignete sich am 26. Mai. Der Blanquist Émile Gois, 50 Jahre alt, während der Kaiserzeit Verbannter in Algerien und Emigrant in Belgien, nun Präsident des Kriegsgerichts und Gouverneur der Pariser Gefängnisse, forderte Opfer. Ferré unterzeichnete den Befehl zur Auslieferung von fünfzig Gefangenen aus La Roquette. Gois, Spitzname: »Grille d’égout« (»Kanalgitter«), sammelte am Freitagnachmittag einen Trupp jugendlicher Freischärler als Begleitmannschaft und führte die Gefangenen – elf Geistliche, über dreißig Gendarmen und eine Handvoll Polizeispitzel – vom Gefängnis La Roquette zur Bürgermeisterei des 20. Arrondissements in der Rue Haxo. Die »Exekution« hinter einer Gartenmauer gestaltete sich zu einer mörderischen Volksbelustigung. Die anwesenden Mitglieder der Kommune, darunter Jules Valles, konnten das Blutbad nicht verhindern. Ingesamt wurden mehr als achtzig Menschen unter der Verantwortung der Kommune als Geiseln ermordet, mehrere hundert als Verräter oder Spione erschossen.

Die Repression durch die Regierungstruppen rollte wie eine Dampfwalze über Paris hin, Leichen und Massengräber hinter sich lassend: das größte Blutbad, das jemals in der französischen Hauptstadt angerichtet worden ist, ein unfaßbares Verbrechen im Namen von Recht und Ordnung. Die Pariser, die erwartet hatten, daß nur die Anführer der Kommune und der Nationalgarde zur Rechenschaft gezogen würden, sahen sich eines Schlimmeren belehrt. Die Erschießung oder Niedermetzelung von Gefangenen durch die Linientruppen begleitete diesen Bürgerkrieg seit Anfang April. Am 5. Mai sah sich Marschall Mac-Mahon zu dem Befehl veranlaßt, keine Gefangenen mehr zu erschießen. Aber dieser Befehl, wenn er denn befolgt worden war, blieb seit dem 21. Mai wirkungslos. Der Oberbefehlshaber ließ seinen Untergebenen in der eroberten Stadt freie Hand. »Jeder beliebige Leutnant konnte die Erschießung von Gefangenen anordnen, und niemand stellte Fragen«, bemerkte der amerikanische Militärattaché Wickam Hoffman. Vor allem der Name des Brigadegenerals Gaston de Gallifet, der seine Laufbahn als Kriegsminister beendete, blieb mit den Grausamkeiten der Ordnungsmacht verbunden.

Den Barrikadenkämpfern wurde in der Regel kein Pardon gegeben. »Unsere Soldaten, die aus allen Straßen vordrangen, hatten bald sieben- bis achthundert Insurgenten zwischen dem Panthéon, dem Boulevard Saint-Germain und der Kirche Saint-Etienne-du-Mont zusammengedrängt. Nicht ein einziger entrann dem Massaker.« (»Le Gaulois« vom 26. Mai 1871) Auch Verwundete wurden nicht geschont. Soldaten holten sie aus dem Hauptlazarett im Industrie-Palast an den Champs-Élysées heraus, um sie einzeln umzubringen. Aber die Unterdrückung richtete sich gegen die Bevölkerung als Ganzes. Nach der Eroberung von Montmartre wurde ein Sühnegottesdienst für die Generäle Lecomte und Thomas abgehalten. Dann wurden neunundvierzig Menschen, darunter drei Frauen und vier Kinder, zusammengetrieben und am Todesort der beiden Generäle kniend erschossen. Der Ort der Erschießung wurde ein Teil der Basilika Sacré-Cœur. Solche »Sühne« wurde im Lauf der Woche mehrfach wiederholt. Selbst der Bürgermeister von Montmartre, Clemenceau, geriet dabei in Lebensgefahr.

Bei Racheakten, die nur zu oft Unschuldige trafen, taten sich die bürgerlichen Bataillone der Nationalgarde hervor. Sie hatten ihren Mut wiedergefunden, machten sich mit blau-weiß-roten Armbinden kenntlich und leisteten der Armee Hilfsdienste als orts- und personenkundige Führer. Die Verteidiger der Ordnung befanden sich dabei in Übereinstimmung mit ihren Mitbürgern. »Hätte man die Insurgenten der Bevölkerung ausgeliefert, wäre kein einziger verschont worden«, schrieb Maxime Du Camp. Die Behauptung mag überspitzt sein, aber sie gibt Grund zum Nachdenken. Der Sozialist Eugène Varlin wurde von der Menge fast totgeschlagen, ehe er von Soldaten erschossen wurde.

Wie schon nach dem Staatsstreich vom Dezember 1851 nahmen Standgerichte (cour prévôtal) die Arbeit auf: in der École Militaire, in den Kasernen, im Theater am Châtelet-Platz. Die Verhöre dauerten meist nur wenige Minuten, ein Verteidiger war nicht vorgesehen, dann wurde das Urteil in die Namensliste eingetragen: ein »V« bedeutete den Gefangenentransport nach Versailles, ein »F« die sofortige Erschießung (»fusillé«), das »L« für Freilassung (»libéré) war eine seltene Ausnahme. »Von Zeit zu Zeit sieht man eine Bande von fünfzehn bis zwanzig Individuen [aus dem Theater] herauskommen, bestehend aus Nationalgardisten, Zivilisten, Frauen, Kindern von fünfzehn, sechzehn Jahren. Diese Individuen sind zum Tode verurteilt. Sie marschieren zu zweit, von einer Abteilung von Jägern zu Fuß begleitet. Den Quai entlang verschwindet der Zug in der Lobau-Kaserne (hinter der Ruine des Rathauses). Eine Minute später hört man von drinnen die Salve des Erschießungspelotons, gefolgt von einzelnen Schüssen. Das Urteil des Kriegsgerichts ist vollstreckt.« (»Le Journal des Débats« vom 31. Mai 1871) Auch in Parks und Grünanlagen fanden Erschießungen statt: im Parc Monceau, im Jardin du Luxembourg, im Jardin des Plantes, auf der Esplanade des Invalides, im Hof der École Polytechnique, vor dem Collège de France, im Bois de Boulogne; in den Gefängnissen La Roquette und Mazas; in der Gare du Nord und der Gare de l’Est; auf den Friedhöfen. Am Pfingstsonntag wurden 148 »Insurgenten« aus dem Gefängnis Mazas an die Mauer des Père-Lachaise geführt. »Sie wurden in Gruppen zu zehn eingeteilt und erschossen. Sie hielten sich an der Hand und riefen: ›Es lebe die Kommune!‹ ehe sie starben.« (Maxime Du Camp) Mit Haltung aus dem Leben zu gehen, war einem Kommunarden ebenso wichtig wie einem Geistlichen oder einem Gendarmen. Die »Mauer der Föderierten« wurde zur Gedenkstätte der revolutionären Linken.

Die Erschießungen gingen auch nach dem Ende der Kämpfe weiter, bis in die ersten Junitage. Sie wurden erst eingestellt, als sich nicht nur in englischen Zeitungen, sondern auch in französischen die Stimmen mehrten, die ein Ende des Blutvergießens forderten. In der Folgezeit versuchte die Regierung, das Ausmaß der Vergeltung kleinzureden, obwohl sie wenig Vorwürfe zu hören bekam. »Tollheitsausbrüche, sobald die Macht wieder Macht wird, sind immer auf dieselbe Weise geregelt worden. Und das mit Recht«, bemerkte der Kriegskorrespondent Theodor Fontane. Der Chef der Militärjustiz, General Félix Appert, lieferte 1876 den ersten genauen Hinweis. Er gab 17 000 Todesopfer zu, wobei er nur die Zahl der Toten berücksichtigte, die auf Kosten der Stadtverwaltung begraben worden waren. Schätzungen von 20 000 bis 25 000 Getöteten kommen der Wirklichkeit näher. Bei den Kampfhandlungen vom 3. April bis zum 21. Mai waren drei- bis viertausend Föderierte gefallen. Die Regierungstruppen verloren vom 3. April bis zum 28. Mai weniger als tausend Mann.

 

Die Repression war mit dem Ende der »blutigen Woche« nicht vorüber. Das Kriegsrecht in der Hauptstadt blieb bis 1876 in Kraft. Paris wurde in vier Militärbezirke eingeteilt, die Verantwortung für die öffentliche Sicherheit der Armee übertragen. Streifen und Haussuchungen durch Militär und Polizei – plötzlich gab es wieder Tausende von Polizisten in Paris – gingen weiter. Bis in die Katakomben und in die Kanalisation spürten die Sicherheitskräfte den Flüchtigen nach. Fast vierhunderttausend Denunziationsschreiben gingen bei der Polizei ein, nur fünf von hundert trugen eine Unterschrift. Sechstausend Verdächtige wurden im Juni und Juli 1871 festgenommen. Die Nationalgarde wurde aufgelöst. Bei der Besichtigung der Kampfspuren in Belleville hielt Goncourt am 1. Juni fest: »Leere Straßen. In den Kneipen trinken Leute mit bösartig schweigendem Gesicht. Der Eindruck eines besiegten, aber nicht unterworfenen Stadtteils.«

Sechsundzwanzig Kriegsgerichte (conseil de guerre) in Paris, Versailles, Saint-Germain, Saint-Cloud, Sèvres, Vincennes, Rambouillet, Chartres prüften von August 1871 bis Dezember 1874 mehr als 36 000 Fälle. Die Offiziere, die in Sedan und Metz kapituliert und in Paris gesiegt hatten, nahmen ihre Revanche. Immerhin waren Verhöre und Verteidigung vorgesehen. Fast zwei Drittel der Verfahren wurden eingestellt, die Festgenommenen kamen mit der mehrmonatigen Gefangenschaft davon. Von den 270 Todesurteilen (davon 175 in Abwesenheit) wurden 26 vollstreckt. Als erste standen am 28. November 1871 der Polizeichef Ferré, der Kriegs-Delegierte Louis Rossel und ein Unteroffizier im Militärlager Satory vor dem Erschießungspeloton. Neben zwei Militärmalern wohnte Édouard Manet der Exekution bei. Über fünftausend Angeklagte erhielten Freiheitsstrafen von mehrmonatiger Haft bis lebenslanger Zwangsarbeit. Fast 4600 Deportierte wurden nach Neukaledonien verschickt, unter ihnen Louise Michel und Henri Rochefort, dem nach einem Jahr die Flucht übers Meer glückte.

3300 Angeklagte wurden in Abwesenheit verurteilt. Denn viele Kommunarden konnten trotz Nachstellungen und Denunziationen untertauchen oder ins Ausland fliehen. Von neunundsiebzig Mitgliedern des Rates der Kommune entkamen mehr als zwanzig; von vierzehn Generälen der Nationalgarde zehn; von 133 Bataillonskommandeuren neunzig. Letztlich war alles Glückssache. Der Kriegs-Delegierte Cluseret versteckte sich bei einem Pfarrer und entkam in geistlicher Tracht. Jules Vallès streifte einen Arztkittel über und zog mit einem Wagen voll Verwundeter davon, als die Kämpfe zu Ende gingen. Dieser und jener hatte zuvor als Doppelagent der Regierung nützliche Dienste geleistet und durfte ungehindert das Weite suchen. Das gegenseitige Mißtrauen zwischen Revolutionären setzte sich deshalb im Exil in London, Genf oder Brüssel fort. Die meisten Emigranten schlugen sich im erlernten Beruf rechtschaffen durch. Am 10. Juli 1880 erließ die Nationalversammlung gegen den Widerstand der Konservativen die Amnestie. Deportierte und Flüchtlinge kehrten nach Frankreich zurück. Die bürgerliche Republik war nicht mehr in Frage gestellt. Seit dem Vorjahr tagte das Parlament wieder in Paris. Zum ersten Mal wurde der 14. Juli, Jahrestag des Bastille-Sturms, als Nationalfeiertag begangen. Zum ersten Mal versammelten sich Überlebende und Anhänger der Kommune zum Gedenken an der »Mauer der Föderierten« des Père-Lachaise.

Die Kommune war die letzte Revolution des 19. Jahrhunderts und ein Vorspiel der totalitären Verwerfungen und Verkrustungen im 20. Jahrhundert. Dem Führer der deutschen Sozialdemokratie August Bebel erschien sie wie »ein kleines Vorpostengefecht«: in wenigen Jahrzehnten werde der Kampfruf des Pariser Proletariats vom europäischen Proletariat aufgenommen werden. (Reichstagsrede vom 25. Mai 1871) Karl Marx ordnete die Ereignisse in sein Geschichtsschema ein und legte den Grund für den Kommune-Mythos. Sein Freund Friedrich Engels erkannte in der Pariser Kommune die erste Verwirklichung der angestrebten »Diktatur des Proletariats«. Das Epizentrum der politischen Erschütterungen verschob sich nach Osten. Die Zeit der großen Volksaufstände in Paris war vorüber. Der Vulkan kam zur Ruhe.