Am 25. März 1977 wählte der Conseil de Paris den Parteivorsitzenden der Neogaullisten, Jacques Chirac, zum Bürgermeister: der zehnte seit dem Bastillesturm 1789. Diesmal hatte nicht ein Umsturz diese Zäsur in der bewegten Geschichte der französischen Hauptstadt herbeigeführt, sondern eine Reform des Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing, des Nachfolgers Pompidous. Das Ergebnis der Neuerung fiel freilich anders aus, als der Urheber beabsichtigt hatte.
Der langjährige Finanzminister Giscard d’Estaing hatte sich mit der liberalen Partei der Unabhängigen Republikaner eine politische Basis geschaffen. Bei der Präsidentenwahl im Mai 1974 verhalf ihm Chirac zum knappen Sieg gegen François Mitterrand, den Einheitskandidaten der Linken, und wurde mit dem Amt des Premierministers belohnt. Wenn Giscard im Gegensatz zu den Staatspräsidenten de Gaulle und Pompidou die alte Forderung aufnahm, der Hauptstadt eine Verwaltung zu geben wie allen Gemeinden, dann stand dahinter die Absicht, die gaullistische Partei als stärkste politische Kraft in Paris nachhaltig zu schwächen. So mußte der Regierungschef Chirac ein Vorhaben voranbringen, das seinen politischen Interessen ebenso zuwiderlief wie seinen Überzeugungen. Hatte er doch noch im Herbst 1974 erklärt: »Paris ist die Hauptstadt Frankreichs, eine Großstadt mit eigenen Problemen, was seine besondere Ordnung rechtfertigt.«
Das Gesetz vom 31. Dezember 1975 gab der Hauptstadt die Gemeindeautonomie. An der Spitze der Stadtverwaltung stand künftig nicht mehr der von der Regierung ernannte Präfekt, sondern der vom Stadtrat gewählte Bürgermeister, über den letztlich die Stimmbürger entschieden. Aber nicht deshalb trat der Premierminister Chirac im August 1976 von seinem Amt zurück, sondern weil ihm Giscard, wie er meinte, zu wenig Entscheidungsfreiheit ließ: ein spektakulärer Bruch mit den ungeschriebenen Regeln der Fünften Republik. Chiracs nächster Coup folgte Anfang Dezember: die Neugründung der gaullistischen Parteiorganisation als »Sammlungsbewegung für die Republik« (RPR) unter seiner Führung.
Die Gemeindewahlen im März 1977 gerieten zur »Schlacht um Paris« zwischen der Rechten und der Linken und mehr noch innerhalb des bürgerlichen Lagers. Auf Geheiß des Staatspräsidenten meldete der Industrieminister Michel d’Ornano, ein Freund Giscards, im November 1976 auf der Freitreppe des Élysée-Palasts seine Kandidatur für das Amt des Bürgermeisters an. Die Neogaullisten verstanden das zu Recht als Herausforderung. Die Berater drängten den Parteivorsitzenden, selbst den Kampf aufzunehmen. Kein anderer, so die Einschätzung, sei als Listenführer in der Lage, den vom Staatspräsidenten favorisierten Bewerber zu schlagen. Am 12. Januar 1977 kündigte Chirac seine Kandidatur für Paris an: der dritte Überraschungscoup innerhalb eines halben Jahres.
Jacques Chirac war 1932 in Paris geboren, wo sein Vater als leitender Angestellter in der Flugzeugindustrie über gute Beziehungen verfügte. Er hatte das Elite-Gymnasium Louis-le-Grand, das Sciences-Po und die Verwaltungshochschule ENA absolviert und war in den Staatsdienst getreten. Aber war Chirac ein echter Pariser? Seine Wurzeln und seine parteipolitische Hausmacht lagen im Département Corrèze am Rande des Zentralmassivs. Dort war die Heimat seiner Familie. Dort wurde er seit zehn Jahren als Abgeordneter gewählt, während sich seine Karriere in der Hauptstadt vollzog. Der Sinn für den »Parisianisme«, der mondäne Oberflächlichkeit als höchste Daseinsform kultiviert und sich im Tout-Paris verdichtet, ging ihm völlig ab. Pompidou, der Auvergnat, in seiner mit moderner Kunst gefüllten Wohnung auf der Île Saint-Louis, und Mitterrand, der Sohn der Charente, der lange Spaziergänge an den Seine-Quais schätzte, waren bewußtere Liebhaber der einzigartigen Stadt als der in Paris geborene Chirac.
Der Karrierist kannte sich in mehreren Ministerien einschließlich des Matignon aus, von den Problemen der Hauptstadt wußte er kaum etwas. Die Topographie der Stadt war ihm wenig vertraut. Als Wahlkreis bot ihm der Bezirksbürgermeister Jean Tiberi, ein Parteifreund, das sichere 5. Arrondissement an. »Damals habe ich Paris kennengelernt, Paris, von dem ich überhaupt nichts wußte«, bekannte Chirac später der Politologin Florence Haegel. Bei den Kommunalwahlen am 13. und 20. März 1977 gewann die Rechte vierzehn der zwanzig Stadtbezirke. Um Haaresbreite verfehlte der RPR mit 54 von 109 Sitzen die absolute Mehrheit. Die Giscardisten unter dem Prätendenten d’Ornano kamen nur auf 15 Sitze; Kommunisten und Sozialisten blieben mit 22 und 14 Sitzen eine Opposition ohne Gewicht. Bei den folgenden Kommunalwahlen 1983 und 1989 sollte die bürgerliche Rechte unter Chiracs Führung in allen zwanzig Bezirken den Sieg erringen.
Es ist ein Amtswechsel ohne Tradition, als der Präfekt von Paris, Jean Taulelle (1974–1977), am 25. März 1977 dem neuen Bürgermeister im Sitzungssaal die Leitung der Hauptstadtverwaltung übergibt. Für Paris ist es ein historischer Augenblick. »Von heute an wird ein neues Statut das Leben der Pariserinnen und Pariser lenken«, sagt Chirac. Er begleitet den Präfekten und dessen Mitarbeiter die Treppe hinunter bis auf den Vorplatz und verabschiedet sie. Der Präfekt des Départements Paris, das mit der Stadt Paris deckungsgleich ist, amtiert einen Kilometer östlich vom Rathaus am Boulevard Morland in einem hohen dreiflügeligen Verwaltungsbau, der in Kiew oder Kaliningrad stehen könnte.
Der Bürgermeister nimmt vom bisherigen Arbeitszimmer des Präfekten Besitz, einem Eckraum von 150 Quadratmetern im ersten Stock des Hôtel de Ville, das größte Amtszimmer der Hauptstadt. Jeder Besucher, der sich dem Schreibtisch nähert, muß eine Achtungsdistanz überwinden. Drei hohe Fenster geben den Blick nach Süden auf den Fluß und die Kathedrale Notre-Dame frei. Das Reiterdenkmal des Stadtführers Étienne Marcel (gest. 1358) unter den Fenstern erinnert an den Kampf der Stadt gegen die Königsmacht. Das vierte Fenster öffnet sich nach Westen zum Rathausplatz. Von diesem Fenster aus hatte General de Gaulle im August 1944 die Bevölkerung des befreiten Paris gegrüßt. Chirac wird den Vorplatz für den Autoverkehr sperren lassen.
Beim ersten Rundgang lernte der neue Hausherr die Repräsentationsräume, in denen bis zu achttausend Gäste Platz finden, die Büros und die Dienstwohnung mit sechshundert Quadratmetern Wohnfläche kennen. Die Präfekten hatten sich um die Instandhaltung wenig gekümmert. Madame Chirac zeigte sich nicht begeistert: »Wir hatten zwölf Jahre im Matignon und in Ministerien zwischen Wandtäfelungen des 18. Jahrhunderts verbracht und fanden uns plötzlich in einem Palast aus falscher Renaissance mit Dekorationen im Stil des Zweiten Kaiserreichs wieder. Ein Labyrinth von pompösen Sälen, durch endlose Korridore verbunden – eine Art surrealistisches Schloß Marienbad.« (Gespräch mit M. Ambroise-Rendu) Unterstützt von erstklassigen Fachleuten machte sich Bernadette Chirac an die Renovierung der wichtigsten Räume, beginnend mit dem Arbeitszimmer. Das Ehepaar ahnte nicht, daß es nicht wie erhofft vier Jahre in diesen Räumen verbringen würde, – bis zur Präsidentenwahl 1981 – sondern achtzehn lange Jahre, unterbrochen von sechsundzwanzig Monaten »Kohabitation« mit dem sozialistischen Staatspräsidenten Mitterrand.
Chirac stürzte sich mit gewohntem Eifer in seine neue Tätigkeit. Die zehnjährige Regierungserfahrung und der eingearbeitete Verwaltungsapparat, den er vorfand, kamen ihm dabei zugute. »Ich übernahm 38 000 städtische Beamte, Angestellte und Arbeiter, das heißt ein großes Ministerium«, führte Chirac gegenüber Florence Haegel aus. »Ich habe die Stadtverwaltung benutzt, wie ich sie vorfand. Ich machte nur klar, daß es jetzt anstelle eines Verwaltungschefs einen politischen Chef gab.« Die beiden wichtigsten Posten, die des Kabinettsdirektors und des Generalsekretärs, besetzte Chirac mit erprobten Helfern. In einem Jahrzehnt wechselte er neun Zehntel der über vierzig Abteilungsleiter aus. Zu den klassischen Ressorts wie Bauwesen, Schulen, Soziales und Gesundheit schuf Chirac einige neue, politisch sensible Aufgabenbereiche: internationale Beziehungen, Sicherheit, Informatik, Öffentlichkeitsarbeit und Verwaltungskontrolle.
Die eigentliche Macht war im Kabinett des Bürgermeisters konzentriert, wo nicht weniger als neunzig Personen beschäftigt waren. In seiner doppelten Funktion als Bürgermeister und Parteichef verlangte Chirac von seinen Mitarbeitern vor allem Loyalität. Daß im Rathaus manche Telefone intern abgehört wurden, machte ein Bericht des »Canard enchaîné« publik. Viele der leitenden Beamten waren von Ministerien »ausgeliehen«. Staatsbeamte konnten ohne Karrierenachteile in die Hauptstadt-Verwaltung überwechseln, ein Privileg, an dem das neue Statut nichts änderte. Immer wieder griff Chirac auch auf seinen Parteiapparat als Personalreserve zurück. Nach den Wahlniederlagen des bürgerlichen Lagers 1981 und 1988 wurde das Rathaus zur Auffangstellung für RPR-Größen, die ihr Regierungsamt verloren hatten. Umgekehrt nahm Chirac 1986 und 1995 seine besten Mitarbeiter aus dem Rathaus in die Regierung mit. Dieses Kommen und Gehen nach den Gezeiten der Wahlen brachte manche Unruhe in die höheren Ränge der Stadtverwaltung.
Von Anfang an stellte Chirac klar, daß die neue Gemeindefreiheit der Spitze der Stadtverwaltung zugute kommen würde, nicht aber den Stadtverordneten. Der Stadtrat solle kein zweites Parlament werden, mahnte er in der ersten Sitzung des Conseil de Paris unter seinem Vorsitz. (»Bulletin municipal officiel« vom 29. April 1977) Als einige Vertreter der Opposition protestierten, ließ ihnen der Bürgermeister kurzerhand die Mikrofone abschalten. Die Arbeit der Gemeindevertretung wurde rationalisiert. Trat der Conseil de Paris bisher viermal im Jahr zu mehrtägigen Sitzungen zusammen, so traf er sich nun jeden Monat, aber nur für einen Tag. »Die Stadtverordneten machen den Eindruck von 109 Schülern vor ihrem Klassenlehrer. Sie können sich nur noch von ihrem Platz aus äußern, nicht mehr von der Tribüne, sie kehren also ihren Kollegen beim Reden den Rücken zu. Die Benutzung von Mikrofonen nivelliert die Stimmen und verstärkt die Künstlichkeit der ganzen Veranstaltung«, bemerkte der spätere sozialistische Kulturminister Jack Lang als Vertreter des 2. Arrondissements. (»Le Quotidien de Paris« vom 27. September 1977) Bei den folgenden Gemeindewahlen nahm Chirac entscheidenden Einfluß auf die Zusammensetzung der bürgerlichen Listen und verstärkte damit die Folgsamkeit seiner Mehrheit.
Zwei Dutzend Stellvertreter (adjoint) standen dem Bürgermeister zur Seite. Aber nur die wichtigsten von ihnen verfügten über wirkliche Entscheidungsbefugnisse. Seit 1983 fungierte Jean Tiberi als Erster Stellvertretender Bürgermeister, zuständig für das Bau- und Wohnungswesen; der Gefolgsmann Alain Juppé, später Premierminister unter dem Staatspräsidenten Chirac, war als Zweiter Bürgermeister-Stellvertreter für den Haushalt verantwortlich. Den Häuptern des Stadtrates und der Stadtverwaltung standen Dienstwagen mit Fahrer, ein Büro mit Sekretärin und andere Annehmlichkeiten zu. Im Interesse der Machterhaltung aber mußte der Segen von oben breiter gestreut werden. Zehntausende von potentiellen Wählern erhielten im Laufe des Jahres die begehrte Einladung zu einem Empfang im Rathaus, von denen oft mehrere nacheinander abliefen. Die Insassen der Altersheime freuten sich über die Weihnachtsgrüße des Bürgermeisters und eine Pralinenschachtel. Einzelhandel und Handwerk, die wichtigste Klientel, ließen sich nicht so billig abspeisen.
Fünfzig Sachbearbeiter waren damit beschäftigt, die achtzigtausend Bitten um Unterstützung zu beantworten, die das Rathaus Jahr für Jahr erreichten. Jeder Hilfesuchende sollte das Gefühl haben, daß sich der Bürgermeister persönlich seiner Sorgen annahm. Mehr als sechshundert verschiedene Vereine erhielten Zuwendungen der Stadt: fast 800 Millionen Franc im Jahr 1996, zwei Drittel davon für Sport und Kultur. Manche dieser Vereine waren nur dazu gegründet, das Einflußnetz des Rathauses noch dichter zu knüpfen. »Es ist fabelhaft, wenn man Paris in der Hand hat«, gestand Chiracs Pressesprecher Denis Baudouin. »Die vielen Vergünstigungen, die man verteilen kann – unvorstellbar! Die Leute, die man einstellen, die Aufträge, die man vergeben, die Wohnungen, die man zuteilen kann! Chirac hat eine Hand fürs Konkrete, Wirksame.« (Hervé Liffran, 1988)
Bei seinem Amtsantritt fand Chirac die Stadtfinanzen in ausgezeichnetem Zustand. Der Haushalt war ausgeglichen, das Steueraufkommen floß reichlich, die Verschuldung war gering. 8,8 Milliarden Franc betrug der Haushalt von Stadt und Département Paris im Jahr 1977; 32,8 Milliarden Franc waren es 1995. Das reale Wachstum fiel wegen der anfangs noch hohen Inflation wesentlich geringer aus. Der Ertrag der Gewerbesteuer von 180 000 großen und kleinen Unternehmen erlaubte es, die Steuern in Paris niedriger zu halten als in Lille oder Marseille. Aber mit der Wirtschaftsflaute wuchsen seit 1992 die Steuerlast und die Schulden (1995: 11,5 Millarden Franc). Der Finanzausgleich zwischen den Gemeinden der Region Île-de-France, den die sozialistische Regierung 1992 einführte, kostete die Stadt jährlich über eine Milliarde Franc, »zum Schaden von Paris und der Pariser« (Chirac). Investitionen fielen den Sparmaßnahmen zum Opfer. Doch nur wenige Eingeweihte kannten sich in diesem Haushalt aus, der auch der Mehrzahl der Stadtverordneten ein Buch mit sieben Siegeln blieb. Selbst der Rechnungshof sah sich außerstande, Licht in dieses Zahlendickicht zwischen Stadt, Département, Region und Staat zu bringen. Die Prüfer erhielten nicht einmal befriedigende Auskunft, als sie sich nach dem Umfang des städtischen Immobilienbesitzes erkundigten.
Die Privatisierung städtischer Betriebe hatte Chirac bereits in seiner ersten Amtszeit ins Auge gefaßt. Nach seiner Wiederwahl 1983 nahm er die Reform entschlossen in Angriff. Der Brand der städtischen Sargschreinerei bot die Gelegenheit, die Herstellung von jährlich achtzehntausend Särgen an vier Handwerksbetriebe zu übertragen; der Bestattungsdienst folgte wenig später. Riskanter war die Auflösung der städtischen Druckerei, die das »Bulletin municipal officiel« (BMO) mit den Beschlüssen der Stadtverwaltung und den Sitzungsprotokollen des Conseil de Paris druckte. Wie jede größere Druckerei in Paris stand auch diese unter der Kontrolle der kommunistischen Gewerkschaft CGT. Der Zugriff auf die überalterten technischen Anlagen in den Kellerräumen der einstigen Lobau-Kaserne hinter dem Rathaus und auf die Geschäftsunterlagen erfolgte in der Nacht zum langen Pfingstwochenende 1985 wie ein Kommando-Unternehmen. Damit waren vollendete Tatsachen geschaffen. Bei jeder weiteren Privatisierung wiederholte sich der Widerstand der Belegschaft, die um ihre Privilegien bangte, der Gewerkschaften und der linken Opposition. »Wir haben mit den Berufsvertretern bis zur Erschöpfung verhandelt. Das war der Preis des sozialen Friedens«, erinnerte sich Georges Quémar, einer der Verantwortlichen.
Nach und nach wurden die Müllabfuhr (zur Hälfte), die Reinigung der Schulen und Kindergärten, die Pflege der Bäume in Alleen und Parks, die Beheizung städtischer Gebäude, das Betreiben der geschlossenen Märkte und der Tiefgaragen in die Hand von Privatunternehmen gegeben. Bei manchen Firmen trat die Stadt als Teilhaber auf. So entstanden fast dreißig »Sociétés d’économie mixte« (SEM). Aber dies alles waren Lappalien verglichen mit der Übertragung der Wasserversorgung an zwei marktbeherrschende Konzerne: die Compagnie Générale des Eaux auf dem rechten Seine-Ufer, die Lyonaise des Eaux auf dem linken. Damit sparte die Stadt angeblich Milliardenausgaben für die Modernisierung der über hundert Jahre alten Kanalisation. Doch der Haushalt wurde durch die Vernetzung mit der Privatwirtschaft vollends undurchschaubar. Das angekündigte Weißbuch über den Finanznutzen der Privatisierungen für die Stadt ist nie erschienen.
Für alle Welt war klar, daß sich Chiracs politischer Ehrgeiz nicht darin erschöpfte, eine Großstadt zu verwalten. Jeder wußte, daß der Parteichef der Neogaullisten nach dem höchsten Staatsamt strebte. Mehrere Mitarbeiter sorgten für die ständige Verbindung zwischen dem Rathaus und der RPR-Zentrale am Ende der Rue de Lille, nicht weit vom Palais-Bourbon. Mindestens einen Nachmittag in der Woche verbrachte Chirac in seinem Parteibüro und in der Nationalversammlung. Im Wahlkampf – und fast jedes Jahr fanden Wahlen statt – hielt es den Parteichef nicht in Paris. Dann mußte er hinaus ins Land. Trotzdem durfte Chirac nicht den Eindruck erwecken, er vernachlässige über der Innenpolitik seine Bürgermeisterpflichten. Sein wirksamstes Versprechen an die Wähler lautete: »Was wir für Paris getan haben, das werden wir für Frankreich tun!«
Beim Kampf um die Macht bot Paris eine unvergleichliche Stellung, eine Garantie für den Sieg war es nicht. Bei der Präsidentenwahl 1981 lag Chirac im ersten Wahlgang mit 18 Prozent der Stimmen hinter Staatspräsident Giscard d’Estaing und dem sozialistischen Herausforderer Mitterrand. (In Paris befand sich Chirac mit fast 27 Prozent in Führung.) Alles, was ihm zu tun übrig blieb, war, bei der Stichwahl am 10. Mai 1981 die Wiederwahl des Präsidenten Giscard zu sabotieren.
Die Fernsehzuschauer erfuhren den Namen des künftigen Staatspräsidenten um 20 Uhr in den Abendnachrichten: François Mitterrand. Das genaue Ergebnis – 51,76 Prozent der Stimmen für Mitterrand – wurde am nächsten Tag bekanntgegeben. (In Paris lag Giscard mit 53,5 Prozent vor Mitterrand.) Für einige Hundert Begünstigte bestand schon anderthalb Stunden früher Klarheit. Die beiden größten Meinungsforschungsinstitute hatten Firmenchefs und Werbefachleute, hohe Beamte und Politiker, Journalisten und Meinungsmacher zu Wahl-Partys eingeladen. Weniger als eine halbe Stunde nach der Schließung der Wahllokale um 18 Uhr konnten sie einem ausgewählten Publikum das Ergebnis mitteilen. »Plötzlich begriffen all diese Leute, die Frankreich so lange geleitet hatten, daß es vorbei war. Den Ministerialbeamten, die tatsächlich glaubten, sie seien politisch neutral, erschien der Regierungswechsel unmöglich. Und die Unternehmer, die davon ausgingen, daß ihre Freunde, die Enarchen, immer an den Schalthebeln des Staates bleiben würden, mußten sich sagen, daß es damit vorbei war«, schilderte der Generaldirektor der Filmgesellschaft Gaumont, Daniel Toscan du Plantier, seine Eindrücke. (Sophie Coignard)
Auch im Innenministerium in der Nähe des Élysée wurden Hochrechnungen angestellt, sobald die ersten Ergebnisse vorlagen. Die Experten, die seit Monaten die Stimmung beobachteten, waren weniger überrascht als das Tout-Paris. Der Innenminister Christian Bonnet kannte sogar schon den Namen seines Nachfolgers, des sozialistischen Bürgermeisters von Marseille, Gaston Defferre. Ende Februar wurde bei einer Krisensitzung im Élysée die Vernichtung gewisser Akten beschlossen. Für das Präsidialamt waren das die Belege für die Finanzierung des Wahlkampfes; für das Innenministerium die Berichte der politischen Polizei über die Opposition; für das Justizministerium die Spuren der Einflußnahme bei Strafverfahren; für das Postministerium Aufzeichnungen der Telefonüberwachung; für das Verteidigungsministerium militärische Fakten, die Kommunisten und Pazifisten besser nicht erfuhren. Das Außenministerium beteiligte sich nicht an der Vernichtungsaktion, das Staatssekretariat für Afrika um so eifriger.
Vor der Zentrale der Sozialistischen Partei in der Rue de Solférino Nr. 10 sammeln sich seit den frühen Abendstunden Anhänger mit roten Rosen und Spruchbändern. Die Polizei stellt Absperrgitter auf und hält Sicherheitskräfte in Bereitschaft. Als der Erste Sekretär Lionel Jospin kurz nach 20 Uhr vor das Portal tritt und winkend die Hand hebt, bricht der Jubel los. Mitterrand befindet sich in diesem Augenblick weder in der Parteizentrale noch in seiner Wohnung in der Rue de Bièvre (5. Arr.), sondern 250 Kilometer von Paris entfernt in seinem Wahlkreis Château-Chinon bei Nevers. Gegen Mitternacht trifft er in der Rue de Solférino ein und zieht sich mit den engsten Mitarbeitern in sein Arbeitszimmer zurück.
Die Parteiführung hat das Siegesfest auf der Place de la Bastille in aller Heimlichkeit vorbereitet. Zwei Tieflader schaffen unter Polizeibegleitung die Tribüne, die technischen Anlagen und zwei Riesenbildwände aus der Banlieue heran. Ein Anruf bei der Polizeipräfektur genügt. Redner, Musikgruppen und Liedersänger lösen einander ab. Die Stimmung läßt an den Mai 1968 denken und an die Volksfrontseligkeit 1936. Es gibt Verbrüderungen zwischen Wildfremden, die für denselben Mann gestimmt haben, gereckte Fäuste und Rosen, wie fromme Zeichen erhoben. Aus der kompakten Menge von hunderttausend Menschen stechen die roten Fahnen der Kommunisten hervor. Ein Spruchband: »Jetzt: Arbeiterkomitees für die Kontrolle der Produktionsmittel!« Die Kommunisten wissen, was sie wollen. Aber will Mitterrand das gleiche? Ein Wolkenbruch macht dem Fest ein jähes Ende.
Am Vormittag des 21. Mai, einem Donnerstag, findet sich Mitterrand zur Amtsübernahme im Élysée-Palast ein. Der dunkle Wagen rollt in den mit weißem Kies bestreuten Innenhof. Zum erstenmal begleiten Motorradfahrer der Republikanischen Garde den bisherigen Oppositionsführer. Giscard d’Estaing ist vor den Eingang getreten. Ein kurzer Händedruck zwischen dem scheidenden und dem künftigen Präsidenten. Dann verschwinden die beiden im Innern. Bei dieser Begegnung geht es neben einigen außenpolitischen Mitteilungen um die Übermittlung des Codes, der im apokalyptischen Ernstfall die nukleare Vernichtungskraft Frankreichs mit einer Gesamtstärke von mehr als viertausend Hiroshima-Bomben wirksam macht: der Aktenkoffer mit dem Übermittlungsmechanismus der »Force de frappe« als Ersatz für Krone und Zepter. Einige Tage später wird der neue Staatspräsident den atomaren Befehlsstand »Jupiter« unter dem Rasen des Élysée kennenlernen. Nach einer Dreiviertelstunde erscheinen Mitterrand und Giscard wieder im Freien. Der neue Hausherr begleitet den Vorgänger zur Freitreppe und verabschiedet ihn. Umdrängt von Kameraleuten schreitet der Privatmann Giscard auf das zweiflügelige Portal zu. Mitterrand blickt ihm nach. Das Tor öffnet sich. Umgeben von Leibwächtern tritt Giscard in die Rue du Faubourg Saint-Honoré hinaus, wo ihn der älteste Sohn Henri mit dem Wagen erwartet. Anhänger der Linken auf dem Bürgersteig gegenüber empfangen den ehemaligen Staatspräsidenten mit Schmährufen. Der schlichte Abgang, die letzte von Giscards kleinen Gesten, ist verdorben.
Wie de Gaulle und Pompidou wählte Mitterrand den mittleren Raum in der ersten Etage als Arbeitszimmer. Der Vorgänger Giscard hatte das Eckzimmer im linken Flügel vorgezogen. Die neuen Mitarbeiter mußten sich mit Hilfe des Personals in der neuen Umgebung zurechtfinden. »Régis Debray und ich irrten am Nachmittag [des 21. Mai 1981] durch verlassene Korridore und fragten die Amtsdiener, wie das nun vor sich ginge«, erinnerte sich der spätere Außenminister Hubert Védrine, damals ein junger Diplomat. »›Und womit befassen Sie sich?‹, erkundigten sich die. Wir glaubten zu wissen, daß es um internationale Angelegenheiten ging. Die Amtsdiener beratschlagten und sagten dann: ›Es handelt sich wohl um die Diplomatische Zelle!‹ Wir fanden in dem Büro zwei Sekretärinnen vor, tüchtige Damen, die seit dem letzten Amtsjahr général de Gaulles dort arbeiteten, wie sie uns vorsichtig zu verstehen gaben. Es war ein Machtwechsel, wie es noch keinen gegeben hatte.« (Jean Lacouture)
Am Nachmittag stattete der neue Staatspräsident den protokollarischen Besuch im Rathaus ab. Der Bürgermeister Chirac empfing den Präsidenten am Fuß der Ehrenteppe und geleitete ihn in den Festsaal, wo neben den Stadtverordneten eineinhalbtausend Geladene warteten. In seiner Grußadresse gab sich Chirac staatsmännisch und zog eine positive Bilanz der Fünften Republik. Der Staatspräsident erinnerte an die wechselvolle Geschichte der Hauptstadt und an »das alte Gegenüber von König und Stadtvorsteher«. Dann zogen sich Mitterrand und Chirac zu einem Gespräch unter vier Augen zurück. Der Bürgermeister von Paris war jetzt der Führer der bürgerlichen Opposition. Doch den überwältigenden Sieg der Linken bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni konnte Chirac nicht verhindern.
Manches geschah bei dieser Amtseinführung zum ersten und einzigen Mal. Es war Mitterrands Wunsch, an diesem Tag drei große Tote im Panthéon zu ehren, als wollte er sie zu Garanten der Zukunft machen. Der Kulturminister Jack Lang sorgte für die Inszenierung. Am Spätnachmittag, nach dem Besuch im Rathaus, schritt Mitterrand die breite Rue Soufflot hinauf zum Ruhmestempel. Neben den Mitstreitern begleiteten ihn die Genossen der Sozialistischen Internationale, darunter der frühere Bundeskanzler Brandt und die Witwe des chilenischen Staatspräsidenten Allende, dazu eine Schar sympathisierender Schriftsteller und Künstler: Henry Miller, Gabriel Garcia Márquez, Carlos Fuentes, Milan Kundera, Elie Wiesel, die Sängerin Melina Mercouri und ihr Landsmann Mikis Theodorakis.
Auf der anderen Seite der Absperrgitter wartete in dichten Reihen das Volk. »Wir fuhren vom Rathaus im Schrittempo den Boulevard Saint-Michel hinauf, der schwarz von Menschen war. Die Balkons waren ausverkauft, überall winkende, jubelnde Menschen. Ich habe niemals eine solche Begeisterung erlebt«, erinnerte sich der spätere Außenminister Roland Dumas. (Jean Lacouture) Vor der Rechtsfakultät setzte das Orchestre de Paris unter Daniel Barenboim mit Beethovens »Hymne an die Freude« ein. Allein schritt Mitterrand die Stufen des Panthéon hinauf und entzog sich im Innern den Blicken. In der Krypta legte er drei rote Rosen auf die Sarkophage des Résistance-Helden Jean Moulin, des Sozialistenführers Jean Jaurès und des Sklavenbefreiers Victor Schoelcher. Die Fernsehkamera begleitete Mitterrands einsamen Weg im Reich der Toten, Millionen Fernsehzuschauer sahen dabei zu. Als der Staatspräsident wieder ins Freie trat, stimmte das Orchester die Marseillaise an.
Die Beziehungen zwischen Rathaus und Élysée traten in eine neue Phase. Unproblematisch waren sie schon vorher nicht. Manches wäre einfacher gewesen, hätte der Staatspräsident in dem Bürgermeister nicht seinen gefährlichsten Konkurrenten sehen müssen. Das galt für Mitterrand wie für Giscard, und daran sollte sich nichts ändern, so lange der Führer der Neogaullisten im Rathaus saß. Dabei war das Verhältnis Chiracs zu Mitterrand von Achtung bestimmt. Die »Großen Bauten« des neuen Präsidenten irritierten ihn weniger als das Veto Giscards gegen unvollendete Projekte des Vorgängers Pompidou.
Ein Jahr nach der Amtsübernahme eröffnete die sozialistische Regierung die Feindseligkeiten. Am 30. Juni 1982 beschloß der Ministerrat eine Änderung des Paris-Statuts von 1975: Aus den zwanzig Stadtbezirken sollten zwanzig vollwertige Gemeinden werden, der Bürgermeister von Paris würde nur noch der »Vorsitzende der Gesamtgemeinde« sein. Die politischen Absichten lagen auf der Hand: Paris, die Hochburg der Neogaullisten, sollte zerschlagen werden. Am nächsten Tag rief Chirac bei einer außerordentlichen Pressekonferenz im Rathaus zum Widerstand auf: »Was keine Regierung je gewagt hat, das will die sozialistisch-kommunistische Regierung heute unternehmen, um ihre politische Rachsucht zu befriedigen: die Einheit einer Stadt zerschlagen, deren zweitausendjährige Geschichte die Weltgeltung der Nation symbolisiert … Man verhandelt nicht mit Unfähigen, Verantwortungslosen, Betrügern … Es wird keine zwanzig Gemeinden in Paris geben … Paris will nicht sterben.« (Marc Ambroise-Rendu) Eine Kampagne zur Rettung des Paris-Statuts lief an.
Das Vorhaben, hinter dem die sozialistische Fraktion im Conseil de Paris steckte, wurde von Premierminister Mauroy, dem Bürgermeister von Lille, befürwortet. Der Innenminister Defferre, Bürgermeister von Marseille, sah Ärger voraus. In einem Memorandum an den Staatspräsidenten warnte Defferre: »Die Schaffung von Bezirksräten anderer politischer Richtung als die Mehrheit im Stadtrat wird die Verwaltung der großen Städte beträchtlich erschweren, komplizieren und verlangsamen. Wir sind in Gefahr, ein wahres Monstrum hervorzubringen und bestimmte Städte unregierbar zu machen.« Die Regierung beeilte sich, das Vorhaben abzuschwächen und auf Lyon und Marseille auszuweiten, um die wahre Absicht zu verschleiern. Am 31. Dezember 1982 wurde das »PLM-Gesetz«, so genannt nach den Anfangsbuchstaben der drei größten Städte, verabschiedet. Um die Befugnisse der neuen gewählten Conseils d’arrondissement scherte sich der Bürgermeister Chirac wenig. Bei den Gemeindewahlen 1983 und 1989 eroberte die bürgerliche Rechte unter Chiracs Führung alle zwanzig Stadtbezirke. Offensichtlich waren die Pariser mit ihrem Bürgermeister zufrieden.
Das Jahr 1989 brachte die Erinnerungsfeiern der Französischen Revolution, die vor zweihundert Jahren in Paris ihren Anfang genommen hatte und den hundertsten Geburtstag des Eiffelturms. Die Vorbereitung des »Bicentenaire« lag bei der »Mission für die Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution und der Erklärung der Menschenrechte« und dem Kulturminister Jack Lang. Dem Konzept – der Würdigung der Menschenrechte und der »Ideen von 1789« – konnten beide politische Lager zustimmen.Bei den Einzelheiten kam es immer wieder zu Meinungsstreit und Verwirrung. Die veränderte Einschätzung der totalitären kommunistischen Diktatur machte auch die Neubewertung der Französischen Revolution unvermeidlich.
Die Urgroßväter hatten es beim »Centenaire« 1889 leichter gehabt. Sie begingen das Jubiläum als Triumph der wiedererstandenen Republik. Vor allem lockte damals die Weltausstellung viele Besucher nach Paris. Beim Anblick des Eiffelturms vergaß man die Guillotine. Der Staatspräsident Mitterrand hatte den Bürgermeister Chirac am Tag der Amtsübernahme von seiner Absicht für eine Pariser Weltausstellung 1989 in Kenntnis gesetzt und Verständnis gefunden. Für Mitterrand stand dabei unausgesprochen der Wunsch im Vordergrund, die von ihm geplanten großen Bauten zügig voranzubringen. Ein Planungsausschuß machte sich an die Arbeit. Aber im Frühsommer 1983 meldete Chirac plötzlich Bedenken an. Der Vorsitzende des Planungsausschusses, Gilbert Trigano, der Gründer des »Club Méditerranée«, warnte das Élysée, die Stadtverwaltung werde versuchen, das Vorhaben unter allen möglichen Vorwänden zu sabotieren. Anfang Juli verzichtete Mitterrand auf seine Weltausstellung: »Es ist besser, den Ereignissen zuvorzukommen, als sich eine Entscheidung aufzwingen zu lassen.« (Jacques Attali: »Verbatim«, 1. Bd, 27. Juni und 5. Juli 1983)
Das Revolutionsgedenken begann am Neujahrstag 1989 mit dem Aufstieg bunter Montgolfieren im Tuilerien-Garten. Am 21. März wurden in allen Stadtbezirken »Freiheitsbäume« gepflanzt. Am 4. Mai erinnerte Versailles mit einem Kostümzug an die Eröffnung der Generalstände vor zweihundert Jahren. Die »International Herald Tribune« stiftete einen Nachguß der Fackel der New Yorker Freiheitsstatue, der seither wie eine Riesenportion von goldbronziertem Eiscreme die Place de l’Alma ziert. Der Tuilerien-Garten verwandelte sich in einen Themenpark »Tuileries 89«, der vor symbolträchtigem Kitsch nicht zurückschreckte. Zum 200. Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte am 26. August erklang am Bogen von La Défense ein Konzert. Am selben Abend überquerte ein Seiltänzer auf einem Drahtseil zwischen dem Palais de Chaillot und dem zweiten Stockwerk des Eiffelturms die Seine und überreichte dem Bürgermeister Chirac ein Exemplar der weltgeschichtlichen Erklärung. Zum Ausklang wurden im Dezember die sterblichen Überreste des Philosophen Condorcet, des Freiheitspredigers Grégoire und des Mathematikers Monge ins Panthéon überführt. Zum Gedenken für die mehr als dreizehnhundert Revolutionsopfer in Paris, die im Stadtteil Picpus (12. Arr.) in zwei Massengräbern hinter Klostermauern ruhen, fanden sich der Staat und die Stadt nicht bereit.
Mit einer Monster-Schau »Paris 89« feierte die Stadt am 17. Juni die hundert Jahre ihres berühmtesten Wahrzeichens, des Eiffelturms. Fünftausend Mitwirkende waren zwei Stunden hindurch aufgeboten, zwei Chöre mit Hunderten von Sängern, Stars des Showgeschäfts, die Republikanische Garde und die Pariser Feuerwehr. Auf dem Champ-de-Mars und an den Seine-Quais drängten sich eine halbe Million Zuschauer. Der ehemalige amerikanische Präsident Reagan und seine Frau saßen neben dem Ehepaar Chirac auf den Ehrenplätzen auf dem Pont d’Iéna: »Vive la Tour Eiffel, vive Paris et vive la France!« In der blauschwarzen Sommernacht zerstoben die Feuerwerksgarben.
Wer war auf den Gedanken verfallen, den Höhepunkt der Revolutionsfeiern am 14. Juli mit dem Treffen der sieben wichtigsten Industriestaaten zu verbinden? Staatspräsident Mitterrand mochte darin einen Ersatz für die entgangene Weltausstellung sehen. Neben den Repräsentanten der reichsten Länder sollten auch die der »Dritten Welt« nach Paris kommen. Für den Polizeipräfekten Piere Verbrugghe (1988–1993) bedeutete der Schutz von dreiunddreißig Staats- und Regierungschefs, verbunden mit dem Ansturm von Hunderttausenden von Schaulustigen eine ungeahnte Herausforderung. Die Konferenz würde an mehreren Schauplätzen in einer Zwei-Millionen-Metropole stattfinden, in der gleichzeitig die Revolution gefeiert wurde. Dem Gastgeber Mitterrand bot dieses Treffen die ideale Gelegenheit, der Welt seine »Großen Bauten« vor Augen zu führen: die Arche de La Défense, die gläserne Pyramide im Hof des Louvre und die neue Oper. Sechs Tage früher hatte die extreme Linke die Gelegenheit zu einem »Gegengipfel der Armen« auf dem Bastille-Platz genutzt. Das Rot der Revolution mischte sich mit dem Schwarz der Anarchie und dem Grün der Umweltschützer. Den Veranstaltern ging es neben dem Schuldenerlaß für die »Dritte Welt« um die Rechte der Palästinenser und der Kurden, um den Kampf gegen Apartheid und für Abtreibung, um die freie Entfaltung von Punks und Taggern und die Haftbedingungen von Terroristen: eine »Beggars’ Opera« als Vorspiel der Staatsfeiern.
Der Festzug, der sich am Abend des Nationalfeiertages über die Champs-Élysées ergoß, der Höhepunkt der Revolutionsfeiern, war das Meisterwerk des Werbefachmanns Jean-Paul Goude, der in New York ebenso zuhause war wie in Paris. Der Talentsucher Jack Lang hatte den Tausendsassa als »Maître de plaisir« ausgespäht. Damit waren anerkannte Theaterleute wie Robert Hossein oder Jérôme Savary aus dem Spiel. Goude mischte mit seiner Völkerschau »Die Marseillaise« Völker und Musiken und machte so das Ideal der multikulturellen Gesellschaft sichtbar und hörbar. Vom Arc de Triomphe her dröhnen Trommeln. Die Fahnenschwinger von Siena in blau-roten Trachten ziehen heran. Sie lassen Trikoloren wirbeln und hoch in die Luft steigen. Die Stille danach ist fast körperlich zu spüren. Auf einem hohen Bambusgestell schwankt, wie in einem Käfig, eine riesige chinesische Holztrommel heran. Eigentlich sollte die Trommel tönen. Aber sie bleibt stumm. Die jungen Chinesen und Chinesinnen, die sie begleiten, sollten auf Fahrrädern unbeschwert dahingleiten. Jetzt schieben sie ihre Räder. Statt Singen und Lachen hängt das grillenhafte Sirren der Fahrradklingeln wie ein Trauerton über ihnen: die Antwort auf die Unterdrückung der Freiheit auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking.
Die nächsten Bilder zeigen Volksmusikanten aus den französischen Provinzen mit altertümlichen Instrumenten, doch nicht in bunten Trachten, sondern in dunkler Einheitskluft. Zeigen einen Wagen mit einer acht Meter hohen Treppe, auf der afrikanische Trommler ein ohrenbetäubendes Konzert vollführen. Zeigen maghrebinische Tänzerinnen auf Rollschuhen. Zeigen Abteilungen englischer und schottischer Garderegimenter, von künstlichem Regen besprüht, weil es in ihrer Heimat ja immer regnet. Zeigen das Wachbataillon des Lenin-Mausoleums in Moskau im Stechschritt. Eine amerikanische Kapelle mit Blasinstrumenten tanz-schreitet die »Champs« hinunter, gefolgt von vierhundert Senegal-Schützen. Das letzte Bild, eine hölzerne Riesenlokomotive, beschwört Erinnerungen an den Zola-Film »La Bête humaine«. Industriesklaven schlagen auf leeren Blechtonnen den Maschinentakt. Zum Abschluß tritt die amerikanische Sopranistin Jessye Norman, in die Trikolore gehüllt, vor den Obelisken auf der Place de la Concorde und singt die Marseillaise. Von der Terrasse des Marine-Ministeriums folgen die Ehrengäste hinter kugelsicherem Glas dem Schauspiel. Was bedeutet das Revolutionsgedenken in ihrer Welt? Ein halbes Jahr nach dem »Bicentenaire« öffnete sich die Berliner Mauer.
1995 wurde aus dem Bürgermeister von Paris der fünfte Staatspräsident der Fünften Republik. In der Stichwahl am 7. Mai siegte Chirac mit 52,67 Prozent gegen den sozialistischen Kandidaten Jospin. (In Paris stimmten über sechzig Prozent der Wähler für Chirac.) Aus dem Festsaal des Hôtel de Ville wandte sich der Sieger an die Nation. Dann fuhr er langsam durch die jubelnde Menge zum Hauptquartier seiner Wahlkampagne in der Avenue d’Iéna. Mancher hielt den Atem an, als Chirac in ein geöffnetes Fenster stieg und mit ausgebreiteten Armen die Menge grüßte. Seine Anhänger feierten den Sieg auf der Place de la Concorde, wie die Anhänger Mitterrands vierzehn Jahre früher auf der Place de la Bastille. Die politische Topographie der Hauptstadt bewies wieder einmal ihre Symbolwirkung. Die Amtsübergabe am 17. Mai geschah, anders als 1981, ohne störende Nebengeräusche. Mitterrand führte den Nachfolger in das Arbeitszimmer im ersten Stock und erklärte: »Sehen Sie, ich habe Wert darauf gelegt, Ihnen den Raum in dem Zustand zu übergeben, in dem der General de Gaulle ihn verlassen hat.« Elf der wichtigsten Mitarbeiter im Rathaus, an der Spitze der neue Premierminister Juppé, folgten Chirac.
Die Kommunalwahlen, die am 11. und 18. Juni auf die Präsidentenwahl folgten, brachten der bürgerlichen Mehrheit in Paris schmerzhafte Rückschläge. Die Totalerfolge Chiracs von 1983 und 1989 ließen sich unter der Führung Jean Tiberis nicht wiederholen. Sechs Stadtbezirke (3., 10., 11., 18., 19., 20. Arr.) fielen an die Linke. Zumindest hatte der Lokalpolitiker Tiberi mit dem Bürgermeisteramt das Ziel seiner Wünsche erreicht. Jean Tiberi war 1935 als Sohn eines korsischen Versicherungsvertreters im 5. Bezirk zur Welt gekommen, in derselben Klinik wie zwei Jahre früher Chirac. Als Schüler am Elite-Gymnasium Louis-le-Grand und Student an der Juristischen Fakultät brauchte er den vertrauten Stadtteil nicht zu verlassen. Früher als Chirac schloß sich Tiberi der gaullistischen Bewegung an. Seit 1965 wurde er als Stadtverordneter, Bürgermeister und Abgeordneter des 5. Bezirks gewählt und wiedergewählt. Die Ehefrau Xavière, eine Bäckerstochter aus Korsika, ging ihrem Mann bei der Pflege der Klientel zur Hand.
Als Stellvertreter Chiracs hatte sich Tiberi vorzüglich bewährt. Aber befähigten ihn die Tugenden eines Major domus auch, die Hauptstadt Frankreichs zu repräsentieren und über ihre Entwicklung zu entscheiden? Auch im bürgerlichen Lager gab es da Zweifel. Von Anfang an war die Amtszeit Tiberis von den »Affären« überschattet, die nach dem Wechsel im Rathaus explodierten wie vergessene Tretminen. Die Untersuchungen der Justiz wegen Amtsmißbrauch und Korruption richteten sich vor allem gegen die städtische Baugesellschaft, das »Office public d’aménagement et de construction« (OPAC).
Die Machenschaften, um die es ging, verliefen nach eingespieltem Muster: Ein Bauunternehmer, der einen Auftrag der Stadt bekommen wollte, tat gut daran, sich an ein sogenanntes »Beratungsbüro« zu wenden, das über Beziehungen zur neogaullistischen Partei verfügte. Nach allgemeinem Dafürhalten floß der größte Teil des Honorars der »Berater« in die Parteikasse des RPR. Selbstverständlich wurden die Schmiergelder auf die Baukosten aufgeschlagen und damit von Steuerzahlern und Mietern bezahlt. Ausschreibungen wurden in kleinen Gremien abgenickt. Die Anfragen des Rechnungshofes blieben so wirkungslos wie die Beschwerden der Opposition. Solche Praktiken gab es auch in linken Gemeinden. Aber nur die Stadt Paris konnte Jahr für Jahr mehr als dreißigtausend Aufträge mit einem Volumen von einigen Milliarden Franc vergeben.
Drei Wochen vor den Gemeindewahlen erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen ein halbes Hundert Stadtbeamte, Bauunternehmer und Firmenberater wegen Amtsmißbrauchs und Bestechung. Als langjähriger Verantwortlicher für den Wohnungsbau gehörte der Bürgermeister Tiberi zu den Angeklagten. Die Wurzeln der »Affären« reichten weit zurück in Chiracs Amtszeit im Rathaus. Im Juni 1996 nahm der Untersuchungsrichter Éric Halphen eine Haussuchung in Tiberis Wohnung und im Rathaus vor. In ihrem Tagebuch, das dem Untersuchungsrichter bei dieser Gelegenheit in die Hände fiel, beklagte sich Madame Tiberi über mangelnde Rückendeckung durch den Staatspräsidenten Chirac und den Premierminister Juppé: »Sie werden versuchen, ihm [Tiberi] alles in die Schuhe zu schieben. Man könnte glauben, er habe alles allein gemacht. Warum wird immer nur sein Name genannt? Haben Ch. und J. niemals etwas im Rathaus gemacht?« (»Le Monde« vom 27. Juli 1996) Tiberi fühlte sich als Sündenbock mißbraucht.
Es war offensichtlich, daß Chirac und seine Partei keine zweite Amtszeit Tiberis wünschten. Um vollendete Tatsachen zu schaffen, erklärte Tiberi im Juni 1999 vorzeitig seine Kandidatur. Aber die bürgerlichen Parteien wollten bei den Kommunalwahlen 2001 einen ansehnlicheren Kandidaten in den Kampf schicken. Nach mancherlei Eifersüchteleien stellten sie im Mai 2000 den ehemaligen Premierminister Philippe Séguin als Listenführer gegen den Einheitskandidaten der Linken, den Sozialisten Bertrand Delanoe, auf. Die internen Kämpfe zogen sich ein Dreivierteljahr hin. Tiberi wurde aus dem RPR ausgeschlossen, weil er »weder das Format eines ersten Amtsträgers der Hauptstadt, noch die Fähigkeit, den Parteiverband Paris zusammenzuhalten« habe, wie die Parteiführung plötzlich erkannte. Bei der Enthüllung des Denkmals General de Gaulles in der Nähe des Grand Palais am 9. November 2000 wechselten Chirac und Tiberi zum letztenmal einige Worte.
Noch ein Vierteljahr vor den Kommunalwahlen im März 2001 hielt Chirac den Verlust der Hauptstadt für ausgeschlossen. Das Kräfteverhältnis von 101 zu 62 Sitzen im Stadtrat schien den bürgerlichen Parteien Sicherheit genug zu bieten. Aber mehr als der Wählerwille, die Rechte erhielt nach wie vor die meisten Stimmen, bewirkte die Zwietracht im bürgerlichen Lager bei der Stichwahl am 18. März 2001 den Sieg der Opposition. Zwölf der zwanzig Bezirke und 92 der 163 Sitze im Conseil de Paris fielen an die Linke und die Grünen. »Heute haben die Pariserinnen und Pariser frei über den politischen Wechsel in der Hauptstadt entschieden«, verkündete Bertrand Delanoe, der erste sozialistische Bürgermeister von Paris.
Über die Polizei hatte der Bürgermeister von Paris keine Gewalt. Darin blieb die Hauptstadt den Sicherheitsbestimmungen treu, die Napoleon mit dem Erlaß vom 1. Juli 1800 verankert hatte, darin unterschied sich Paris von anderen Städten wie Lyon oder Marseille. In Paris ging es um die Sicherheit der Staatsspitze, des Parlaments, der ausländischen Vertretungen, der internationalen Organisationen, der Staatsgäste. Der Schutz der inneren Sicherheit und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung hatten Vorrang. Der Staat konnte die Polizeipräfektur, diese Zitadelle auf der Île de la Cité, nicht in andere Hände geben.
Die Fusion der Pariser Polizei mit der staatlichen Polizei im Jahr 1966 sollte den Zugriff des Staates sogar noch verstärken. Die Entführung des marokkanischen Exilpolitikers Mehdi Ben Barka mitten in Paris gab den Anlaß. Ben Barka war im Oktober 1965 auf dem Weg zu einem Treffen am Boulevard Saint-Germain von zwei Kriminalbeamten ohne Auftrag festgenommen und in einem Vorort dem marokkanischen Polizeiminister General Oufkir ausgeliefert worden. Das Opfer blieb für immer verschwunden. Aber der aufgebrachte Staatschef de Gaulle wollte mit der Reorganisation der Polizei- und Geheimdienste klare Verhältnisse schaffen.
Das Amt des Polizeipräfekten von Paris gilt im Präfekten-Korps als Gipfel der Laufbahn. Das Arbeitszimmer mit Blick auf das Palais de Justice steht in direkter Verbindung mit dem Innenministerium. Der Zuständigkeitsbereich erstreckt sich über das Stadtgebiet hinaus auf die Region Île-de-France mit zehn Millionen Einwohnern. Ein Streik im Nahverkehr fällt ebenso in seine Verantwortung wie eine Blockade der Hauptstadt durch unzufriedene Bauern oder Stahlarbeiter. Ausschreitungen zu verhindern, ist die wichtigste Aufgabe des Polizeipräfekten. Bei sechs- bis siebenhundert Kundgebungen im Jahr ist Polizeipräsenz erforderlich. Niemand kann sicher sein, daß eine genehmigte Demonstration nicht in Krawalle übergeht. Dazu kommen kalendermäßig wiederkehrende Ereignisse wie die Endrunde der »Tour de France«, das »Fest der Musik«, die »Techno-Parade« oder die surrenden Rollschuh-Migrationen an Sommerabenden. Immer wieder muß sich die Polizei, Monate im voraus, auf Großveranstaltungen vorbereiten. Über eine Million junge Menschen aus aller Welt kamen im August 1997 beim Welt-Jugendtreffen mit Papst Johannes Paul II. zusammen. Ebensoviele Begeisterte feierten in der Nacht des 12. Juli 1998 auf den Champs-Élysées den Sieg der französischen Nationalmannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft. Ab und zu treten unvorhergesehene Ereignisse ein: Der Unfalltod von Prinzessin Diana in einem Straßentunnel unter der Place de l’Alma in der Nacht des 31. August 1997 machte kriminalistische Aufklärung in Zusammenarbeit mit Scotland Yard erforderlich, während Zehntausende zu der Unfallstelle pilgerten.
Der Polizeipräfektur unterstehen 27 000 Polizeibeamte in Uniform und Zivil, etwa ein Fünftel der französischen Polizeikräfte und siebentausend Feuerwehrleute. Dazu kommen Verstärkungen durch die kasernierte Polizei (CRS) und die Gendarmerie. Die Polizeipräfektur verfügt über einen Wagenpark von viertausend Fahrzeugen und die Flottille der Fluß-Brigade, über einige Hundert Gebäude, eigenes Labor, Datenbank und Archiv. Die Beamten unterstehen einer gesonderten Dienstaufsicht, der »Inspection générale des services« (IGS), die Beschwerden nachgeht und Fälle von Korruption ahndet. Die Kommissariate in den Stadtvierteln bilden die Stützpunkte. Anfänger werden häufig von einem Kommissariat zum anderen versetzt. »Wenn wir die Runde durch fünfzehn bis vierzig Kommissariate absolviert hatten, hatte die große Stadt keine Geheimnisse für uns«, wußte ein erfahrener Kriminalkommissar. (Pierre Ottavioli)
Dabei suchte die »Grande Maison«, wie die Pariser Polizeipräfektur genannt wird, so viel wie möglich von ihrer Autonomie zu bewahren. Insidern erschien der Polizeipräfekt häufig wie ein »Vize-Innenminister«, der selbst auf Entscheidungen Einfluß nahm, die seinen Aufgabenbereich nicht direkt betrafen. Besonders deutlich war das Beharren auf Selbständigkeit bei der Kriminalpolizei (Police judiciaire), deren Zentrale am Quai des Orfèvres an den Justiz-Palast grenzt. »Ein Innenhof, eine sagenhafte Treppe mit 148 Stufen. Die Büros unter dem Dach, der Geruch nach Tabak, die alterslosen Wände, die knarrenden Dielen, das abgetretene Linoleum … Im Labyrinth der Korridore traf man Polizisten jeden Alters, in Anzug und Krawatte bei der Brigade Criminelle, in Jeans und Windjacke bei der Brigade Antigang. Tag und Nacht begegnete man Gaunern, Zeugen und Opfern, Rauschgiftsüchtigen mit Entzugserscheinungen, angejahrten Transvestiten, erwischten Einbrechern, beraubten Taxifahrern. Von innen gesehen lief dieses scheinbare Durcheinander wie geölt von einem Stockwerk zum anderen, mit einem besonderen Korpsgeist.« Diese Schilderung stammt nicht von dem Romanschriftsteller Simenon, sondern von Kommissar Robert Broussard, der in den siebziger Jahren bei der »Crim« und der »Antigang« Dienst tat.
Die hohen Beamten der Polizeipräfektur waren gewöhnt, daß der Polizeipräfekt und der Minister bei Personalentscheidungen ihren Empfehlungen folgten. Nach dem Sieg der Linken 1981 stieß sich der Innenminister Defferre an diesem Gewohnheitsrecht: »Es ist Sache des Ministers, zu entscheiden und auszuwählen … Jede andere Konzeption kann nur zur Bildung von Clans und Cliquen führen.« Die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Polizei- und Geheimdiensten, zwischen Polizei und Gendarmerie gehörte zum Alltag. Aber was in den Zeitungen als »Krieg der Polizeien« beschrieben wurde, war im Grunde ein gewolltes Element der Innenpolitik. Der Staat weiß sich auf die Zuverlässigkeit seiner Sicherheitskräfte angewiesen und verfährt mit ihnen nach dem Grundsatz »Teile und herrsche«.
Das zeigte sich nach dem Sieg der Linken bei dem neuen Sicherheitsdienst im Präsidialamt, der nicht der Polizei, sondern der Gendarmerie unterstand. Der Chef der Einsatzgruppe der Gendarmerie (GIGN), Oberst Christian Prouteau, gelangte 1982 bei einer Prüfung der Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz des Staatsoberhaupts zu einem ungünstigen Ergebnis. Fotos bewiesen, daß ein entschlossener Attentäter sich dem Staatschef bei öffentlichen Veranstaltungen unschwer nähern konnte. So entstand die »Sicherheitszelle« im Élysée. Unvermeidlicherweise verstärkte die neue Einrichtung die alte Eifersucht zwischen Polizei und Gendarmerie. Angesichts einer zunehmenden Bedrohung fungierte die Zelle als Stab für die Bekämpfung des Terrorismus. Sie wurde auch für weniger legitime Aufgaben verwendet. Im März 1993 veröffentlichte »Libération« den Wortlauf von Telefongesprächen, die einige Jahre zuvor aus dem Élysée abgehört worden waren. Daß die »großen Ohren« immer wieder mithörten, wußten die Pariser spätestens, seit im Dezember 1973 die »Klempner« des Inlandsgeheimdienstes DST überrascht worden waren, als sie die Redaktionsräume des »Canard enchaîné« verwanzten. Daß sich auch die »Musketiere des Präsidenten« zu solchen Heimlichkeiten hergaben, war neu.
»Ich fühle mich für die Sicherheit der Pariser persönlich verantwortlich«, bekannte der Bürgermeister Chirac 1977 bei seinem Amtsantritt. Wollte der Bürgermeister die Leitung der Pariser Polizei und damit die Verantwortung für die Sicherheit der Bevölkerung übernehmen? Auch als Stadtoberhaupt identifizierte sich der Gaullist Chirac zu sehr mit dem Staat, als daß ihm an einer solchen Machtverschiebung lag. Im Polizeipräfekten sah der Bürgermeister mehr einen Verbündeten als einen Widersacher. Bei den Sitzungen des Stadtrates nahm der Polizeipräfekt an der Seite des Bürgermeisters Platz. Der städtische Beauftragte für öffentliche Sicherheit hatte sein Büro in der Polizeipräfektur, nicht im Rathaus. Ohnehin standen die meisten hohen Polizeibeamten nach mehr als zwei Jahrzehnten gaullistischer Herrschaft dem RPR nahe.
Jede Regierung, gleich welcher Couleur, lehnte die Einführung einer Stadtpolizei in der Hauptstadt ab. Der Bürgermeister Chirac begnügte sich mit Sicherheitsinspektoren für Anlagen und Fußgängerzonen, die nach und nach auf 1800 Mann verstärkt wurden. Auch bei der Eisenbahn und der Métro gibt es solche Sicherheitsdienste. Einkaufszentren, Supermärkte und Banken beschäftigen Wachleute. Die zunehmende Unsicherheit in der großen Stadt erfordert neue Methoden.
Eine Szene wie in einem Kriminalfilm: Im Spätnachmittagsverkehr an der Porte de Clignancourt, einer Stadtausfahrt im Norden, zwingen getarnte Polizeifahrzeuge einen schwarzen BMW zum Halten. Aus einem Lastwagen eröffnen Polizisten mit Maschinenpistolen das Feuer. Vierzehn Geschosse treffen den Wagen, die Windschutzscheibe zersplittert. Der Fahrer sinkt tot am Steuer zusammen. Hat ihm einer der Beamten zugerufen, sich zu ergeben? In der Presse wird darüber gestritten, die amtliche Untersuchung bringt keine völlige Klärung. Fest steht, daß Jacques Mesrine im letzten Augenblick zu einer Handgranate griff, die im Umkreis von fünfzig Metern Tod und Verderben bringen konnte. Fest steht auch, daß der flüchtige Einbrecher und Mörder in Interviews und in seiner Autobiographie gelobt hatte, der Polizei nicht lebend in die Hände zu fallen. Mesrine, der Sohn eines Graphikers aus der Vorstadt Clichy, der seine Laufbahn am 2. November 1979 im Alter von 43 Jahren beendete, verkörperte den Wandel in der Pariser Unterwelt. Ein Verbrecher, dem brutale Gewalt Genugtuung verschaffte und der einen sozialkritischen Ton anschlug wie die Anarchisten der Belle Epoque: »Ich wollte aus dem Verbrechen einen Beruf machen … Ich wollte ein Mörder werden.« Wer in der Zuchthauszelle so schreibt, rechnet auf die Zustimmung eines Teils des Publikums. (»L’instinct de mort«, 1977).
Zum Kern der Pariser Unterwelt – des »Milieus« oder der »Pègre« – rechnete man einige Hundert Berufsverbrecher. Die landsmannschaftliche Herkunft verstärkte den Zusammenhalt. An der Spitze standen die Korsen. Die logistische Basis stellten die Inhaber von Kneipen, Restaurants, Nachtclubs und Hotels, wo die Kriminellen neben anderen Gästen verkehrten. Eine höhere Ebene bildeten die »Trafiquants«, die Schieber, die mit Waffen, falschen Papieren, Rauschgift oder Falschgeld handelten und Schutzgelder erpressten. Dazwischen bewegten sich Gelegenheitsverbrecher, die auf eigene oder fremde Rechnung einen Coup unternahmen. Feste Einnahmen verschafften sie sich auf herkömmliche Weise: durch Zuhälterei. Erfolgreiche Mitglieder der Unterwelt legten Wert auf eine Geschäftsfassade. Neben dem Pigalle-Viertel war das Dreieck von Champs-Élysées, Avenue de Wagram und Place des Ternes ihr Reservat. Zwischen der Unterwelt von Paris und der von Marseille und Lyon liefen Verbindungen, die auch nach Nizza, Bastia und vor 1962 nach Algier und Casablanca reichten. Eine Mafia wie in Italien oder den Vereinigten Staaten sollte in Frankreich nicht entstehen.
Bezeichnend für diese Kriminellen war ihr Bedürfnis, dem »traditionellen, fast karikaturhaften Bild vom rebellischen, freien Verbrecher, der sein Wort hält«, zu entsprechen, wie Kommissar Broussard die Erfahrungen mit seiner »Klientel« zusammenfaßte. »Das Milieu war nicht mehr die legendäre Bruderschaft, wie sie die älteren Kriminalfilme zeigten, aber es gab noch Regeln, die mehr oder weniger befolgt wurden.« Der Niedergang des »Milieus« seit Ende der siebziger Jahre hatte mehr als eine Ursache. Die Nachstellungen der »Brigade de la répression du banditisme« (BRB) und der »Brigade de recherches et d’intervention« (BRI), der sogenannten »Antigang«, blieben nicht ohne Wirkung. Die alten »Kaids« waren der Konkurrenz der Jüngeren nicht gewachsen. Nordafrikaner und Zigeuner, später Chinesen und Osteuropäer verdrängten die Korsen. Bandenkriege wie der zwischen den Brüdern Zemour, die sich zu Herren des Faubourg Montmartre aufgeworfen hatten, und der sizilianischen »Gang der südlichen Banlieue« schwächten die Strukturen. Als Marcel Francisci, der »König des Glücksspiels«, 1982 in einer Tiefgarage im 16. Bezirk erschossen wurde, ging eine Epoche zu Ende.
Mehr als ein Viertel der Straftaten in Frankreich wird in der Pariser Region begangen. Anfang der siebziger Jahre wies die Gewerkschaft der Polizeikommissare auf die Zunahme der Alltagskriminalität hin, die von Politikern und Meinungsmachern als »petite délinquance« verharmlost wurde: Vandalismus, Angriffe gegen Fahrgäste in der Métro, Diebstahl auf der Straße, Umsichgreifen des Rauschgifthandels. In zehn Jahren, so die Prognose, seien »amerikanische Zustände« zu befürchten. 1997 lag die Zahl der Straftaten in Paris bei über 270 000, im Jahr 2001 bei 310 000 (davon 49 Fälle von Mord oder Totschlag); die Aufklärungsquote betrug zwölf bis vierzehn Prozent.
Besonders verstörend wirkte die zunehmende Gewaltbereitschaft der Täter. Das Verbrechen nahm Formen des Bürgerkriegs an: Einbrüche und Raubüberfälle ähnelten Plünderungen, Geldtransporte wurden mit Panzerfäusten und Haftminen angegriffen. Vom Herbst 1984 bis Ende 1987 versetzten Serienmorde mit mehr als zwanzig Opfern die Stadt in Unruhe. Die Täter lauerten wehrlosen alten Frauen auf der Straße auf, verfolgten sie in die Wohnung, fesselten sie, beraubten sie und brachten sie unter Mißhandlungen um. Ein Phantombild führte schließlich zur Ergreifung der Täter, zwei rauschgiftsüchtiger junger Männer westindischer Abstammung, die von einer Zukunft im Show-Geschäft träumten.
Der Rauschgifthandel mit Milliardenumsätzen drängte aus der Verschwiegenheit bestimmter Lokale auf die Straße, aus den Randbezirken in die Innenstadt. Sobald die Polizei einschritt, wechselten die Händler das Revier. »Der Deal findet bei der Gare de Lyon statt? Die Polizei vertreibt ihn. Er verlagert sich ins Hallen-Viertel? Bereitschaftspolizei rückt an und verjagt die Störer. Nach einem Umweg über die Métro-Station Strasbourg-Saint-Denis findet der Handel an der Place de Stalingrad ein neues Zentrum. Der Bezirksbürgermeister fordert massiven Polizeieinsatz, und die Süchtigen zerstreuen sich in das angrenzende Viertel. Eine Geschichte ohne Ende.« (»Le Nouvel Observateur« vom 13. April 1995) Die Hälfte der sogenannten »kleinen und mittleren Straftaten« ging auf das Konto von Drogenabhängigen. Beim nächtlichen Treiben von Dealern und Kunden und bei den Verteilungskämpfen rivalisierender Banden kriminalisierten sich bestimmte Stadtteile zu »rechtlosen Zonen«. Die vernachlässigte Banlieue gab ihre Gewalttätigkeit und Kriminalität an Paris zurück.
Einige Wochen nach seinem Amtsantritt im März 1977 besichtigte der Bürgermeister Chirac eine Baustelle, die bisher nur auf Plänen existierte. Die »Radiale Vercingétorix« sollte den Autoverkehr von der Porte de Vanves im Südwesten direkt nach Montparnasse führen: ein wichtiger Abschnitt des Programms für eine verkehrsgerechte Stadt. Im Wahlkampf um das Rathaus hatte sich Chirac für das Vorhaben ausgesprochen. Aber er hatte den Widerstand der Bevölkerung gespürt. Nun entschied er gegen den sechsspurigen Schnellweg. Die »Radiale Vercingétorix« verschwand aus der Planung. Nicht anders erging es der »Voie Lopez«, der Querverbindung von Montparnasse zur Höhe von Chaillot.
Chirac ging die Probleme des Urbanismus als Politiker an, ehe er sie als oberster Entscheidungsträger der Stadt wirklich begriff. Ein eigenes Konzept brachte er nicht mit. Die vorangegangene flächendeckende Erneuerung, für die der Name des Staatspräsidenten Pompidou stand, entsprach sicherlich Chiracs zupackender Art. Aber Pompidou war nicht mehr da. Sein Tod 1974 bedeutete eine Zäsur in der Entwicklung der Hauptstadt. Der Nachfolger Giscard d’Estaing sah die Zukunft von Paris nicht in einer Modernisierung durch Stahl, Glas und Beton. Als Finanzminister hatte Giscard gegen die Höhe der Wolkenkratzer von La Défense gestritten. Als Staatspräsident verhinderte er den Schnellweg auf dem linken Seine-Ufer, den Turm »Apogée de Paris« an der Place d’Italie und das Welthandelszentrum im Hallen-Viertel. Als Premierminister folgte Chirac den Vorgaben des Staatspräsidenten. Nur als Giscard das Kulturzentrum, das den Namen Pompidous tragen sollte, infrage stellte, widersetzte er sich.
Der neue Bebauungsplan und der neue urbanistische Gesamtplan sollten die schlimmsten Fehler der sechziger und siebziger Jahre vermeiden. Die Pläne waren von der Präfektur und der Stadtverwaltung, beraten vom »Atelier parisien d’urbanisme« (APUR), ausgearbeitet und Anfang 1977 vom Stadtrat gebilligt worden. Die Autoren besannen sich auf die Bauvorschriften des 19. Jahrhunderts mit Straßenfront und Parzellen. Die Gebäudehöhe wurde in der Innenstadt auf 18 oder 21 Meter, im übrigen Stadtgebiet auf 27 oder 31 Meter begrenzt. Neue Bauwerke sollten sich in die bestehende Bausubstanz einfügen, der Charakter der Stadtviertel erhalten bleiben, den Alltagsbedürfnissen der Bevölkerung besser Rechnung getragen werden.
Diese Planungen fand der Bürgermeister Chirac bei seinem Amtsantritt vor, mit ihnen sollte er arbeiten. Chirac ließ sich dabei von dem Leiter des APUR, Pierre-Yves Ligen, beraten, den er als Direktor für Stadtgestaltung ins Rathaus holte. Als operatives Instrument dienten die »Zones d’aménagement concerté« (ZAC). Diese »Zonen abgestimmter Baugestaltung«, an denen öffentliche und private Baugesellschaften beteiligt waren, wurden von der Stadtverwaltung ausgewiesen und unterstanden ihrer Kontrolle. In ihrer flächendeckenden Wirkung entsprachen die ZAC den Straßendurchbrüchen der Ära Haussmann. Auf Anraten Ligens ließ Chirac etwa zwanzig große Bauvorhaben »einfrieren« und gab zwei Jahre Zeit für Verbesserungen.
Zumindest in ihren Erklärungen schenkten die Verantwortlichen den historisch gewachsenen Stadtvierteln (quartiers) größere Aufmarksamkeit, mit denen die Einwohner ein ganz anderes »Heimatgefühl« verband als mit dem Stadtbezirk (arrondissement). »Seit ich im Rathaus bin, habe ich mich bemüht, Paris das Leben seiner Stadtviertel wiederzugeben, indem ich wiederherstelle, was einmal die Seele seiner ›Dörfer‹ war«, behauptete Chirac im Dezember 1980 anläßlich der Vorstellung eines neuen Bandes der monumentalen »Nouvelle Histoire de Paris«. Mit solchen für einen bestimmten Zuhörerkreis berechneten Beschwörungen konnten die Stadtplaner wenig anfangen. Für sie hatte die kostengünstige »rénovation«, also Abriß und Neubau, den Vorrang vor der kostspieligen »réhabilitation«, der Erhaltung und Verbesserung der vorhandenen Bausubstanz.
Anfang der achtziger Jahre warf Chirac das Steuer herum. Die Stadtverwaltung kehrte – unter Vermeidung der gröbsten Bausünden – zur Wachstumspolitik der Ära Pompidou zurück. Paris brauchte Wohnungen und Büroraum. Bauträger und Architekten erhielten größere Freiheit. Die Bebauungsdichte wurde erhöht, die Bauvorschriften wurden gelockert. In den fünfzehn Jahren von 1978 bis 1993 verdoppelte sich die Zahl der öffentlichen Bauvorhaben auf über vierzig, versechsfachten sich die ausgewiesenen Flächen von 90 Hektar auf 550 Hektar: eine goldene Zeit für Bauunternehmer und Investoren. Das Fieber der Immobilienspekulation hielt bis Anfang der neunziger Jahre an. Die Grundstückspreise in Paris, das 18. bis 20. Arrondissement ausgenommen, verfünffachten sich auf 25 000 Franc für den Quadratmeter.
Die Zielsetzung, vom Bürgermeister Chirac vorgegeben und vom APUR und der Baudirektion ausgearbeitet, war nicht frei von Widersprüchen: Einerseits sollte das »Sozialgemisch« mit kleinen Industrie- und Gewerbebetrieben und verbilligten Wohnungen erhalten bleiben, andererseits sollte Paris, gestützt auf einen erstklassigen Dienstleistungssektor, Wirtschaftshauptstadt Europas werden. (»Paris Projet« Nr. 21/22, 1982) Aber das »Chirac-System« brauchte keinen Widerspruch zu fürchten. Die bürgerliche Mehrheit im Conseil de Paris unterstützte alle Vorhaben. Der linken Opposition fehlte ein eigenes urbanistisches Konzept. Der Dauervorwurf der Linken blieb der nach ihrer Auffassung ungenügende Anteil von Sozialwohnungen. Zwischen 1977 und 1992 entstanden in Paris 113 000 Sozialwohnungen, anfangs bis zu 14 000, später nur noch drei- bis viertausend im Jahr. Insgesamt stellten Sozialwohnungen bis über 18 Prozent des Gesamtbestandes der 1,3 Millionen Wohnungen (1999), also nicht viel weniger als die geforderten zwanzig Prozent, freilich höchst ungleichmäßig verteilt: Im 20. Arrondissement bilden sie fast vierzig Prozent des Wohnungsbestandes, im 16. Arrondissement weniger als sieben Prozent. Diese nicht zufällige Verteilung findet ihre Fortsetzung in der Banlieue zwischen armen und reichen Gemeinden.
Wo konnte in dieser scheinbar für alle Zeiten vollendeten Stadt noch gebaut werden? Die Sanierungsgebiete, die »îlots insalubres«, waren fast überall beseitigt. Aber durch den Auszug der Großindustrie und die Stillegung von Bahnanlagen entstand eine Industriebrache. Die Verlegung des Zentralmarktes nach Rungis war der Prototyp dieser Entwicklung. Doch ein solcher Eingriff im historischen Stadtkern blieb ein Einzelfall. Die meisten Erschließungsgebiete lagen zwischen den Äußeren Boulevards und dem Boulevard périphérique, historisch gesehen zwischen der Zollmauer des Ancien Regime und der Stadtgrenze von 1860. Mit Ausnahme des Autowerks Citroën westlich des Eiffelturms, wo um eine neue Parkanlage ein neuer Stadtteil entstand, lagen die Erschließungsgebiete im Norden und Osten. Die Planer sprachen trumphierend von der »Rückeroberung« des im 19. Jahrhundert an Industrie und Eisenbahn verlorenen Stadtgebiets.
Der Schlachthof von La Villette im Nordosten, eine Gründung des Präfekten Haussmann, entsprach seit der Nachkriegszeit nicht mehr den Erfordernissen der Gegenwart. In den sechziger Jahren wurde er zum größten Fleischmarkt Europas erweitert – und umgehend von der Verbesserung der Gefriertechnik überholt. Statt veranschlagter 170 Millionen Franc gähnte ein Ausgabenloch von über einer Milliarde Franc: ein Fiasko gaullistischer Planwirtschaft. 1970 überließ die Stadt Paris als Eigentümerin das Areal von 54 Hektar samt allen Verpflichtungen dem Staat. Vier Jahre später wurde der modernisierte Schlachthof stillgelegt. Was sollte mit dem verrufenen Gelände geschehen?
Zwischen dem Bürgermeister Chirac und dem Staatspräsidenten Giscard kam es im August 1977 zu einem gentlemen’s agreement: Chirac ließ der Regierung in La Villette freie Hand und konzentrierte sich auf die Gestaltung des Hallen-Viertels. Der Bürgermeister verwarf den postmodernen Entwurf Ricardo Bofills für die Hallen, der das Gefallen Giscards gefunden hatte, und entschädigte den Architekten mit dem Auftrag für die Place de Catalogne hinter der Gare Montparnasse. In La Villette sollte ein »Museum der Technik und Industrie« entstehen, das freie Gelände zu einer Gartenanlage im französischen Stil gestaltet werden. Staatspräsident Mitterrand hielt sich an die Wünsche des Vorgängers, doch nicht ohne sie abzuändern. Zu dem Technik-Museum kamen die »Géode«, eine silbrig glänzende Riesenkugel für Filmprojektionen, und die Rock-Halle »Zénith«. Am südlichen Rand schuf der junge Architekt Christian de Portzamparc, der später die französische Botschaft in Berlin baute, die »Cité de la Musique« und erhielt dafür den internationalen Architekten-Preis. Die vom Ourq-Kanal durchzogenen Anlagen wurden zum »Volksgarten des 21. Jahrhunderts« gestaltet, unübersichtlich wie die Labyrinthe des Graphikers C. M. Escher. Das Hafenbecken von La Villette, das der Kanal Saint-Martin mit der Seine verbindet, verlor seine wirtschaftliche Bedeutung. Ein Arbeiterviertel wandelte sich zum Freizeitgebiet.
Am 23. November 1983 machte der Bürgermeister Chirac die Stadtverordneten mit seinem Hauptanliegen, den »vordringlichen Maßnahmen für die Aufwertung des Pariser Ostens« bekannt. Davon waren sieben Stadtbezirke (10.–13. und 18.–20. Arrondissement) östlich einer Linie von der Porte de la Chapelle im Norden zur Porte d’Italie im Süden betroffen. Zusammengenommen umfaßten diese Bezirke fast die Hälfte des Stadtgebietes und die Hälfte der Bevölkerung. Zwei Drittel der städtischen Investitionen sollten dem vernachlässigten Osten zugute kommen. Zwei Millionen Quadratmeter Wohnraum, 200 000 Quadratmeter Nutzfläche für Kleinindustrie und 300 000 Quadratmeter Büroraum sollten geschaffen werden, dazu Kindergärten und Schulen, Grünflächen und Sportanlagen. Beabsichtigt war nicht weniger als »eine umfassende neue Geographie des Ostens von Paris«. (»Paris Projet« Nr. 27/28, 1984) Nebenbei verfolgte der Bürgermeister Chirac noch andere Ziele: Er wollte die Bezirke, die er gerade der Linken abgenommen hatte, dauerhaft für das bürgerliche Lager sichern.
Die größten Veränderungen waren im Südosten auf beiden Seiten der Seine geplant. Die Verschiebebahnhöfe hinter der Gare de Lyon und der Gare d’Austerlitz boten neuen Raum. Das Weinlager von Bercy, eine Hinterlassenschaft des Zweiten Kaiserreichs, wurde als Landschaftsgarten neugestaltet. Nostalgische Bildreportagen hielten die kastanien- und platanenbeschatteten Pflasterwege zwischen den niedrigen Lagerhäusern fest. An den Rand setzte Chirac einen rasenverkleideten Pyramidenstumpf, in dessen Innerem siebzehntausend Zuschauer Platz finden, das »Palais omnisports« (Architekten: Michel Andrault und Pierre Parat), als Ersatz für das 1959 abgerissene Vélodrome d’Hiver. Daneben schob sich das neue Finanzministerium (Paul Chementov und Borja Huidboro) quer zum Fluß: ein die Uferstraße überspannender 357 Meter langer Riegel mit sechs Innenhöfen. Zusammen mit den Bürobauten entlang der Rue de Bercy auf fast einem Kilometer Länge ist das Finanzministerium der größte Verwaltungskomplex in Europa: neuzeitliche Machtarchitektur. Die Hochhäuser aus Glas und Stahl vor der Gare de Lyon bildeten das Gegengewicht zu den »Wolkenkratzern« der Front de Seine im Westen.
Die ZAC »Paris Rive gauche« auf der anderen Seite des Flusses zwischen dem Pont de Bercy und dem Pont de Tolbiac war mit einer Fläche von 130 Hektar das größte Bauprogramm in Paris seit der Zeit Haussmanns. 550 000 Quadratmeter Wohnraum, 900 000 Quadratmeter Büros und 220 000 Quadratmeter Gewerbefläche stellte Chirac dem Stadtrat im Juli 1991 in Aussicht. Das Erschließungsgebiet um die neue Nationalbibliothek, die letzte der »Großen Bauten« des Präsidenten Mitterrand, sollte ein La Défense im Osten werden. Die Fehler, die mit den Wohnsilos um die Place d’Italie gemacht worden waren, durften hier nicht wiederholt werden. Mit acht bis zehn Stockwerken und Innengärten wurden die Gebäude auf humane Dimensionen beschränkt. Die Hauptachse bildet die Avenue de France hinter der Nationalbibliothek, die einer mit dreißig Hektar Beton überdeckten stillgelegten Bahnstrecke folgt. Seit 1996 verbindet eine moderne Autobrücke, der Pont Charles-de-Gaulle östlich des Pont d’Austerlitz, seit 2006 eine Fußgängerbrücke, die Passerelle Simone-de-Beauvoir auf der Höhe der neuen Bibliothek, der 37. Flußübergang im Stadtgebiet, das rechte und das linke Ufer. Die Propagandisten sahen in dem Sektor Austerlitz-Tolbiac-Masséna die »Stadt des 21. Jahrhunderts«.
Für Unternehmen solcher Größenordnung gab es innerhalb von Paris keinen Platz mehr. Mit den neunziger Jahren setzte abermals die Rückbesinnung auf das Kleinräumig-Überschaubare ein: die »engere Durchdringung von Arbeits-, Freizeit und Wohnraum, historisches Bewußtsein und sorgfältigere Denkmalspflege, pluralistische Stilvielfalt und Konfrontation der Epochen, Verlegung der Verkehrsströme unter die Erde, Ausbau des Fußgängerbereichs und des öffentlichen Verkehrs, Ausdehnung der Grünflächen und – da die moderne Gesellschaft nun einmal nicht zu kleinen Dorfstrukturen zurückwächst – inselhafte Verdichtung von Hochhauskomplexen«, wie der Kulturkorrespondent Joseph Hanimann schrieb. (»Auswege aus der Wüste«, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 18. Mai 1991) Erhaltenswerte ältere Wohngebäude wurden unter Schonung der Fassaden entkernt, was die Modernisierer als »Fassadismus« verspotteten. Bei den Parisern kam solche Rücksichtnahme gut an, wie der Architektur-Historiker François Loyer feststellte. (»Paris, ville decor«, in: »Le Debat« Nr. 80, Mai/Aug. 1994) Ohne das Wirken des Vorgängers Chirac, an dem er selbst beteiligt gewesen war, zu kritisieren, versprach der Bürgermeister Tiberi im April 1996 vor dem Stadtrat, »eine neue Seite der Stadtgestaltung« aufzuschlagen, einen »menschlichen Urbanismus«, der ganz im Dienst der Einwohner und ihrer Alltagsbedürfnisse stehen sollte. (Bulletin officiel municipal vom 14. April 1996) In den schwierigeren Zeiten wirkten solche Ankündigungen wie das Verlangen nach einer Atempause, nicht wie eine Zukunftsvision.
Als sichtbare Erinnerung an den Staatspräsidenten Pompidou blieb das Kulturzentrum, das seinen Namen trägt. Staatspräsident Giscard d’Estaing hinterließ vier große Vorhaben: die Nutzung des stillgelegten Schlachthofes von La Villette, die Umgestaltung der Gare d’Orsay zum Museum des 19. Jahrhunderts, das Institut der arabischen Welt und den Abschluß des Wolkenkratzer-Viertels von La Défense. Was würde der Nachfolger mit dieser Hinterlassenschaft anfangen? Vor allem aber: Was würde der Staatspräsident Mitterrand selbst in Angriff nehmen? Bei seiner ersten Pressekonferenz am 24. September 1981 sagte Mitterrand die »Entwicklung« der Projekte des Vorgängers zu, was alle möglichen Änderungen offen ließ. Größeren Eindruck machte Mitterrands Ankündigung, das Finanzministerium werde aus dem Nordflügel des Louvre ausziehen, der damit seine Bestimmung als Museum erfüllen könne. Der »Grand Louvre« mit der gläsernen Pyramide im Hof wurde zusammen mit dem Bogen von La Défense das wichtigste Bauvorhaben der ersten Amtszeit des Präsidenten Mitterrand. Gleiche Bedeutung erlangte während der zweiten Amtszeit nur die Bibliothèque Nationale de France. Alles andere – das neue Finanzministerium in Bercy, die Veranstaltungshalle »Zénith« und die Cité de la Musique in La Villette, und selbst die neue Oper an der Place de la Bastille – erschien daneben zweitrangig.
Nach Umfang und Anspruch stellten die »Großen Bauten« des Präsidenten Mitterrand alles in den Schatten, was ein Staatsoberhaupt seit Napoleon III. in der Hauptstadt unternommen hatte. Der Urheber dachte dabei wenig an die Stadt, der er seinen Stempel aufdrückte. Kam ein Bau einer urbanistischen Planung zugute, so war das ein zusätzliches Argument, aber keineswegs der Grund des Vorhabens. Dementsprechend verlief die Unterredung, die der Staatspräsident am 11. Februar 1982 mit Bürgermeister Chirac im Élysée führte. Am nächsten Tag teilte Chirac bei einer Pressekonferenz mit, der Staatschef habe für Paris eine Reihe von Projekten, die sich »sehr weitgehend« mit den Planungen der Stadt deckten. »Es gibt zwischen uns keine Meinungsverschiedenheiten und von meiner Seite keine grundsätzlichen Einwände gegen die Ausführung dieser Vorhaben.« Im kleinen Kreis äußerte sich Chirac entsetzt über die Kosten. Einen Monat später setzte das Élysée auch die Öffentlichkeit in Kenntnis. Die Großen Arbeiten würden »die Gelegenheit für eine Erneuerung der architektonischen Kreation in Frankreich« sein, hieß es in der Mitteilung.
Mitterrand hatte sein Interesse für die Baukunst wiederholt zu erkennen gegeben. »In jeder Stadt fühle ich mich Imperator oder Architekt. Ich entscheide, ich beschließe, ich wäge ab«, hatte er schon früher geschrieben. (»La Paille et le Grain«, 1975) Als Staatschef lernte Mitterrand, daß er das System von Ausschreibungen, Konsultationen, Wettbewerben und Jurys nicht umgehen konnte. Aber er traf die endgültige Entscheidung unter einer engen Auswahl von Vorschlägen. Dabei ließ sich Mitterrand mehrere Wochen Zeit, während die Modelle in seinem Arbeitszimmer oder im Festsaal des Élysée aufgestellt blieben. Bei seiner nachhaltigen Selbstverwirklichung fragte der Bauherr weder die Regierung noch die Volksvertreter nach ihrer Ansicht.
Zur Lenkung der »Großen Arbeiten« standen eine Arbeitsgruppe im Élysée und ein interministerieller Ausschuß zur Verfügung. Die wichtigste Stellung nahm der Kulturminister Jack Lang ein. Der ehemalige Professor der Rechtswissenschaft und Leiter des internationalen Theater-Festivals in Nancy war für Mitterrand als Verbindung zur Kulturszene und Verkünder einer »Kultur der Linken« seit Jahren unentbehrlich. Überdies kannte sich Lang als Stadtverordneter in der Pariser Lokalpolitik aus. Der Bürgermeister Chirac sah es nicht ungern, wenn Mitarbeiter des Atelier parisien d’urbanisme (APUR) an den Beratungen über die »Großen Arbeiten« teilnahmen und in den Jurys saßen. Die »Kohabitation« zwischen dem Staatspräsidenten und zwei bürgerlichen Regierungen unter Jacques Chirac und Édouard Balladur sollte die Arbeiten nicht verhindern. Über dreißig Milliarden Franc (etwa fünf Milliarden Euro) wandte der Staat in zweimal sieben Jahren für die Bauten des Staatspräsidenten Mitterrand auf.
Durch einen Zufall fand die Kunst des späten 19. Jahrhunderts einen Platz gegenüber dem Louvre auf der linken Seite des Flusses. Seit der Nachkriegszeit wurde die prächtige Bahnhofshalle am Quai d’Orsay (der in diesem Abschnitt seit 1947 nach dem Schriftsteller Anatole France benannt ist) nicht mehr benutzt. Aber was sollte mit der Gare d’Orsay, die für die Weltausstellung 1900 gebaut worden war, geschehen? Ein Bauplatz mitten in der Stadt schien sich aufzutun, gerade das Richtige für ein Hotel mit tausend Betten. Glücklicherweise widerrief 1971 der Kulturminister Jacques Duhamel die Abrißgenehmigung. Ein Jahr später trat der Direktor der staatlichen Museen, Jacques Chatelain, mit dem Vorschlag hervor, die einstige Gare d’Orsay, selbst ein Meisterwerk der Belle Epoque, als Rahmen für die Kunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu nutzen: das Bindeglied zwischen dem Louvre-Museum und dem Centre Pompidou.
Der Zeitgeist hatte einen großen Schritt getan, einen Schritt zurück: Das von mehreren Generationen belächelte späte 19. Jahrhundert, das für die Kunstmetropole Paris so kennzeichnend war, stand wieder in Gunst. Staatspräsident Giscard schloß sich im Oktober 1977 der Rückbesinnung an. Nicht nur Malerei und Plastik, sondern auch Photographie, Kunsthandwerk und Architektur jener Epoche sollten mit neuen Augen betrachtet werden. Mitterrand übernahm das Vorhaben des Vorgängers. Pläne für die Gestaltung der einstigen Bahnhofshalle von 136 Meter Länge und 29 Meter Höhe wurden ausgearbeitet. In bewußter Konfrontation zu der Metallkonstruktion schuf die Mailänder Innenarchitektin Gae Aulenti mit steinverkleideten Trennwänden die Ausstellungsräume: eine »übermächtige Museums-Inszenierung« (Paulhans Peters), die manche befremdete. »Gewinnt nicht der Behälter die Oberhand über den Inhalt?«, bemerkte Mitterrand, als er vor der feierlichen Eröffnung am 1. Dezember 1986 das neue Museum besichtigte.
Auch das Institut der arabischen Welt fand Mitterrand als beschlossene Sache vor. Schon de Gaulle hatte eine Begegnungsstätte der Kulturen auf beiden Seiten des Mittelmeers gewünscht. Im Dezember 1974 beschloß die Regierung die Gründung des Instituts, aber erst sechs Jahre später wurde der Vertrag zwischen Frankreich und neunzehn arabischen Staaten unterzeichnet. Mitterrand verlegte 1981 das bereits in Angriff genommene Vorhaben vom Quai Branly, westlich des Eiffelturms, nach Osten an den Quai Saint-Bernard, in die Nachbarschaft der Naturwissenschaftlichen Universität Jussieu. Die modernistische Lösung eines Teams um den jungen Architekten Jean Nouvel fand die Zustimmung des neuen Bauherrn: zwei langgestreckte, durch einen schmalen Einschnitt getrennte Baukörper aus Glas und Metall für die Ausstellungs- und Konferenzräume und die Bibliothek. Die Besonderheit des Ganzen war mehr technischer als baulicher Art: 240 quadratische Einzelelemente an der Südseite filtern, elektronisch gesteuert, das Sonnenlicht.
»Sehr gute Idee, aber wie alle guten Ideen schwierig auszuführen«, schrieb Mitterrand im Juli 1981 an den Rand des Memorandums des Kulturministers Lang über eine umfassende Nutzung des Louvre-Komplexes als Museum. Seit über hundert Jahren hielt das Finanzministerium den Nordflügel an der Rue de Rivoli besetzt, und die Klagen der Konservatoren über die beengten Verhältnisse nahmen kein Ende. Innerhalb weniger Wochen machte sich der neue Staatspräsident den Gedanken eines Ortswechsels der Finanzverwaltung zu eigen. Der Direktor der staatlichen Museen erfuhr die Entscheidung aus der Zeitung. Im Herbst 1982 betraute Mitterrand den chinesisch-amerikanischen Architekten Ieoh Ming Pei, dessen Erweiterungsbau der National Gallery in Washington ihm bei seinem ersten Staatsbesuch aufgefallen war, mit der Gestaltung des Haupteingangs. Der Vorschlag einer gläsernen Pyramide entzückte ihn. Weniger begeistert äußerte sich die Kommission der Historischen Bauwerke über den zwanzig Meter hohen Fremdkörper in der Cour Napoléon. In der Öffentlichkeit entbrannte heftiger Geschmacksstreit über die Pyramide des »Pharaos Mitterramses«.
Während der ersten »Kohabitation« verzögerte die Weigerung des Finanzministers Balladur, die Prunkräume aus dem Zweiten Kaiserreich im Nordflügel zu räumen, den Auszug des Ministeriums. Trotzdem konnte der Richelieu-Flügel wie vorgesehen beim »Bicentenaire« 1989 besichtigt werden. Am 20. November 1993, auf den Tag genau zweihundert Jahre nach der Umwidmung der Palast-Anlage zum Museum, wurde der »Grand Louvre« eröffnet: ein Weltereignis. Im Jahr 2000 besuchten sechs Millionen Menschen, zwei Drittel von ihnen Ausländer, das vergrößerte Museum. »Ein geöffneter Kubus. Ein Fenster zur Welt. Wie ein vorübergehendes großes Finale für den Weg. Mit einem Blick in die Zukunft.« Die Absichtserklärung, die der dänische Architekt Johan Otto von Spreckelsen seinem Entwurf für die »Grande Arche« von La Défense im März 1983 mitgab, klang hymnisch, aber sie war nicht unangemessen. Der Entwurf des Leiters der Abteilung für Architektur an der Kunstakademie in Kopenhagen überzeugte die Jury auf Anhieb, und sie überzeugte den Staatspräsidenten. Dieser Kubus von über hundert Meter Höhe, Breite und Tiefe, in dessen Öffnung die Kathedrale Notre-Dame Platz gefunden hätte, war der ideale Abschluß, die westliche Spitze des Plateaus von La Défense. Ein solcher Bau war stark genug, sich neben Wolkenkratzern zu behaupten. Trotzdem wollte sich Mitterrand von der optischen Wirkung des neuen Triumphbogens auf die fünfeinhalb Kilometer lange historische Achse vom Louvre über die Place de la Concorde und die Place de l’Étoile bis zur Höhe von La Défense mit eigenen Augen überzeugen. In der verkehrsruhigen Ferienwoche nach dem 15. August hob ein Spezialkran an der künftigen Baustelle eine Plattform 110 Meter hoch. Vom Anfang der Champs-Élysées aus prüfte Mitterrand am Vormittag und am frühen Abend den Eindruck und war beruhigt: Die Würde des Arc de Triomphe mit seinen fünfzig Metern Höhe war nicht beeinträchtigt, vielleicht auch, weil die »Grande Arche« um sechs Grad von der berühmten Perspektive abweicht.
Der plötzlich zu Ruhm gelangte, etwas weltfremde Architektur-Professor von Spreckelsen, der außer seinem eigenen Haus in Jütland nur drei bescheidene Kirchen gebaut hatte, überließ die Ausführung des gigantischen Vorhabens seinem Partner, dem Chefplaner der Pariser Flughäfen, Paul Andrieu. Als Befehlsgeber für zweitausend Bauarbeiter, Techniker, Ingenieure und Architekten, mit der Verfügung über dreihunderttausend Tonnen Beton, Stahl, Marmor und Glas wäre der Däne schon wegen der Sprachschwierigkeiten überfordert gewesen. Spreckelsen beschäftigte vor allem die Außenwirkung der Materialien, weniger die technischen Innereien. »Ich habe mit ihm kämpfen müssen, bis er einwilligte, daß die Korridore Tageslicht bekommen«, äußerte der Bauleiter Andrieu später. Spreckelsen hat die Fertigstellung seines Werkes nicht mehr erlebt. Er starb im März 1987 nach schwerer Krankheit. Am 26. August 1989, zweihundert Jahre nach der Erklärung der Menschenrechte, übergab Staatspräsident Mitterrand die Grande Arche der Öffentlichkeit. Im Gegensatz zu anderen Bauten – Museum, Oper oder Bibliothek – hat die Grande Arche nur einen Zweck: da zu sein als ein neues Wahrzeichen der Stadt, das über ihre Grenzen hinausweist.
Am 9. März 1982 teilte das Élysée mit, daß an der Place de la Bastille eine neue Oper gebaut werden solle. Diese Oper, »moderne et populaire«, werde die Zahl der Vorstellungen verdoppeln und die Kosten senken, hieß es. »Sie wird Paris die internationale Rolle wiedergeben, die ihm auf diesem Gebiet gebührt.« In der Tat: das Palais Garnier erwies sich gute hundert Jahre nach seiner Eröffnung als technisch überaltert. Seit den sechziger Jahren verlangten Kenner wie der Komponist Pierre Boulez und der Regisseur Jean Vilar nach einem neuen Haus. Gleichzeitig verhalf der Schweizer Rolf Liebermann als Intendant der Pariser Oper von 1973 bis 1985 zu einer neuen Blüte.
1981 brachte das APUR die Place de la Bastille als Standort für eine neue Oper in die Diskussion. Die herrschende Ideologie feierte die künftige »Volksoper« als Überwindung des Kulturtempels der Bourgeoisie, des Palais Garnier. Bei dem internationalen Wettbewerb, dem größten, der bis dahin in Paris abgehalten worden war, kamen 744 Entwürfe zusammen. Sechs wurden dem Staatspräsidenten im Juni 1983 vorgelegt. Mitterrand entschied sich, dem Rat der Jury folgend, für den des Kanadiers Carlos Ott, der die technischen Auflagen am besten erfüllte. Das beengte Gelände am Rande des Faubourg Saint-Antoine schränkte die Möglichkeiten ein. Trotzdem erhielt das neue Haus die größte Bühne der Welt (4500 Quadratmeter) mit der modernsten technischen Ausstattung. Am 13. Juli 1989, dem Vorabend der »Bicentenaire«-Feiern, erlebten der Bauherr Mitterrand und seine Ehrengäste ein Konzert-Potpourri im neuen Opernhaus. Die erste richtige Opern-Aufführung, »Die Trojaner« von Hector Berlioz, fand acht Monate später statt. Das Äußere mit der teils durchsichtigen, teils kachelverkleideten Fassade – der Architekt verglich seinen Bau mit einer Klinik – blieb umstritten. Aber mit dem Saal von 2700 Plätzen im Parkett und auf den steil ansteigenden Rängen zeigte sich das Publikum bald zufrieden.
Mit der neuen Oper mochte sich Mitterrand nicht identifizieren. Die neue Nationalbibliothek aber war sein Werk. Deutlicher als bei der Oper lag die Notwendigkeit auf der Hand. Die vertraute Bibliothek in der Rue de Richelieu wurde für die Flut von fast hunderttausend Veröffentlichungen im Jahr einfach zu eng. Noch immer fehlte ein durchgängiger Zentralkatalog. Früher oder später mußte ein Teil der Bestände ausgelagert werden. Bei einem Fernseh-Interview am 14. Juli 1988 stellte der Staatspräsident das Projekt einer Bibliothek »ganz neuen Typs« vor, »die größte und modernste der Welt«. Als »Très grande bibliothèque« (TGB) wurde das Vorhaben denn auch anfangs bezeichnet, bis sich der Pleonasmus Bibliotheque Nationale de France (BNF) durchsetzte. Der Bürgermeister Chirac bot ein geeignetes Gelände zwischen dem Pont de Bercy und dem Pont de Tolbiac, gegenüber dem Park von Bercy, an.
In einer Expertise war ausdrücklich vor einem Turmbau gewarnt worden: »Kein Projekt für eine Bibliothek weltweit verwendet diese Formel.« Mitterrand entschied sich nicht für einen Turm, sondern für vier. Die Idee des Architekten Dominique Perrault, vier durchsichtige Türme von 86 Meter Höhe mit L-förmigem Grundriß als weit auseinanderstehende Ecken um einen vertieften, langgestreckten Garten mit japanischen Kiefern anzuordnen, gefiel ihm. Glichen die vier Ecktürme nicht aufgeschlagenen Büchern? Die Benutzer würden in den Leseräumen in den Untergeschossen viertausend Arbeitsplätze finden, die Bücher würden in den elf oberen Stockwerken auf 450 Kilometer Regallänge, dreimal so viel wie in der Rue de Richelieu, magaziniert werden. Die Fachleute wunderten sich: Sollten die Bücher in ihrem gläsernen Gefängnis in der Sonne dörren, während die Leser im Dunkeln saßen? Der Architekt ließ die Glaswände innen mit Holzverschalungen verkleiden. Mitterrand besichtigte die noch leeren Räume im April 1995, wenige Wochen vor dem Ende seiner zweiten Amtszeit. Am 17. Dezember 1996 eröffnete Staatspräsident Chirac die neue Nationalbibliothek und gab ihr den Namen des Vorgängers François Mitterrand, der am 8. Januar 1996 gestorben war.
Was bewegte Mitterrand, wenn er ans Bauen, an Bauten dachte? Der Staatspräsident hielt sich selbst im Dunstkreis der Wettbewerbe mit ästhetischen Urteilen zurück. »Ich scheue das Übermaß, das Überladene, das Verschnörkelte. Ich glaube, daß ich einen ziemlich klassischen Geschmack habe und daß mich reine geometrische Formen anziehen«, gab er zu. (»Le Nouvel Observateur« vom 14. Dezember 1988) Die Vorliebe für geometrische Formen war mit Händen zu greifen. Daß eine Weltanschauung dahinterstand, ahnten manche seit dem Revolutionsgedenken 1989. Der deutsche Kunsthistoriker Peter Conrads Kronenberg war nicht der einzige, der in den Großen Bauten die Symbolsprache der Aufklärung erkannte, »das Bemühen, einem betont säkularen Gemeinwesen eine kultische Bedeutung zu verleihen«. Die Pyramide (Louvre), der Kubus (Arche de La Défense), das Geöffnete Buch (Nationalbibliothek), das zweckfreie Portal (Opéra de la Bastille): Bauformen, die in den Freimaurer-Logen tiefere Bedeutung gewinnen, eine Modernität, die bis in die Zeiten der Pharaonen- und Priesterherrschaft zurückreicht.
Solche Analogien verbieten sich bei dem Baudenkmal, das Mitterrands Nachfolger Jacques Chirac gesetzt hat: das Museum für Urkunst. Chirac wollte Paris mit einem Museum bereichern, das die Schätze des Musée de l’Homme im Palais de Chaillot und des Museums für afrikanische und ozeanische Kunst an der Porte Dorée wirkungsvoller zur Geltung brachte. Als Standort bot sich ein großes Grundstück zwischen dem Quai Branly und der Rue de l’Université östlich des Eiffelturms an, für das der Staat keine rechte Verwendung hatte, seit das Vorhaben, dort ein Konferenzzentrum zu schaffen, 1993 am Widerstand der neuen bürgerlichen Mehrheit gescheitert war. Mit diesem Museumskomplex (Architekt: Jean Nouvel) bleibt der Bauherr Chirac als engagierter Bewunderer fremder und ferner Kulturen in Erinnerung.
»Die Pariser werden die von Willkür und Geheimhaltung bestimmte Stadtplanung der Verwaltung nicht länger hinnehmen, und die Vereine werden die Pariser von den Absichten der Stadtverordneten in Kenntnis setzen.« Mit diesen Worten schloß der Offene Brief, den der Verein »Sauver Paris« (»Paris retten«) ein halbes Jahr vor den Kommunalwahlen vom März 1977 an die Stadtverordneten richtete. Aus der Drohung sprach die Unzufriedenheit mit einer Stadtgestaltung, die in der Präfektur und im Rathaus, wenn nicht im Élysée und im Matignon entschieden wurde und von der nicht einmal die Stadtverordneten viel erfuhren.
Seit den siebziger Jahren mehrten sich die Bürgerinitiativen, die, zum Mißfallen der Entscheidungsträger im Rathaus und in der Präfektur, zu Fragen der Stadtgestaltung und des Alltags der Einwohner Stellung nahmen. Nach den Wonnen des Konsums entdeckte eine neue Mittelschicht den Wert von Lebensqualität. Zwischen 1986 und 1996 bildeten sich in Paris mehr als siebzig sogenannte »Stadtteil-Vereine« mit lokal begrenzten Zielen. Manche zählten nur einige Dutzend, andere mehrere hundert Mitglieder. Die meisten zerfielen wieder, wenn sie ihren Kampf ausgefochten hatten, andere bestanden weiter. Man kann in den »associations de quartier« ein Nachwirken der Kulturrevolution von 1968 sehen, doppelt überraschend angesichts des Mitgliederschwundes bei Parteien und Gewerkschaften. In dieser Bewegung »von unten« kam das wachsende Mißtrauen der Zivilgesellschaft gegen die politische Klasse zum Ausdruck.
Die Stadtteil-Vereine verteidigten die »Identität« ihres Viertels, mit dem nicht so sehr die Verwaltungseinheit gemeint war als der überschaubare Wohnbezirk mit fließenden Grenzen. Der Widerstand gegen die Zerstörung der Nachbarschaft durch rücksichtslose Modernisierung erinnerte ein wenig an den Kampf des Galliers Asterix gegen die Römer und nahm die Proteste der Globalisierungsgegner vorweg. Die Wortführer, jüngere Leute, die erst vor kurzem zugezogen waren, benutzten Medien und Politiker und wandten sich notfalls an das Verwaltungsgericht. Sie ließen sich von Fachleuten beraten, um der Kompetenz der Verwaltung eigenen Sachverstand entgegenzusetzen. Aber mit diesem Streben nach Versachlichung der Konflikte gerieten die Initiatoren in Gefahr, als Kompromissler dazustehen und sich von ihrer Basis zu trennen. Auf das Naheliegend-Konkrete fixiert, verkannten die Agitatoren zumeist die Notwendigkeiten einer umfassenden Stadtplanung.
Der Protest des Vereins »La Bellevilleuse«, eines der wirkungsvollsten Zusammenschlüsse, entzündete sich an dem Vorhaben, am Fuß von Belleville einen Komplex mit Wohnungen und Büros nebst Hotel und Einkaufszentrum hochzuziehen. Viele der Mietshäuser aus dem 19. Jahrhundert, um die es dabei ging, waren arg heruntergekommen, andere nach dem Gutachten eines Architekturbüros erhaltenswert. Die Praxis der Stadtverwaltung, durch Vorkaufsrecht Gebäude und Wohnungen an sich zu bringen und verfallen zu lassen, um den Abriß herbeizuführen, machte die Situation nicht besser. In jahrelangem Streit mit den Behörden, der über die Grenzen des Bezirks hinaus Beachtung fand, setzte »La Bellevilleuse« die »Rehabilitierung« des Viertels durch, ein Erfolg, wie er nicht vielen dieser Vereine vergönnt war.
Die bürgerliche Mehrheit im Rathaus unterschätzte lange die neuartige Herausforderung. Die Entscheidungsträger beriefen sich auf ihre juristische und technische Kompetenz und auf die Legitimation durch die Wähler. Demgegenüber vertraten die Stadtteil-Vereine allenfalls partikulare Interessen. Die linke Opposition erkannte den Nutzen, der sich aus dem kollektiven Unwillen ziehen ließ, eher. Doch auch ihr fiel es nicht leicht, das Vertrauen der Rebellen zu gewinnen. Der Sieg der Linken in sechs Bezirken bei den Kommunalwahlen 1995 war nicht zuletzt der Zusammenarbeit mit den Bürgerinitiativen geschuldet. Im Unterschied zu Chirac zeigte sich Bürgermeister Tiberi in einer geschwächten Position flexibler. Aber auch sein Versprechen eines »Urbanismus mit menschlichem Gesicht« vermochte keine Begeisterung zu wecken. Ungewollt oder gewollt unterminierte die Aktivität der Stadtteil-Vereine die scheinbar für immer gesicherte Herrschaft der Rechten in Paris.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlor Paris ein Viertel seiner Bevölkerung. Zwischen 1954 und 1999 sank die Einwohnerzahl von 2,8 auf 2,1 Millionen, ein Fünftel davon Ausländer. Le Corbusier plante nach dem Ersten Weltkrieg für eine Drei-Millionen-Metropole. Jetzt mußte die Stadt bei jeder Volkszählung bangen, unter die Zwei-Millionen-Grenze zu rutschen. Ein Pariser Haushalt bestand 1990 im Durchschnitt aus 1,9 Personen (Frankreich: 2,4). Über die Hälfte der Wohnungen wurden von Alleinstehenden bewohnt. Elternpaare mit Kindern bildeten weniger als ein Fünftel der Bevölkerung, im nationalen Durchschnitt ein Drittel. Dabei ist Paris keine Stadt der Alten, sondern der jüngeren Erwachsenen. Die über Sechzigjährigen stellen nur ein Fünftel der Bevölkerung. Die Zuziehenden, siebzigtausend Personen im Jahr, sind idealtypisch Ende zwanzig, haben eine gute Ausbildung, stehen am Anfang ihrer Berufslaufbahn und wollen nicht gleich eine Familie gründen. Die Fortziehenden, über achtzigtausend Personen jährlich, sind junge Familien, denen mit dem ersten oder zweiten Kind die Wohnung zu eng wird, oder Rentner, für die das Leben in Paris zu teuer ist.
Demographische Veränderungen bleiben dem Auge lange verborgen. Aber der Zustrom von über neunhunderttausend Arbeitnehmern aus der näheren und weiteren Umgebung, die Paris tagsüber zu einer Drei-Millionen-Stadt machen, ist nicht zu übersehen. Den Frühnachrichten folgen die Verkehrsmeldungen über die Staus auf dem Boulevard périphérique. Die meisten Pendler benutzen die Bahn oder das Regionale Schnellverkehrsnetz RER. »Métro – boulot – dodo« (»Fahren – schuften – pennen«), besteht daraus ihr Leben? Dreihunderttausend Pariser brechen täglich in Gegenrichtung auf, um ihren Arbeitsplatz in einem Vorort zu erreichen. Zweihunderttausend »Banlieusards« kommen jeden Tag zu Einkäufen und zum Vergnügen in die Stadt. Die Summe dieser hunderttausendfachen Bewegungen ergibt das Straßenleben der Großstadt, das nur am Sonntag und während der Ferien abklingt.
Die Ausdünnung der Stadt vollzog sich nicht gleichmäßig. In der Innenstadt vom 1. bis 9. Arrondissement, das heißt zwischen der Place de la République im Osten und der Place de l’Étoile im Westen, zwischen dem Boulevard de Clichy im Norden und dem Boulevard Montparnasse im Süden, blieben nur die Hälfte der Einwohner: 350 000 von 700 000 Menschen. Aus Wohnungen wurden Büros. Gleichzeitig zogen die Industriebetriebe aus den Randbezirken in die Banlieue oder in die Provinz. In zwanzig Jahren verlor Paris 300 000 Arbeitsplätze im industriellen Bereich und im Baugewerbe, die Hälfte der Stellen in diesem Sektor. So wurde die Pyramide der 1,6 Millionen Beschäftigten in der Hauptstadt kopflastig. Arbeiter und Angestellte (employés) stellen 10,5 bzw. 13,8 Prozent, leitende Angestellte (cadres) 23,3, Freiberufliche 13,9 Prozent. Mehr als ein Viertel der Arbeitsplätze entfällt auf den Öffentlichen Dienst vom Straßenfeger bis zum Ministerialbeamten. Als Hauptstadt wie als Zentrum für Wirtschaft, Kultur und Kommunikation konzentriert Paris die Führungsstellen des Landes: ein Drittel der höheren Beamten, über ein Viertel der Wirtschaftsmanager, die Hälfte der Journalisten, zwei Drittel der Werbeagenturen.
Jeder zehnte Hauptstadtbewohner gehört zur Klasse der Besitzenden. Von den 170 000 Steuerzahlern in Frankreich, die zur Sondersteuer auf die großen Vermögen veranlagt sind, wohnen die Hälfte im Pariser Westen (7., 8., 16., 17. Arrondissement) und in der angrenzenden Banlieue (Neuilly, Boulogne, Saint-Cloud, Le Vésinet-Vélizy, Saint-Germain-en-Laye). Zahlen im nationalen Durchschnitt 2,6 v.T. der Steuerhaushalte diese zusätzliche Vermögenssteuer, sind es in der Region Île-de-France 7,4 v.T. und in Paris-West 49,2 v.T. Die Reichen fühlen sich in der Nachbarschaft von Reichen am wohlsten. Ihre Westwanderung innerhalb von Paris setzt sich in der näheren Banlieue fort.
Bei aller Konzentration des großen Geldes ist Paris keine Stadt der Reichen. Fünfzigtausend Haushalte beziehen Sozialhilfe. Von der Arbeitslosigkeit sind 120 000 Erwerbstätige (13 Prozent) betroffen. Jeder achte Haushalt schlägt sich an der Armutsgrenze von 670 Euro durch (2001). Der Pariser Ballungsraum ist das größte Zielgebiet für die Einwanderung aus außereuropäischen Ländern mit schwerwiegenden sozialen Folgen. »Die Gesellschaft in Paris polarisiert sich», stellte der Urbanist Audry Jean-Marie fest. Der Konzentration leitender Angestellter stehe die permanente Präsenz der Armen gegenüber, während die sozialen Schichten dazwischen unzureichend vertreten seien. »Die so entstehende unvollständige und deformierte soziale Mischung ist sicherlich nicht der erstrebenswerte Zustand.«
Manche Stadtteile – das Quartier Latin, Montmartre, das Marais, der Faubourg Saint-Antoine – veränderten ihr Erscheinungsbild ohne auffällige Eingriffe in die Bausubstanz. Die offizielle Aufwertung des Pariser Ostens beschleunigte die Entwicklung. Angesichts des Eindringens neuer Bewohner in die traditionell von Arbeitern und Kleinbürgern bewohnten Viertel sprechen Urbanisten und Soziologen von »Verbürgerlichung« (embourgeoisement). Dem Prinzip der Gleichheit verpflichtet, ist den Franzosen bei der räumlichen Verschiebung der Klassen nicht ganz wohl. Die Angelsachsen finden sich mit der »gentrification« ihrer Innenstädte leichter ab. Die neuen Wohnungseigentümer und Mieter, vorwiegend jüngere Leute, verdienen ihren Lebensunterhalt in geistigen Berufen ohne Entscheidungsbefugnis: als Werbeleute, Designer, Informatiker, Journalisten, Künstler, Lebensberater oder Lehrer. Was sie suchen, ist ein altmodisches Viertel mit freundlichen zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie wollen in der Nachbarschaft aufgenommen werden wie in einem Dorf und dabei unbehelligt bleiben in großstädtischer Anonymität.
Unerläßliche Voraussetzung war die Renovierung der bestehenden Bausubstanz. Hausfassaden wurden verputzt, das Treppenhaus erhielt einen neuen Anstrich, womöglich mit Marmorierung. Für einen Fahrstuhl blieb es zu eng, doch die Toiletten außerhalb der Wohnungen wurden vermauert. Sobald die Zwischenwände fielen, verwandelten sich zwei oder drei enge Stuben in einen großzügigen Wohnraum. In einer Ecke wurde eine Dusche eingebaut. Die Tragbalken der Decke, bisher den Blicken verborgen, wurden freigelegt und dunkel gebeizt. Erst später sollte sich herausstellen, daß damit auch die Schalldämpfung schwächer wurde. In die leerstehenden Werkstätten in den Innenhöfen zogen Künstler, Architekten und Designer, glücklich, ein billiges Atelier gefunden zu haben. Nach Montmartre und Montparnasse wurde der Faubourg Saint-Antoine das neue Künstlerviertel.
Solche Veränderungen waren zuerst im Marais zu beobachten, in den Gassen zwischen dem Rathaus und der Place de la Bastille zu beiden Seiten der Rue de Rivoli/Rue Saint-Antoine. Der Stadtteil, bis zur Zeit Ludwigs XIV. das Zentrum der Hofgesellschaft und später sozial abgesunken, blieb durch Zufall von den zwei geplanten Straßendurchbrüchen des Präfekten Haussmann verschont. Der Kulturminister Malraux stellte den historischen Stadtteil als »Secteur sauvegardé« unter Denkmalschutz, die erste derartige Maßnahme in Frankreich.
Nach der Place des Vosges erhielten über fünfzig Gebäude, die bereits unter Denkmalschutz standen, ihren alten Glanz wieder. Einige fanden eine stilgerechte Verwendung als Museen – das Picasso-Museum im Hôtel Salé in der Rue de Thorigny erlangte Weltruf –, Kulturinstitute, Bibliotheken, Archive oder als Sitz von Organisationen. Das Deutsche Historische Institut in Paris, dem es im 16. Arrondissement zu eng geworden war, zog in ein stark renoviertes Hôtel particulier in der Rue du Parc-Royal hinter dem Musée Carnavalet. Besondere Schwierigkeiten bereitete das Hôtel de Beauvais in der Rue François-Miron Nr. 68, wo das Wunderkind Wolfgang Amadeus Mozart 1763 als Gast des bayerischen Gesandten einige Konzerte gab. Als bekannt wurde, daß die Stadtverwaltung das Gebäude, wie andere in diesem Viertel, während des Krieges als jüdisches Eigentum günstig erworben hatte, war man erleichtert, als schließlich der Conseil d’État das heruntergekommene Stadtpalais übernahm.
Als neuzuentdeckendes Wohngebiet erfreute sich das Marais seit den siebziger Jahren ungeahnter Beliebtheit. Zu den neuen Wohnungseigentümern an der Place des Vosges gehörte der Kulturminister Jack Lang, ein anerkannter Trendsetter. Die Immobilienpreise stiegen im Rhythmus von zehn Prozent jährlich. Eine Agentur warb 1989 für Eigentumswohnungen gegenüber dem Picasso-Museum »im Herzen des Marais, diesem illustren Pariser Viertel, berühmt für seine historische und kulturelle Vergangenheit, den architektonischen Reichtum seiner Stadtpalais«, wobei nicht versäumt wurde, auf moderne Ergänzungen wie Kameraüberwachung und Haustür-Code hinzuweisen. Ein Studio von gut dreißig Quadratmetern konnte da leicht 1,45 Millionen Franc (225 000 Euro) kosten.
Das Viertel veränderte sich. Bäckereien, Fleischereien und Gemüseläden wichen Boutiquen für Konfektion, Modeschmuck und Krimskrams. Die Filialen des erschwinglichen Luxus nutzten den anheimelnden Dekor der alten Geschäfte. Bistros, die unsterblich schienen, verwandelten sich in Bars mit abgedunkelten Scheiben. Statt der Goldschmiede und Uhrmacher, die in diesem Viertel einen wichtigen Teil des Handwerks stellten, gab es plötzlich mehr als hundert Kunstgalerien. »Die meisten neuen Geschäftsinhaber glauben, richtig zu liegen«, erfuhr eine Reporterin. »Alle beglückwünschen sich zu der ansässigen Kundschaft, denn ›das Marais hat gute Bewohner‹, aber sie profitieren auch vom Zustrom der Touristen. Und alle preisen ›das Cachet des Marais, seinen friedlichen Charme, seinen traditionellen, authentischen Charakter‹.« (»Les habits neufs du Marais«, in: »Le Monde« vom 11. Mai 1989) Zur gleichen Zeit entdeckten die Homosexuellen das Marais als Reservat.
Diese Entwicklung setzte sich im Faubourg Saint-Antoine und andernorts fort. Sahen die neuen Bewohner voraus, daß sich durch ihre Anwesenheit der Charakter des alten Viertels veränderte? Der Erfolg des Films »Die fabelhafte Welt der Amélie« (2001) von Jean-Pierre Jeunet, der ein Montmartre beschwor, das es nur in der Erinnerung oder in der Phantasie gibt, zeigte, daß sich viele Zeitgenossen nach menschlicher Nähe und Nachbarschaft sehnen. Aber das Ursprüngliche, das sie suchen, verflüchtigt sich unter der Berührung durch den Kommerz. Die Erhaltung der alten Kulisse wird mit der Zerstörung des Alltags bezahlt.
»Bonjour, m’sieurs dames. Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen lästig falle, aber ich bin seit mehreren Monaten auf der Straße, ohne Arbeit, ohne Wohnung. Damit ich heute abend etwas Warmes essen kann, mich sauber halte und vielleicht ein Bett finde, werde ich jetzt durch den Wagen gehen und Sie um etwas Geld oder einen Essensbon bitten. Ich danke Ihnen für Ihre Gutherzigkeit.« Die Klage des Bettlers in der Métro gehört zum Alltag. Kein Zweifel, es gibt viele Bettler in Paris. Man sieht sie nicht nur in der Untergrundbahn, sondern auch auf dem Bürgersteig, vor den Kaufhäusern und am Sonntag an den Kirchentüren.
Durfte man diese Randexistenzen, die jünger sind als früher, noch »Clochards« (von »clocher« = humpeln) nennen? Das gewohnte Bild des anarchischen Vagabunden, der sich durchschlägt, ohne auf öffentliche Unterstützung zu rechnen, entsprach nicht mehr dem Massenelend mit mehr als drei Millionen Arbeitslosen. Für das beschäftigungslose Herumhängen fand der Volksmund die Bezeichnung »en galère«. Die Verwaltung benutzte die Klassifizierung »ohne festen Wohnsitz« – »sans domicile fixe«. Die »SDF« hocken verloren auf Parkbänken oder liegen, einzeln oder zu zweit, in Hauseingängen. Gruppenweise lagern sie wie eh und je unter den Seine-Brücken. Jahrelang diente das Forum der Hallen als nächtlicher Treffpunkt. Die Zahlen haben sich seit vierzig Jahren wenig geändert. Schätzungen gehen von zwanzigtausend »exclus du logement« in Paris aus, ein Prozent der Bevölkerung. Doch mit wachsendem Wohlstand ist die soziale Wahrnehmung empfindlicher geworden.
Wie geht eine Großstadt mit dem sichtbaren Elend um? Die Büros der Sozialhilfe in der Nähe der Gare de Lyon und des Friedhofs Père-Lachaise sind die Anlaufstellen. Dort erhalten die Hilfsbedürftigsten Essenbons und Métro-Fahrscheine und die Adressen von Nachtasylen und Heimen. Die Stadt und karitative Organisationen bieten 5500 Schlafplätze an. Voraussetzung für diese Handreichungen ist ein Aufenthaltsnachweis für mindestens einen Monat. Denn keine Gemeinde will unerwünschte Nutznießer anziehen. Seit dem Hilferuf des Abbé Pierre im Februar 1954 sorgten die Behörden in strengen Wintern für Notunterkünfte in stillgelegten Métro-Stationen oder Turnhallen. Auf den Tag genau vierzig Jahre später, am 1. Februar 1994, erneuerte der Abbé im Fernsehen seinen Aufruf: »Muß man sichtbare und gefilmte Katastrophen abwarten, ehe man etwas tut?« Auch in diesem Winter erfroren Menschen ohne Behausung. Aber niemand brauchte zu hungern, seit der Schauspieler Coluche im Herbst 1985 die »Restaurants du cœur« gegründet hatte, die in Paris und in der Provinz warme Mahlzeiten ausgeben. Aus der guten Tat eines Spaßmachers wurde in kurzer Zeit eine der erfolgreichsten karitativen Organisationen.
Diejenigen, die sich um die Obdachlosen kümmern, wissen aus Erfahrung, daß nackte Not keinen zwingt, »auf der Straße« zu leben. Die eigene Bindungslosigkeit gibt den Ausschlag. Ein SDF hat definitionsgemäß keine Adresse und meist keine Arbeit, keine Familie und keine Papiere. Sein Name verliert sich im Verwaltungslabyrinth. Deshalb haben es die Statistiker schwer, ihn »festzuhalten«, und die Sozialämter, ihn zu betreuen. Die meisten SDF sind Opfer eines sozialen Bruchs: Scheidung, Entlassung, Unfall, Depression.
Der Journalist Hubert Prolangeau lebte 1993 vier Monate lang unter Obdachlosen. Er lernte Unsauberkeit, Gestank und Ungeziefer, latente und offene Aggressivität unter Schicksalsgenossen und die Gleichgültigkeit der Sozialhelfer kennen. Zum üblichen Alkoholkonsum kam bei manchen Drogenabhängigkeit, kam die Ansteckungsgefahr durch Aids. Bis 1974 wurden Landstreicherei und Bettelei polizeilich verfolgt. Das »Beherbergungs- und Aufnahmezentrum für Personen ohne Unterkunft« in Nanterre mit 650 Plätzen und ein ebenso großes Krankenhaus sind aus dem einstigen »Dépôt de mendicité«, dem Arbeitshaus, hervorgegangen. Dreimal am Tag, um 12 Uhr, um 18 Uhr und um Mitternacht, setzen sich an der Porte de la Villette die Autobusse der »Brigade zur Hilfe für obdachlose Personen« der Polizeipräfektur in Bewegung und sammeln an bestimmten Punkten die Wartenden ein, um sie nach Nanterre zu bringen. Solch eine Fahrt dauert mit Unterbrechungen mehrere Stunden. »Man kommt nicht mehr raus. Wer urinieren oder sich sonst entleeren muß, tut es in einer Ecke, gewöhnlich in der Nähe der Türen oder, wenn der Bus voll ist, auf die Schuhe der Nachbarn.« Bei der Ankunft drängen die Männer heraus, notfalls helfen Fußtritte nach. Helfer säubern das Wageninnere mit dem Wasserstrahl. Am nächsten Vormittag bringt der Bus die »Gäste« zurück und setzt sie in kleinen Gruppen am Stadtrand ab. »Sie sind seit fünf Stunden auf den Beinen. Es ist zehn Uhr: der Tag beginnt.«
Während fünfzigtausend Antragsteller auf eine Sozialwohnung warteten, standen mehr als hunderttausend Wohnungen in Paris leer, etwa ein Zehntel des Wohnungsbestandes. Was für die einen die selbstverständliche Ausübung des Eigentumsrechts war, erschien anderen als skandalöse Ungerechtigkeit. 1990 gab es in Paris 180 besetzte Häuser, sogenannte »Squats«, vier Jahre früher keine vierzig. Als »besetzt« gilt ein Haus, in dem mindestens drei Wohnungen gegen den Willen des Eigentümers benutzt werden. Ob und wie bald es nach einer Klage des Eigentümers und einem gerichtlichen Räumungsbescheid zur Zwangsräumung kommt, hängt von den Umständen ab. Immer wieder verfährt die Polizeipräfektur nach der Erfahrung, daß der öffentlichen Ordnung durch stillschweigende Duldung besser gedient ist als durch massiven Polizeieinsatz. So entstand eine rechtliche Grauzone. Hauseigentümer und Nachbarn fühlten sich um so mehr im Stich gelassen, als manche Squats zu Stützpunkten der Drogenszene und der illegalen Einwanderung wurden. Häufig griffen Hauseigentümer und Bauunternehmer zur Selbsthilfe: Strom und Wasser wurden abgestellt, Türen und Fenster vermauert. Männer in Lederjacken überzeugten zögernde Mieter, daß es vernünftiger sei, auszuziehen. Mancher Brand, bei dem Menschen ums Leben kamen, war auf Brandstiftung zurückführen.
Am 16. Dezember 1994, einem Freitag, besetzte ein Kommando als Vorhut für 150 Männer, Frauen und Kinder ein leerstehendes Gebäude im Viertel Saint-Germain-des-Prés, einer der besten Wohngegenden. Die Rue du Dragon, eine schmale Straße zwischen dem Boulevard Saint-Germain und der Rue de Grenelle, hat mit ihren verwitterten Fassaden viel vom Charakter des 17. Jahrhunderts bewahrt. Auch die Nr. 7 verrät noch etwas von einstiger Stattlichkeit. Das Haus gehörte einer Immobilienfirma und sollte durch ein neues Gebäude mit teuren Wohnungen nebst Tiefgarage ersetzt werden. Was da eine Woche vor Weihnachten in Szene gesetzt wurde, war eine Demonstration neuen Typs: Hausbesetzung als Protest gegen die Wohnungsnot. Fernsehen und Presse waren zur Stelle, Prominenz erschien, verwundert über das Aufgebot von Sicherheitskräften auf dem Boulevard. Der Abbé Pierre wurde ungeachtet seiner zweiundachtzig Jahre mit einem Hubschrauber aus der Normandie geholt. Premierminister Balladur empfing den Schutzpatron der Obdachlosen im nahegelegenen Matignon. Am nächsten Tag überraschte Bürgermeister Chirac die Öffentlichkeit, indem er sich für die Beschlagnahmung leerstehender Gebäude aussprach. Balladur wie Chirac standen für die Präsidentenwahl im kommenden Frühjahr als Kandidaten des bürgerlichen Lagers bereit.
Die Urheber der Aktion waren die Organisation »Droit au logement« (»Recht auf Wohnung«) und das »Comite des mal-logés«. Jean-Baptiste Eyraud, der Vorsitzende des DAL, vierzig Jahre alt, stammte aus einer Pariser Bürger- und Künstlerfamilie: politisch und sozial engagiert, aber ohne Parteibindung und ohne Beruf. Seit mehr als zehn Jahren führte »Babar«, wie ihn die Freunde nannten, seinen Kampf für menschenwürdige Unterbringung: ein Problem, das sich während der flächendeckenden Umwandlung von Paris immer wieder ergab. Durch spektakuläre Aktionen sollte die Öffentlichkeit aufmerksam gemacht und Druck auf die Behörden ausgeübt werden.
Im Frühjahr 1990 kampierten fünfzig afrikanische Familien wochenlang vor dem Rathaus des 20. Bezirks und auf dem Vorplatz von Sacré-Cœur. Im Sommer 1991 setzten sich andere Immigré-Familien auf dem Gelände der neuen Nationalbibliothek fest und verzögerten die Bauarbeiten. Die zwei- bis dreihundert afrikanischen Familien, die 1992 zwei Monate lang im Park von Vincennes lagerten, schwollen auf 1500 Personen an, vorwiegend Frauen und Kinder. Die Helfer des Abbe Pierre, »Médecins du Monde« und andere karitative Organisationen sorgten für Zelte, Luftmatratzen, Decken, Verpflegung und ärztliche Betreuung.
Bei solchen Konfrontationen suchte »Droit au logement« im Rahmen einer »begrenzten Illegalität« zu bleiben. Eyraud trennte sich von Extremisten, denen es vor allem um die Auseinandersetzung mit Staat und Gesellschaft zu tun war. Was für ihn zählte, war der praktische Erfolg. DAL kümmerte sich um Tausende von ausgewiesenen Familien und Einzelpersonen. Auch die Parade-Squatter in der Rue du Dragon – »Arbeitslose ohne Unterstützung, alleinstehende Mütter, Immigré-Familien, Überschuldete, Aidskranke, Körperbehinderte, Vagabunden, Drogenabhängige«, wie Eyraud schrieb – wurden nach langwierigen Verhandlungen mit der Stadtverwaltung untergebracht, die meisten in der Banlieue. Eyrauds Erfahrungsbericht trug den Titel: »Herr Präsident, weisen Sie das Elend aus!« (1995). Der neue Staatspräsident, an den sich dieser Appell richtete, war der bisherige Bürgermeister von Paris, Jacques Chirac.
Am Ausgang der Métro-Station Barbès-Rochechouart verteilt ein junger Afrikaner Handzettel, mit denen ein Marabut für seine Künste Reklame macht: »Professor Salimou – afrikanischer Hellseher und Medium – löst alle Ihre Probleme.« An den Hintereingängen des Kaufhauses Tati am Boulevard Rochechouart schieben Arbeiter große Karren ins Innere. Drei von vier Männern in roten Arbeitskitteln sind dunkelhäutig. Bei Tati erledigen Kunden verschiedenster Herkunftsländern ihre Einkäufe. Zum Tati-Imperium, das der tunesische Jude Jules Ouaki in der Nachkriegszeit gründete, gehören mehrere Kaufhäuser in Paris und in der Provinz. Vor den Ständen der nordafrikanischen Obst- und Gemüsehändler drängen sich die Käufer ebenso dicht wie im Kaufhaus. Zweimal in der Woche findet zwischen den Stützpfeilern der Métro, die hier zur Hochbahn wird, ein arabisch-afrikanischer Markt statt, der bunteste und billigste in Paris.
Der Boulevard de la Chapelle, die östliche Fortsetzung des Boulevard Rochechouart, bildet die Südgrenze des Viertels Goutte d’Or, in den sechziger Jahren das größte geschlossene Wohngebiet von Nordafrikanern in der Hauptstadt. Seit den siebziger Jahren kamen Einwanderer aus West- und Zentralafrika und aus den Übersee-Départements Martinique und Guadeloupe dazu: ein postkoloniales Völkergemisch, dessen Elemente sich deutlich voneinander unterscheiden. In den Cafés, in denen ältere Algerier beim Tricktrack-Spiel sitzen, läßt sich kein Schwarzer sehen. Auch die Gruppen junger »Beurs« und »Blacks«, die vor den privaten Telefon-Agenturen auf eine billige Verbindung nach Algier oder Bamako warten, halten sich getrennt. Doch am Freitag knieen die Gläubigen ununterschieden in der engen Straße vor der überfüllten Al Fath-Moschee auf ihren Gebetsteppichen.
Dreißigtausend Einwohner zählt das einstige Arbeiterviertel Goutte d’Or am Fuß der Butte Montmartre, wo Zola seinen Trinker-Roman »L’Assommoir« ansiedelte und wo im Jahr 1887 der Dichter der »Internationale«, Eugène Pottier, starb. Nach amtlichen Angaben stellen die Ausländer ein Drittel der Bevölkerung, doppelt so viele wie im statistischen Durchschnitt. Doch in den Straßen, die den Blick auf die weiße Kuppel von Sacré-Cœur freigeben, sind nur wenige gebürtige Franzosen zu sehen. Mehr als die Hälfte der Kinder in den Grundschulen sind Ausländer. Viele französische Eltern lassen nichts unversucht, um ihre Kinder in weiter entfernten Schulen mit geringerem Ausländeranteil unterzubringen.
Im Sommer 1996 besetzten einige Hundert illegale Einwanderer – Männer, Frauen und Kinder – die Kirche Saint-Bernard in der Goutte d’Or, um ihr Bleiberecht zu erzwingen. Die sogenannten »sans-papiers« wurden von humanitären Organisationen unterstützt, die ihrerseits Medien und Prominente zu Hilfe riefen, ein guteingespielter Pariser Mechanismus. Als die Unsauberkeit im Kircheninnern nach mehreren Wochen überhandnahm und Krankheiten drohten, griff die Polizei ein, gegen den Willen des Pfarrers. Das Ziel war erreicht: die »sans-papiers« durften in Frankreich bleiben.
Deutlicher als jede Statistik zeigt der Augenschein: Fremde aus der »Dritten Welt« haben ganze Stadtteile der französischen Hauptstadt eingenommen. Wie in der Goutte d’Or mischen sich in La Villette und Belleville (19. und 20. Arr.) Maghrebiner und Afrikaner. In der Rue du Faubourg Saint-Denis (10. Arr.) tragen die Geschäftsschilder indische Schriftzeichen. Das Viertel zwischen der Gare du Nord und dem Boulevard de la Chapelle wurde zum »Little India«, dessen Bewohner besser Englisch als Französisch sprechen. Im Sentier (2. Arr.), dem Zentrum der Billigkonfektion südlich des Boulevard Bonne-Nouvelle, haben Türken, Kurden und Tamilen die Armenier als billige Arbeitskräfte abgelöst.
Auf dem linken Seine-Ufer entstand im 13. Bezirk das größte »Chinatown« in Europa. 35 000 Asiaten leben und wirtschaften in dem Wohngebiet zwischen der Place d’Italie, der Porte d’Italie und der Porte d’Ivry. Die zwanzigstöckigen Wohntürme mit Fußgängerebenen, Treppen und Plazas, mit Ladenpassagen und Supermärkten, bunten Leuchtreklamen und chinesischen Schriftzeichen lassen an Hongkong und Schanghai denken. Die neonhellen Restaurants mit Kanton- oder Setschuan-Küche gefallen auch Franzosen, die hier einen vergnügten Abend verbringen wollen, preiswerter als irgendwo sonst in Paris. Auch der traditionelle Festzug zum chinesischen Neujahr Anfang Februar mit Drachen und Löwentänzern, Gongs und Feuerwerk lockt Schaulustige aus der ganzen Stadt an.
Die Voraussetzungen für die »Petite Asie«, wie die Bewohner ihr Viertel lieber nennen als »Chinatown«, schuf die Stadtplanung der sechziger Jahre. Die neuen »Wolkenkratzer« auf ehemaligem Eisenbahn- und Industriegelände erfreuten sich weder als Sozial- noch als Eigentumswohnungen besonderer Beliebtheit. Die Flüchtlinge aus dem ehemaligen Kolonialgebiet Indochina zogen nur zu gern in die modernen Wohnungen ein. Die Behörden wußten es zu schätzen, daß die Asiaten wenig Ärger machten und ihre Probleme untereinander regelten. Auslands-Chinesen aus Südostasien setzten mit gerettetem Kapital ihre Geschäfte fort. Die bekanntesten Vertreter dieser Diaspora waren die Brüder Tang, deren Vater sein Vermögen in Laos und Thailand gemacht hatte. Die Tang besitzen in Paris fünf Supermärkte und drei Restaurants und scheuen sich nicht vor Investitionen in der Volksrepublik China.
Der Flüchtlingswelle aus Südostasien folgten illegale Einwanderer aus China. Die ehemaligen Dorfbewohner stellten die Arbeitskräfte für die Restaurants und Werkstätten der Erfolgreichen der ersten Einwanderungswelle. Die Schleusernetze machten nicht erst seit der Öffnung des Ostblocks ebenso gute Geschäfte wie die Rauschgifthändler. Die neuen Migranten greifen auf das 19. und 20. Arrondissement über, wo sie jedes freiwerdende Geschäft kaufen. Diese Transaktionen werden unter Umgehung der Banken mit zinslosen Darlehen zwischen Verwandten und Freunden in Frankreich und China getätigt. In wenigen Jahren veränderten die Chinesen das Bild des zuvor maghrebinisch und afrikanisch geprägten Belleville. Ihrem auf Familiensinn und Leistungsethos beruhenden Ausdehnungsdrang scheinen keine Grenzen gesetzt.
In hundert Jahren hat sich die Zahl der Ausländer in der französischen Hauptstadt verdoppelt, während die Bevölkerung um fast eine halbe Million abnahm. 1890 bildeten 180 000 Ausländer 7,4 Prozent der Pariser Bevölkerung; 1990 stellten 340 000 Ausländer einen Anteil von 15,9 Prozent (Frankreich: 6,3 Prozent). Aber die Volkszählung verschweigt die illegalen Einwanderer, die mit einem Visum ins Land kommen und untertauchen. Die Polizeipräfektur schätzt die »Dunkelziffer« auf mindestens sechzigtausend Personen. Damit nähert sich der Ausländeranteil in Paris real einem Fünftel. Zu einem vollständigen Bild gehören aber auch die Eingebürgerten. Jedes Kind ausländischer Eltern, das auf französischem Staatsgebiet geboren wird, erhält mit dem 18. Lebensjahr die französische Staatsangehörigkeit. Jeder fünfte Einwohner von Paris, vorsichtig gerechnet, ist also Ausländer oder Kind von Ausländern: eine Tatsache, die die Behörden, den Anweisungen der Politik folgend, mehr zu verschleiern als zu durchleuchten trachten.
In der Vergangenheit kamen die Zugewanderten überwiegend aus europäischen Ländern: neun von zehn in den dreißiger Jahren, sechs von zehn noch 1975. Auf Deutsche und Schweizer folgten Belgier und Polen, Italiener, Spanier und Portugiesen. Das hat sich geändert. Mehr als zwei Drittel der in Paris gemeldeten Ausländer stammen aus außereuropäischen Herkunftsländern. Bei der Volkszählung 1990 standen 76 000 Südeuropäern (Portugiesen, Spanier, Italiener) 75 000 Nordafrikaner (Algerier, Marokkaner, Tunesier) gegenüber, dazu 25 000 Afrikaner und 80 000 Asiaten. Auch die Staatsangehörigen von den französischen Antillen, 300 000 Personen in der Pariser Region, treten zum Teil als »Exoten« in Erscheinung. Die Einwanderung ist zu einem Zustrom aus der »Dritten Welt« geworden.
Auf dem Meinungsforum, das Paris bietet, konnten ausländische und einheimische Pressure-groups die Forderungen der Immigranten am wirksamsten vertreten. Der »Marsch für die Gleicheit gegen den Rassismus«, der im Oktober 1983 in den Vorstädten von Marseille begann und am 3. Dezember in der Hauptstadt endete, stand unter dem Patronat des Pariser Unterstützungskomitees. Staatspräsident Mitterrand empfing dreißig Teilnehmer im Élysée-Palast. 1985 wurde die Organisation »SOS-Rassismus« gegründet, die sich von Anfang an der Förderung durch Intellektuelle, Medien und Politiker erfreute. Ein bekannter Fernsehsprecher erschien mit der kleinen gelben Hand »Touche pas à mon pote!« (»Rühr meinen Kumpel nicht an!«) am Revers auf dem Bildschirm. Am 25. Mai 1991 zogen zehntausend Asylbewerber, begleitet von französischen Mitstreitern, durch die Straßen: »Laissez passer les sans-papiers / du monde entier!« (»Laßt die Ausweislosen der ganzen Welt herein!«) Wird Paris die Hauptstadt eines »multikulturellen, multikonfessionellen, mehrfarbigen Frankreich«, das diese Bewegung im Blick hat? In den Problemvierteln der Vorstädte zeigte sich, daß Frankreich die Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit erreicht hatte.
Im Januar 1996 warnte der Stellvertretende Bürgermeister Philippe Goujon, zuständig für öffentliche Sicherheit, vor einem Parlamtentsausschuß vor den »offensichtlichen Gefahren einer Ghettobildung in problematischen Wohnanlagen« mit hohem Ausländeranteil. Das Tabuwort »Ghetto« ließ sich nicht länger umgehen, wenn von den Zuständen in den Cités am Rande französischer Großstädte die Rede war. An Hinweisen auf den schleichenden Verlust der Kontrolle über manche Wohngebiete hatte es nicht gefehlt. Schon 1971 warnte die Raumordnungsbehörde DATAR vor einer »sozialen Segregation« zwischen den Einwohnern der Innenstädte mit höherem Einkommen, guter Berufsausbildung und moderner Einstellung und der Bevölkerung der Banlieue bestehend aus »kaum integrierten Migranten und Niedriglöhnern«, verbunden mit zunehmender Aggressivität gegen die »Besitzenden«. (»Une Image de la France de l’an 2000«, 1971) Zwanzig Jahre später sah der Gründer des Instituts »Banlieuescopies«, der Soziologe Adil Jazouli, in einem Bericht für das Ministerium für Stadtfragen »die Anzeichen sozialer und politischer Verwerfungen von ungeahntem Ausmaß und bislang unbekannter Heftigkeit«.
Seit dem Ende der Wirtschaftsblüte Mitte der siebziger Jahre waren die neuen Wohnanlagen im Umland der Großstädte vom Inbegriff sozialen Fortschritts zu Problemfällen geworden. Die Zusammensetzung der Einwohner hatte sich verändert. Die Besserverdienenden erfüllten sich den Wunsch nach dem eigenen Haus und zogen weg. Der Anteil der Immigrés und ihrer Nachkommen stieg auf dreißig oder vierzig Prozent, die Hälfte davon Kinder und Jugendliche unter 25 Jahren. Die Arbeitslosigkeit wuchs. Immer mehr Mieter in den Sozialwohnungen blieben die Miete schuldig. Reparaturen unterblieben. Die neuen »Wohnburgen« alterten schlecht. »Der Verfall hat sofort nach der Fertigstellung eingesetzt … Die Fassaden der Gebäude sind ziemlich schadhaft und gedunkelt, die äußeren Tür- und Fensterrahmen angerostet, die Treppenhäuser schmutzig und mit Graffitti verschmiert, die Eingangshallen ohne Scheiben.« (David Lepoutre) Diesen Eindruck gewann ein junger Sozialwissenschaftler, der Anfang der neunziger Jahre an einer Mittelschule der nördlichen Vorstadt Courbevoie unterrichtete und aus Forschungsgründen in den »Quatre Mille«, einer der berüchtigsten Cités, Quartier bezog. Die Stadt Paris, der Eigentümer, hatte die zwanzig Jahre alte Wohnanlage mit 4100 Wohnungen für 17 500 Menschen an die kommunistische Nachbargemeinde Courbevoie übertragen, auf deren Gebiet sie liegt. Auch in diesem Fall hegten die Sozialpolitiker die Hoffnung, mit Renovierungen und der Sprengung eines Wohnblocks mit dem schönen Namen »Debussy« zu den Verhältnissen der fünfziger und sechziger Jahre zurückzufinden. Sie mußten erkennen, daß der äußere Verfall nicht die Ursache, sondern die Folge des Verhaltens eines Teils der Bewohner war.
Wie erlebten die Bewohner der Cités solche Zustände? Einträge in dem Beschwerdenbuch der Wohnanlage »Grande Borne«, 25 Kilometer von Paris an der Süd-Autobahn gelegen, unter dem 15. März 1997: »Die zunehmende Zahl von Pitbulls; verschiedene Beschädigungen; ungenügendes Eingreifen der Polizei; die Telefonzelle, kaum repariert, wieder zerstört; verwüstete Geschäfte; zu wenige Hausmeister (vierzehn für 12 000 Bewohner)«. (Caroline Mangez) Die Gewalttäter treten meist als Gruppen mit bis zu vierzig Beteiligten auf: als Banden. Auch da, wo einzelne einen Zwischenfall provozieren, können sie auf den Beistand der »potes« rechnen. Dieses Bewußtsein verstärkt die Bereitschaft, immer wieder einmal etwas »zu unternehmen«. Wenige Störenfriede genügen, um ein Viertel in Unruhe zu versetzen. Kein Nachbar und kein Hausmeister wagt es einzuschreiten. Belästigungen und Störungen in den Cités gehören zum Alltag, wie die Zusammenstöße in der Schule oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln, auf die die Öffentlichkeit nur aufmerksam wird, wenn Busfahrer oder Erzieher als Protest gegen ihre Schutzlosigkeit die Arbeit niederlegen.
Die Probleme, mit denen unsere Gesellschaft im 21. Jahrhundert zurechtkommen muß, zeichneten sich in den Cités überdeutlich ab. Seit den schweren Ausschreitungen in der Nähe von Lyon und Paris in den achtziger Jahren bemühten sich sozialistische und bürgerliche Regierungen um eine »Politik für die Stadt« unter der Verantwortung eines eigenen Ministeriums: ein weites Feld für die widerstreitenden Befürworter von Prävention oder Repression. Die Leiterin der Abteilung »Städte und Banlieues« bei den Renseignements généraux, Lucienne Bui-Trong, schlug vor, achthundert Problemviertel im ganzen Land nach Art einer Erdbeben-Skala einzuteilen, um die zunehmende Alltagsgewalt einzuordnen. Die Klassifizierung reichte von den »incivilités«, willkürlichen Verstößen gegen die Regeln eines gesitteten Verhaltens, wie Vandalismus und Anpöbeln von Erwachsenen (Grad 1) über Beleidigungen oder tätliche Angriffe gegen Polizisten, Busfahrer, Lehrer und Sozialhelfer (Grad 2 bis 4) zu Drogenhandel und anderem »bizness« (Grad 5), um in mehrtägigen Revolten mit Hunderten von Beteiligten zu gipfeln (Grad 6 bis 8).
Die Skala der Kommissarin Bui-Trong blieb keine bloße Theorie. In vier Jahren (1992–1995) stieg die Zahl der registrierten Zwischenfälle von 3000 auf 8500. In dem dichtbesiedelten Ballungsraum außerhalb von Paris waren 260 Wohngebiete vom Anfangsgrad der Gewalttaten betroffen, über sechzig von Grad vier und fünf. Tage- und nächtelange Revolten mit brennenden Autos, Verwüstungen und Plünderungen blieben die Ausnahme, wurden aber häufiger. Die Region Île-de-France lag in dieser Statistik vor Nord-Pas-de-Calais mit Lille, Rhône-Alpes mit Lyon und Provence-Côte d’Azur mit Marseille. 1990, während des ersten Golf-Krieges, befürchteten die Sicherheitsbehörden einen Aufstand der Vorstädte. Einige Jahre später führte eine Tageszeitung 84 »rechtlose Zonen« in der Pariser Region außerhalb der Hauptstadt auf, die einen Faktor gemein hatten: »Zu bestimmten Tageszeiten können sich dort weder Polizisten oder Feuerwehrleute noch Ärzte, Pizza-Lieferanten oder Zeitungsträger blicken lassen« (»Le Parisien« vom 17. Februar 1999).
Am stärksten betroffen war das Département Seine-Saint-Denis mit 24 rechtlosen Zonen, davon je vier in Bobigny und Drancy. Von diesem Département gingen auch die bis dahin gefährlichsten Ausbrüche kollektiver Gewalt aus, die sich zwischen dem 27. Oktober und 17. November 2005 wie ein Flächenbrand ausbreiteten. Der Anlaß war der Unfalltod zweier Jugendlicher in Clichy-sous-Bois, zwanzig Kilometer östlich von Paris, die sich vor einer Polizeikontrolle in einer Transformatoranlage versteckt hatten. Im Fernsehen erlebte die Welt die anschließenden Krawalle mit, die dreihundert Gemeinden im ganzen Land erfaßten. Neuntausend Fahrzeuge gingen in diesen Nächten in Flammen auf, dreihundert öffentliche und private Gebäuden wurden zerstört oder beschädigt. Zum erstenmal seit dem Algerien-Krieg wurde der Ausnahmezustand verhängt: das amtliche Eingeständnis des Scheiterns der Integrationspolitik.
Nach den Erkenntnissen des Soziologen Christian Jelen werden die meisten Übergriffe von Jugendlichen und Kindern mit nordafrikanischem, schwarzafrikanischem und westindischem Migrationshintergrund verübt. Eine Aussage von ungewöhnlicher Deutlichkeit. Die politische Korrektheit macht es fast unmöglich, auszusprechen, daß vor allem die Söhne und Enkel außereuropäischer Einwanderer Urheber der Alltagsgewalt sind: »Beurs« und »Blacks«, wie sie sich nennen. Politiker und Medien verwenden lieber den anonymen Sammelbegriff »les jeunes« (die Jugendlichen). Aber die »jeunes«, mit oder ohne französische Staatsangehörigkeit, sind sich ihrer Abstammung mehr und mehr bewußt, und dieses Bewußtsein prägt ihr Selbstgefühl stärker als die Zugehörigkeit zur französischen Nation. Nicht weniger wichtig erscheint die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Viertel, einer Cité. Bei der »Verteidigung des Territoriums« bildet sich das Bewußtsein für Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit. Was das in der Praxis bedeutet, erfahren Polizeibeamte und Feuerwehrleute, wenn ihre Einsatzwagen in »schwierigen Vierteln« mit Steinen und Brandflaschen bombardiert werden. »Für die sind wir bloß eine rivalisierende Bande. Irgendwann werden wir mit automatischen Waffen beschossen werden«, befürchtet ein Polizeibeamter. (Amar Henni und Gilles Martinet)
Die Auseinandersetzungen werden seltener, aber auch härter, wenn Kriminelle in einem Wohngebiet die Herrschaft übernehmen. Sie sorgen für eine prekäre Ruhe, weil sie kein Interesse daran haben, die Polizei auf ihr Treiben aufmerksam zu machen. Die Schattenwirtschaft, das »bizness«, ernährt manch einen besser als der Mindestlohn oder die Sozialhilfe. Im Oktober 1997 standen in Versailles siebzehn junge Männer vor Gericht, Söhne früherer Renault-Arbeiter aus Westafrika und Marokko. Der Anführer, mehrfach vorbestraft, ohne Beruf, war hin und wieder als Wachmann beschäftigt, sein Adjutant als Aufpasser in einer Mittelschule. Die Bande betrieb in der Cité »Vigne Blanche« in der Gemeinde Les Mureaux einen Diebesmarkt, wo außer Rauschgift auch gestohlene Autos nebst Ersatzteilen, Motorroller, Rundfunk- und Fernsehgeräte, Markenkleidung und sonstige Beute aus Einbruch und Diebstahl angeboten wurden. Wachtposten sicherten den ungestörten Verlauf der Geschäfte, die in zwei Kellern der Cité getätigt wurden. Die Einwohner schauten weg: eingeschüchtert oder korrumpiert. Niemand war bereit, vor Gericht gegen die mafiöse Organisation aufzutreten.
»Das Übel der Banlieues erreicht einige Stadtviertel von Paris«, titelte »Le Monde« am 11. Februar 1999. Die Feststellung war nicht gänzlich neu. Die Alltagsgewalt, über die sich in der Banlieue niemand mehr erregte, machte sich seit einigen Jahren auch in Paris bemerkbar. »Die Hauptstadt bleibt immer weniger von den Umtrieben der Banden, die in bestimmten Stadtteilen entstanden sind, und von den Übergriffen durchziehender Straftäter aus der Banlieue verschont«, stand in einem Bericht der Polizeipräfektur aus dem Jahr 2000. Die Hälfte der Straftäter in Paris kamen aus der Banlieue, und sie waren immer jünger. Die Regionalbahn RER macht es den Jugendlichen leicht, ihre Lieblingsziele in der Stadt zu erreichen: La Défense, die Champs-Élysées, das Trocadéro, das Forum der Hallen, die Großen Boulevards. Trotz alledem stand Paris auf der Skala der »violences urbaines« hinter manchen Provinzmetropolen. Die Sicherheitsvorkehrungen des Staates setzten dem Eindringen der Gewalt in das Zentrum der Hauptstadt Schranken.
Im Dezember 1998 wurde in den Gartenanlagen des Hôtel des Invalides ein ungewöhnliches Denkmal enthüllt. Die bronzene Frauengestalt ohne Kopf erinnert an die Opfer von Terroranschlägen in Frankreich. Mehr als dreihundert Menschen kamen zwischen 1974 und 1996 bei Attentaten ums Leben, über dreitausend sind verletzt worden. Französische und ausländische Terroristen verübten Hunderte von Anschlägen, mehr als die Hälfte davon in Paris und der Pariser Region. Hier, im Zentrum der Macht, war die Wirkung politischer Verbrechen am stärksten. Hunderte von »politischen Flüchtlingen« aus demokratischen Nachbarländern hatten in Frankreich Asyl erhalten. Revolutionsherde in Lateinamerika boten Lehrbeispiele für eine Stadt-Guerilla. Der Nahost-Konflikt ließ Frankreich nicht unberührt. Nach dem national-arabischen, fand der islamistische Terrorismus Unterstützung bei den nordafrikanischen Einwanderern. Paris wurde erst zur Drehscheibe und später zur Zielscheibe des grenzüberschreitenden Terrors.
In Straßenschlachten und Terroranschlägen schwelte die Unruhe des Mai 1968 in ihrer brutalsten Form weiter. Die anfängliche Unterscheidung von Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Menschen verflüchtigte sich. Ob sich die Täter und Anhänger »Proletarische Linke« (GP), »Nouvelle Résistance Populaire« (NRP), »Bewaffnete Internationalistische Revolutionäre Gruppen« (GARI), »Internationalistische Brigaden« oder »Autonome« nannten, ihnen allen erschien revolutionäre Gewalt als bloße Notwehr gegen den für »faschistisch« erklärten Staat und die kapitalistische Gesellschaft. Im März 1972 entführten Maoisten den Personalchef des staatlichen Autowerks Renault und hielten ihn zwei Tage lang in einem »Volksgefängnis« in Billancourt fest: die Vergeltung für den Tod des Agitators Pierre Overney, der von einem Angestellten des Werkschutzes kaltblütig erschossen worden war. Jahre später, am Abend des 17. November 1986, lauerten zwei junge Frauen dem Renault-Generaldirektor Georges Besse vor seinem Haus auf und erschossen ihn. Auf einem Flugblatt bezeichneten sich die Mörder als »AD Kommando Pierre Overney«. Gemeint war »Action directe«, die gefährlichste Organisation der linksextemistischen Terrorszene.
Mit der Entstehung von Action directe hatte der Terrorismus seit Ende der siebziger Jahre eine neue Qualität gewonnen. Die Anschläge richteten sich gezielt gegen Ministerien und internationale Organisationen wie die Weltbank, die OECD, Interpol und gegen Einrichtungen und Firmen des militärisch-industriellen Komplexes. Dabei arbeiteten die französischen Terroristen Hand in Hand mit deutschen Genossen aus der »Roten Armee Fraktion« (RAF). Eine solche Gruppe erschoß am 25. Januar 1985 in Saint-Cloud den General-Ingenieur René Audran, den Chef des staatlichen Rüstungsexports. Als im Dezember 1986 Mitglieder der Action directe vor Gericht gestellt wurden, mußte der Prozeß monatelang unterbrochen werden, weil die Geschworenen um ihr Leben fürchteten.
Seit dem arabisch-israelischen Krieg 1967 war für die extreme Linke der Antisemitismus kein Tabu mehr, wenn er als Antizionismus daherkam. In einer Septembernacht des Jahres 1969 beschmierten maoistische Demonstranten das Haus des Bankiers Élie de Rothschild mit Parolen wie »Al Fatah wird siegen!« und »Ben Gurion Faschist!«. Der Hausherr galt ihnen als »Schatzmeister Israels« und »Unterdrücker des palästinensischen Volkes«. Am folgenden Tag schlugen Hunderte von Arabern und Franzosen bei der Rothschild-Bank in der Rue Laffitte die Scheiben ein und setzten die Geschäftsräume mit Benzin in Brand. Im Auftrag der marxistischen »Volksfront für die Befreiung Palästinas« (PFLP) schleuderte der venezolanische Berufsterrorist Illich Ramirez Sanchez alias »Carlos« im September 1974 an einem Sonntagnachmittag eine Handgranate in den Drugstore Saint-Germain. Über dreißig Menschen wurden verletzt, zwei starben. Der Eigentümer des Drugstore, Marcel Bleustein-Blanchet, war als Freund des Staates Israel bekannt. Ein Dreivierteljahr später erschoß Carlos zwei Inspektoren des Inlandsgeheimdienstes DST und den Mann, der sein Versteck in der Nähe der Sorbonne verraten hatte, und verschwand. Fast zwanzig Jahre später brachten DST-Beamte den meistgesuchten Terroristen aus Khartum nach Paris zurück.
Frankreich war zum Nebenkriegsschauplatz des Nahost-Konflikts geworden. Im Vordergrund kämpften Aktivisten für die Sache der Palästinenser, im Hintergrund verfolgten nah- und mittelöstliche Gewaltregime – Syrien, Libyen, Iran – eigene Absichten. Manche Anschläge waren mit Aktionen gegen Frankreich im Nahen Osten – Morde oder Entführungen – synchronisiert. Im Januar 1975 griffen zwei palästinensische Kommandos auf dem Flughafen Orly Maschinen der israelischen Luftlinie El Al an. Bei dem Bombenanschlag gegen das israelitische Studentenrestaurant in der Rue de Médicis am Luxembourg-Garten im März 1979 gab es nur Verletzte. Aber die zehn Kilogramm Plastik-Sprengstoff, die ein Mann am Abend des 3. Oktober 1980 vor der Synagoge in der Rue Copernic (16. Arr.) zündete, kosteten vier Passanten das Leben. Glücklicherweise war die Ladung einige Minuten vor dem Ende des Sabbat-Gottesdienstes losgegangen. Größtes Entsetzen löste am 9. August 1982 der Angriff eines Palästinenser-Kommandos gegen das Restaurant Jo Goldenberg in der Rue des Rosiers aus, eine stadtbekannte Institution im Herzen des Marais. Die vermummten Angreifer schossen blindlings auf Gäste, Personal und Passanten. Sechs Menschen wurden getötet, über zwanzig verletzt.
Immer neue Gruppen traten in Erscheinung. Zwischen den Einwanderern aus Nordafrika fielen Terroristen aus dem Nahen Osten kaum auf. Für Unterkünfte, Waffen und falsche Papiere sorgten der linksextremistische Untergrund und ausländische Vertretungen. Mit der Sprengladung, die am 15. Juli 1983 am Schalter der Turkish Airlines in Orly explodierte – acht Tote, über fünfzig Verletzte –, wollte die »Armenische Geheimarmee« (ASALA) vorgeblich an die Armenier-Massaker im Osmanischen Reich erinnern. Aber traf sie damit nicht zielgenau einen wichtigen Nato-Verbündeten?
Die »Bewaffneten Fraktionen der libanesischen Revolution« (FARL), zunächst auf die Ermordung von Vertretern der Vereinigten Staaten und des Staates Israel in Frankreich spezialisiert, verübten in den achtziger Jahren die schlimmsten Anschläge, die Paris bis dahin erlebt hatte. Ihre Sprengladungen explodierten in Kaufhäusern und Einkaufszentren (eine Stunde nach der Ernennung Chiracs zum Regierungschef), in einer Caféteria in La Défense und in einem Pub an den Champs-Élysées, in zwei Großbuchhandlungen, im Postamt des Hôtel de Ville und im Erdgeschoß der Polizeipräfektur. Parallel zu dieser Terrorwelle gingen die Attentate der Action directe weiter. Von Dezember 1985, der Zeit der Weihnachtseinkäufe, bis Herbst 1986 wurden in Paris bei Anschlägen dreizehn Menschen getötet und mehr als 250 verletzt.
Am Spätnachmittag des 17. September 1986, im dichtesten Geschäftsverkehr, ging in der Rue de Rennes vor dem Billig-Kaufhaus Tati eine Sprengladung hoch. Erste Eindrücke eines Reporters: »Eine Frau, bewußtlos, blutüberströmt, liegt auf dem Boden, ihr abgerissener Fuß ist einfach daneben gelegt. Eine andere Frau schreit, schluchzt, sie weiß nicht, wie sie ihr blutüberströmtes Töchterchen anfassen soll, dessen Bein bis auf den Knochen aufgerissen ist.« (»Paris Match« vom 22. September 1986) Sieben Menschen wurden durch die Explosion getötet. Die Frau und das Kind gehörten zu den über fünfzig Verletzten.
Vergleichbare Schrecken sollte die französische Hauptstadt nur noch in den Jahren 1995 und 1996 erleben. Nun waren es die »Bewaffneten Islamischen Gruppen« (GIA), die Frankreich bestrafen wollten, das mit seiner Unterstützung des Militärregimes in Algerien der Machtübernahme der Islamisten im Weg stand. Am Weihnachtstag 1994 brachten vier GIA-Terroristen eine Air France-Maschine auf dem Flug von Algier nach Paris in ihre Gewalt. Dem Kapitän gelang es, in Marseille zu landen, wo die Einsatzgruppe der Gendarmerie das Flugzeug stürmte und die Terroristen erschoß. Die Absicht der Entführer, so wurde später zufällig bekannt, war es, beim Anflug auf Orly den Eiffelturm zu rammen.
Am 25. Juli 1995 und am 3. Dezember 1996 explodierten Sprengladungen aus Gasflaschen und Metallsplittern in der RER und rissen insgesamt zehn Menschen in den Tod. Ein Schüler berichtete: »Wir drängten hinaus. Ich glaube, ich habe einen Toten gesehen, mit einem Plastiktuch bedeckt. Ein Bein fehlte ihm. Überall war Rauch, man hörte Schreie und Hilferufe. Ein Mann mit brennenden Kleidern lag auf dem Boden. Ich erstickte die Flammen mit einem Feuerlöscher. Er sah mich an, als wollte er sagen: ›Werde ich leben oder werde ich sterben?« (»Libération« vom 4. Dezember 1996) An diesen Verbrechen waren junge Nordafrikaner aus den Problemvierteln der Ballungsgebiete um Paris, Lille und Lyon beteiligt, angeworben von Haßpredigern im Umfeld bestimmter Gebetsstätten. Manche von ihnen hatten eine paramilitärische Ausbildung in Afghanistan oder Algerien erhalten.
In solchen Krisenzeiten zogen sich die Pariser auf das eigene Stadtviertel und in die eigenen vier Wände zurück. Wie anders konnten sie der allgegenwärtigen Gefahr aus dem Wege gehen? Man mied Kinos und Theater, mied wenn möglich die Untergrundbahn und sogar die Gehsteige. Die Anschläge sollten »trotz ihrer Schwere keine Psychose bei der Bevölkerung erzeugen«, mahnte der Polizeipräfekt Philippe Massoni (1993–1995). Durch die verstärkte Präsenz der Sicherheitskräfte und der Armee versuchte die Regierung, der Angst entgegenzuwirken. Soldaten sicherten Bahnhöfe und Flugplätze, die Umgebung des Eiffelturms und des Arc de Triomphe. Der Plan »Vigipirate« (von »vigilance« = Wachsamkeit) führte jedem vor Augen, daß ferne Konflikte jederzeit auf Paris übergreifen konnten.
»Die Probleme, die sich heute für Paris stellen, werden dominiert von den Beziehungen der Stadt zu ihrem Umland.« Diese Feststellung des Stadthistorikers Pierre Lavedan am Ende seiner monumentalen »Histoire de l’urbanisme à Paris« (1975) hat nichts von ihrer Bedeutung verloren. Paris hält sich innerhalb der Stadtgrenze, die der Boulevard périphérique so sichtbar zieht wie vorher die Festungswälle. Die Einwohnerzahl hat sich bei zwei Millionen stabilisiert. Wenn die französische Hauptstadt in Größe und Rang weiterbestehen will, die sie in den beiden letzten Jahrhunderten erreicht hat, braucht sie das Umland als Lebensraum.
Dieser Großraum (agglomération) ist eine eindrucksvolle Konzentration von Wirtschaftskraft und Entscheidungsmacht: eine dichtbesiedelte Fläche von 2700 Quadratkilometern mit fünfzig bis sechzig Kilometer Durchmesser, ein Vielfaches des Pariser Stadtgebiets (100 qkm), fast ein Viertel der Region Île-de-France (12 000 qkm), wie die Pariser Region seit 1976 heißt. Neben dem Département Paris und den drei Nachbar-Départements Hauts-de-Seine, Seine-Saint-Denis und Val-de-Marne, die bis 1964 mit Paris das Département Seine bildeten, gehören Randgebiete der vier weiteren Départements Yvelines, Val-d’Oise, Seine-et-Marne und Essonne dazu. Dabei dehnt sich die Agglomeration weiter aus: um 400 Quadratkilometer in den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. 1975 zählten 330 der 1281 Gemeinden in der Hauptstadt-Region dazu, 1990 fast vierhundert. Von Feld und Wald, die drei Viertel der Gesamtfläche der Île-de-France ausmachen, gehen Jahr für Jahr dreißig bis vierzig Quadratkilometer durch Urbanisierung verloren.
Zehn Millionen Menschen leben in dem Ballungsgebiet, der größte Teil der 11,5 Millionen Bewohner der Île-de-France, die fast ein Fünftel der französischen Gesamtbevölkerung stellen. Rund fünf Millionen Arbeitsplätze bilden das wertvollste Stellenreservoir des Landes. Vier von fünf der zweihundert größten französischen Firmen und vier von fünf der naturwissenschaftlich-technischen Forschungseinrichtungen haben ihren Sitz im Großraum Paris, wo fast dreißig Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet werden.
Wie in anderen dynamischen Wirtschaftsräumen, beschleunigte sich auch in der Pariser Agglomeration der Übergang zum Dienstleistungsbereich. Von 1975 bis 1990 verschwanden 400 000 Arbeitsplätze in der Industrie, während 450 000 Stellen im tertiären Sektor entstanden. Der Verbürgerlichung der Stadt Paris folgte die der Region. Der »Rote Gürtel«, der seit den zwanziger Jahren die Hauptstadt umgab, löste sich auf. Gleichzeitig verbreiterte sich die Kluft zwischen Arm und Reich, eine Entwicklung, die ungeachtet aller Bekenntnisse zu einer »sozialen Mischung« (mixité) die alte Ost-West-Segregation der Innenstadt in der Banlieue fortsetzte. Nahm in Hauts-de-Seine, dem nach Paris reichsten Département, das Pro-Kopf-Einkommen deutlich zu, so stieg in Seine-Saint-Denis, dem ärmsten Departement, die Zahl der Notleidenden. Auf eine halbe Million bezifferte eine Analyse der Behörde für Raumordnung 1999 den »Kern der Ausgeschlossenen« in der Region, an dem die Einwanderer einen hohen Anteil haben. Sozialwissenschaftler warnen vor dem Zerfall der Gesellschaft. Diese Gefahr droht nicht die Raumordnung, sondern die Politik zu überfordern.
Nur der Großraum Paris bietet innerhalb Frankreichs die Voraussetzungen für eine Spitzenposition im internationalen Wettbewerb. Bei einem Vergleich von 180 europäischen Großstädten, bei dem Kriterien wie Bevölkerungswachstum, Verkehrsverbindungen, die Bedeutung als Geschäftszentrum und Finanzplatz, aber auch die Zahl der wissenschaftlichen Einrichtungen und der Museen berücksichtigt wurden, liegen Paris und London scheinbar konkurrenzlos in Führung. Beim rein ökonomischen Vergleich liegt der Wirtschaftsraum Paris dicht hinter London/Südostengland und weit vor dem Rhein-Ruhr-Gebiet, der niederländischen Randstad (Rotterdam, Amsterdam u. a.), dem Rhein-Main-Gebiet, Brüssel und Mailand. Das sind die Größenordnungen, in denen Politiker und Planer denken und handeln müssen. »Die Zukunft von Paris und der Île-de-France ist nur unter dem Begriff der europäischen Wirtschaftsmetropole vorstellbar«, proklamierte die »Charta der Île-de-France« im Jahr 1991. Aber die Konkurrenz werde hart, mit London, »dessen Finanzmarkt fünfmal so groß ist wie der unsere«, mit Brüssel, »das immer mehr Vorteile als Sitz der europäischen Gemeinschaft hat«, mit Berlin, »wo sich die deutsche Dynamik allmählich wieder konzentrieren wird«. In nicht zu ferner Zukunft könnten auch die Metropolen Lille und Lyon in die europäische Liga eintreten.
Mehrere Tausend ausländische Firmen sind im Pariser Raum vertreten, jeder achte Arbeitnehmer ist bei einem ausländischen Unternehmen beschäftigt. Gemeinden und Départements bemühen sich um Investoren, Banken, Immobilienhandel und Bauwirtschaft zählen auf sie. In Paris und der Kleinen Krone steht so viel Büroraum zur Verfügung wie in Manhattan (über 30 Millionen qm), etwas mehr als in London, doppelt so viel wie in Berlin, gut dreimal so viel wie in Brüssel oder Frankfurt. Die Ausländer zeigen sich nicht übermäßig beeindruckt vom Prestige einer Pariser Adresse. Viele ziehen die Gemeinden der westlichen Banlieue mit günstigeren Mieten und modernerer Ausstattung vor. Entscheidend für die Wahl des Standorts sind häufig die Verkehrsverbindungen. Die Flughäfen Roissy und Orly sichern Paris in der europäischen Rangordnung den zweiten Platz nach London, vor Frankfurt und Amsterdam. Der Hochgeschwindigkeitszug TGV verbindet Paris mit London, Brüssel und Amsterdam, und die Planungen reichen bis Madrid und Mailand, Berlin und Wien.
Die Bedeutung des Wirtschaftsraums Paris im internationalen Wettbewerb hat dem alten Vorwurf, der »Wasserkopf« sauge das Land aus, viel von seiner Wirkung genommen. Jahrzehntelang war die These Jean-François Graviers »Paris und die französische Wüste« (1947) der ideologische Stachel für Dezentralisierung und Delokalisierung. In den achtziger Jahren wandelte sich die Einstellung: »Die Schwäche Frankreichs besteht nicht in der ›Pariser Überkonzentration‹, sondern darin, daß es in Frankreich keine Alternativen zu Paris gibt, das heißt keine anderen Städte von wirklich internationalem Ausmaß«, hieß es 1999 in einer Diagnose der Behörde für Raumordnung (DATAR). Trotzdem gehen die Bemühungen um einen regionalen Ausgleich des Wirtschaftswachstums weiter.
Die Agglomeration, die noch immer gern mit dem mittelalterlichen Begriff »Banlieue« (Bannmeile, Weichbild) bezeichnet wird, ist nicht durch Planung entstanden, sondern vorwiegend privater Nutzung folgend in ungeordnetem Wachstum. Das Fehlen einer übergreifenden Ordnung und die daraus folgende Häßlichkeit sind ihre hervorstechenden Merkmale. Die Königssitze um Paris und die von der Hauptstadt ausgehenden Landstraßen gaben der Banlieue die früheste Struktur. Dazwischen führten Dörfer und Kleinstädte ihr Eigenleben. Für manche war die nahe Großstadt als Markt wichtig. Seit dem Ersten Kaiserreich breiteten sich die Fabriken aus, die Paris zum größten Industriestandort Frankreichs machten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschloß die Eisenbahn die reizvollen Flußtäler; den Bahnhöfen folgten bald die Landhäuser (pavillons) Pariser Bürger. In den zwanziger und dreißiger Jahren entstanden Siedlungen (lotissements), wo sich Kleinbürger und Arbeiter den Wunsch nach dem eigenen Heim erfüllten. Auf die Wohnungsnot der Nachkriegszeit reagierten die Behörden mit dem Bau von Trabantenstädten (grands ensembles, cités). Auf diese Weise wurden während der »Trente Glorieuses« in der Region fast eine Million neue Wohnungen geschaffen, ein Viertel des gesamten Wohnungsbestandes. Den Schritt zu einer wirksamen Raumordnung tat die Fünfte Republik mit den fünf Satellitenstädten (Villes nouvelles) um Paris, die in größerer Entfernung »Brückenköpfe« zur Provinz bildeten und den Bevölkerungsüberschuß aufnahmen, und mit dem Réseau Express Régional (RER), das sie mit Paris verband.
Es wirkt in diesem von jahrhundertealtem Zentralismus geprägten Staat eigentümlich, daß für die Gestaltung des hauptstädtischen Großraums keine Verwaltungsinstanz ganz zuständig ist. Anders als die Metropolen Lyon und Marseille gehört Paris nicht zu einem Gemeindeverband (communauté urbaine), auch wenn die Hauptstadt gewöhnt ist, bei praktischen Aufgaben wie der Wasserversorgung, der Beseitigung der Abfälle oder dem Bau von Sozialwohnungen mit den Nachbargemeinden zusammenzuarbeiten. So wirken vierhundert Gemeinden und acht Départements, an der Spitze die Stadt und das Département Paris, die Region Île-de-France und der Staat an der Raumordnung des französischen Kerngebiets mit. Die Entscheidungsfindung wird dadurch nicht einfacher. Die Dezentralisierungsgesetze Anfang der achtziger Jahre gaben den Gemeinden die Verfügung über den Bebauungsplan. Anfang der neunziger Jahre führte die Neubestimmung des dreißig Jahre alten »Schéma directeur« der Region zu einem kaum verhüllten Machtkampf zwischen Staat, Region und Hauptstadt. Jede Instanz, beraten von eigenen Sachverständigen, legte ihren Entwurf vor. Dazwischen mischten sich die Wünsche der Wirtschaft und die Bedenken der Bürgerinitiativen. Einig waren sich die Beteiligten nur darin, daß es nicht in ihrem Interesse lag, eine weitere Verwaltungsebene für die Hauptstadt-Agglomeration zu schaffen.
Bei den Großvorhaben außerhalb von Paris stand der Vorrang des Staates schon wegen der damit verbundenen Kosten nicht in Frage. Das galt für den neuen Zentralmarkt in Rungis ebenso wie für den internationalen Flughafen Charles-de-Gaulle-Roissy, der 1974 den Betrieb aufnahm. In Marne-la-Vallée, dreißig Kilometer östlich von Paris, lockt seit 1992 Eurodisneyland als größter Vergnügungspark in Europa mit seiner konsumgerechten Märchen- und Abenteuerwelt mehr als zehn Millionen Besucher im Jahr an; die französische Regierung sorgte, alle Bedenken gegen den amerikanischen »Kulturimperialismus« zurückstellend, für Grund und Boden (insgesamt 2000 Hektar), für günstige Kredite und für die Verkehrsanbindung durch Autobahn und RER. Auf dem Gebiet der Gemeinde Saint-Denis, am nördlichen Stadtrand von Paris, wurde einige Jahre später das Stade de France gebaut: ein Kolosseum für 80 000 Zuschauer, das an ein Weltraumfahrzeug denken läßt. Trotz langwieriger Auseinandersetzungen um den Standort wurde die Anlage rechtzeitig für die Fußball-Weltmeisterschaft 1998 fertig.
Unerläßlich ist und bleibt das Handeln des Staates für die Infrastruktur und den öffentlichen Verkehr. Denn mehr noch als die Beschaffung von Wohnraum ist die Lenkung der Verkehrsströme zum Hauptproblem der Region geworden. Zwanzig Millionen Fahrten mit einer Durchschnittsstrecke von je sechs Kilometern müssen täglich bewältigt werden. Kein Wunder, wenn Staus nicht nur in Paris zu einem Dauerzustand geworden sind. In den fünfziger Jahren verliefen drei Viertel der Personenbewegungen in öffentlichen und privaten Verkehrsmitteln in Richtung Paris, ein Viertel innerhalb der Banlieue; am Ende des Jahrhunderts hatte sich das Verhältnis umgekehrt. Nun galt es, die Fortbewegung innerhalb der Banlieue – in den meisten Fällen: die Fahrt von der Wohnung zum Arbeitsplatz – zu erleichtern. Zum Boulevard périphérique um Paris kamen zwei weitere Umgehungsstraßen: die A 86 in der Kleinen und die »Francilienne« in der Großen Krone. Selbst die Streckenführung des TGV erlaubte es erstmals, Paris unter Vermeidung der Kopfbahnhöfe großräumig zu umfahren: eine Abweichung von alten Schablonen zum Nutzen der Provinz. Die Charta der Île-de-France von 1991 sah eine »vierte und letzte Umgehungsstraße an der Grenze der Region« vor. Die Kennzeichnung als »letzte« Umführung läßt an die vielen Bemühungen in der Vergangenheit denken, die Ausbreitung der Hauptstadt einzuschränken.
Dabei verliert die Frage, ob eine Institution oder ein Unternehmen innerhalb oder außerhalb von Paris angesiedelt ist, mehr und mehr an Bedeutung. Wie in Übersättigung gibt die Hauptstadt wichtige Funktionen an die Umgebung ab. La Défense, das größte Geschäftszentrum in Europa, für Finanzen, Versicherungen, Erdöl; Roissy für Frachttransport, Handelsmessen, Druckereien; die Satellitenstadt Marne-la-Vallée für Büros und Technologie; das Plateau von Massy-Saclay für Forschung und Hochtechnologie speziell auf dem Gebiet der Kernenergie bilden neben Paris europäische »Leistungszentren«, die fünf »Neuen Städte« und einige alte Gemeinden gelten als »Entwicklungspole« der Region. Für die Erweiterung des Großraums sehen die Planungsstrategen drei Hauptachsen vor: das Seine-Tal flußabwärts und flußaufwärts und die Ebene von Saint-Denis. Die Verantwortlichen blicken über die Île-de-France hinaus und beziehen sogar das größere Pariser Becken in ihre Planungen ein. Denn mehr als eine Viertelmillion Arbeitnehmer in der Île-de-France kommen aus den Nachbarregionen Normandie, Picardie, Champagne und Pays de la Loire, und immer mehr Pariser und Franciliens finden dort einen zweiten Wohnsitz. Aus dieser Sicht erscheinen die Provinzmetropolen Orléans, Rouen, Amiens, Reims und Troyes, 130 bis 170 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, als »Dritte Krone«.
Wie weit sich der Großraum auch ausdehnen mag – und allem Wachstum sind Grenzen gesetzt –, Paris bleibt der Kern der heterogenen Ansammlung. Ohne die Anziehungskraft von Paris bestünde die Agglomeration nicht. Bei allem Bemühen um eine wirtschaftlich-soziale Entzerrung wird Paris bestimmte Leistungen, die seinen Ruf und seinen Ruhm begründen, nicht an das Umland oder die Provinz abgeben. Paris ist die Hauptstadt eines der wichtigsten Partner im europäischen Konzert. Und Paris ist in der ganzen Welt bekannt und beliebt. Keine andere Stadt wird von so vielen Touristen besucht, in keiner anderen Stadt finden so viele internationale Kongresse statt. Aber mehr und mehr Entscheidungen, die den Nationalstaat Frankreich betreffen, werden in Brüssel oder in New York getroffen, bei der Europäischen Union und den Vereinten Nationen.
Wie eh und je wirkt Paris als Ideenlabor für die geistigen Konzepte, die, von den Medien, die hier ihren Sitz haben, zur Allgemeinverständlichkeit verdünnt, das kollektive Bewußtsein und die öffentliche Meinung formen. Freilich stellt sich die Frage, wie weit es die Welt noch interessiert, was an der Seine gedacht, beredet und geschrieben wird. Keine andere Stadt in Frankreich kann Paris als Kunstmetropole ersetzen. Doch die schöpferischen Kräfte scheinen zu erlahmen: Paris ist nicht mehr die Welthauptstadt der Kunst und Literatur. Aber kann es diesen mythischen Ort unter den Bedingungen der Globalisierung noch geben?
Bei allen Veränderungen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hat Paris das Wesentliche seiner Stadtlandschaft bewahrt. Mit ihren Monumenten und Achsen bleibt die Stadt an der Seine lesbar und erlebbar: das Gegenprogramm zur Gesichts- und Geschichtslosigkeit der Megalopolen anderer Kontinente. Der immer wieder beschworene Gegensatz zwischen Wirtschaftsmetropole und »ville musée« ist angesichts der Entwicklung des Großraums eine falsche Alternative. Das Konzept des Kulturerbes (patrimoine), ein zentraler Begriff, der mehr umfaßt als den Denkmalsschutz: die kulturellen Grundlagen des Selbstverständnisses, führt uns weiter. Vielleicht ist das Bewohnen, Bewahren und Erneuern des vortrefflich Gestalteten die wichtigste Zukunftsaufgabe dieser zweitausendjährigen Stadt: der schönste Beitrag, den Paris für das Weiterleben unserer Kultur leisten kann.