Auf dem Pont-Neuf, über den sich am 3. Mai 1814 Ludwig XVIII. dem Tuilerien-Schloß näherte, grüßte das Reiterstandbild Heinrichs IV. den zurückgekehrten Monarchen. Ein Versprechen, nicht mehr. Denn das Monument, das ein geschickter Künstler in wenigen Wochen angefertigt hatte, war aus Gips. Doch dabei sollte es nicht bleiben. Der Bildhauer François Lemot, der im Kaiserreich Anerkennung gefunden hatte, erhielt den Auftrag, das Denkmal in Bronze auszuführen. Eine Subskription im ganzen Land erbrachte die Mittel. Als Rohmaterial mußten zwei Standbilder Napoleons herhalten. Am 25. August 1818, dem Festtag Ludwigs des Heiligen, wurde der »Vert Galant«, das älteste und volkstümlichste Denkmal in Paris, in Anwesenheit der Königsfamilie an der Stelle enthüllt, die es seit zweihundert Jahren innegehabt hatte. Eine schmerzliche Lücke, die die Revolution gerissen hatte, war geschlossen. Es bleibt anzumerken, daß der Gießer im Bauch des Pferdes mehrere Blechschatullen verborgen hatte, die als Zeugnis für die Nachwelt zeitgenössische Schmähschriften gegen die Bourbonen enthielten.
Auch andere Denkmäler nahmen im Zeichen der Restauration wieder ihren Platz ein: die Reiterstandbilder Ludwigs XIV. auf der Place des Victoires (1822) und Ludwigs XIII. auf der Place Royale, heute Place des Vosges (1829). Die gleiche Ehrung für Ludwig XV. und den unglücklichen Ludwig XVI. wurde durch die Juli-Revolution 1830 verhindert. Ein besonderer Akt der Wiedergutmachung war der Bau der »Sühnekapelle« in der Nähe des Boulevard Malesherbes (1826). Auf dem einstigen Friedhof der Kirchengemeinde Madeleine waren während der Schreckenszeit die auf dem »Revolutionsplatz« (Place de la Concorde) Hingerichteten und die beim Sturm auf die Tuilerien ermordeten Schweizer Gardisten, insgesamt eineinhalbtausend Männer und Frauen, in Massengräber geworfen worden. Etwas abgesondert lagen die Leichen Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes. Die sterblichen Überreste des Königspaares wurden in die Abteikirche von Saint-Denis, die Grablege der französischen Könige, überführt. An der Stelle des Friedhofes erstand die Chapelle expiatoire. Die Legitimisten gedenken dort am 21. Januar ihres hingerichteten Königs, aber die Pariser lieben die Erinnerungsstätte nicht.
Doch die Entwicklung von Paris wurde nicht von symbolischen Gesten bestimmt, sondern von der lebhaften privaten Bautätigkeit, ein Ausdruck des politischen Vertrauens. Während der Revolution hatte ein Drittel der Immobilien in Paris wenigstens einmal den Besitzer gewechselt, darunter über tausend Häuser und Grundstücke aus dem Besitz der Kirche und der Emigranten. Bei solchem Angebot war der Anreiz für die eigene Bautätigkeit gering. Das sollte sich in der langen Friedenszeit, die nun begann, ändern. »Von allen Seiten erheben sich mit erstaunlicher Schnelligkeit Häuser, neue Straßen öffnen sich auf unbebauten Flächen, neue Viertel werden diese edle Stadt vergrößern«, hieß es im Haushaltsbericht der Stadtverwaltung von 1821.
Solcher Begeisterung standen die Klagen der Zeitungen, der Stadtverordneten und der Handelskammer gegenüber. Das Spekulationsfieber führe zu einem Überangebot, ohne die Wohnungsnot zu beheben, die Bauqualität lasse zu wünschen übrig, durch die Konzentration von Kapital und Arbeitskräften in der Hauptstadt werde die Provinz ausgesaugt. »Die abscheuliche, zügellose Spekulation, die Jahr für Jahr die Höhe der Stockwerke vermindert, aus dem Raum, den früher ein Salon ausfüllte, eine ganze Wohnung macht und einen mörderischen Kampf gegen die Gärten führt, wird unvermeidbar ihren Einfluß auf die Pariser Sitten ausüben. In kurzer Zeit wird man genötigt sein, mehr draußen als drinnen zu leben.« (Balzac: »Die Kleinbürger«, 1854)
Die Bautätigkeit vollzog sich vor allem in den Außenbezirken im Nordwesten, zwischen den Großen Boulevards und der Stadtgrenze. Bei diesen Erschließungsvorhaben ging es nicht um einzelne Gebäude, sondern um ganze Stadtteile. Investoren, hinter denen große Banken standen, arbeiteten Hand in Hand mit der Stadtverwaltung. Einige Bauspekulanten waren mit der politischen Führung der Juli-Monarchie eng verbunden. Alexis-André Dosne förderte die politische Laufbahn des Publizisten Adolphe Thiers und gab ihm seine Tochter zur Frau. Dosne war an der Entstehung der Viertel Nouvelle-Athènes und Saint-Georges (9. Arr.) beteiligt, die sich bei Künstlern, darunter Delacroix und Chopin, großer Beliebtheit erfreuten. Seine größte Unternehmung war seit 1826 das Quartier de l’Europe (8. Arr.) auf dem Gelände des einstigen Vergnügungsgartens Tivoli. Vom Zentrum, der Place de l’Europe, gehen acht Straßen mit den Namen europäischer Hauptstädte ab. Im Westen, angrenzend an die Champs-Élysées, entstanden das Quartier François Ier und das Quartier Beaujon. Neue Arbeitersiedlungen waren im Norden Les Batignolles, La Chapelle und La Villette (17.–19. Arr.), im Süden, außerhalb des Stadtgebietes, Grenelle (15. Arr.). Nach den Jahrzehnten der Religionsfeindlichkeit war es selbstverständlich, daß die neuen Stadtteile nicht ohne Kirchen blieben. Die Restauration bevorzugte einen Stil, der der frühchristlichen Basilika nachempfunden war, wie Notre-Dame-de-Lorette im Quartier Saint-Georges, die Juli-Monarchie die Neugotik, wie Saint-Vincent-de-Paul im Quartier Poissonnière.
Die neuen Stadtteile wirkten zunächst etwas abschreckend, und mehr als ein Investor geriet in Schwierigkeiten. »Die letzte Volkszählung stellt fest, daß es gegenwärtig vierzigtausend leerstehende Wohnungen gibt. In diesem Frühjahr 1843 könnte Paris, ohne einen einzigen seiner Einwohner auszuweisen, die ganze Stadt Lyon aufnehmen und unterbringen«, notierte Victor Hugo in seinem Tagebuch. Da traf es sich günstig, wenn Frauen, die von der Liebe lebten, bereitwilliger als ehrbare Familien in die neuen Wohnungen einzogen. »Ohne die Hetären des Viertels Notre-Dame-de-Lorette würden in Paris nicht so viele neue Häuser gebaut«, behauptete Balzac. »Sie kommen als Pioniere des frischen Verputzes, im Schlepptau der Grundstücksspekulation am Fuß von Montmartre und schlagen ihre Zelte in der Neubau-Einöde auf, an Straßen mit den Namen Amsterdam, Mailand, London, Moskau, in den Bausteppen, wo der Wind zahllose Schilder mit den Worten bewegt: Wohnungen zu vermieten.« (»Beatrix«, 1839) Die Bezeichnung »Loretten« haftete der gehobenen Klasse ausgehaltener Frauen an.
Die Erweiterung des bebauten Raumes löste während der Juli-Monarchie eine Diskussion über die »Verschiebung von Paris« aus, die in Fachzeitschriften wie der »Revue générale de l’Architecture et des Travaux publics« und Broschüren geführt wurde. Gemeint war die Verlagerung des sozialen und wirtschaftlichen Gewichtes der Stadt nach Nordwesten. Die ungleichmäßige Entwicklung des rechten und des linken Ufers ließ sich an den Grundstückpreisen und Mieten ablesen. Luxusgeschäfte zogen in die Nähe der Großen Boulevards und der Börse. Wohlhabende Bürger kehrten der Innenstadt den Rücken und ließen sich im Westen oder sogar außerhalb der Stadt nieder. Als Hauptgrund für diese Abwanderung wurde die Verstopfung der Innenstadt angesehen. War Paris, auch diese Frage wurde aufgeworfen, mit über einer Million Einwohnern (1846) und mehr als sechzigtausend Handwerks- und Industriebetrieben Ende der vierziger Jahre im Verhältnis zum übrigen Land zu groß?
Der Nationalökonom Adolphe Blanqui, der Bruder des Berufsrevolutionärs Auguste Blanqui, stellte 1842 in seiner Vorlesung die Frage: »Wer kauft in Frankreich und besonders in Paris Häuser, wer wird dadurch reich?« Und er gab die vorwurfsvoll klingende Antwort: »Das sind die Fleischer, die Krämer, die Eisenwarenhändler et cetera, nicht die Spinner, die Weber, die Arbeiter.« Handwerker und Händler machten etwa die Hälfte der 14 000 Hausbesitzer in Paris aus; dazu kamen zu je einem reichlichen Zehntel Kaufleute und freie Berufe. Wurden die Hausbesitzer reich? Mit Vermögen zwischen 20 000 und 500 000 Franc (nach dem Geldwert am Ende des 20. Jahrhunderts 400 000 bis 10 Millionen Franc), hatten die Hausbesitzer einen beträchtlichen Teil des Kapitals in Paris in Händen. Sie bildeten den eigentlichen Mittelstand. Von den 233 600 Haushalten, die in 26 000 Häusern zur Miete wohnten, zahlten mehr als die Hälfte zwischen 40 Franc und 200 Franc Jahresmiete und viele gar nichts; 32 000 Haushalte zahlten zwischen 200 und 300 Franc; die übrigen 55 000 Haushalte lagen über dieser Grenze. Eine gutbürgerliche Wohnung (logement bourgeois) kostete zwischen 2000 und 4000 Franc im Jahr, ein Stadtpalais (hôtel particulier) bis zu 30 000 Franc. Der Arbeiter mußte ein Fünftel oder gar ein Drittel seines Einkommens für die Miete aufwenden, der Bürger nur ein Zehntel.
In einer behäbigen Zeit voll sozialer Spannungen wurde der »Propriétaire« eine Zielscheibe für Karikaturisten und Komödiendichter. Daumier hat das Vorbeischleichen des Mieters an seinem Hausherren unübertrefflich fixiert. Aber wie oft verschwanden zahlungsunfähige Mieter unter Hinterlassung ihrer Schulden! Der heimliche Umzug »mit der hölzernen Glocke«, vereinfacht durch die geringe Habe, gehörte zur Pariser Folklore. Gegen solches Mißgeschick suchte sich der Eigentümer mit Hilfe eines Hausmeisters zu sichern. Mit der Zunahme von Mietshäusern wurde die Funktion des Hausmeisters (concierge), der über das Kommen und Gehen wachte und von denen manche in ihrer engen Loge einen sesshaften Beruf wie Schuster oder Schneider ausübten, bald allgemein üblich. Der Polizei stand der Hausmeister als Informant immer zu Diensten.
Die Bourbonen-Herrscher waren klug genug, den tüchtigen Präfekten des Départements Seine, Gilbert Joseph Gaspard Chabrol de Volvic (1812–1830), den letzten Präfekten Napoleons, an seinem Platz zu lassen. Von manchen »Ultras« wurde ihm diese Stellung geneidet, aber Chabrol wußte dem König zu schmeicheln wie ein Höfling und sich doch mit dem Stadtrat gut zu stellen. So bewußt sich der Präfekt bei der Erschließung neuer Wohngebiete mit der Vergabe öffentlicher Mittel zurückhielt, so eifrig sorgte er für die Erweiterung und Verbesserung des städtischen Raumes. Die Pariser Straßen waren im Durchschnitt zwölf Meter breit, aber viele waren nicht breiter als sieben Meter, und in der Altstadt gab es Gassen von zwei oder drei Metern. Der Verbreiterung standen die Scheu vor Enteignungen und die Grundstückspreise entgegen. Trotzdem wurden während Chabrols Amtszeit 65 neue Straßen und vier Plätze geschaffen. Dem Präfekten Chabrol war auch die Einführung von Gehsteigen zu verdanken, »eine Bequemlichkeit, die die Fremden zu ihrem Erstaunen in diesem Zentrum der Zivilisation und der Künste vermissen«. (Chabrol) Am Ende seiner Amtszeit hatte Paris 15 Kilometer »trottoirs«.
Energischer ging unter der Juli-Monarchie Claude Philibert Barthelot Comte de Rambuteau (1833–1848) zu Werk. Seit dem Gemeindegesetz vom 20. April 1834 hatte es der Präfekt mit einem Stadtrat zu tun, dessen 36 Mitglieder, drei für jeden Bezirk, nicht mehr ernannt, sondern gewählt wurden und der bei allen wichtigen Entscheidungen gehört sein wollte. »Wasser, Luft, Schatten, das bin ich den Parisern vor allem schuldig«, bekannte der Präfekt beim Amtsantritt gegenüber König Louis-Philippe. Rambuteau sorgte durch neue Baumreihen und Promenadenbänke für die Verschönerung der Großen Boulevards. Von London übernahm er die kleinen Grünanlagen, die in Paris die Bezeichnung »Square« behielten. Die Trinkwasserversorgung wurde durch den Bau von sechs großen Reservoirs verbessert; der mögliche Wasserverbrauch stieg von 28 Liter auf 110 Liter pro Kopf. Dreizehn monumentale Brunnen, so auf der Place de la Concorde und auf der Place Saint-Sulpice, zeugten von dieser Leistung. Trotzdem wurden die fleißige Auvergnaten, die mit ihren Bütten das Wasser bis in die oberen Stockwerke schleppten, noch nicht arbeitslos.
Mit Recht bezeichnete sich der Präfekt Rambuteau als »Straßenbauer«. Über hundert neue Straßen mit gewölbtem Pflaster und Abflußrinnen auf beiden Seiten statt in der Straßenmitte und 180 Kilometer Gehsteige wurden angelegt. Das Straßenpflaster sollte haltbar und nicht zu glatt sein. Der schalldämpfende Asphalt, nach dem schottischen Erfinder »Macadam« genannt, fand nur in der Nähe von Theatern und Krankenhäusern Verwendung. Anders als Chabrol konnte Rambuteau einige Schneisen in die Häusermassen schlagen (Rue Rambuteau, Rue La Fayette, Rue du Cardinal-Lemoine), wie es wenig später in großem Umfang der Präfekt Haussmann tat. Der Hausbesitzerverband hätte die Verbreiterung einer Vielzahl ungesunder Gassen lieber gesehen: »Von solchen Straßen gibt es mehr als hundert. Die Grundstücke sind ohne Wert, die Eigentümer so arm wie die Mieter, und doch ist ein wirklicher Reichtum vorhanden, der von Grund und Boden.« (»L’Edile de Paris« vom 5. März 1833) Als gemeinnützige Begründung führte das Verbandsorgan die hohe Sterblichkeit in diesen »vergifteten und todbringenden Straßen« an. Die Cholera-Epidemie 1832 machte die Folgen der langen Vernachlässigung überdeutlich.
Als sich Rambuteau 1838 entschloß, das Rathaus fast auf den dreifachen Umfang zu vergrößern – gegen den Widerstand des Stadtrates, den der Kostenvoranschlag von sieben Millionen Franc erschreckte –, wurden einige der ärgsten Mißstände in der näheren Umgebung beseitigt. Die Anweisung des Präfekten an die Architekten, »nicht nur das alte Rathaus mit Ehrfurcht vor der Vergangenheit zu erhalten, sondern alle neuen Teile mit ihrem Stil zu durchdringen«, bewies ein gewandeltes historisches Verständnis unter dem Einfluß der Romantik. Bei der Sanierung des Palais de Justice gelang es dem Präfekten, »die Sainte-Chapelle aus dem unglaublichen Zustand der Vernachlässigung zu ziehen, in dem dieses reine gotische Juwel ruhte, von Stapeln verstaubter Archive erdrückt«. Rambuteau rühmte sich in seinen Lebenserinnerungen, es gebe wohl keine alte Kirche in Paris, für deren Erhaltung er nicht Sorge getragen habe, darunter Saint-Germain-l’Auxerrois, die Kirche des königlichen Hofes in der Nähe des Louvre.
Victor Hugos Roman »Der Glöckner von Notre-Dame« (1831) lenkte die Aufmerksamkeit auf das lange vernachlässigte Wahrzeichen der Stadt. Seit 1819 stand die Restaurierung der Kathedrale zur Diskussion, 1845 wurde sie endlich durch ein Gesetz beschlossen. Den ehrenvollen Auftrag erhielt der Architekt Eugène Viollet-le-Duc (1814–1879), der in Theorie und Praxis das Bemühen um die Erhaltung und Wiederbelebung mittelalterlicher Bauwerke bis zur Schalkhaftigkeit vertrat: die »gotischen« Wasserspeier von Notre-Dame sind der Phantasie Viollets entsprungen. Dabei stand bei Auftraggebern und Ausführenden nicht Frömmigkeit im Vordergrund, sondern die nationale Vergangenheit. Der Kunstfreund Alexandre Du Sommerard (1779–1842), der Sohn eines Bankiers in der Champagne und Beamter am Rechnungshof, erwarb zur Unterbringung seiner Sammlung mittelalterlicher Kunst das Hôtel de Cluny, den einstigen Sitz der Äbte von Cluny in der Hauptstadt, neben den römischen Thermen. Der Architekt Albert Lenoir, der Sohn des Gründers des aufgelösten »Museums der französischen Denkmäler«, half dem Sammler. Sommerard vermachte seine Schätze dem Staat. Das Hotel de Cluny diente seither als Museum für die Kunst des Mittelalters und der Renaissance.
1828 gab der Staat die Place de la Concorde und die Champs-Élysées der Stadt zurück, der sie vor der Revolution gehört hatten, und entzog sich damit der Verpflichtung, selbst für eine würdige Ausgestaltung zu sorgen. Denn die Place Louis XV, wie sie damals hieß, erschien als der »verlassenste und durch seine Ausdehnung unangenehmste öffentliche Platz … staubig im Sommer, ausgefahren und unbegehbar im Winter«. (»L’Artiste«, Mai 1834) Die vorgesehenen Aufwendungen wurden von 2,5 Millionen Franc auf 1,5 Millionen ermäßigt, ein enger Rahmen für ein Unternehmen, das das Gesicht von Paris prägen sollte. Die Leitung der Arbeiten erhielt der Architekt Jakob Ignaz Hittorf (1792–1867) aus Köln, ein Schüler Perciers. Als Rheinländer hatte Hittorf bis 1814 die französische Staatsbürgerschaft. Die Entscheidung, welches Denkmal in der Mitte des erinnerungsschweren Platzes stehen sollte, wurde durch ein Geschenk Mohammed Alis, des Vizekönigs von Ägypten, erleichtert: den Obelisken von Luxor. Der 23 Meter hohe und 230 Tonnen schwere Monolith aus der Zeit Ramses II. (13. Jh. v. Chr.) wurde von dem Marine-Ingenieur Lebas aus Oberägypten herangeschafft. Am 25. Oktober 1836 wurde der Obelisk in Anwesenheit des Königs und einer dichtgedrängten Menge mit Hilfe von Masten, Tauen und Winden zentimetergenau auf den fünf Meter hohen Sockel gehievt. Zwei reichgeschmückte Bronzebrunnen, zwanzig Rostra-Säulen, Hinweis auf den Flußhafen Paris, achtzig Kandelaber und acht sitzende Stadtgöttinnen, Allegorien der großen Provinzstädte, ergänzten die Anlage. Den Franzosen galt die Place de la Concorde seither als der schönste Platz von Paris, wenn nicht der Welt.
Die Champs-Élysées waren bei gutem Wetter noch immer eine beliebte Promenade. Den Namen der »Elysischen Gefilde« der antiken Mythologie trug der von Bäumen gesäumte Teil der Avenue zwischen der Place de la Concorde und dem Rond-Point seit Anfang des 18. Jahrhunderts. Vorher wurde die Anlage des berühmten Gartenarchitekten Le Nôtre (1613–1700) zur Unterscheidung vom Cours de la Reine, dem höfischen Reitweg an der Seine, Grand Cours genannt: die volkstümliche Fortsetzung des Tuilerien-Gartens. Napoleon dehnte die Benennung Champs-Élysées auf den anschließenden Abschnitt bis zum Étoile aus. Nach dem Willen des Kaisers sollte eine fast zwei Kilometer lange Prachtstraße den vernachlässigten Westen der Hauptstadt aufwerten.
Es ließ sich nicht verkennen, daß der engstehende Lindenhain mit einigen Lichtungen, den »Carrés«, als Grünanlage nicht auf der Höhe der Zeit war. Eine Denkschrift von 1836 tadelte: »Verdirbt uns im Winter der Schlamm die Freude an der Promenade, so ist es im Sommer der Staub, und zu jeder Jahreszeit staut sich nach dem geringsten Regenschauer in den Gräben das Schmutzwasser, das die Luft verunreinigt und unzählige Unfälle verursacht. Unter den Bäumen und in den Carrés macht sich eine empörende Unsauberkeit breit. Nachts halten sich hier bekanntlich Männer und Frauen von zweifelhaftem Lebenswandel auf und häufig auch Verbrecher. Ermüdete Spaziergänger, Kinder und Alte dagegen finden nicht einmal eine Sitzgelegenheit, und wer Erholung oder Abwechslung sucht, wird ebenfalls enttäuscht.« (Émile Berès u. a., 1836) Worauf die Spaziergänger gefaßt sein mußten, zeigten schon die Vorschriften, die es den Reichen untersagten, in den Anlagen zu fahren oder zu reiten und den Armen, dort ihre Kühe zu weiden, Wäsche aufzuhängen oder Abfälle abzuladen. Hittorf entwarf Gartenanlagen, Spazierwege, Springbrunnen. Restaurants und Cafés, von denen »Ledoyen« und »Laurent« überdauert haben, verdrängten die Schenken und Buden. Am Ende der Anlage, nicht weit vom Rond-Point, lockten zwei antikisierende Rundbauten, der Cirque d’Eté und das Panorama, das Publikum an. Unrentabel geworden, wurde das Panorama 1856, der Sommerzirkus kurz vor der Weltausstellung 1900 abgerissen.
Der Bürgerkönig verstand es, den Napoleon-Kult zur Festigung seiner Macht zu nutzen. Am 28. Juli 1833 nahm das Standbild des Kaisers wieder seinen Platz auf der Vendôme-Säule ein, nicht als Imperator, sondern in seiner volkstümlichsten Gestalt als »kleiner Korporal« mit dem Zweispitz. Ein Vierteljahr vor der Aufstellung des überzeitlichen Obelisken auf dem Concorde-Platz wurde endlich am 29. Juli 1836 der Arc de Triomphe eingeweiht: dem Kriegsruhm der Revolution und des Kaiserreiches gewidmet, wie es der Auftraggeber Napoleon bestimmt hatte. In der ausdrucksstärksten der vier über zehn Meter hohen Figurengruppen, »Der Aufbruch 1792« oder volkstümlicher »Die Marseillaise«, ein Werk des Bildhauers François Rude, drückte sich gesteigertes Nationalgefühl kämpferisch aus. Die Stirn des fast fünfzig Meter hohen Bauwerks blieb ungekrönt: Man konnte sich zwischen Siegeswagen, sitzendem Kaiser, Stern, Adler, Löwe, Freiheitsstatue, Weltkugel oder Elefant nicht entscheiden.
Der Höhepunkt der Napoleon-Verehrung war die Heimkehr der sterblichen Überreste des Kaisers am 15. Dezember 1840. Ein französisches Kriegsschiff brachte den Sarg von Sankt Helena nach Frankreich, ein Dampfschiff führte ihn die Seine aufwärts nach Paris. Am 14. Dezember, einem eiskalten Wintertag, nahmen die letzten überlebenden Getreuen des Kaisers an der Anlegestelle in Neuilly den Sarg im Empfang. Nicht auf einer einfachen Geschützlafette, wie es für den Schlachtenlenker angemessen gewesen wäre, sondern auf einem zehn Meter hohen Katafalk auf vergoldeten Rädern nahm der Sarg, geleitet von Soldaten und Nationalgardisten, am nächsten Vormittag seinen Weg, verharrte unter dem Triumphbogen und bewegte sich die Champs-Élysées hinab über den Pont de la Concorde zum Dom der Invaliden. Mit Adlern und Trophäen, mit einer Allee historischer Denkmäler aus goldbronziertem Gips feierte eine unheroische Zeit den Helden. Unter Glockengeläut, Kanonenschüssen und Beifallsrufen sahen Hunderttausende der Rückkehr des Verbannten zu. Eine Viertelmillion Menschen defilierten in den folgenden Tagen an dem Katafalk vorüber. Aber erst 1861 fand Napoleon seine endgültige Ruhestätte in der offenen Krypta unter der Kuppel des Invaliden-Doms. Die Voraussage des Gefangenen auf Sankt Helena: »Ihr werdet Paris noch ›Vive l’Empereur!‹ rufen hören« hatte sich ebenso erfüllt wie sein Vermächtnis: »Ich wünsche, daß meine sterblichen Überreste an den Ufern der Seine ruhen, nahe dem Volk, das ich so sehr geliebt habe.«
Ein halbes Jahr später, am 28. Juli 1840, bei der Einweihung der Freiheitssäule auf dem Bastille-Platz unter den Klängen von Berlioz’ »Grande symphonie funèbre et triomphale« mit Orchester und Chor, kam die Gegenwart zu ihrem Recht. 1831 war bestimmt worden, an dieser Stelle eine Gedenksäule für die im Juli 1830 gefallenen Freiheitskämpfer zu errichten. Auf diese Weise konnte der Platz endlich befriedigend gestaltet werden, denn »wo die Bastille stand liegen noch immer Schutthaufen neben hölzernen Einfassungen und verunzieren die Gegend«, wie der deutsche Korrespondent Adelbert von Bornstedt bemerkte. Nun erhob sich, 52 Meter hoch, die Juli-Säule. Auf der Spitze schwebt leichtfüßig eine vergoldete Gestalt: der Genius der Freiheit, der die Ketten zerbricht und das Licht verbreitet. In den Grundmauern, über dem Kanal, fanden fünfhundert Gefallene der »Drei glorreichen Tage« eine würdige Gruft. Nach der Februar-Revolution 1848 wurden ihnen weitere Freiheitskämpfer zugesellt; den dreitausend Opfern der Straßenkämpfe des Juni 1848 wurde eine solche Ehrung nicht zuteil.
Unauffälliger aber folgenreicher als die politischen Umwälzungen griff die industrielle Revolution von England auf Frankreich über. Die Restauration stand noch im Zeichen der Postkutsche, die zwanzig Reisende in zwei Tagen nach Lille, in drei Tagen nach Lyon, Rennes oder Nantes, in fünf Tagen nach Bordeaux beförderte. Das Juste Milieu entdeckte die Eisenbahn. Am 24. August 1837 eröffnete die Königin Marie-Amélie, begleitet von Söhnen und Töchtern, die Strecke von Paris nach Saint-Germain-en-Laye, eine Pioniertat, die allgemein Bewunderung erregte. Die Strecke von zwanzig Kilometern, für die die Postkutsche zwei Stunden brauchte, wurde in weniger als einer halben Stunde zurückgelegt. Zwanzigtausend Fahrgäste wöchentlich benutzten das neue Verkehrsmittel. Die Initiative ging von den Brüdern Émile und Isaac Pereire (1800–1875; 1806–1880) aus Bordeaux aus, die Bank Rothschild sorgte für das Geld. 1839 folgte die Verbindung nach Versailles. Auf dieser Strecke ereignete sich das erste Eisenbahnunglück in Frankreich, das die Warnungen der Skeptiker zu bestätigen schien. Bei der Rückfahrt von den »Großen Wassern« in Versailles am 8. Mai 1842 erlitt eine der beiden Lokomotiven einen Achsenbruch. Das Feuer aus den Heizkesseln griff auf die ersten Wagen über, die vorschriftsmäßig von außen verschlossen waren. Fast fünfzig Menschen verbrannten hilflos, unter ihnen der Weltumsegler Admiral Dumont d’Urville.
Die Pariser Kopfbahnhöfe, »embarcadère« genannt, fanden ihre Standorte: Gare Saint-Lazare (1837), Gare Montparnasse (1840), Gare d’Austerlitz (1840), Gare du Nord (1846), Gare de l’Est (1849), Gare de Lyon (1849). Die neun Hauptstrecken betonten die zentrale Stellung der Hauptstadt: Sie strahlten in alle Richtungen aus, waren aber untereinander nicht verbunden. Die Vertreter der Départements beschwerten sich über diesen Zustand. Aber wer wollte schon von einer Provinzmetropole zur anderen fahren? In den meisten Fällen hieß das Ziel Paris.
In diesen Jahren, da sich Paris eigentlich für Frankreich und die Welt öffnete, schloß sich die Stadt noch einmal wie im Mittelalter gegen mögliche Bedrohungen von außen ab. Die Erinnerung an die Invasionen 1814 und 1815 wirkte nach, gerade bei einem Politiker wie Adolphe Thiers, der sich als Historiker mit der Geschichte des Kaiserreiches beschäftigte. 1833 legte der Innenminister Thiers den beiden Kammern einen Plan für den Bau von Forts zum Schutz von Paris vor. Die Opposition sah darin die Absicht oder doch die Möglichkeit, bei Aufständen die Hauptstadt von außen zu unterwerfen. »Nieder mit den Forts!«, lautete ihr Kampfruf. Die europäische Kriegsgefahr im Sommer 1840 brachte einen Stimmungsumschwung. Am 10. September 1840 erklärte der Ministerrat unter dem Vorsitz von Thiers die Befestigung der Hauptstadt zur vorrangigen Aufgabe. Ein halbes Jahr später billigten die beiden Kammern das Vorhaben. Aber mehr als ein Drittel der Parlamentarier verweigerte die Zustimmung. »Was da! Paris befestigt! Paris als Kriegsstadt! Paris von zwanzig Forts beherrscht! Paris von 2400 Geschützen umgeben, die von zehn- oder zwölftausend Kanonieren irgendeiner Miliz bedient werden! Ein solches Paris wäre keine Zuflucht mehr, wo die Freiheit wohnen wollte«, protestierte Lamartine. Balzac, Victor Hugo und George Sand vertraten ähnliche Ansichten über das »Paris embastillé«. Der Bürgerkönig verlor viel von seiner Beliebtheit bei den Parisern.
Das Gesetz vom 3. April 1841 bewilligte 140 Millionen Francs für eine »fortlaufende Festungsanlage auf beiden Ufern der Seine« sowie Außenforts. Die Bauarbeiten schritten erstaunlich rasch voran. 13 000 Arbeiter und Handwerker, zu einem Drittel Soldaten, waren im Einsatz. Die Polizei behielt diese Arbeiterarmee vor den Toren von Paris scharf im Auge. Anfang 1846 war die Arbeit zum größten Teil getan. Die Festungswerke mit 96 Bastionen waren zehn Meter hoch, auf dem Kamm sechs Meter breit. Ein fünfzehn Meter breiter, acht Meter tiefer Graben ergänzte das Mauerwerk. Davor lag, 250 Meter breit, die unbebaute Zone, in späteren Zeiten ein Ziel für Spaziergänger und eine Freistatt für lichtscheues Gesindel. In 36 Kilometer Länge umgaben die Festungsanlagen die Stadt. Siebzehn bewachte Tore und 23 Schranken dienten als Durchgänge für die National- und Départementalstraßen. In einer Entfernung von drei Kilometern wachten sechzehn Forts. Zwischen der Zollmauer als Stadtgrenze und den Festungsanlagen, in der »petite banlieue«, führten elf selbständige Gemeinden ein Sonderdasein, das sie erst unter dem Zweiten Kaiserreich verloren. Seither bildeten die Festungsanlagen die Stadtgrenze. In einer Zeit, in der ältere Festungen als überflüssig geschleift wurden, wurde Paris zur größten Festungsstadt der Welt.
Die älteren Stadtwälle aus dem 17. Jahrhundert, die Nachfolger der mittelalterlichen Stadtmauern, entwickelten sich zur neuen Lebensader von Paris. Ludwig XIV. hatte den Verteidigungsring auf dem rechten Ufer in eine breite, von Bäumen gesäumte Promenade umgestalten lassen. Nur die Bezeichnung »Boulevard« (vom deutschen »Bollwerk«) erinnerte noch an den militärischen Zweck. In einem vier Kilometer langen Bogen spannten sich die Boulevards zwischen der Place de la Bastille im Osten und der Madeleine im Westen. Durch die neuerschlossenen Stadtteile rückten sie von der Peripherie mehr ins Zentrum. Seit der Restauration lösten der Boulevard Montmartre, der Boulevard des Italiens und der Boulevard des Capucines das Palais-Royal als Ort des permanenten Vergnügens ab. »Um 1500 fand das Pariser Leben in der Rue Saint-Antoine statt, um 1600 an der Place Royale, um 1700 auf dem Pont-Neuf, um 1800 im Palais-Royal. Das Herz des heutigen Paris schlägt zwischen der Rue de la Chaussée-d’Antin und der Rue du Faubourg-Montmartre«, schrieb Balzac in den vierziger Jahren. Und er wagte die Voraussage: »Um 1860 wird das Herz von Paris zwischen der Rue de la Paix und der Place de la Concorde sein.«
Der Boulevard, als Singular gebraucht, bezeichnete einen sozialen Aggregatzustand wie einen Teil der Stadt. »Wenn Sie den Fuß dorthin setzen, ist Ihr Tag verloren. Das ist ein goldener Traum, eine unwiderstehliche Zerstreuung. Man ist gleichzeitig allein und in Gesellschaft«, schwärmte Balzac. Hier wurden Moden gemacht, hier entstanden neue Gewohnheiten wie das Rauchen in der Öffentlichkeit, hier entschied sich der Erfolg von Theaterstücken, hier fand eine klatschsüchtige Presse Nahrung. Hippolyte de Villemessant, der 1854 die Wochenzeitschrift »Le Figaro« gründete, vertrat die Ansicht, daß »ein gewöhnliches Ereignis, das an den Boulevards oder in ihrer Nähe stattfindet, journalistisch gesehen viel wichtiger ist als ein bedeutendes Ereignis in Amerika oder Asien«. Wer in der Gesellschaft zählte, schaute jeden Nachmittag beim Café Tortoni am Boulevard des Italiens vorbei. Wer nicht im Cercle oder zu Hause aß, fand sich zwei Stunden später in einem der bekannten Restaurants ein. Nach dem Theater und der Oper, bis halb zwei Uhr morgens, war der Boulevard aufs Neue von einer eleganten Menge belebt, von Leuten, die sich kannten und den gleichen Jargon sprachen, geeint durch die Gewohnheit, einander jeden Abend wieder zu begegnen. Als soziales Phänomen war der Boulevard die Erweiterung des Salons.
Auf den Boulevards bildete sich ein neuer Typ des Lebenskünstlers heraus: der Flaneur, der ziellos Schlendernde, der sich, unbehindert von den Verpflichtungen des Geschäftigen, mit der Aufnahmefähigkeit des Künstlers dem Reiz vielfältiger Eindrücke hingab. In der Unruhe und Neugier, im Vergnügungshunger und der Langeweile des Flaneurs verdichtete sich das Lebensgefühl der Großstadt. Der Flaneur unterschied sich von den vorwärtsdrängenden Passanten, aber auch von den neugierig Staunenden, den »badauds«. Als Inbegriff des Pariser Lebens entrückte der Boulevard die französische Hauptstadt jedem Vergleich mit den Provinzmetropolen und sogar mit anderen europäischen Großstädten, eine Vorrangstellung, die Paris bis zum Ersten Weltkrieg behauptete.
So wurden die Großen Boulevards zur Bühne der Stadt, für Alltagsszenen wie für besondere Ereignisse. Sie erlebten den Einzug der Alliierten 1814 und 1815, Truppenschauen der Nationalgarde, das Attentat gegen den Bürgerkönig im Juli 1835, den Massenandrang während der Sonnenfinsterinis im Mai 1836, die Trauerzüge bekannter Persönlichkeiten. Mit militärischem Aufgebot entlang der Boulevards versuchte Karl X. 1830 vergeblich, die Hauptstadt im Griff zu behalten. Sein Nachfolger Louis-Philippe verfuhr 1848 nicht anders.
Die ersten öffentlichen Verkehrsmittel, die von drei Pferden gezogenen Fahrzeuge der »Entreprise des Omnibus«, verkehrten seit 1828 auf den Großen Boulevards, bald gefolgt in anderen Stadtteilen von konkurrierenden Linien, die so hübsche Namen trugen wie Dames Blanches, Favorites, Hirondelles, Sylphides oder Gazelles. In diesen »für alle« bestimmten postkutschenähnlichen Wagen fanden vierzehn Fahrgäste unterschiedlicher sozialer Zugehörigkeit an den Längsseiten Platz. Sie brauchten für diese Fortbewegung nur 25 Centimes zu zahlen, während ein Fiaker für die gleiche Strecke zwei Franc verlangte. Noch war es üblich, auch große Entfernungen zu Fuß zurückzulegen. Für den jungen Gymnasialprofessor Michelet war der tägliche Weg von der Anhöhe von Ménilmontant zum Quartier Latin ebenso selbstverständlich wie für Victor Hugo der Gang von der Place Royale (Place des Vosges) zur Académie Française oder zum Palais du Luxembourg, dem Sitz der Pairs-Kammer.
In einer Zeit, in der die Fußgänger täglich unter dem Straßenschmutz litten, entstanden mit den überdachten Ladenpassagen luxuriöse Fußgängerzonen: eine urbanistische Neuerung aus privater Initiative eines oder mehrerer Grundstückseigentümer. Den ältesten dieser Anlagen, der Passage du Caire (1799) nicht weit von der Börse und der Passage des Panoramas (1800) am Boulevard Montmartre, folgten während der Restauration und der Juli-Monarchie mehr als vierzig Passagen, Galerien oder Bazare: kommode Verbindungen zwischen zwei Straßen unter einem metallgetragenen Glasdach. Bekannt waren die Passage de l’Opéra, die Passage Colbert, die Passage Choiseul, die Galerie Véro-Dodat. Die Verwendung von Metall und Glas in der Architektur war neuartig. Die Passagen wurden damit Prototypen für Ausstellungshallen, Bahnhöfe und Gewächshäuser. Die mit Marmor ausgelegten Gänge von vier oder fünf Meter Breite nahmen zu beiden Seiten Läden und Werkstätten, Konditoreien und Restaurants auf, der geeignete Rahmen für die berühmten »articles de Paris«: falschen Schmuck, Nippes, Spielzeug für Erwachsene, modische Knöpfe aus Horn, Metall oder Holz, Geschenkkartons, Etuis, Fächer, Stickereien, künstliche Blumen. 25 000 Frauen und Männer waren mit der Herstellung solcher Artikel beschäftigt, fünftausend Fabrikanten verdienten daran. Wie die ersten Kaufhäuser wandten sich die Passagen an eine gehobene Kundschaft und kündigten doch schon das Zeitalter des Massenkonsums an. Das Motto über dem Eingang der Galeries Saint-Hubert in Brüssel (1846) galt auch für die Pariser Passagen: »Omnibus omnia« – »Alles für alle«.
Die meisten der mehr als zwanzig Theater, die es damals in Paris gab, die Vorstadttheater nicht gerechnet, befanden sich an den Boulevards oder in ihrer Nähe: die Oper, die Opéra-Comique, die Italiens, die Variétés, das Théâtre Lyrique und das Gymnase-Dramatique. Die Oper wechselte 1821 von der Rue Richelieu gegenüber der Nationalbibliothek in die Rue Le Peletier, wo sie bis 1873 bleiben sollte. Durch die Passage de l’Opéra war sie mit dem Boulevard des Italiens verbunden. Was als Provisorium gedacht war, gestaltete sich zu einem halben Jahrhundert Pariser Operngeschichte. Hier erlebten »Moses« und »Wilhelm Tell« von Rossini, »Die Stumme von Portici« von Auber, »Robert der Teufel«, »Die Hugenotten« und »Die Afrikanerin« von Meyerbeer und »Die Jüdin« von Halévy die Uraufführung, hier feierten die Sängerin Malibran und die Tänzerinnen Marie Taglioni (»Die Sylphide«), Fanny Elssler und Carlotta Grisi (»Gisèle«) Triumphe. Mochte das Äußere des Gebäudes manchen enttäuschen, die Innenausstattung mit den weiß-goldenen Holzverkleidungen, den vergoldeten Kapitellen und der roten Satinbespannung der Logen erzeugte einen Eindruck von Festlichkeit. Als elegantester Saal der Hauptstadt aber galt das Théâtre des Italiens. Dort konnten die Melomanen ihrer Vorliebe für den italienischen Belcanto, wie er von Rossini, Bellini und Donizetti geboten wurde, besser Genüge tun als in der Oper. Der Mittelstand zog die Opéra Comique vor. Auber hatte mit »Fra Diavolo« (1830) großen Erfolg, doch Berlioz überforderte mit »Fausts Verdammung« (1846) das Musikverständnis der Zeitgenossen. Entsprechend bitter fiel sein Urteil über das Pariser Publikum aus.
Zum ersten und einzigen Mal gelang es Louis Véron (1798–1867), der von 1831 bis 1835 als geschäftsführender Direktor die Oper leitete, den hochsubventionierten Musentempel in ein gewinnbringendes Unternehmen zu verwandeln. Seinen Beruf als Arzt übte Doktor Véron, Sohn eines Papierhändlers in der Rue du Bac, nicht mehr aus. Sein erstes Vermögen hatte er mit einer Schönheitssalbe gemacht, dann wandte er sich dem Zeitungsgeschäft zu und schließlich der Oper. Ob dieser Pionier der Vergnügungsindustrie viel von Musik verstand, darf bezweifelt werden. Aber die Geschicklichkeit, mit der er sich aller Möglichkeiten der Werbung bediente, wurde allgemein anerkannt. Wie bei den Opernbällen, die er veranstaltete, setzte Véron auch bei den Aufführungen auf Ausstattung und erzielte damit fast immer ein volles Haus. »Die Juli-Monarchie ist der Triumph der Bourgeoisie. Diese siegreiche Bourgeoisie legt Wert darauf, sich zu zeigen, sich zu amüsieren. Die Oper wird ihr Versailles, sie kommt in Scharen und nimmt den Platz der Aristokratie und des Hofes ein«, bekannte er in seinen lesenswerten Erinnerungen. Véron wußte sein Publikum zu nehmen: Als er sich von der Oper zurückzog und aufs neue der Presse zuwandte, war er um eine Million Franc reicher.
Die Comédie-Française war seit dem Ausklang der Restauration der Schauplatz des Kampfes zwischen dem klassischen und dem romantischen Theater. Dabei verlief die Front nicht so unbeweglich, wie es den Anschein hatte. Der Kunstfreund, Archäologe und Reisende Baron Isidore Taylor (1789–1879) – er hatte dem Vizekönig von Ägypten vorgeschlagen, Frankreich den Obelisken von Luxor zu schenken –, öffnete als Intendant des Théâtre-Français den jungen Vertretern der Romantik die zweite Bühne der Hauptstadt. Alexandre Dumas machte 1829 mit »Heinrich III. und sein Hof« den Anfang. Bei der Uraufführung von Victor Hugos »Hernani« am 25. Februar 1830 bekämpften sich Anhänger und Gegner der neuen Richtung mit der ganzen Leidenschaft, zu der das Pariser Theaterpublikum fähig war. Nur gut, daß die Herren ihre Spazierstöcke an der Garderobe abgeben mußten, seit Royalisten und Bonapartisten bei der Premiere des »Germanicus« von Antoine Arnault im Jahr 1817 aufeinander eingeschlagen hatten. Auch so wirkte die »Schlacht um Hernani« wie ein Vorspiel zur Juli-Revolution. Obwohl die Zensur gelockert wurde, fiel ihr 1832 Hugos Renaissance-Stück »Der König amüsiert sich« zum Opfer. »Chatterton« von Alfred de Vigny (1835), das romantische Künstlerdrama schlechthin, bezeichnete den Höhepunkt der Bewegung. Der große Talma, der sich 1825 von der Bühne zurückzog, fand keinen würdigen Nachfolger. Aber Rachel Félix (1820–1858), die Tochter eines Hausierers, hatte keine Mühe, seit 1838 Mademoiselle Mars in den Schatten zu stellen und schließlich zu ersetzen. Trotzdem informierte 1847 eine Kommission den Innenminister über die Dauerkrise der Comédie-Française: »Die Einnahmen sind zurückgegangen; das Publikum zeigt sich kühl, die bekannten Autoren scheinen sich abzuwenden.«
Das Theater des Volkes fand an anderen Orten statt. Keinem, der die Boulevards entlangschlenderte, konnte entgehen, daß das Aussehen der Häuser ärmlicher wurde, je mehr er sich dem Bastille-Platz näherte. Die Porte Saint-Denis und die Porte Saint-Martin bildeten die soziale Wasserscheide. Dort ging das bürgerliche Paris in das Paris der kleinen Leute über. Dort blühte das Volkstheater, das seit der Großen Revolution eigene Bedeutung gewonnen hatte. Auf dem Boulevard du Temple siedelten sich seit 1760 ein halbes Dutzend Theater und ein Zirkus an. Die Herkunft vom Jahrmarkt ließ sich nicht verleugnen. Die jüngste Gründung war das Théâtre Historique, das Alexandre Dumas 1846 für seine eigenen erfolgreichen Produktionen geschaffen hatte. Vor oder zwischen den »festen Theatern« fanden noch immer die armen Verwandten, die Akrobaten und Schausteller, genügend Platz. Doch die Juli-Monarchie schränkte das bunte Treiben, bei dem sich Neugierige und Gaffer mit Huren und Taschendieben mischten, polizeilich ein.
Theaterdirektoren arbeiteten mit hohem Kapitaleinsatz und deshalb mit erheblichem Risiko. Die Summe von 150 000 Franc für eine neue Inszenierung konnte nur von mehreren Gesellschaftern aufgebracht werden: in der Hoffnung auf raschen Gewinn. An Dekorationen und Kostümen zu sparen, wäre kurzsichtig gewesen. Das Personal mußte sich mit Hungerlöhnen begnügen. Aber wie viele Kräfte brauchte ein Theater! Schauspieler und Schauspielerinnen samt Statisten, Sänger und Sängerinnen samt Chor, Tänzer und Tänzerinnen samt Ballett, dazu Dekorationsmaler, Bühnenarbeiter, Maschinisten, Beleuchter, Garderobieren, den Schminkmeister, den Souffleur, Kassierer, Türsteher und im weiteren Umfeld die Verfertiger von Kostümen und Requisiten, nicht zu reden von den Stückeschreibern und Komponisten. Kritiker wollten mit Freikarten, wenn nicht mit Geld günstig gestimmt werden. Tausende von Menschen ernährte diese Vergnügungsindustrie. 1828 traten die Choristinnen des Vaudeville in den Streik, um die Erhöhung ihres Lohnes von 300 Franc auf 500 Franc im Jahr zu erzwingen. Gleichzeitig hatte die Sängerin Malibran beim Théâtre des Italiens Mühe, mit ihrer Jahresgage von 75 000 Franc auszukommen.
Die Eintrittspreise lagen zwischen 50 Centimes für den bescheidensten Platz im einfachsten Boulevard-Theater und zehn Franc für den Logenplatz in der Oper. Die Schlange vor der Theaterkasse, auch dies ein Symptom des beginnenden Massenzeitalters, bewies den Erfolg eines Stückes. »Das Gedränge vor dem Hause, wenn ein neues oder beliebtes Stück gegeben wird, ist gar nicht zu beschreiben«, schrieb Börne 1819 der Freundin Jeanette Wohl nach Frankfurt. »Es wird aber strenge Polizei gehalten, es dürfen nur immer zwei Personen nebeneinander stehen. Dadurch wird nun eine unendliche Reihe gebildet, durch ganze Straßen, viele hundert Schritte weit. Das nennt man faire queue.« Straßenhändler versorgten die Wartenden mit Backwerk, Bratäpfeln und Orangen. Die wurden auch als Wurfgeschosse verwandt, wenn das Völkchen auf dem obersten Rang, dem »Olymp« (paradis) oder »Hühnerstall« (poulailler), mit dem Stück oder den Schauspielern unzufrieden war. Das Gegengewicht bildete die Claque, die straff angeleiteten, strategisch verteilten bezahlten Beifallspender, die auch Mißfallensäußerungen mit Brachialgewalt unterdrückten. Die Claque hatte ihr Stammquartier in der Nähe des Theaters, wo die Bühnenwelt mit der Unterwelt in Berührung kam.
In seinem Hunger nach Neuem war das Publikum unersättlich. 140 Stücke wurden 1837 in Paris aufgeführt, oft an einem Abend drei oder vier nacheinander. Erfolglose Stücke verschwanden nach wenigen Aufführungen auf Nimmerwiedersehen. Einer der fruchtbarsten Theaterdichter war Eugène Scribe (1791–1861). Zeitweise lieferte er jeden Monat ein neues Stück, wobei ihm anonyme Mitarbeiter zur Hand gingen. Manche der Scribe’schen Lustspiele griffen, mit der gebotenen Vorsicht, politische Fragen auf. Ein Stück mit dem beziehungsvollen Titel »Vor, während und danach« (1826) – gemeint war: die Revolution – verstimmte Royalisten wie Republikaner oder Bonapartisten und wurde auf Betreiben des Hofes abgesetzt. »Kameraderie oder Gegenseitige Hilfe« (1841) geißelte den Filz der Juli-Monarchie. Auf der Bühne und im Leben vertrat dieser Autor die Antimoral, nach der die Ehrlichen immer die Dummen sind. 120 Stücke und über fünfzig Opern-Libretti brachten Scribe ein Millionenvermögen und den Sitz in der Académie française ein.
Die neuen Stücke gaben dem Volk eine Bedeutung, die es im Theater der Herrscher und Helden nie gekannt hatte. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich zwei neue Kunstformen: das Vaudeville, als Singspiel Vorläufer der Operette, und das Melodrama, das Schauspiel mit Musikbegleitung. Im Melodrama mischten sich Elemente des englischen Schauerromans und solche des bürgerlichen Schauspiels: abscheuliche Untaten vor dem Hintergrund verwickelter Familientragödien, grundiert durch soziale Anliegen. Die Vorliebe des Volkes für das grelle »mélodrame« war der Obrigkeit verdächtig und trug dem Boulevard du Temple den Spottnamen »Boulevard du Crime« ein. Aus der Verborgenheit trat das Verbrechen ins Rampenlicht, um regelmäßig die verdiente Strafe zu erfahren. Dabei stellte Stendhal 1826 eine allmähliche Verbesserung des Geschmacks fest: »Die Melodramen, die man 1808 con furore an der Porte Saint-Martin spielte, würden heute mit ihren läppischen Intrigen und ihren groben Späßen nicht mehr durchgehen.«
Es beweist die Schnelllebigkeit des beginnenden Industriezeitalters, daß auch die Parodie nicht lange auf sich warten ließ. Der Schauspieler Frédérick Lemaître (1800–1876), der »Talma des Boulevards«, errang seinen ersten großen Erfolg, weil er das Rührstück »L’Auberge des Adrets« einfach nicht ernst nehmen konnte. Aus dem Stegreif verwandelte Lemaître den Wegelagerer Robert Macaire in einen zynischen Spaßvogel: »Man kann gelegentlich ein paar Gendarmen umbringen und doch ein guter Kerl sein.« Für sein Kostüm im Ambigu-Comique 1823 hatte sich der Dandy von einem Clochard anregen lassen. So erschien er in zerrissenem Frack, schmutzig weißer Weste und Halstuch, mit eingedrücktem Hut, Augenbinde und Knotenstock. Elf Jahre später knüpfte Lemaître mit seinem eigenen Stück »Robert Macaire« an den Erfolg an. Aus dem Wegelagerer war ein Betrüger geworden, aus dem Raubmörder ein Wirtschaftsverbrecher. Daumier machte die zweifelhafte Figur zum Repräsentanten des Juste Milieu.
Lemaître hatte sein Metier in den »Funambules« gelernt, wo zur selben Zeit der Pantomime Jean-Gaspard (genannt Baptiste) Deburau (1796–1846) Triumphe feierte. Als weiß geschminkter Pierrot gewann Deburau durch kunstvolle Naivität das Herz des Volkes und die Achtung der Ästheten. Théophile Gautier sah in der Gestalt aus der Commedia dell’Arte den antiken Sklaven und den modernen Proletarier, und auch Baudelaire verband bedrohliche Assoziationen mit diesem »künstlichen Menschen«: »Bleich wie der Mond, geheimnisvoll wie die Stille, stumm und geschmeidig wie die Schlange, aufrecht und lang wie der Galgen.« Mehr noch als nach Beifall hungerte Deburau nach bürgerlicher Anerkennung. Als er bei einem Spaziergang mit seiner Frau von einem Betrunkenen gehänselt wurde, schlug der Mime zu und traf tödlich. Die Geschworenen sprachen Deburau frei, aber das Publikum beschlich bei seinem Erscheinen fortan ein Grauen. In einem der schönsten französischen Filme, Marcel Carnés »Kinder des Olymp« (1944/45), feierten Deburau, Lemaître und der Boulevard du Crime hundert Jahre später ihre Auferstehung.
Es fehlte auch sonst nicht an Zerstreuungen. Curtius’ Wachsfigurenkabinett im Palais-Royal mit den einander ablösenden Helden der Zeitgeschichte wurde zum Vorbild für das Etablissement der Madame Tussaud in London. Anders als die Wachsfiguren konnten sich die Automaten des Mechanischen Museums bewegen, während im Philosophischen Theater durch optische Effekte Geistererscheinungen vorgetäuscht wurden. Am Börsenplatz gastierte ein Flohzirkus, während an der Barriere du Combat (heute Place Stalingrad) die Metzgergesellen blutige Tierkämpfe veranstalteten.
Die Restauration war die große Zeit des Panoramas. Die beiden Panoramen am Boulevard Montmartre, denen die Passage des Panoramas den Namen verdankte, und das Panorama Prévost am Boulevard des Capucines fanden Nachahmer. Das Géorama zeigte die Erdkugel im Durchmesser von 14 Metern, in deren Mittelpunkt der Beschauer Platz nahm. Das Peristrephorama, auf Meeresansichten spezialisiert, bot den Untergang der türkischägyptischen Flotte in der Seeschlacht von Navarino 1827. Im Diorama, das später in Berlin und Breslau nachgebaut wurde, bekam der Emigrant Börne wie in einer Wochenschau einen ersten Eindruck von den Straßenkämpfen im Juli 1830. Der Betreiber des Diorama, der Theatermaler Louis Daguerre (1787–1851), arbeitete an der Entwicklung der Photographie und legte 1838 die ersten »Daguerreotypien« vor.
Zum Leben auf den Boulevards gehörten die Cafés, der passende Ort für zufällige Begegnungen wie für Verabredungen. Dort konnten die Passanten Erfrischungen einnehmen: Wein, Bier oder Punsch; Limonade, Fruchtsäfte oder Mandelmilch; Kaffee, Tee oder Schokolade; Eis oder Sorbet. »Die schönsten Einrichtungen dieser Art sind auf dem Boulevard des Italiens und den anliegenden Straßen, auf dem Börsenplatz und im Vendôme-Viertel«, urteilte Adelbert von Bornstedt. Gemeint waren das Café Tortoni, das seit dem Directoire großen Erfolg hatte, das Hardy, das Grand Café, der Cadran d’Or, das Café de Paris und das Café Anglais. Ein Paris-Beobachter zeigte sich von der antikisierenden Einrichtung des Café Véron am Boulevard Montmartre überwältigt: »Decke und Wände sind mit den hübschesten Fresken von Tieren, Blumen, Faunen, Nymphen und Grazien geschmückt … Ein hoher Kandelaber steht in der Mitte des Raumes, und zwei schöne Lampen beleuchten die Theke. Überdies sind die Spiegel so angebracht, daß sie das hier Beschriebene verdoppeln und abermals verdoppeln und zwanzigfach wiedergeben.« (Jules Janin, 1843)
Die Cafés des Palais-Royal büßten nach und nach ihre bevorzugte Stellung ein. Während der Restauration trafen sich dort die Royalisten im Café Foy, die Bonapartisten im Café Montpensier. Trotz der räumlichen Trennung kam es immer wieder zu Duellen. Die politische Agitation verlagerte sich in die Außenbezirke. Das Café du Progres im Faubourg du Temple, das Café de la Liberté im Faubourg Saint-Antoine oder das Café de l’Union im Faubourg Saint-Honoré zeigten die mehr oder weniger radikale Gesinnung der Gäste schon im Namen. La Nouvelle France im Faubourg Poissonnière war ein Treffpunkt ausländischer Demokraten. Die Künstler fanden sich im Café Momus an der Kirche Saint-Germain-l’Auxerrois und häufiger noch in den einfacheren Lokalen des Quartier Latin, wo auch das älteste Pariser Café, das Procope in der Rue de l’Ancienne-Comédie, seinen Platz hatte.
Wie unter den dreitausend Lokalen für den Getränkeausschank, zu denen die Cafés gehörten, gab es auch unter den neunhundert Speisegaststätten erhebliche Qualitäts- und Preisunterschiede. Neben dem Rocher de Cancale, dem Véry und dem Grand Vefour gehörten das Café de Paris, das Café Anglais und das Café Riche, ungeachtet ihrer Benennung, zu den besten Restaurants. »Es gibt Leute, die bei Borrel im Rocher de Cancale zu vier Louis d’or speisen, andere beim Justizpalaste zu vier Sous die Schüssel in einer Garküche«, hielt Bornstedt in seiner Beschreibung der Pariser Restaurants fest. Aber nicht einmal ein Essen zu zwanzig Centimes konnte sich jeder leisten. Die Ärmsten mußten mit einem Teller Bratkartoffeln oder einem Napf Mehlsuppe für einen Sous an den Ständen des Marche des Innocents, bei den Markthallen oder auf dem Grève-Platz beim Rathaus vorlieb nehmen. »Paris ist der Ort, wo man am wohlfeilsten und am teuersten speisen kann, wo oft der bekannteste Name täuscht und der unbekannteste angenehm überrascht«, faßte Bornstedt seine Erfahrungen zusammen. Der Satz hat seine Gültigkeit bis heute nicht verloren.
Cafés und Restaurants waren Ruhepunkte in einer in Bewegung befindlichen Öffentlichkeit. Die Cercles und Clubs boten der Oberschicht exklusivere Reservate. Diese Einrichtung, eine Erweiterung der privaten Salons, kam während der Restauration von England nach Frankreich. 1828 wurde der Cercle de l’Union gegründet, in einem Gebäude an der Ecke des Boulevard des Italiens und der Rue de Gramont, wo mehrere Jahre lang die russische Botschaft ihren Sitz hatte. Die dreihundert Aristokraten und Diplomaten, die dazugehörten, duldeten keine Geschäftsleute in ihren Reihen. Der Bankier James Rothschild verdankte die Mitgliedschaft seiner Stellung als österreichischer Generalkonsul, nicht seinem Vermögen. Nach 1830 verstand sich die Union als Bastion der Legitimisten gegen die Juli-Monarchie. Deutlicher noch war das Vorbild englischer Lebensformen beim Jockey Club, der 1834 als Treffpunkt der »Gesellschaft der Rennfreunde« und der »Gesellschaft zur Ermutigung der Verbesserung der Pferderassen in Frankreich« gegründet wurde. (Pferderennen wurden in Paris seit 1775 abgehalten.) Der Gründer des Clubs, Lord Henry Seymour (1805–1859), der uneheliche Sohn eines Sekretärs Talleyrands und einer englischen Aristokratin, verfügte über ein großes Vermögen und trat als spleeniger Sportsmann in Erscheinung. Der Pöbel verwechselte Seymour zu seinem Verdruß mit »Milord l’Arsouille« (»Lord Liederjahn«), einem Pariser Original, das einige Winter lang als Prinz Karneval Aufsehen erregte. Ungeachtet der ernsthaften Leidenschaft des Gründers für Rennsport und Pferdezucht interessierten sich die 250 Club-Mitglieder mehr für gutes Essen, Glücksspiel und Wetten. Die Aufnahme in diesen Kreis von Lebemännern bedeutete für jeden Boulevardier den Ritterschlag. Der Jockey hatte seinen Sitz nicht weit von dem der Union, zeigte sich aber politisch offener. Im Jockey Club verkehrten Legitimisten, Orléanisten und Bonapartisten, dort waren auch Vertreter des Geldadels nicht unerwünscht. Damit entsprach der berühmteste Pariser Club ganz dem Geist der Juli-Monarchie und des Boulevards.
Es wurde viel getanzt in Paris in jener Zeit: die happy few abgeschlossen in den Stadtpalais, das Bürgertum bei den winterlichen Bällen in Theatern und öffentlichen Sälen, das Volk in den »Bals publics« der Innenstadt und den »Guinguettes« der Vororte. Die Zahl der öffentlichen Tanzsäle in und um Paris erreichte 1834 fast fünfhundert, um danach wieder abzunehmen. Die Grande Chaumiere am Boulevard Montparnasse und der Prado auf der Île de la Cité erfreuten sich unter den Studenten großer Beliebtheit. Im Osten war das Vauxhall an der Place du Château-d’Eau (jetzt Place de la Republique) die Hauptattraktion, im Westen das Ranelagh am Bois de Boulogne. Philippe Musard (1792–1859), der bekannteste Kapellmeister der dreißiger und vierziger Jahre, schuf in der Rue Saint-Honoré und später in der Rue Vivienne den größten Konzert- und Tanzsaal nächst der Oper. Als Komponist und Arrangeur schwang »Napoléon-Musard« den Taktstock über hundert Musiker. Er mußte sich freilich bei dem »musikalischen Turnier« vor dreitausend Zuhörern, bei dem er 1837 neben Johann Strauss auftrat – der »Kaiser der Quadrille« neben dem »Walzerkönig« –, geschlagen geben. Musard wollte dem Volk auch klassische Musik bieten, ein Vorhaben, mit dem er in anderen europäischen Hauptstädten mehr Erfolg hatte als in Paris. Gegen Ende der Juli-Monarchie kamen einige Etablissements dazu, die auf ein gut zahlendes Publikum setzten, ein Zeichen dafür, wie die Leidenschaft für das Tanzen auch die Oberschicht erfaßte. Der Bal Mabille und der Jardin d’Hiver an den Champs-Élysées und der Bal Bullier, genannt Closeries des Lilas, am Boulevard Montparnasse nahmen mit Gußeisen, Glas und Gasbeleuchtung die Ästhetik der Weltausstellung vorweg.
Mehr als die Hälfte der Tanzsäle lag außerhalb der Stadtgrenze, in Belleville, La Villette, Montrouge, Grenelle, Montmartre. Denn die Guinguettes waren nichts anderes als die halbländlichen Schenken, mit oder ohne Garten, in denen der säuerliche Wein der Gegend – eben daran erinnerte die altertümliche Bezeichnung »guinguette« – ausgeschenkt wurde. Außerhalb der Zollschranken kostete der Wein weniger als in der Stadt. Die Lokale der Banlieue brauchten auch nicht mit dem Platz zu knausern wie die in der Innenstadt. An drei Tagen der Woche durfte getanzt werden: am Sonntag, am Montag und am Donnerstag, eine Möglichkeit, die verschiedenen Teile des Publikums – Handwerkerfamilien, Arbeiter, Soldaten, Angestellte und Studenten – etwas auseinander zu halten, damit es beim allgemeinen Vergnügen nicht allzu »gemischt« herging. Von den Eintrittsgeldern – zwanzig oder dreißig Centimes für die einfachen, bis zum Zehnfachen für die eleganten Säle – mußte wie bei den Theatern ein Zehntel oder mehr an die städtische Wohlfahrtskasse abgeführt werden.
Die Obrigkeit behielt das öffentliche Tanzvergnügen ebenso im Auge wie die Theater und die Presse. Das »Handbuch für Stadtpolizisten« enthielt seit 1831 den aufschlußreichen Hinweis: »Die Polizisten, die die Aufsicht in den Tanzsälen führen, haben darauf zu achten, daß kein unanständiger Tanz wie Chahut, Cancan etc. ausgeführt wird.« Damit ist der anstößige Tanz beim Namen genannt: »Chahut« nach der spanischen Cachucha oder »Cancan« nach dem französischen Wort für Geschwätz, Klatsch. Der bühnenreife »French Cancan« gibt uns nur eine abgeschwächte Vorstellung davon. Heinrich Heine spürte in diesem Sich-Gehenlassen die »getanzte Persiflage« auf den Kontertanz und auf die gesellschaftliche Ordnung, eine gefährliche »Pantomime des Robert-Macairetums«. Aber man darf über den Auswüchsen nicht das Wesentliche vergessen: In der Regel wußte der Wirt für Wohlverhalten zu sorgen, und die meisten Gäste wollten sich ihr Vergnügen durch den »chi-en-lit«, den selbsternannten Spaßmacher, nicht stören lassen. Sie hatten an den neuen Tänzen ihre Freude, die nicht mehr wie die Quadrille in Gruppen, sondern paarweise getanzt wurden: Walzer, Polka, Mazurka und Schottischer. Der Tanz blieb ein Element des Volkslebens, und die Erinnerung verklärte die Guingettes zum Inbegriff der guten, alten Zeit.
Den Höhepunkt erreichten die privaten und öffentlichen Tanzveranstaltungen während des Karnevals. Unter der Restauration gab es nur drei große öffentliche Bälle: in der Oper, im Odéon und im Theater an der Porte Saint-Martin. Der Opernball, der nach der Epoche Ludwigs XIV. eingeführt worden war, bildete hundert Jahre später ein zum Spott reizendes Paradox: Auf diesem Maskenball wurde nicht getanzt, und nur die Damen durften sich verkleiden: als Dominos. Das änderte sich unter der Juli-Monarchie. In den neun größten Theatern fanden nun öffentliche Bälle statt. Der Erfolg war durchschlagend. Der Opernball – die Oper lag nicht weit vom Boulevard des Italiens – wurde mit zehn Veranstaltungen in der Saison zum Inbegriff des Pariser Karnevals. Börne wunderte sich mit Recht, daß in dem Gedränge von siebentausend Gästen niemand zu Schaden kam, zeigte sich aber von dem Eindruck bezaubert: »Dieser sonnenhelle Lichterglanz, dieses strahlende Farbengemisch von Gold, Silber und Seide, von Weibern, Kristall und Blumen, … und die Musik dazwischen, wie hineingestickt in den großen Teppich, eins damit – es war zu schön.« Den Abschluß bildete der Große Galopp, der rasende Kometenschweif ineinander verschlungener Paare, zu dem der Dirigent Musard mit einem Pistolenschuß das Signal gab.
Waren in den närrischen Tagen alle sozialen Unterschiede aufgehoben, wie es der Geist des Karnevals will? Das ist zu bezweifeln, auch wenn manche Masken die Vermischung oder Verkehrung der Klassen demonstrierten. Die großen Bälle blieben schon wegen der Eintrittspreise – zehn Franc beim Opernball – den einfachen Leuten verschlossen, während Bessergestellte durch die Befürchtung unangenehmer Zusammenstöße davon abgehalten wurden, einen »bal populaire« zu besuchen. Wenn am Morgen des Aschermittwoch der bacchantische Zug von der Höhe von Belleville auf die Boulevards strömte – die »descente de la Courtille« –, dann war damit nicht das Reich glückseliger Gleichheit angebrochen. »Die Wagen mit Masken bewegten sich in wirrem Durcheinander, gegeneinander stoßend und reibend, zwischen zwei Reihen abschreckend häßlicher Männer und Frauen, die auf den Gehsteigen standen«, erinnerte sich Alfred de Musset an jenen »schrecklichen Aschermittwochsmorgen«, der für ihn die erste Begegnung mit dem »Volk« brachte. »Ich stand auf dem Sitz des offenen Wagens; ab und zu drängte sich ein Mann aus der Menge, kotzte uns eine Flut von Schmähungen ins Gesicht und überschüttete uns mit Mehl. Bald folgte Schlamm. Ich hatte nie etwas ähnliches erlebt, und ich begriff, in welchen Zeiten wir lebten.«
Es gab auch ruhigere, kontemplativere Orte. Dazu gehörten die Lesekabinette und Leihbüchereien. 1828 bestanden in Paris 130 meist von Buchhändlern geführte Lesekabinette, wo die Besucher auch ausländische Zeitungen und Bücher fanden. Für unbemittelte Studierende und Literaturfreunde wie für politisch Interessierte, die in engen Zimmern hausten, war das eine wohltätige Einrichtung. »Man bezahlt monatlich sechs Franken, und für diese geringe Summe kann man den ganzen Tag in einem solchen Kabinett arbeiten, hat im Winter Feuerung und Licht unentgeltlich und alle nötigen Bücher zur Hand«, schrieb Börne. Die Leihbüchereien verfügten über zweitausend bis zehntausend Bände, die Leihgebühr betrug pro Tag zehn bis dreißig Centimes. Trotzdem fehlte es den fast sechshundert Buchhandlungen nicht an Kundschaft. Die Übersetzungen der Romane Walter Scotts erlebten in zehn Jahren Auflagen von 1,2 Millionen. Von Sues »Die Geheimnisse von Paris« wurden in wenigen Tagen zehntausend Exemplare verkauft. Thiers’ vielbändige »Geschichte der Französischen Revolution« brachte es zwischen 1823 und 1866 auf 29 Auflagen.
Nur jeder fünfte Einwohner von Paris konnte nicht lesen, während es im Landesdurchschnitt jeder zweite war. »Alles, jeder liest«, beobachtete Börne. »Die Obsthökerin läßt sich von ihrer Nachbarin den ›Constitutionnel‹ vorlesen, und der Portier liest alle Blätter, die im Hotel für die Fremden abgegeben werden … Der Metzgerknecht wischt sich die blutigen Hände ab, die Zeitung nicht zu röten, und der ambulierende Pastetenbäcker läßt seine Kuchen kalt werden über dem Lesen.« Adelbert von Bornstedt fand bei der französischen Presse im Unterschied zur deutschen »ein Bedürfnis nach Tagesliteratur, nach augenblicklichen, thatsächlichen, immer wechselnden Mittheilungen«, eben nach Aktualität in Politik, Wissenschaft oder Kunst: »Selbst die Leute, welche sich von der Tagespolitik abgewandt haben und die stete Unruhe fliehen, können nicht umhin, gezwungener Weise das politische Treiben zu beobachten.«
1830 erschienen in Paris 130 Zeitungen und Zeitschriften, darunter zehn Modezeitschriften und zahlreiche Kunst- und Theaterzeitschriften. Nur zwei Dutzend Tageszeitungen waren politisch ernstzunehmen. »Le Moniteur«, »Le Constitutionnel«, »Le Journal des Débats«, »Le Journal de Paris«, »Le Temps« galten als regierungskonform; »La Gazette de France«, »La Quotidienne« und »Le Renovateur« als Befürworter der gestürzten Bourbonen-Herrschaft und der Religion; »Le Globe«, »Le National« und »Le Populaire« als republikanisch.
Eine besondere Stellung nahmen die politisch-satirische Wochenzeitung »La Caricature« und ihr Nachfolger, der täglich erscheinende »Le Charivari« (»Die Katzenmusik«) ein. Charles Philipon (1806–1862), ein Zeichner und Literat aus Lyon, hatte sie gegründet; als Verleger firmierte sein Schwager Gabriel Aubert, der in der Passage Véro-Dodat eine Galerie betrieb. Philipon nutzte das Druckverfahren der Lithographie, das sich seit fünfzehn Jahren von Deutschland her verbreitet hatte. Das Auftragen der Zeichnung auf eine Kalksteinplatte ermöglichte rascheres Reagieren und billigere Herstellung als der Holzschnitt oder der Kupferdruck: ein Nährboden für die Kommentierung der Tagesereignisse mit dem Zeichenstift. Der noch nicht dreißigjährige Honoré Daumier, dessen Vater in der Hoffnung auf Künstlerruhm aus Marseille nach Paris gezogen war, wurde durch seine Zeichnungen in »La Caricature« und im »Charivari« berühmt, wenn auch nicht reich. Die Angriffe Philipons und seiner Künstler gegen die Juli-Monarchie – die Darstellung Louis-Philippes als Birne ging auf einen Einfall Philipons zurück – endeten nach fünf Jahren mit der Einstellung der Wochenzeitschrift; dem »Charivari« hingegen war eine Erscheinungsdauer von sechs Jahrzehnten beschieden. Daumier fand mit humoristischen Sittenschilderungen – die Widrigkeiten des Ehelebens, die Diener der Justiz, der Dauerkrieg zwischen Mietern und Hausbesitzern oder die Sonntagsvergnügungen der Spießbürger – ein Reservat außerhalb der Politik. Ergänzt durch die eleganten Zeichnungen Gavarnis (1804–1856) aus Salon und Boudoir, hielt das Werk Daumiers den Alltag der Pariser fest.
Viele Zeitungen hatten ihren Standort in der Nähe der Boulevards und der Börse. Die Auflagen betrugen in der Regel nicht mehr als einige tausend Exemplare. Das änderte sich mit der neuen Verkaufsstrategie, die der politisch ambitionierte Publizist und Verleger Émile de Girardin (1806–1881) und sein Konkurrent Armand Dutacq einführten, die im Juli 1836 mit zwei neuen Titeln, »La Presse« und »Le Siècle«, auf den Markt kamen. Girardin verminderte den Preis für das Jahresabonnement auf vierzig Franc, die Hälfte des Üblichen, und glich den Fehlbetrag durch Anzeigen aus. So gewann er im ersten Anlauf zwanzigtausend Abonnenten. Der Anzeigentarif hing von der Höhe der Auflage ab. Und die Auflage ließ sich nur steigern, wenn die Zeitungen dem Geschmack der Leser entgegenkamen. Girardin kündigte in der ersten Ausgabe an, er wolle mit seiner Zeitung »nicht die Meinung einer Partei, die Sache einer Dynastie, die unrealistischen Theorien einer Denkschule vertreten und verteidigen«, sondern »alle engen Parteigrenzen auslöschen«. Das war die Proklamation einer gewinnorientierten, politisch neutralen Presse. Neben Innen- und Außenpolitik, Kunst und Mode nahmen die »faits divers«, die Berichterstattung über aufsehenerregende Verbrechen und Prozesse, breiten Raum ein. Diese Vielfalt des Inhalts wurde erleichtert durch die Nachrichten, die die Agentur Havas seit 1835 den Redaktionen anbot. Der Geschäftsmann Charles Havas (1783–1858), ein Normanne, hatte sein Vermögen während der Kontinentalsperre gemacht und verstand es, die Nachrichtenverbindungen von der Brieftaube bis zum Telegramm für seine Zwecke zu nutzen.
Das schwere Geschütz beim Kampf um die Leser aber stellten die Fortsetzungsromane (feuilleton-roman). Auch Balzac, der größte Romancier des Jahrhunderts, lieferte mit siebzehn Romanen, von der »Alten Jungfer« bis zum »Vetter Pons«, die Munition. Die Könige des Fortsetzungsromans waren Alexandre Dumas mit »Die drei Musketiere« (1844) und »Der Graf von Monte Christo« (1844/45) und Eugène Sue mit »Die Geheimnisse von Paris« (1842). Sues nächster Erfolg, »Der Ewige Jude« (1844), brachte die Auflage des »Constitutionnel« von 4000 auf 25 000, womit das Honorar des Autors von 100 000 Franc gerechtfertigt war. Die Gesamtauflage der zwei Dutzend wichtigsten Tageszeitungen in Paris stieg während der Juli-Monarchie von 60 000 auf über 200 000. Aber nur eine Zeitung brachte es auf mehr als 30 000 Exemlare (»Le Siècle«), zwei auf mehr als 20 000 (»Le Constitutionnel«, »La Presse«); sechs Zeitungen blieben unter 2000 Exemplaren. Zwei Drittel der Auflage gingen an Abonnenten in der Provinz.
Bis zur Dritten Republik blieb die Pressefreiheit ein papierenes Versprechen der Großen Revolution. Zwar wagten die Restauration und die Juli-Monarchie nicht, die Zeitungen so gründlich zu knebeln, wie es Napoleon getan hatte, aber sie verstanden es, Redaktionen und Druckereien durch Kautionszahlungen, Verwaltungsschikanen, Beschlagnahmungen und Verbote, durch Haft- und Geldstrafen einzuschüchtern oder durch Subventionen und Bestechungen gefügig zu machen. Unbequeme kleine Zeitungen ließ die Regierung durch Strohmänner aufkaufen. »Seit dem 7. August 1830 sind über die Presse vierhundert Prozesse, zweihundert Jahre Haft- und 300 000 Franc Geldstrafe verhängt worden. Es befinden sich heute mehr als dreißig Zeitungsredakteure in den Gefängnissen«, stellte »La Caricature« im Juli 1834 fest. Die Wochenzeitung Philipons wurde zum Vorkämpfer für die Pressefreiheit. Aber nach dem mörderischen Anschlag gegen den König im Juli 1835 schränkten die sogenannten »September-Gesetze« die Pressefreiheit weiter ein. Dies alles hielt die Oppositionspresse nicht davon ab, immer wieder vehemente, von Tatsachenkenntnis wenig behinderte Angriffe gegen die Regierung zu führen.
Durch den Aufschwung der Presse waren die Journalisten zu einer einflußreichen Berufsgruppe geworden. Ein Chefredakteur bezog ein Jahresgehalt von mindestens zehntausend Franc, das sich mit einigem Geschick ergänzen ließ. In Balzacs »Verlorene Illusionen« rechnet ein Journalist dem Neuling Lucien de Rubempré vor, wie er mit seiner Feder ohne Schwierigkeiten viertausend Franc im Jahr verdienen kann, die Einnahmen aus dem Buchhandel nicht gerechnet. Ein Unterpräfekt in der Provinz erhielt damals dreitausend Franc. Mit genügend Geld in der Tasche gehörten die erfolgreichen Journalisten zu den stadtbekannten Figuren. Die Grenzen zwischen Tagesjournalismus und Literatur waren fließend. Keiner der wichtigen Schriftsteller verschmähte die Mitarbeit an Zeitungen. »Der Journalismus führt zu allem, vorausgesetzt, man läßt ihn hinter sich«, lautet eine Pariser Lebenserfahrung. Das galt auch für die Politik, denn eine Partei fand nur Gehör, wenn sie über ein Sprachrohr verfügte. Darauf legte der Konservative Chateaubriand nicht weniger Wert als der Liberale Thiers. Mit seinem Protest gegen die weitere Einschränkung der Pressefreiheit gab Thiers im Juli 1830 das Zeichen zum Aufstand.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen Dutzende von Paris-Beschreibungen, als wollten die Leser den Überblick über ihre Stadt behalten, die sich mehr und mehr der Anschauung entzog. Das große Vorbild blieb das »Tableau de Paris«, das Louis Sébastien Mercier (1740–1814) in den letzten Jahren vor der Revolution verfaßt hatte. In kaleidoskopischer Manier führt Mercier in mehr als tausend kurzen Kapiteln die Stadt und ihre Einwohner in ihrer ganzen Vielfalt vor: die »öffentlichen und privaten Sitten«, die »herrschenden Ideen«, die »gegenwärtige geistige Situation«, dieses »seltsame Durcheinander von absonderlichen oder vernünftigen, aber immer wechselnden Gewohnheiten«. Der erfolgreichste Nachfolger Merciers war der Publizist Étienne Jouy (1764–1846), der nach einer abenteuerlichen Jugend in der Fremde als Bibliothekar des Louvre und Theaterdichter tätig war. Die Beobachtungen, die er seit 1811 in der »Gazette de France« veröffentlichte, erschienen bald in Buchform. Der »Einsiedler von der Chaussee d’Antin« fand Anklang. Andere »Eremiten« hängten sich an, wenn die Verfasser nicht in Anspielung auf einen berühmten Roman des 18. Jahrhunderts den Teufel, der das Alltagsleben ausspäht, im Titel vorzogen. Mehrbändige Paris-Bücher wurden in Gemeinschaftsarbeit hergestellt, für die sich auch namhafte Autoren nicht zu gut waren. Keine dieser Beschreibungen im Plauderton erreichte die Dichte des »Tableau de Paris«. Für die von Grund auf veränderte Metropole des Zweiten Kaiserreichs unternahm der Schriftsteller Maxime Du Camp (1822–1894) eine umfassende Darstellung mit dem sechsbändigen »Paris, ses organes, ses fonctions et sa vie« (1869/75), nach dem Urteil von Meyers Konversationslexikon (1897) »das bedeutendste Buch, welches über das materielle und geistige Leben der Weltstadt in diesem Jahrhundert geschrieben worden ist«.
Die Gesellschaft der Restauration und der Juli-Monarchie bleibt in dem Romanwerk der »Comédie humaine« konserviert wie das Insekt im Bernstein. Honoré de Balzac verstand sich als Beobachter und »Geheimschreiber« Frankreichs von der Revolution bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, wobei er wie kein Schriftsteller vor ihm die Triebkräfte seiner Zeit, die Macht des Geldes, offen legte. Das Paris Balzacs ist noch immer die enge, schmutzige Stadt des 18. Jahrhunderts. Aber in ihrer bis ins Mittelalter zurückreichenden Bausubstanz sind die Eingriffe nicht zu übersehen. Der konservative Realist beobachtete solche Veränderungen ohne Wehmut, vielleicht mit Hoffnung. Er wußte um die Magnetwirkung und die Dynamik der großen Stadt und verdichtete sie in seinen Helden Eugène de Rastignac und Lucien de Rubempré. Balzac kannte Paris, wo er von Gläubigern verfolgt ein Dutzendmal die Wohnung wechselte, aufs Genaueste. Die Adressen in seinen Romanen bezeichnen präzis die soziale Stellung der Figuren, ihren Aufstieg oder Abstieg. Balzac malte kein Stadt-Panorama. Aber mit den Schicksalen von Hunderten von Personen, die seine Geschichten bevölkern, führte der Romancier Paris als immer wiederkehrendes Thema in die Literatur ein. Mit der »Menschlichen Komödie« gewann der Paris-Mythos Gestalt. Seither sehen wir Paris auch mit Balzacs Augen – und mit den Augen von Victor Hugo, Baudelaire, Zola, Proust, Simenon.
Nicht für eine breite Leserschaft, sondern für die Fachleute in Politik und Verwaltung waren die sozialpolitischen Untersuchungen seit dem Ende der Restauration bestimmt. Die »Recherches statistiques sur la ville de Paris et le département de la Seine«, die der Präfekt Chabrol zwischen 1821 und 1829 anstellen ließ, bildeten eine solide Grundlage. Die Statistik für Paris wurde das Vorbild für die 1833 eingeführte »Statistique générale de la France«, die Röntgenaufnahme der Nation. Seit 1829 erschienen die »Annales d’hygiène publique et de médecine légale« (»Jahrbücher für Volksgesundheit und Gerichtsmedizin«), herausgegeben von einer Gruppe von Ärzten und Beamten. Aus diesem Kreis kamen ungeschminkte Angaben über Bevölkerungsdichte und Sterblichkeit in den verschiedenen Stadtteilen, über die Wasserversorgung und das Kanalisationssystem, die in den öffentlichen Debatten herangezogen wurden. Der Arzt Parent-Duchâtelet verfaßte ein zweibändiges Werk über »Die Prostitution in Paris« (1836), Honoré-Antoine Fregier, Abteilungsleiter der Präfektur, schrieb über »Die gefährlichen Bevölkerungsklassen der Großstädte« (1840). Balzac, Dumas, Sue und Hugo nutzten diese Untersuchungen für ihre Romane. Das Bild, das sich daraus ergab, unterschied sich erschreckend von den Plaudereien der Feuilletonisten. Bei »Les Miserables« (»Die Elenden«) von Victor Hugo verwischen sich die Grenzen zwischen Arbeitenden, Armen und Kriminellen. Aus der Gesellschaft ausgegrenzt, erschienen sie als »Barbaren«, als »Wilde«, die mitten in Paris ihr prekäres aber darum nicht minder bedrohliches Dasein führten.
In den Tuilerien war von all dem wenig zu spüren. Nach fast einem Vierteljahrhundert im Exil kehrten die Bourbonen in ihre Residenz zurück. Aber das Ancien Régime war unwiederbringlich dahin. »Man ließ gutwillig zu, daß die königliche Familie das alte Zeremoniell herstellte, sich mit einem Großmeister der Garderobe, ersten Kammerherren, einem Haushofmeister umgab, eine königliche Garde und die Leibgarde des Thronfolgers aufstellte und Schweizer Regimenter nach Frankreich rief. Aber die großen politischen Macher behielten sich die Pressefreiheit, die Redefreiheit und das Wahlrecht vor.« So urteilte im Rückblick Dr. Véron, der Bürger von Paris. Dieser Hof, der sich nach den Regeln einer vergangenen Zeit um den gichtkranken Ludwig XVIII. und seinen Bruder, den Grafen von Artois, zusammenfand, der ihm 1824 als Karl X. auf dem Thron folgte, erweckte in der Stadt weder Bewunderung noch Zuneigung. Der einzige Vertreter der Königsfamilie, der durch seinen Leichtsinn die Herzen gewann, der Herzog von Berry, der ältere der beiden Söhne des Grafen von Artois, fiel am Abend des 13. Februar 1820 beim Verlassen der Oper dem Mordanschlag eines Fanatikers zum Opfer, der sich das Ziel gesetzt hatte, die Dynastie der Bourbonen auszulöschen.
Die Zukunft, das glaubten nachdenkliche Beobachter zu erkennen, gehörte der jüngeren Linie. Der Herzog von Orléans, der spätere König Louis-Philippe, bezog das Palais-Royal, das durch seinen Vater zum geselligen Zentrum geworden war. Dort führte er an der Seite seiner Frau Marie-Amelie, der Schwester des Bourbonen-Königs in Neapel, ein vorbildliches Familienleben, dem fünf Söhne und drei Töchter entsprossen. Über die Zurücksetzungen, die der Sohn des fatalen Philippe Egalité von den königlichen Vettern erfuhr, tröstete er sich mit der Wiederherstellung des Vermögens der Orléans, das ihn zum reichsten Mann Frankreichs machte. Im Palais-Royal ging es ungezwungener zu als in den Tuilerien, hier waren die Vertreter von Politik und Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft gern gesehen. Die Söhne Louis-Philippes besuchten wie Bürgersöhne das Gymnasium Henri IV. in der Nähe des Panthéon, mit dem kleinen Unterschied, daß sich auch Hauslehrer um ihre Bildung kümmerten. Das alles machte das Palais-Royal zum Gegenpol der Tuilerien. Bei einem Wohltätigkeitsball in der Oper im Februar 1830, dessen Erlös den Armen zugute kam, die unter dem harten Winter litten, stach die Leere der königlichen Loge gegen das leutselige Auftreten Louis-Philippes und der Seinen ab. Wer wußte schon, daß der König eine große Summe aus seiner Privatschatulle gespendet hatte? Das Schlußwort fiel drei Monate später bei einem anderen Fest. Das Königspaar aus Neapel war zu Gast in Paris, unter Verwandten. Der Herzog von Orléans ließ es sich nicht nehmen, den Bruder seiner Frau im Palais-Royal zu empfangen. Ein glanzvoller Abend, der nur durch die unruhige Menge in den Gärten gestört wurde, die der Hausherr hatte öffnen lassen. In die Hochrufe auf Louis-Philippe mischten sich die Klänge einer Tarantella. »Ein Fest ganz wie in Neapel, mein Prinz«, bemerkte der französische Gesandte Salvandy zum Herzog. »Wir tanzen auf einem Vulkan.«
Nicht einmal der Adel hielt mit Kritik am Hof in den Tuilerien zurück. Die Ultras, royalistischer als der König, machten Ludwig XVIII. seine Versöhnungspolitik zum Vorwurf. Die erzkonservative Haltung des Grafen von Artois entsprach ihren Anschauungen besser. Im Faubourg Saint-Germain bewohnte der alte Adel, zwei- bis dreihundert Familien, seine Stadtpalais: ein- oder zweistöckige Gebäude im strengen Stil des Grand Siècle, mit hohen Fenstern und Freitreppe, mit dem Ehrenhof, der von Wirtschaftsgebäuden, Remisen und Stallungen eingerahmt und zur Straße von einer hohen Mauer mit monumentalem Portal abgeschlossen war, dahinter der stille Garten, von dem die Vorübergehenden keinen Blick erhaschten. Durch die Schar der Dienstboten standen diese Haushaltungen mit der Außenwelt, den Krämern und Handwerkern des Viertels, in Verbindung. Auch die Inhaber von Hofämtern, etwa fünfhundert Herren und Damen, behielten nach Möglichkeit ihren privaten Wohnsitz bei: der Weg über den Pont Royal zum Königsschloß war nicht weit. So blieb »der Faubourg« der Inbegriff einer Hofgesellschaft, zu der alle gehörten, die bei Hofe vorgestellt waren. Man verkehrte und heiratete untereinander, war man doch miteinander verwandt und vermied so weit wie möglich die Berührung mit dem Bürgertum, selbst mit den sehr wohlhabenden Familien der Chaussee d’Antin. Während der Sommermonate zogen sich die Familien auf ihre Schlösser zurück, in die Nähe kleiner Dörfer, deren Namen sie im Titel führten.
Nach der Revolution von 1830 schloß sich der Faubourg Saint-Germain grollend ab, er »schmollte«, wie sich Marie d’Agoult (Daniel Stern), die Tochter einer Frankfurter Bethmann und Mutter von Cosima Wagner, erinnerte. »Man hatte seine Ämter, Stellungen, Ehren verloren. Man tat, als sei man ruiniert, man kleidete sich ärmlich, man schränkte sich ein. Über die Parvenus äußerte man sich abfällig … Man machte Scherze auf Kosten des [neuen] Souveräns, dieses Bürgers, der ganz bürgerlich durch die Straßen ging, seine Frau am Arm, seinen Regenschirm in der Hand.« Der Spott über den Bürgerkönig übertraf die Kritik an den Bourbonen. Louis-Philippe hatte, nachdem er im Herbst 1831 aus dem Palais-Royal in die Tuilerien umgezogen war, die Liste der fast siebenhundert Hofämter mehr als halbiert, die Hoftracht mit Kniehose und Seidenstrümpfen abgeschafft und das Zeremoniell vereinfacht. Vor allem aber strich der sparsame Monarch die Pensionen für revolutionsgeschädigte Adlige aus der Zivilliste, zuletzt fünf Millionen Franc. Der »Ball der ehemaligen Zivilliste«, der zwischen 1834 und 1848 jeden Winter abgehalten wurde, war ein Wohltätigkeitsball des Adels für den Adel und zugleich eine politische Demonstration. Der größte Vorwurf, den der alte Adel gegen den neuen Hof erhob, aber war, daß nunmehr auch das Bürgertum Zutritt erhielt. Die Herzogin von Dino, eine Nichte Talleyrands, brachte nach einem Empfang in den Tuilerien die veränderten Verhältnisse auf die Formel: »Es waren eine Menge Leute da, aber man kannte niemanden.«
Eine neue Bezeichnung für die durch Herkunft und Stellung Begünstigten kam seit der Restauration in Gebrauch: »tout Paris«. Ein schillernder Begriff, aber für die Zeitgenossen ohne weiteres verständlich, vor allem für diejenigen, die dazugehörten. »Ganz Paris« war selbstverständlich nicht das ganze Paris, weit davon entfernt. Gemeint war jene kleine Gruppe, prädestiniert durch Namen, Vermögen oder Talent, die den Ton angab und die Moden bestimmte, die bei Theaterpremieren und Opern-Abenden so wenig fehlen durfte wie bei einem Pferderennen oder einer Aufnahme in die Académie française, die einem schlechten Buch zum Erfolg verhelfen und einen guten Ruf vernichten konnte. Balzac rechnete zweitausend Personen dazu. Der »Almanach der Pariser Adressen«, der von 1815 bis 1848 alljährlich erschien, enthielt Namen und Wohnsitz »aller durch ihre Stellung oder Funktionen hervorragenden Personen« – ein Vorläufer des Bottin mondain. Eine Gesellschaft, die sich als »Welt« (»monde«) verstand und es noch nicht nötig hatte, solche Selbsteinschätzung als »gute Gesellschaft« (»beau monde«) zu bekräftigen, wollte sich der Zugehörigkeit vergewissern: Exklusivität als Ersatz für verlorene Privilegien und Protest gegen die bürgerliche Egalität. Man gehörte zur Gesellschaft (»monde«) – oder man geriet unter die Menge (»foule«).
Verglichen mit dem Adel im Faubourg Saint-Germain waren die sozialen Grenzen des Bürgertums weniger deutlich. Der Hausbesitzer galt als Inbegriff bürgerlichen Wohlstands. Wer es nicht zum eigenen Haus brachte – und es waren im Lauf der Zeit immer weniger Familien, denen das gelang –, begnügte sich damit, seine Ersparnisse in Staatsanleihen anzulegen: er wurde Rentier. Zusammen mit den Hausbesitzern bildeten diese kleinen Sparer ein knappes Zehntel der Bevölkerung. Je ein Zehntel machten auch die freien Berufe, die Kaufleute und die Handwerker oder Industriellen aus. Die übrigen sechs Zehntel der Einwohner von Paris waren besitzlose Unselbständige: Handwerksgesellen und Arbeiter, Handelsgehilfen und Hauspersonal. Und dann gab es natürlich noch die Schar der Notleidenden.
Gewiß, es gab in Paris mehr Reichtum als in der Provinz. Die programmatische Aufforderung des Staatsmannes Guizot: »Bereichern Sie sich durch Arbeit und Sparen« – die letzten vier Worte werden beim ironischen Zitieren gern unterschlagen – wurde von manch einem befolgt. Die privaten Vermögen in Paris verdoppelten sich zwischen 1820 und 1847 von über 140 Millionen auf fast 300 Millionen Franc (bis zu sechs Milliarden Franc nach dem Geldwert Ende des 20. Jahrhunderts). Aber fünfzehn Millionäre verfügten über ein Fünftel dieser Summe; vier von fünf Besitzenden nannten nur bescheidene Vermögen zwischen 2000 und 80 000 Franc ihr Eigen. Das Wahlrecht war ans Steueraufkommen gebunden. Nach der Revolution 1830 wurde die Grenze für das Wahlrecht von dreihundert auf zweihundert Franc, für die Wählbarkeit von tausend auf fünfhundert Franc gesenkt. Die Zahl der Wähler in Paris stieg damit von 9700 (1829) auf 16 000 (1847), die der Wähler im ganzen Land von 90 000 auf über 240 000. 2500 Begüterte mit einem Steueraufkommen von mehr als tausend Franc (1842) bildeten als Notabeln die Spitze der Gesellschaftspyramide.
Der Besitzbürger (bourgeois), das war im Unterschied zum Volk (peuple) jeder, der über ein ausreichendes Einkommen verfügte, der nicht auf seiner Hände Arbeit angewiesen war. Der Publizist Louis Blanc (1811–1882) konzedierte in seiner Geschichte der Juli-Monarchie der Bourgeoisie »Arbeitsliebe, Achtung vor dem Gesetz, Haß gegen den Fanatismus und seine Aufwallungen, sanfte Sitten, Sparsamkeit, kurz: häusliche Tugenden« und vermißte »Gedankentiefe, hohe Empfindungen« und »umfassenden Glauben«, woraus sich nach Blancs Auffassung »mangelnde Eignung für die öffentlichen Angelegenheiten« ergab. Balzac wie Marx sahen in den Geldleuten die wahren Herren des Staates. Zwei Bankiershalfen Louis-Philippe auf den Thron und leiteten die ersten Regierungen der Juli-Monarchie: Jacques Laffitte (1767–1844), ein Zimmermannssohn aus Bayonne und Casimir Perier (1777–1832), der Nachkomme einer Familie von Provinznotabeln in Grenoble. In einer Zeit voller Erschütterungen war Periers feste Haltung ein Glücksfall für die konstitutionelle Monarchie, auch wenn dem König seine selbstsichere Regierungsweise nicht paßte. Periers Tod während der Cholera-Epidemie 1832 war ein schwerer Schlag für den Staat. Das Bankhaus bestand weiter. Ein Enkel, Jean Casimir-Périer, wurde 1894 Präsident der Republik.
Keiner dieser Männer verkörperte das große Geld so sichtbar wie der Baron James de Rothschild (1792–1868). James (urspr. Jakob), der fünfte Sohn von Mayer Amschel in Frankfurt, leitete seit 1812 die Niederlassung in Paris, die zum wichtigsten Zweig der Familienbank wurde. Er blieb zeitlebens ein Ausländer, wenn auch kein Fremder. Der Zungenschlag des Frankfurter Ghettos haftete James Rothschild auch im Französischen an, den Adelstitel wie das Amt des österreichischen Generalkonsuls verdankte er Metternich, zur Frau nahm er seine Londoner Cousine Betty. Alles tat der Baron in großem Stil: Das Haus des einstigen Polizeiministers Fouché in der Rue Laffitte (9. Arr.) baute er als Firmensitz aus; das Palais Talleyrand in der Rue Saint-Florentin neben der Place de la Concorde wählte er als Hauptresidenz; Wiesen und Äcker verwandelte er in Landschaftsparks. Drei Angestellte waren damit beschäftigt, Bittgesuche zu prüfen. Während der Juli-Monarchie legte der Chef des Pariser Hauses Staatsanleihen in Höhe von einer halben Milliarde Franc auf, beteiligte sich am Eisenbahnbau und brachte es zum größten Vermögen nach dem des Hauses Orléans. Aus seinem Einfluß auf König und Regierung machte der Baron Rothschild mit der Naivität des Erfolgreichen kein Geheimnis. Er gab damit dem Antisimetismus Nahrung, der bei den Konservativen mit dem Katholizismus, bei den Republikanern mit dem Antikapitalismus Hand in Hand ging.
Zum gehobenen Bürgertum zählten die führenden Vertreter der Verwaltung, der Justiz und der Wissenschaft. Ihnen standen die hohen Beamten und die freien Berufe nahe: Gelehrte und Erzieher, Rechtsanwälte und Notare, (die sich oft als Anlageberater für ihre Mandanten betätigten), Ärzte, Architekten, Künstler, Literaten und Journalisten. Ingres’ Porträt des Herausgebers des »Journal des Débats«, Louis-François Bertin, im Louvre gibt einen Eindruck von einem Pariser Notabeln: ein energisches, aber auch nachdenkliches Gesicht mit prüfenden Augen, einer skeptisch heraufgezogenen Augenbraue und ebenso skeptisch herabgezogenen Mundwinkeln, – die meisten Großbürger waren wie ihre Väter und Großväter »Voltairianer« – die zupackenden Hände auf die Schenkel gestützt. Der »Charivari« versuchte, aus diesem Bild etwas Lächerliches zu machen: aber dieser typische Vertreter des Juste Milieu hatte in seinem Charakter nichts Lächerliches und in seinem Lebenszuschnitt nichts Kleinliches.
Das mittlere Bürgertum, die »bonne bourgeoisie«, bestand aus den Großkaufleuten, in deren Händen die Versorgung der Stadt mit Nahrungsmitteln, Textilien und Metallwaren lag, den kleineren Industriellen, den Transportunternehmern, den großen Hoteliers und Restaurateuren. Dieser Mittelstand mit Vermögen zwischen 20 000 und 500 000 Franc, bildete das Gros der Wählerschaft. Darunter standen die Kleinbürger: die Handwerker, eingeengt zwischen Fabrikanten und Arbeitern, und die Krämer (boutiquier, épicier), die typischen Repräsentanten dieser Schicht. Die einen wie die anderen lebten in bescheidenen Verhältnissen neben oder über Werkstatt und Laden. Auch die Angestellten in der Verwaltung, bei Firmen und Anwälten gehörten nach ihrer Selbsteinschätzung, wenn auch nicht nach ihrem Vermögen zu den Kleinbürgern. Für den Handelsgehilfen (commis) bedeutete der eigene Laden das Ziel seiner Wünsche, wie für den Handwerksgesellen und den Facharbeiter die eigene Werkstatt: der Übergang von der Abhängigkeit zu einer stets gefährdeten Selbständigkeit. Das Kleinbürgertum bildete damit die Schleuse von der Unterschicht zum Bürgertum und ein Einlaßtor für Zuwanderer.
Im allgemeinen Bewußtsein war das »Nach-Paris-Gehen« eng mit dem sozialen Aufstieg verbunden. Die übliche Ankündigung »monter à Paris« bezog sich nicht nur auf die Landkarte. Diese positive Erwartung, auch wenn sie von der Wirklichkeit nicht durchweg bestätigt wurde, galt für alle Schichten. Auf die Notabeln übte die Hauptstadt als Zentrum der politischen Entscheidungen eine Magnetwirkung aus. Die Abgeordneten mußten bei den Sitzungen der Kammer anwesend sein; wenn sie sich Hoffnungen auf ein Regierungsamt machten, blieben sie auch länger. Bürgersöhne kamen um das Studium in Paris kaum herum. Ein großer Teil der 2500 Rechtsstudenten und neun Zehntel der ebenso vielen Mediziner an den Pariser Fakultäten stammten aus der Provinz. Die meisten kehrten nach dem Abschlußexamen in die Heimat zurück und zehrten ein Leben lang von den Erinnerungen an das Quartier Latin. Geschäftsbeziehungen der väterlichen Firma in Rouen oder Lyon nach Paris und ein kleines Anfangskapital waren als Starthilfe nützlich. Die Heirat mit der Tochter des Prinzipals besiegelte die Aufnahme. Von den einundzwanzig Mitgliedern des Aufsichtsrates der Banque de France stammten nur zwei oder drei aus Familien, die seit mehreren Generationen in Paris ansässig waren.
Der Neuankömmling tat gut daran, das Provinzielle in seinem Verhalten so bald wie möglich abzulegen, ein Pariser wie andere zu werden. Mit der Kleidung und Frisur ging das leichter als mit dem heimatlichen Dialekt oder Akzent. Die Leute aus dem Midi konnten den ihren besonders schwer verbergen. Der berühmteste Homo novus aus dem Süden war Adolphe Thiers (1797–1877). Er kam als Vierundzwanzigjähriger mit geborgten fünfhundert Franc und dem Diplom der Juristischen Fakultät von Aix-en-Provence in der Tasche an der Barrière d’Italie an. Von Laffitte und Talleyrand gefördert (Talleyrand über Thiers: »Er ist kein Parvenu, er ist arriviert!«), von dem Bauunternehmer Dosne, dessen Frau an dem jungen Mann Gefallen gefunden hatte, als Schwiegersohn angenommen, brachte es Thiers als Historiker zu Ansehen, als Publizist zu Einfluß und als Geschäftsmann zu Vermögen. Der kleinwüchsige, dabei überaus selbstbewußte Politiker wirkte 1836 und 1840 als Ministerpräsident, er befreite Paris 1871 von der Kommune und wurde im selben Jahr zum ersten Präsidenten der Dritten Republik bestimmt: die Verkörperung der triumphierenden Bourgeoisie.
Balzac, selbst ein Mann aus der Provinz, der in Paris um Ruhm und Reichtum kämpfte, schuf mit Eugène de Rastignac den Prototyp des von Ehrgeiz getriebenen Aufsteigers. Von der Höhe des Friedhofs Père-Lachaise schleudert Rastignac seine Herausforderung an die Hauptstadt zu seinen Füßen: »Er sah Paris an den beiden Ufern der Seine vor sich liegen. Lichter blitzten auf. Gierig saugten sich seine Augen an jenem Teil der Stadt fest, der zwischen der Säule auf dem Vendôme-Platz und dem Invaliden-Dom liegt [die Tuilerien und der Faubourg Saint-Germain]. Dort lebte die vornehme Gesellschaft, in die er sich den Zutritt erkämpfen wollte. In diesen summenden Riesenschwarm warf er einen Blick, als wenn er schon im voraus den Honig schlürfen wollte, und sagte die großartigen Worte: ›Nun wollen wir uns miteinander messen!‹« (»Vater Goriot«, 1834)
»À nous deux maintenant!« Dieser Ausruf Rastignacs hatte für keine Berufsgruppe so viel Bedeutung wie für die Literaten und Künstler. Nur in Paris konnten sie die Anerkennung finden, nach der sie lechzten, die Anregungen und Beziehungen, die sie für ihre Arbeit brauchten. Was in der Provinz geleistet wurde – und es wurde, Pariser Überheblichkeit zum Trotz, manches geleistet –, blieb unbeachtet, zweite Wahl. Die Konzentration von Verlagen, Zeitungen und Kunsthandel in Paris machte es für Künstler fast unvermeidlich, dort ihr Glück zu suchen. Nur in Paris gab es die Künstlerkreise und literarischen Gesellschaften, auf deren Unterstützung die Neulinge hofften. Es waren, selbst unter den Schikanen der Zensur, Jahrzehnte regsten geistigen Lebens. Das große Vorbild der Schreibenden war und blieb Chateaubriand (1768–1848), der sein Leben als Abenteuer, als Kunstwerk gestaltete. Auf ihn blickten die Jüngeren, die zwischen dem Ausgang des 18. Jahrhunderts und dem Ende des Kaiserreiches Geborenen: Nodier, Stendhal, Lamartine, Alfred de Vigny, Balzac, Hugo, Dumas, Mérimée, George Sand, Gérard de Nerval, Alfred de Musset, Théophile Gautier. Ob sie sich zur Romantik bekannten oder nicht, sie stimmten in ihrem Lebensgefühl überein, im Kult des Genies (Napoleon, Byron) und in der Befreiung der Individualität. Géricault und Delacroix drückten Verwandtes in ihrer Malerei aus; Berlioz, Chopin, Liszt mit ihrer Musik. Comte, Guizot, Michelet, Quinet, Tocqueville verschafften den historischen Durchblick. War die Romantik unter der Restauration religiös und monarchistisch gestimmt, so nahm sie seit 1830 eine liberale, ja revolutionäre Wendung. Géricaults »Floß der Medusa« (1818) war eine verhüllte Kritik an der Regierung, Delacroix’ »Freiheit auf den Barrikaden« (1831) eine unverhüllte Demonstration. Der Staat erwarb das aufreizende Bild – und entzog es für mehr als vierzig Jahre den Blicken.
Es bleibt festzuhalten, daß diese Künstler, so bizarr ihr Verhalten im einzelnen wirken mochte, zum Bürgertum gehörten, dem sie entstammten. Ihr Herkommen und ihre Bildung entsprachen Herkommen und Bildung des Publikums, für das sie schrieben, malten, komponierten. Das galt auch für die Ungenannten, denen der Erfolg versagt blieb: verlorene Söhne des Bürgertums, die als unverstandene Genies das eigene Versagen der Gesellschaft zur Last legten. Henri Murger (1822–1861), der Sohn eines Schneiders und Hausmeisters, machte dieses Milieu bekannt. Seine »Szenen aus dem Leben der Bohème« fanden wenig Beachtung, als sie 1846/47 in der Wochenzeitung »Corsaire« erschienen. Das Bühnenstück, das Murger und ein Freund daraus machten, wurde begeistert aufgenommen, als es 1849 im Théâtre des Variétés aufgeführt wurde. Mehr noch als Murgers Roman (1851) machte Puccinis Oper am Ende des Jahrhunderts die Pariser Boheme weltbekannt. Die Definition des Autors: »Die Boheme ist die Übergangszeit des Künstlerlebens. Sie führt zur Akademie, zum Armenspital oder zum Leichenschauhaus« war alles andere als eine Empfehlung. Mit dem gewandelten Verständnis von Künstlertum, das in der zweiten Jahrhunderthälfte um sich griff, ging die Zeit der Bohemiens und Grisetten zu Ende. Aber Murgers Geschichten von Hoffnung, Freundschaft und Liebe in ungeheizten Ateliers und Mansarden inspirierten noch Generationen von Nachahmern vom Quartier Latin zum Montmartre und bis Montparnasse.
In einem stimmten erfolgreiche und erfolglose Künstler überein: in der Verachtung des Bürgers, dem sie Geschmack und Sinn fürs Höhere absprachen. Dem Bürgertum schlugen Haß und Verachtung entgegen, sobald es sich anschickte, nach der Macht in der Gesellschaft auch die Macht im Staat zu übernehmen. Die Kritik am Bürgertum kam aus dem Bürgertum: eine schmerzhafte Selbstanalyse, mit der sich der Adel nie abgegeben hatte. Der Zeichner und Bühnenautor Henri Monnier (1799–1877) schuf mit seinem »Joseph Prudhomme« eine Verkörperung des Bürgers, die sich den Zeitgenossen ebenso einprägte wie die Karikaturen Daumiers: »Er liest kaum, ist mittelgroß mit ausgeprägtem Embonpoint; er trägt Backenbart; er hat geheiratet wie sein Vater und sein Großvater; … er glaubt alles Gedruckte; … er geht viermal im Jahr mit seiner Familie in die Opéra-Comique; … Unmoral bringt ihn auf: ›Ich halte auf Sitte‹. Er hat kirchlich geheiratet; seine Kinder sind getauft. Er billigt es sogar, wenn seine Frau am Sonntag zur Messe geht.« (»Paris ou le Livre des Cent-et-un«, 1831/34) Die Betroffenen schmunzelten über solchen Spott. Unbedenklich waren die Schmähungen nicht. Wenn der Bürger nicht nur als »Krämerseele« (épicier) verhöhnt wurde, sondern als Kapitalist, als Ausbeuter. Bei den sozialen Anklagen der Agitatoren hörte der Spaß auf.
Als ein Hauptübel der Gesellschaft wurde die rapide Bevölkerungszunahme der Hauptstadt angesehen. Die Volkszählung 1817, die erste halbwegs zuverlässige, ergab für Paris 657 000 Einwohner. Unter der Juli-Monarchie stieg die Einwohnerzahl von 786 000 (1831) auf über eine Million (1847). Während die Gesamtbevölkerung Frankreichs seit dem Beginn der Restauration von 30 Millionen auf 35 Millionen gewachsen war, hatte sich die der Hauptstadt beinahe verdoppelt. 30 600 Menschen lebten auf dem Quadratkilometer (1847), wo vorher 22 500 (1831) Platz gefunden hatten. Zwei Drittel der Stadtbewohner drängten sich auf dem rechten Ufer und der Île de la Cité. Die Auswirkungen dieser ungleichmäßigen Verdichtung machten die größten Sorgen. Obwohl die Geburten (3,3 Prozent) die Sterblichkeit (2,8 Prozent) mehr als ausglichen – beide lagen deutlich über dem Durchschnitt –, erschien Paris als »menschenverschlingendes Ungeheuer«, das die Lebenskraft des Landes aussaugte. Denn nicht die natürliche Vermehrung erklärte die starke Bevölkerungszunahme, sondern die Zuwanderung von fünfzigtausend Franzosen und Ausländern im Jahr: eine schwer kontrollierbare Entwicklung mit unvorhersehbaren Folgen.
Eine Untersuchung der Handelskammer gegen Ende der Juli-Monarchie stellte der Mannigfaltigkeit der kleinen Industrie- und Handwerksbetriebe in Paris die Abwanderung der großen Betriebe gegenüber. Mancherlei Hemmnisse standen der Entwicklung der Industrie innerhalb der Stadtgrenzen entgegen: die Kosten für Mieten und Löhne; der Stadtzoll für Brennstoff und Baumaterial, wenn auch nicht für Rohstoffe; die Auflagen für gefährliche und schmutzige Produktionsstätten; die Überlastung der Hafenanlagen im Stadtgebiet (La Villette, Bercy, Grenelle). Nicht ganz 65 000 Unternehmen beschäftigten rund 343 000 Arbeiter, im Durchschnitt fünf oder sechs Arbeiter je Betrieb. Der Gesamtumsatz betrug 1,5 Milliarden Franc. Die Erzeugnisse wurden zu neun Zehnteln in Paris abgesetzt. Größere Betriebe gab es in drei von dreizehn Produktionszweigen: bei der Textilindustrie, bei der metallverarbeitenden Industrie und beim Maschinenbau, bei der chemischen und keramischen Industrie. Der Maschinenbau hatte mit dem Beginn der Eisenbahn einen merklichen Aufschwung genommen. Gab es zu Beginn der Jufi-Monarchie 131 Dampfmaschinen in Paris, so waren es am Ende 960, ein Fünftel des Gesamtbestandes in Frankreich.
»Hüten wir uns, die Stadt Paris von einem Gürtel von Fabriken einschließen zu lassen, das wäre eine Schlinge, die es eines Tages erdrosseln würde«, warnte der Präfekt Chabrol in einem Schreiben an den Polizeipräfekten. Solche Befürchtungen waren schon im Kaiserreich geäußert worden. Die Zuwanderung von fünfzigtausend Menschen im Jahr bereitete Sorgen. Der Nationalökonom Charles Dupin forderte im August 1830 in der Kammer, die überzähligen Wanderarbeiter zur »freiwilligen Rückkehr« zu bewegen und ortsansässige Arbeiter zu bevorzugen. Tocqueville sah in der industriellen Revolution, die »seit dreißig Jahren aus Paris die größte Industriestadt Frankreichs gemacht und ein ganz neues Volk von Arbeitern in ihre Mauern gezogen hatte«, die Hauptursache der Revolution 1848.
Wie wirkten die Arbeiter, die seit den dreißiger Jahren auch als Proletarier bezeichnet wurden, auf die anderen Klassen? Die Comtesse de Boigne bemerkte bei den Bauhandwerkern, die sie im Abstand von elf Jahren im Faubourg Saint-Honoré beschäftigte, »einen solchen Unterschied im Benehmen, den Gewohnheiten, der Kleidung, der Sprache, daß sie nicht mehr zur selben Klasse zu gehören schienen«. Nicht nur die Höflichkeit und der Sachverstand dieser Männer setzten die Auftraggeberin in Erstaunen, sondern mehr noch ihr vernüftiges politisches Urteil. Es erstaunt nicht, daß Karl Marx bei seinem Aufenthalt in Paris 1843/44 einen positiven Eindruck von den französischen Arbeitern bekam: »Sie müßten einer der Versammlungen der französischen ouvriers beigewohnt haben, um an die Jungfräuliche Frische, an den Adel, der unter diesen abgearbeiteten Menschen hervorbricht, glauben zu können«, schrieb er im August 1844 an den Philosophen Ludwig Feuerbach. »Der englische Proletarier macht auch Riesenfortschritte, aber es fehlt ihm der Culturcharakter des Franzosen … Jedenfalls aber bereitet die Geschichte unter diesen ›Barbaren‹ der civilisierten Gesellschaft das praktische Element zur Emancipation d. Menschen vor.«
Die politisch engagierten Arbeiter bildeten eine Elite. Die Masse erschien selbst einer aufgeschlossenen Beobachterin wie der Frauenrechtlerin Flora Tristan (1803–1844) von nahem gesehen brutal, unwissend, selbstgefällig, unangenehm im Umgang, abstoßend: »Das Schwierigste an dieser Frage ist der moralische Zustand der Arbeiterklasse.« Das bestätigte das bürgerliche Vorurteil, daß die Arbeiter mit ihren Kräften und ihrem Geld nicht haushalten konnten. »Auf seine starken Arme bauend, wie der Maler auf seine Palette, verspielt dieses Volk, das ebenso gierig auf Vergnügungen wie rührig bei der Arbeit ist, in wenigen Stunden sein periodisches Vermögen! Fünf Tage lang kennt die werktätige Bevölkerung von Paris keine Rast und Ruhe … Ihre Erholung, ihre Zerstreuung ist eine erschöpfende Ausschweifung. Diese Ausschweifung währt nur zwei Tage, allein sie raubt das künftige Brot, die Suppe für die Woche, die Kleider für das Weib, die Windel für das völlig vernachlässigte Kind.« (Balzac: »Das Mädchen mit den Goldaugen«, 1834).
Der Präfekt Rambuteau beauftragte 1847 das Schiedsgericht für Arbeitsfragen (Conseil de prudhommes) mit einer Untersuchung über die Entwicklung der Löhne seit 1830. Das Ergebnis: Bei der metallverarbeitenden Industrie, im Druckgewerbe und in der chemischen Industrie waren die Löhne stabil geblieben; beim Baugewerbe lagen sie höher, bei der Textilindustrie und den verwandten Handwerken niedriger als zu Anfang. Von 300 000 Pariser Arbeitern und Arbeiterinnen verdienten die gute Hälfte zwischen drei und fünf Franc am Tag, 27 000 weniger als drei Franc und nur zehntausend Facharbeiter mehr als fünf Franc. Frauen und Kinder erhielten zwischen 60 und 90 Centimes für zwölf Stunden Arbeit, immer noch mehr als in den Textilfabriken von Mühlhausen. Das Anfangsgehalt eines Gymnasiallehrers betrug damals 1500 Franc im Jahr, das eines Richters 1250 Franc. Unabhängige Nationalökonomen kamen zu dem Schluß, daß sich Lage der Arbeiter unter der Juli-Monarchie verschlechtert hatte.
Das Elend der Unterschicht zeigte sich am deutlichsten an den Wohnverhältnissen. So wohnte der Tischler und spätere Volksvertreter Agricol Perdiguier (1805–1875), der sich für die Einheit der Gesellenvereine, der Compagnonnage, einsetzte, in einfachsten Verhältnissen: »Agricol Perdiguier wohnte damals [1840] in der Rue du Faubourg Saint-Antoine Nr. 104, einer schrecklichen Bruchbude, die außen durch einen herrlichen Konditorladen verborgen wurde«, erinnerte sich ein Freund, der ihn dort besuchte. »Man trat durch einen niedrigen, engen, schmierigen Gang ein, die Mauern grünlich, in der Mitte ein Gemeinschaftsbrunnen, der von den Abfällen verstopft war, die ein stinkendes Rinnsal täglich anschwemmte. Wenn man diesen allgemeinen Durchgang hinter sich hatte, kam man in einen länglichen, ziemlich großen Hof, recht hell, weil die dazugehörenden baufälligen Gebäude niedrig waren. Auf der linken Seite befanden sich zu ebener Erde Werkstätten, wo Holz, Eisen, Marmor, Leder, Stroh, Bronze, Stahl, Karton, Baumwolle und was weiß ich alles verarbeitet wurde. Auf der rechten Seite gab es nur eine niedrige nackte Mauer … Etwa hundert arme Kreaturen, schwächlich und bedrückt, brachten dort, in unaufhörlichem Streit, ihr Leben zu … ›Ich wohne seit acht Jahren in diesem Haus‹, sagte Perdiguier, ›und ich habe in sechs Monaten fünf Menschen eines gewaltsamen Todes sterben sehen.‹« (Jean Briquet) Das Zimmer im ersten Stock des Mittelgebäudes, das Perdiguier mit seiner Frau, einer Näherin, bewohnte, wirkte ebenso kleinbürgerlich ordentlich wie der Nebenraum, in dem der Compagnon jeden Abend eine Gruppe junger Männer in technischem Zeichnen unterrichtete.
Den Gerbern im Faubourg Saint-Marcel, den Bleichern und Färbern im Gros-Caillou in der Ebene von Grenelle, den Metallarbeitern im Faubourg Saint-Denis und selbst den Luxushandwerkern im Faubourg Saint-Martin ging es nicht besser. Noch schlechter als den Bewohnern der Hinterhöfe erging es den Wanderarbeitern in den Unterkünften auf der Île de la Cité und im Quartier des Arcis hinter dem Rathaus. Der Maurer Martin Nadaud, der wie Perdiguier nach der Revolution 1848 zum Volksvertreter gewählt wurde, wohnte 1830 in einer solchen Bleibe im vierten Stock eines Hauses in der Rue de la Tisseranderie hinter dem Rathaus: »In dieser Kammer gab es sechs Betten und zwölf Mieter. Wir waren so zusammengepfercht, daß nur ein Gang von fünfzig Zentimeter Breite als Korridor blieb … Das einzige cabinet d’aisances für sechzig Menschen im ganzen Haus befand sich auf unserer Etage …«
Die Miete machte sechs Franc im Monat aus. Wenn die Gäste Glück hatten, sorgte der Hauswirt für die Morgensuppe. Die Ersparnisse, die nach Hause gingen, bedeuteten im Limousin oder in der Auvergne ein kleines Vermögen. Alles war erträglich, so lange es Arbeit gab und der Arbeiter gesund blieb.
Die Behörden machten zwischen Armen und Arbeitern keinen Unterschied. Der größere Teil der Bevölkerung von Paris galt als Arme, und nur die Statistiker unterschieden mit wechselnden Bemessungswerten, ob man zwei Drittel, drei Viertel oder vier Fünftel der Einwohner zu dieser Mehrheit zählen sollte. Im Winter 1829/30 verteilte die Präfektur Brotgutscheine für 150 000 Bedürftige. Aber die graue Masse des Elends ging über den Kreis der Empfänger öffentlicher Unterstützung weit hinaus. Berichte der Finanzverwaltung an den Präfekten sahen 1828 von den 224 000 Pariser Haushalten 136 000 in Armut und 32 000 am Rande der Armut; 1846 befanden sich von 357 000 Haushalten 231 000 in Armut: 600 000 Mitglieder einer Bevölkerung, die gerade die Millionengrenze überschritt.
Ein Polizeibericht vom Herbst 1831, einer von vielen ähnlichen, schilderte die Lage im Louvre-Viertel: »Der Arbeiter hat nichts mehr; er hat kein Bett, keine Kleidung mehr, er wird keine Decke und kein Brennholz haben, um diesen Winter zu überstehen.« Aus dem Arsenal-Viertel wurde gemeldet: »Die meisten Arbeiter haben kinderreiche Familien und sind ohne Lebensunterhalt … Ihre ständige Klage ist: Die Regierung soll uns Arbeit geben, sonst treibt der Hunger die Wölfe aus dem Wald! Viele alleinstehende Arbeiter wohnen in Massenunterkünften, sie sind am meisten zu fürchten.« Auch Teile des Kleinbürgertums, Handwerker und Gewerbetreibende, waren von Elend bedroht. Daß Menschen in Paris verhungerten, war eine alltägliche Erfahrung. »Es ist eine eigene Sache mit dem Verhungern«, bemerkte Heinrich Heine nach seinem ersten Pariser Winter, »man würde hier täglich viele tausend Menschen in diesem Zustand sehen, wenn sie es nur längere Zeit darin aushalten könnten.« Die Sorge der Behörden vor Hungerrevolten, die schon Napoleon bewegt hatte, war nicht unbegründet. Der Paris-Historiker Louis Chevalier hat die Situation der Unterschicht unter der Restauration und der Juli-Monarchie unübertrefflich dargestellt.
Beim Trauergeleit für Ludwig XVIII. im September 1824 zogen, wie im Mittelalter, vierhundert neueingekleidete Arme mit, jeder eine brennende Kerze in der Hand. Ein solches Schauspiel hätte sich wohl auch dann nicht wiederholt, wenn noch einmal ein König von Frankreich in Saint-Denis beigesetzt worden wäre. Die Armut wurde nicht mehr als gottgegebener Zustand hingenommen. Auch der Brauch, am Namenstag des Monarchen kostenlos Lebensmittel auszuteilen und Wein auszuschenken, paßte nicht mehr in die Zeit. Auf die Vorstellungen des Stadtrates hin wurde das derbe Volksfest 1828 durch unauffälligere Gaben ersetzt. Die aufgeklärte Philantropie als Fortsetzung der christlichen Caritas erwies sich gegenüber dem »Pauperismus« oder den »sozialen Problemen« als wenig wirksam. Die Schlußfolgerung, die Eigentumsverhältnisse zu ändern, zogen andere.
Mit der zweiten Rückkehr der Bourbonen sollte für Frankreich und für Paris eine Zeit der Ruhe und des Friedens beginnen. Nichts brauchte das Land nach zweieinhalb Jahrzehnten der Revolution und der Kriege nötiger. Am 8. Juli 1815 begrüßte der Präfekt Chabrol am nördlichen Stadteingang den König: »Sire, hundert Tage sind vergangen, seit dem fatalen Augenblick, da Eure Majestät … unter Tränen und öffentlicher Bestürzung Ihre Hauptstadt verlassen mußten.« Ohne Absicht hatte der Präfekt ein historisches Wort geprägt. Die »Hundert Tage« bezeichneten seither die letzte Machtergreifung Napoleons.
Die Aussöhnung des Königs mit seiner »guten Stadt« – diese altertümliche Bezeichnung kam wieder in Mode – wurde bei Festen und Feiern mit Umzügen, Feuerwerk und Banketten bekräftigt. 1816 feierte Paris die Hochzeit des Thronfolgers, des Herzogs von Berry, mit einer Bourbonen-Prinzessin aus Neapel; 1820, sieben Monate nach der Ermordung Berrys, die Geburt seines Sohnes, des Herzogs von Bordeaux, auf den sich fortan die Hoffnungen der Legitimisten richteten. 1823 zogen die französischen Truppen, die in Spanien dem rechtmäßigen Herrscher zum Thron verholfen hatten, unter dem Arc de Triomphe hindurch; diese Siegesfeier verhalf der Restauration zu einem Anschein militärischer Gloire und der Anhöhe von Chaillot zu dem spanischen Festungsnamen Trocadero. Im September 1824 erlebten die Pariser, noch unter dem Eindruck des Todes Ludwigs XVIII., den Einzug ihres neuen Königs von Saint-Cloud nach Notre-Dame. Seinen zweiten Einzug hielt Karl X. im Juni folgenden Jahres nach seiner Krönung in Reims: der letzten Königsweihe in der Geschichte Frankreichs.
Bei der ersten Gelegenheit zeigten sich die Pariser von der Erscheinung des neuen Königs angetan, bei der zweiten verhielten sie sich gleichgültig, ein Stimmungswandel in acht Monaten, der den Zeitgenossen nicht entging. Dabei versäumten es die Behörden nicht, dem Beifall durch geeignete Maßnahmen nachzuhelfen, für die sich besonders die Lastträger, die »Forts des Halles«, empfänglich zeigten. Sie traten als Korporation unter eigener Fahne oder als Ordner und Jubler in Erscheinung, stets bereit, »Übelgesinnte« handfest zurechtzuweisen. Beim letzten Anlaß zur Freude, der der legitimen Monarchie vergönnt war, behielten andere Kräfte die Oberhand: Am Abend des 9. Juli 1830 wurde in allen Theatern die Eroberung des Piratennestes Algier durch die Armee und die Marine des Königs bekanntgegeben. Agitatoren unterdrückten das aufwallende Gefühl nationalen Stolzes schon im Ansatz. Wo immer brave Bürger ihre Häuser illuminierten, flogen Steine, bis die Lichter gelöscht wurden. Auf dem Weg zum Dankgottesdienst in Notre-Dame scholl dem König wenig Beifall entgegen.
Die von Ludwig XVIII. »gewährte« Charta von 1814 erklärte den katholischen Glauben zur Staatsreligion. Es verstand sich von selbst, daß die Kirche und die Orden die Bauwerke zurückerhielten, die ihnen während der Revolution genommen worden waren. Das Panthéon wurde wieder die Kirche der heiligen Genoveva, bis es nach der Juli-Revolution 1830 abermals zum Tempel der Nation umgewidmet wurde. Die Einhaltung der Sonntagsruhe wurde durch eine Verordnung vorgeschrieben, wenn auch nicht streng eingehalten. Für Beamte und Offiziere erwies es sich als karrierefördernd, zur Messe zu gehen. Amtsinhaber waren gehalten, an den Prozessionen zu Fronleichnam oder Mariä Himmelfahrt teilzunehmen.
Die geforderte und geförderte Religiosität gehörte zum Lebensgefühl der Restaurationszeit wie der Militärkult zur Napoleonzeit, aber es läßt sich schwer nachweisen, wieviel echte Frömmigkeit daraus erwuchs. Das Bürgertum blieb bei den deistischen Anschauungen der Aufklärung, die studierende Jugend stand der Religion ablehnend gegenüber. Unter dem bigotten Karl X. wurde der Klerikalismus peinlicher als unter seinem gelassenen Vorgänger. Die Reaktion darauf war ein militanter Antiklerikalismus. Die liberale Opposition sah überall die Hand der Kongregation, einer einflußreichen Laienbewegung aus der Zeit des Kaiserreiches, die sich für die Macht des Papstes einsetzte. Von den »Ultramontanen«, die über die Alpen nach Rom blickten, leitete sich die Benennung »Ultras« für die Reaktionäre ab. Das Bündnis von Thron und Altar machte die Kirche unbeliebt, obwohl sie die Nähe zum Volk suchte. Die »Mission de France«, die zu Anfang der Restauration aus der Gegend von Bordeaux nach Paris gelangte, nahm sich der einfachen Leute an. »Diese Missionare werden vom eigentlichen Volk sehr gut aufgenommen. Ihre Widersacher sind vor allem die Rechts- und Medizinstudenten, die Toleranz predigen und sie nur dem Christentum verweigern«, meldete der schwedische Gesandte 1821. Aber jedes dritte oder vierte Kind in Paris blieb ungetauft.
Zu den Feinden der »Priesterpartei« gehörten die abgedankten Offiziere des Kaisers. Zwölftausend waren es im ganzen Land, die Hälfte davon lebte in Paris. Auf halben Sold gesetzt, standen sie verbittert abseits, verkehrten in bestimmten Cafés, tauschten Erinnerungen aus, lasen die Zeitungen, die ihnen zusagten. Man erkannte die »Demi-soldes« an ihrem militärischen Auftreten, an dem hochgeschlossenen dunkelblauen Rock mit dem roten Fleck der Ehrenlegion, dem kühn aufgesetzten Hut und dem derben Stock, den sie als Waffe gebrauchten. Duelle mit den wenig waffengeübten Offizieren der königlichen Garde waren unvermeidlich. Dem Kult des Kaisers ergeben schmiedeten manche Komplotte zum Sturz der Bourbonen. 1816 führte die »Verschwörung der Patrioten« zu zwei Dutzend Anklagen und drei Todesurteilen. Vier Jahre später versuchte das »Bazar-Komplott«, so genannt nach dem Restaurant »Bazar Français«, Meutereien unter den Garnisonen in Paris und der Provinz anzuzetteln. Die Romantik der Verschwörungen ersetzte den Klassizismus der Schlachten.
Der Geheimbund der Carbonaria, der während der Kaiserzeit im Königreich Neapel entstanden war, fand mit der Restauration auch in Frankreich und Spanien Eingang. Paris wurde zum Mittelpunkt der »Charbonnerie«. Zu den »Köhlern«, in Frankreich sechzigtausend, in Paris mehrere Tausend, gehörten ehemalige und aktive Offiziere und Unteroffiziere, Anwälte, Studenten, Angestellte. Volkshelden wie La Fayette standen dem Bund nicht fern, ohne sich zu kompromittieren. Die Carbonaria zog 1821 die Fäden bei den Umtrieben in einem Regiment, das von Paris nach La Rochelle verlegt wurde. Die Hinrichtung der vier jungen Unteroffiziere von La Rochelle vor dem Rathaus am 21. September 1821 machte einen tiefen Eindruck auf die Bevölkerung und verstärkte den Haß gegen die Bourbonen. Es war die letzte öffentliche Hinrichtung aus politischen Gründen im Herzen von Paris. Nach der Revolution 1830 wurde der Richtplatz von der Place de Grève, wo das Blut der Freiheitskämpfer der Juli-Tage vergossen worden war, an die Barrière Saint-Jacques am südlichen Stadtrand verlegt. Gleichzeitig wurden auch der Pranger und das Brandmarken der Kettensträflinge abgeschafft. Nun saßen ehemalige Carbonari in der Kammer und im Kabinett.
Die Polizei behielt diese Umtriebe stets im Blick. Sie überwachte politische Gegner, öffnete Briefe, bestach Dienstboten, ihre Herrschaft zu bespitzeln, kaufte Zeitungsschreiber und Zeitungen. Wie unter Napoleon florierten die »Paralleldienste«, allein vier für die Tuilerien, ein fünfter für den Militärbefehlshaber der Region Paris. »Zu allen Zeiten hatte die Pariser Polizei ein Heer von Leuten zu ihrer Verfügung, die sich unter hundert verschiedenen Verkleidungen auf Straßen und öffentlichen Plätzen, in Gaststätten, Cafés und Spielsälen, bei Tanzveranstaltungen und in Theatern und bis in die Gotteshäuser verteilen«, faßte ein zeitgenössischer Beobachter den allgemeinen Eindruck zusammen. (Antoine Caillot, 1827) Diese »Mouchards«, eine Anspielung auf lästige Fliegen, sollten Gespräche belauschen und Klagen über die Regierung provozieren.
Manche Verschwörung ließ sich auf das Wirken solcher Lockspitzel zurückführen. Nach einem liberalen Wahlsieg im November 1827 erregten bezahlte Schlägerbanden in den Vorstädten Saint-Martin und Saint-Denis »spontane« Unruhen, bei denen es einen Toten und mehrere Verletzte gab: ein Spiel mit dem Feuer. Klagen in der Kammer über die Polizeimethoden wurden von der liberalen Presse bereitwillig aufgegriffen. Der Polizeipräfekt Louis-Marie Debelleyme (1828–1829) suchte dem schlechten Eindruck entgegenzuwirken, als er 1829 neben den Beamten und Agenten in Zivil die Truppe der »Sergeants de ville« schuf, kenntlich an ihrer blauen Uniform mit Metallknöpfen, Zweispitz und Stock mit Metallknauf. Zur gleichen Zeit führte der britische Innenminister Robert Peel in London die City Constables ein, die als »Bobbies« das Vertrauen der Bürger erwarben.
In Paris haftete selbst dem Polizeidienst, der auf die gewöhnliche Verbrechensbekämpfung angesetzt war, Verdächtiges an. Die Sonderbrigade der »Sûreté« stand zwischen 1817 und 1827 unter dem Befehl des freigelassenen Kettensträflings Eugène-François Vidocq (1775–1857). Nach seiner Verabschiedung veröffentlichte Vidocq stark ausgeschmückte Erinnerungen, die Balzac und Victor Hugo inspirierten. Vidocq betrieb nach seiner Entlassung ein Büro für vertrauliche Nachforschungen im Marais: der erste Privatdetektiv. Vielleicht warb er mit einem Plakat, wie es Victor Hugo 1847 bemerkte: »Nachforschung über vermißte oder verschwundene Personen. Liefert innerhalb von vierundzwanzig Stunden Informationen über Kreditwürdigkeit, Moral, Privatleben jeder gewünschten Person!« War es ein Zufall, daß der amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe die erste Detektivgeschichte der Weltliteratur - »The Murders in the Rue Morgue« (1841) – in Paris ansiedelte? Der Spurensucher auf der Fährte des Verbrechens war ein Verwandter des Flaneurs, der en passant die Zeichen der Zeit deutet.
Latente Unzufriedenheit machte sich in Ausbrüchen Luft, die zunächst ungefährlich blieben. Im Juni 1820 kam es während der Debatte über die Änderung des Wahlrechts zu Kundgebungen vor dem Palais-Bourbon und auf den Boulevards. Nicht nur das übliche »Vive la Charte!« war dabei zu hören, sondern auch Rufe wie »Nieder mit den Royalisten!« und sogar »Zu den Tuilerien!« Zu politischen Demonstrationen wurden die Trauerzüge für die liberalen Abgeordneten General Foy (1825) und Jacques Antoine Manuel (1827). Die Wähler der Hauptstadt, das heißt die Steuerzahler, schickten zehn Vertreter der Opposition und zwei Konservative in die Kammer. Als der König am 29. April 1827 die Truppenschau der Pariser Nationalgarde abnahm, scholl ihm »Nieder mit der Regierung!« und »Nieder mit den Jesuiten!« entgegen. Auf den Rat des Premierministers wurde die Nationalgarde aufgelöst, aber nicht entwaffnet: Die Bürger in Uniform hatten ihre Ausrüstung schließlich selbst bezahlt. Der Beschluß war eine Überreaktion angesichts von Unmutsäußerungen einer Minderheit – und ein Anzeichen für die Entfremdung zwischen Karl X. und Paris.
Zum Schluß verjagte die Hauptstadt den König und holte einen anderen. Bei den vier Ordonnanzen, die am 26. Juli 1830 in der Montagsausgabe des »Moniteur« veröffentlicht wurden, ging es um die weitere Einschränkung der Pressefreiheit; um die Änderung des Wahlrechts; um die Auflösung der kürzlich gewählten Kammer; und um den Termin für Neuwahlen. Dahinter stand die Frage, ob der König, gestützt auf die »gewährte« Charta, gegen das Parlament regieren konnte. Karl X. verlor die Machtprobe. Der Polizeipräfekt Jean Henri du Mangin (1829–1830) sah das Unheil nicht kommen. »Was Sie auch tun werden, Paris bleibt ruhig!«, versicherte er dem Präsidenten der Abgeordneten-Kammer. Aber Paris blieb nicht ruhig. Sechzig liberale Journalisten unterzeichneten den Aufruf zum Ungehorsam, den Thiers als Redakteur des »National« verfaßt hatte. Fünftausend Drucker und Setzer, die um ihre Arbeitsplätze fürchteten, verbreiteten den Aufruf. Am Abend gab es die ersten Zusammenrottungen am Palais-Royal und nahe der Börse. Am nächsten Tag erhielt Marschall Marmont, seit 1821 Gouverneur von Paris, den Befehl über die Truppen in der Hauptstadt, das erste Zeichen, daß sich die Regierung des Ernstes der Lage bewußt wurde. Marmont hatte 1814 die Kapitulation von Paris unterzeichnet und 1815 Ludwig XVIII. ins Exil begleitet. Er galt allen Patrioten als Verräter.
Der nächste Tag sah die Stadt in vollem Aufstand. Seit Sonnenaufgang war in den einfachen Vierteln der Bau von Barrikaden im Gang. Nicht mehr als sieben- oder achttausend Männer griffen zu den Waffen: Arbeiter und Handwerker, Nationalgardisten, Studenten. Aber ein großer Teil der Bevölkerung stand auf ihrer Seite. Der Polizeibeamte Canler hebt in seinen Erinnerungen die Beteiligung der Straßenjungen hervor: »Jeder kennt diese Rasse der Pariser Gamins, die bei unseren Zusammenrottungen immer den aufrührerischen Schrei ausgestoßen, bei unseren Aufständen den ersten Stein zur Barrikade herbeigetragen und die fast immer den ersten Schuß abgegeben haben.« Delacroix hat auf seinem berühmten Gemälde dem kämpfenden Gamin einen Platz neben der Freiheitsgöttin gegeben, Victor Hugo hat ihm in den »Elenden« mit Gavroche ein Denkmal gesetzt. Ein Höhepunkt war der Sturm auf das Rathaus, den symbolischen Ort aller Pariser Volksaufstände, über den Holzsteg hinweg, der die Île de la Cité mit dem Grève-Platz verband. Die Steinbrücke, die später den Steg ersetzte, erhielt den Namen Pont d’Arcole: zum Andenken an einen jungen Trikolorenträger, der den Gefährten todesmutig voranstürmte.
Der König, im Schloß von Saint-Cloud dem Geschehen fern, verhängte den Belagerungszustand. Vier Militärkolonnen bewegten sich in Richtung Bastille-Platz, Rathaus, Zentralmarkt und Place des Victoires. Es war ein mühsames Vorrücken, in drückender Hitze. Hinter den Soldaten wuchsen die eben genommenen Barrikaden wieder aus dem Boden. Aus den oberen Stockwerken und von den Dächern prasselten Wurfgeschosse, fielen Schüsse. »Die Zahl der Bewaffneten wuchs unaufhörlich. Die Waffen, die den getöteten oder entwaffneten Soldaten abgenommen wurden, wurden unverzüglich verteilt … Inmitten der Kämpfenden waren Soldaten zu sehen, die sich sogleich dem Volk angeschlossen hatten … Diesen heißen Tag verbrachte Paris auf der Straße. Jeder hatte hier sein Domizil aufgeschlagen, halbangezogen, in Pantoffeln. Man trank, man aß, man tauschte Neuigkeiten aus, man befragte diejenigen, die aus dem Kampf kamen.« So lautet der Bericht des Pariser Arztes François-Louis Poumiès. Gegen Abend entschloß sich Marschall Marmont, das mühsam eroberte Terrain wieder aufzugeben und seine Truppen um den Louvre und die Tuilerien zusammenzuziehen wie in einer Zitadelle.
Der dritte Tag, der 29. Juli, brachte die Entscheidung. Der Rückzug der Truppen am Vorabend gab den Aufständischen Mut. Hunderte von neuen Barrikaden entstanden. Auf dem linken Ufer bewegte sich eine Gruppe Bewaffneter nach Westen, um den Louvre seitlich zu umfassen. Die Kaserne der Schweizer Garde in der Rue de Babylone auf dem linken Ufer wurde trotz heftiger Gegenwehr eingenommen, die wackeren Söldner zogen sich kämpfend zur École Militaire zurück. Die Menge plünderte das »Artillerie-Museum«, die Sammlung historischer Waffen, neben der Kirche Saint-Thomas-d’Aquin im Faubourg Saint-Germain. »Man sah unter ihnen den Helm Gottfrieds von Bouillon, die Arkebuse Karls IX. und die Lanze Franz’ I. glänzen.« (Louis Blanc) Zwei Linien-Regimenter auf der Place Vendôme kehrten die Gewehrkolben nach oben. Marmont zog Truppen aus dem Louvre ab, um den wichtigen Platz wieder zu besetzen. Plötzlich war die Ost-Fassade des Königsschlosses von Verteidigern entblößt. Mit Leitern von einer nahen Baustelle erklommen die Angreifer die Galerie und beschossen die Innenhöfe. Der Rückzug der Garnison aus dem Louvre und den Tuilerien wurde unvermeidlich. Als Talleyrand, in einem ereignisreichen Leben an Veränderungen gewöhnt, die Soldaten gegen Mittag in Richtung Étoile abziehen sah, schloß er klarsichtig: »Um fünf Minuten nach zwölf hat die ältere Linie der Bourbonen aufgehört zu regieren.«
Paris befand sich in der Hand der Aufständischen. Auf öffentlichen Gebäuden und Monumenten flatterte die Trikolore. Am Abend erschienen wieder Zeitungen. Postkutschen, mit den Nationalfarben geschmückt, brachten die Neuigkeiten in die Provinz. Wieder einmal hatte die Hauptstadt über die Geschicke des Landes entschieden. Der Arzt Poumiès nahm das Schlachtfeld in Augenschein: »Auf den Boulevards bildeten gefällte Bäume, Pferdekadaver und Barrikaden aus Wagen, Karren und umgestürzten Omnibussen, aus mit Erde gefüllten Fässern und herausgerissenen Pflastersteinen Hindernisse … Fuhrwerke kamen nicht durch. Lastträger übernahmen die Versorgung der Stadt … Die Wachsoldaten waren durch Männer aus dem Volk abgelöst. An den Gittern des Louvre, der Tuilerien, des Gartens und aller öffentlichen Gebäude gab es keine andere Wache … Diese Männer, von der Sonne verbrannt, die Kleidung in Unordnung, zeigten sich von fast gewählter Höflichkeit und halfen den Damen beim Übersteigen der Barrikaden.« Die Leichen gingen in der Sommerhitze bald in Verwesung über. Sechs- bis siebenhundert Tote auf Seiten der Aufständischen, weniger als zweihundert auf Seiten des Militärs waren zu beklagen. Tausend Witwen und Waisen blieben zurück. Die Gemeinde stellte achthunderttausend Franc für dringende Reparaturarbeiten an Straßen, öffentlichen Gebäuden und Zollwachen zur Verfügung, später vier Millionen Franc für private Schäden. Die Langzeitfolgen der »Trois Glorieuses«, der drei ruhmreichen Revolutionstage, waren schwerer abzuschätzen. »Jeder Schuß, der während dieser drei Tage abgegeben wurde, hatte einen Bankrott zur Folge«, rechnete Louis Blanc nach.
Die liberalen Politiker, die eine Revolution herbeigeredet hatten, die sie nicht wollten, mußten sich beeilen, die Verantwortung zu übernehmen. Der Bankier Laffitte und seine Freunde wünschten keine Rückkehr zum Bonapartismus und kein Voranschreiten zur Republik, sondern eine konstitutionelle Monarchie unter dem Herzog von Orléans. Am Nachmittag des 31. Juli nahm Louis-Philippe in Generalsuniform zu Pferde, begleitet von neunzig Abgeordneten, den mühsamen und nicht ungefährlichen Weg vom Palais-Royal, seiner Residenz, zum Rathaus. Die Menge wurde dichter, der Beifall leiser, das Murren lauter, je mehr sich die Gruppe dem Stadthaus näherte, das wieder einmal zum Sitz der Volkssouveränität geworden war. Dort führte seit zwei Tagen der über siebzig Jahre alte La Fayette wie schon 1789 als Befehlshaber der Nationalgarde das Wort. Louis-Philippe verstand sich auf Volkstümlichkeit: Er zog den General auf den Balkon und ergriff gemeinsam mit ihm die Nationalfahne. »Es lebe La Fayette!«, »Es lebe der Herzog von Orléans!« schallte es von unten. Die Nähe des Helden der amerikanischen und der französischen Revolution bedeutete eine Investitur, der Beifall die Akklamation durch das Volk von Paris. Am 9. August 1830 leistete Louis-Philippe im Palais-Bourbon vor den beiden Kammern als »König der Franzosen« den Eid auf die geänderte Verfassung.
Drei Wochen später erwarb der König eine breitere Machtbasis, als sie das Parlament bieten konnte: Auf dem Mars-Feld war die wieder aufgestellte Nationalgarde, fünfzigtausend Mann stark, angetreten. Der neue König übergab den Regimentern die neuen Trikoloren mit der Aufschrift: »Liberté, Egalité, Ordre public / 27, 28, 29 juillet 1830«. Den Teilnehmern erschien diese Truppenschau wie eine Wiederholung des Föderationsfestes vom 14. Juli 1790. Vergleiche mit der Großen Revolution waren in Paris schnell zur Hand. Die Pariser Nationalgarde war 1789 zum Schutz der Einwohner geschaffen worden. Napoleon mißtraute dieser Miliz, die das ursprüngliche Sansculottentum nicht verleugnete. Die Bourbonen schmeichelten mit der Anerkennung der Nationalgarde dem Bürgertum, verminderten sie aber nach und nach auf ein Drittel (12 000 Mann), bis sie Karl X. auflöste. La Fayette schlug vor, die Zugehörigkeit auf die Arbeiter auszuweiten, fand aber dafür beim »Bügerkönig« keine Zustimmung. Nach fünf Monaten legte er den Befehl nieder. Bei den Aufständen der nächsten Jahre bewährten sich die Familienväter in Bärenmütze und Tschako als Schutzwehr des Juste Milieu, bis sie sich 1848 in zwei feindlichen Lagern gegenüberstanden.
Hochgespannte Erwartungen und bittere Enttäuschungen bestimmten die Anfangsjahre der Juli-Monarchie. Den Barrikadenkämpfern dämmerte es, daß ihr Sieg nicht ihnen, sondern einer anderen Klasse zugute kam: der Bourgeoisie. Der König der Franzosen gab sich volkstümlich, wie es auch der Herzog von Orléans getan hatte. Dabei changierte Louis-Philippe zwischen der linken und der rechten Mitte, zwischen der »Partei der Bewegung« und der »Partei des Widerstandes«. Einer Abordnung aus der Provinz versicherte der König: »Was die Innenpolitik angeht, so werden wir versuchen, eine richtige Mitte (juste milieu) einzuhalten.« Das System hatte seine Benennung gefunden. Auf der anderen Seite standen Republikaner, Bonapartisten und Royalisten, die zuweilen erstaunliche Bündnisse eingingen. Zusammenrottungen und Unruhen machten der Regierung und dem Bürgertum Sorge. Der Prozeß gegen vier Minister der gestürzten Monarchie im Dezember 1830 erregte die Leidenschaften.
Ein Gedenkgottesdienst der Legitimisten für den ermordeten Herzog von Berry in der Kirche Saint-Germain-l’Auxerrois in der Nähe des Louvre löste am 14. März 1831 eine antiklerikale Revolte aus. Am nächsten Tag verwüstete der Mob, wie schon im Juli 1830, das Palais des Erzbischofs neben der Kathedrale. Möbel und Kunstgegenstände wurden zerschlagen und in die Seine geworfen, die Lederbände der erzbischöflichen Bibliothek, der wichtigsten theologischen Sammlung, flogen hinterher. Am Rande des Karnevals führten die Plünderer mit Meßgewändern einen lästerlichen Mummenschanz auf. Die Polizei griff nicht ein. Der Präfekt und der Polizeipräfekt mußten zurücktreten. Der neue Polizeipräfekt Henri Gisquet (1831–1836), der siebte Amtsinhaber seit der Juli-Revolution, zeigte sich den Herausforderungen besser gewachsen. Der Sohn eines Zollbeamten aus Lothringen war ein Vertrauensmann des Ministerpräsidenten Casimir-Perier, in dessen Bankhaus er sich bewährt hatte. Eine echte Balzac-Gestalt, sorgte Gisquet mehr für seinen Vorteil als für seinen Ruf gut war. Nach seiner Entlassung schloß er sich der Opposition an. Sein Nachfolger, Gabriel Delessert (1836–1848), der zu einer kalvinistischen Familie von Bankiers, Industriellen, Politikern und Philantropen gehörte, war ein Ehrenmann und bei der Bevölkerung beliebt.
Bald drohte eine andere Gefahr. In fünfzehn Jahren legte die Cholera den Weg von Indien bis Paris zurück. 1830 trat sie in Rußland auf, 1831 in Österreich und Preußen. Vierzig Millionen Menschen raffte die Seuche hinweg. Die Ärzte verfolgten ihr Vorrücken mit Sorge, ohne sich über die Ursachen der Übertragung im klaren zu sein. Die ersten Fälle Mitte März 1832 wurden von den Behörden verharmlost, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen. Das »Journal des Débats« berichtete am 29. März über zehn Erkrankungen und tröstete die Leser: »Alle Männer, die von diesem epidemischen Übel erfaßt sind, das man jedoch nicht für ansteckend hält, gehören zur unteren Klasse. Es handelt sich um Schuhmacher und um Arbeiter, die Wolldecken herstellen. Sie wohnen in schmutzigen, engen Straßen der Cité und des Viertels Notre-Dame.« Die Statistiken bestätigten diese Stichprobe des Todes.
Heinrich Heine, der seit Mai 1831 in Paris lebte, hielt sich bei einem kranken Freund auf, anstatt wie viele andere aus der Stadt zu fliehen. So wurde er zu einem eindringlichen Augenzeugen: »Bei dem großen Elende, das hier herrscht, bei der kolossalen Unsauberkeit, die nicht bloß bei den ärmern Klassen zu finden ist, bei der Reizbarkeit des Volks überhaupt, bei seinem grenzenlosen Leichtsinne, bei dem gänzlichen Mangel an Vorkehrungen und Vorsichtsmaßregeln, mußte die Cholera hier rascher und furchtbarer als anderswo um sich greifen. Ihre Ankunft war den 29. März offiziell bekannt gemacht worden, und da dieses der Tag des Demi-Carême und das Wetter sonnig und lieblich war, so tummelten sich die Pariser umso lustiger auf den Boulevards, wo man sogar Masken erblickte, die … die Furcht vor der Cholera selbst verspotteten.«
Die verspäteten Maßnahmen durch die Sanitätskommission vollzogen sich, wie Heine meinte, in größter Verwirrung. Die Anordnung, Abfälle unverzüglich aus der Stadt zu schaffen, löste eine Revolte der Lumpensammler aus. Gerüchte von »Brunnenvergiftern« reizten wie im Mittelalter zu Gewalttaten. Als im April die Epidemie mit fast 13 000 Todesopfern auf den Höchststand schnellte, wurde der Transport der Toten zum größten Problem: »Da die vorhandenen Leichenwagen nicht zureichten, mußte man allerlei andere Fuhrwerke gebrauchen, die, mit schwarzem Tuch überzogen, abenteuerlich genug aussahen … Widerwärtig war es anzuschauen, wenn die großen Möbelwagen, die man beim Ausziehen gebraucht, jetzt gleichsam als Totenomnibusse, als omnibus mortuis, herumfuhren und sich in den verschiedenen Straßen die Särge aufladen ließen und sie dutzendweise zur Ruhestätte brachten.« (Heine)
Bis zum Oktober 1832, fast zweihundert Tage, blieb die Seuche in Paris. Über 18 000 Menschen fielen ihr zum Opfer. Die Seuche machte die Ungleichheit vor dem Tode augenfällig. »Alle Beispiele zeigen, daß dort, wo eine elende Bevölkerung in schmutzigen, engen Unterkünften zusammengedrängt ist, die Epidemie die meisten Opfer gefordert hat«, stellte ein Bericht fest. Das galt für das Viertel um das Rathaus (53 v.T.), für die Cité (52 v.T.) und für Les Arcis zwischen Rathaus-Platz und Châtelet (42 v.T.). Aber zu den Opfern der ersten Wochen gehörte auch der Regierungschef Perier, der sich bei einer Besichtigung des Krankenhauses angesteckt hatte. Der Tod dieses Verteidigers der Ordnung war für den König ein schwerer Verlust. 1849 sollte die Cholera zur gleichen Jahreszeit wiederkehren. Obwohl die Behörden nun über Erfahrungen verfügten, starben wiederum 16 000 Menschen.
Die Angst vor der Seuche unterdrückte die politische Unruhe nicht völlig. An dem Trauerzug für General Lamarque, der für die Revolution und Napoleon gekämpft hatte, nahmen am 5. Juni 1832 zweihunderttausend Menschen teil: Republikaner, Bonapartisten, Studenten, Arbeiter, Emigranten. Bald kam es zu bewaffneten Zusammenstößen. Viertausend Kämpfer verschanzten sich hinter Barrikaden. Am nächsten Tag besiegte die Nationalgarde den letzten Widerstand beim Kloster Saint-Merri. Ähnliche Vorfälle wiederholten sich zwei Jahre später am 13. und 14. April 1834, wiederum im Marais. Die Regierung bot 40 000 Soldaten auf. Als in der Rue Transnonain (von Haussmann beseitigt) im Viertel Beaubourg aus dem Haus Nr. 12 ein Schuß fiel, drangen Soldaten ein und brachten zwölf Bewohner mit der Waffe um. Victor Hugos Schilderung des Barrikadenkampfes in »Die Elenden« hielt den Aufstand von 1832, Daumiers anklagende Lithographie »Rue Transnonain« den von 1834 für die kollektive Erinnerung fest. Zu einem weiteren republikanischen Aufstandsversuch kam es am 15. Mai 1839. Es war die letzte Revolte in Paris bis zur Februar-Revolution 1848. Die Weber-Aufstände in Lyon 1831 und 1834 waren gefährlicher als die Unruhen in der Hauptstadt.
Neben Revolten erschien der Königsmord als ein geeignetes Mittel, die Monarchie zu beseitigen. Acht Anschläge wurden gegen den friedliebenden Herrscher verübt. Der Bürgerkönig mußte die Spaziergänge durch die Straßen von Paris aufgeben, die ihn beliebt machten. Eine eisengeschützte Kutsche Napoleons wurde aus der Remise geholt. Der gefährlichste Mordversuch war die Höllenmaschine des Korsen Giuseppe Fieschi: fünfundzwanzig Gewehrläufe, wie Orgelpfeifen angeordnet und mit gehacktem Metall geladen, die sich auf einen Hebeldruck gleichzeitig entluden. Der ehemalige Carbonaro Fieschi brachte die Vorrichtung im zweiten Stock eines Hauses am Boulevard du Temple in Stellung, an dem der König bei der Besichtigung der Nationalgarde am 28. Juli 1835 vorbeireiten mußte. Achtzehn Menschen, darunter der Kriegsminister Marschall Mortier, wurden getötet, der König blieb unverletzt. Der verfrühte Tod des Thronfolgers am 13. Juli 1842 war nicht von Mörderhand verschuldet: Der Herzog von Orléans wurde auf der Fahrt von den Tuilerien zum väterlichen Schloß in Neuilly das Opfer seines durchgehenden Gespanns.
Hinter den Aufständen zwischen 1830 und 1848 wirkten politische Vereine und Geheimbünde, in denen sich, wie bei einer spiritistischen Séance, die Geister der Französischen Revolution mit den Hoffnungen der Lebenden mischten. Noch lebten in Paris fünf- bis sechshundert Teilnehmer des Bastille-Sturms, Zehntausende kannten die Revolution aus eigener Erfahrung. Die einflußreichste Organisation war die »Gesellschaft der Volksfreunde«, zu der alle wichtigen republikanischen Wortführer gehörten. Die Mitglieder waren Studenten und Intellektuelle, ehemalige Militärs, Handelsgehilfen, Ärzte und Anwälte. Arbeitsgruppen befaßten sich mit Sozialreform, Volkserziehung und Pressefreiheit. Mehr als der Staat wurde die herrschende Klasse ins Visier genommen. Heinrich Heine besuchte im Februar 1832 eine Versammlung der Volksfreunde in der Rue Montmartre: »Der Citoyen Blanqui, Sohn eines Conventionnels, hielt eine lange Rede, voll von Spott gegen die Bourgeoisie, die Boutiquiers, die einen Louis-Philippe, la boutique incarnée, zum Könige gewählt … Die Versammlung roch ganz wie ein zerlesenes, klebrichtes Exemplar des ›Moniteur‹ von 1793 … Bei jung und alt im Saale der Amis du peuple herrscht würdiger Ernst, den man immer bei Menschen findet, die sich stark fühlen.«
Wenig später wurde die Vereinigung verboten. Die Nachfolgeorganisation, die »Gesellschaft für die Menschen- und Bürgerrechte« wirkte auf die Arbeiter und organisierte Streiks. Die Gesellschaft zählte in Paris dreitausend Mitglieder, zum größten Teil Arbeiter, und war in Sektionen von zehn bis zwanzig Mitgliedern eingeteilt. Ein Ableger, die »Revolutionären Legionen«, bereitete den bewaffneten Aufstand vor. Die Verschwörer trafen sich alle vierzehn Tage wie zufällig auf Plätzen oder auf den Boulevards, wobei die Anführer von einer Gruppe zur anderen schlenderten und knappe Anweisungen gaben. Der Polizeipräfekt Gisquet beklagte sich über die Schwierigkeiten seiner Arbeit: »Ich ließ die Sektionen zerschlagen so bald sie entstanden, ließ ihre Unterlagen beschlagnahmen und manchmal die Mitglieder verhaften. Aber vor Gericht wurden sie von den Geschworenen freigesprochen oder sogar vor dem Urteil auf freien Fuß gesetzt.« Die Haft im Gefängnis Sainte-Pélagie in der Nähe des Jardin des Plantes bestärkte die politischen Gefangenen in ihren Überzeugungen.
Das geistige Rüstzeug lieferten utopistische, sozialistische und kommunistische Denker wie Saint-Simon (1760–1825) und seine Schule; Fourier (1772–1837); Proudhon (1809–1865); Étienne Cabet (1788–1856); Louis Blanc (1811–1882); Auguste Blanqui (1811–1881). Fast alle stammten aus der Provinz. Wie im Jahrhundert der Aufklärung wirkte Paris als großes Ideen-Laboratorium und Narrenparadies. Mehr als ein Zauberlehrling hielt sich bereit, vom Denken, Reden und Schreiben zur Aktion zu schreiten. In schrecklicher Vereinfachung verkündeten die Sozialreligionen die Gleichheit aller, die nicht die Freiheit des einzelnen sein konnte. Für Heine waren die Kommunisten die einzige Partei, die »entschlossene Beachtung« verdiente. Die Erwartung, der politischen Revolution müsse die soziale Revolution folgen, verbreitete sich und sank nach unten. Nicht das Wahlrecht, sondern der gewaltsame Umsturz mußte die große Veränderung bringen, nach der »Republik der Bratenröcke« die »Republik der Arbeitskittel«. Am Ende stand die Abschaffung des letzten Privilegs: des Privateigentums.
Im Gefolge der Revolutionen in Europa strömten seit 1830 zwanzigtausend politische Emigranten nach Paris. Hier fanden verfolgte Revolutionäre aus Polen, Italien und Deutschland Unterstützung und Wirkungsmöglichkeiten. In politischen Klubs und Geheimbünden trafen sich Franzosen und Ausländer. Adam Mikiewicz vollendete in Paris das polnische Nationalepos »Pan Tadeusz« und hielt Vorlesungen am Collège de France. Fürst Adam Czartoryski führte auf der Île Saint-Louis ein offenes Haus und gründete 1843 die Polnische Bibliothek. Die italienische Prinzessin Cristina Belgiojoso unterhielt seit ihrer Verbannung einen politisch-literarischen Salon. Ihr Landsmann Mazzini wurde 1832 aus Frankreich ausgewiesen, kehrte aber mehrmals unbehelligt zurück: »Die Regierung weiß sehr wohl, daß ich hier bin; aber sie läßt mich lieber überwachen als festnehmen.« Ähnliche Erfahrungen machten die Russen Michail Bakunin und Alexander Herzen. In Genf, Brüssel oder London konnten politische Emigranten freier arbeiten als in Paris.
1830 lebten siebentausend Deutsche in Paris, 1848 waren es sechzigtausend: die größte Ausländergruppe vor Belgiern und Italienern. Hungrige Familien aus Hessen und der Pfalz hielten das Pariser Straßenpflaster sauber. Handwerker wie Drucker, Schneider, Lederarbeiter und Schreiner suchten ein besseres Auskommen. Auch wenn der Lebensunterhalt im Vordergrund stand, waren viele dieser Emigranten politisch engagiert. Handwerksgesellen und Handelsgehilfen spendeten für den »Bund zur Verteidigung der Pressefreiheit«, ein deutsches wie ein französisches Anliegen. 1834 gründeten Flüchtlinge aus dem Land der Demagogenverfolgung den »Bund der Geächteten«, der sich 1846 »Bund der Gerechten« und im Jahr darauf »Bund der Kommunisten« nannte. Die »Geächteten« standen mit einem französischen Geheimbund, der »Gesellschaft der Jahreszeiten«, in Verbindung und waren nach dem Vorbild der Carbonari in »Gemeinden« und »Gaue« eingeteilt. An der Spitze stand die »Halle«, das Zentralkomitee. Zu den Anführern gehörten der Arzt Hermann Ewerbeck (1816–1860) und der Schneider Wilhelm Weitling (1808–1871), Sohn eines französischen Offiziers und bekannt als Verfasser der kommunistisch-utopischen Schrift »Die Menschheit, wie sie ist und sein sollte« (1838). Der Bund faßte in London, Brüssel und Zürich fester Wurzel als in Paris und erhielt 1848 sein Programm: »Das Kommunistische Manifest«.
Die Regierungen Preußens und Österreichs behielten die verdächtigen Untertanen im Exil scharf im Auge. »Alle Sonntage versammeln sich die deutschen Kommunisten vor der barrière du trône [Place de la Nation] in einem Saal eines Weinhändlers auf der Chaussee, wenn man von dem Tore kommt rechts das 2te oder 3te Haus avenue de Vincennes«, heißt es in einem Informantenbericht an das preußische Innenministerium vom 1. Februar 1845. »Hier kommen oft 30, oft 100, 200 deutsche Kommunisten zusammen, sie haben den Saal gemietet. Es werden Reden gehalten, offen Königsmord, Abschaffung alles Besitzes, herunter mit den Reichen usw. gepredigt; dabei keine Religion mehr, kurz der krasseste, abscheulichste Unsinn.« (Marx Engels Gesamtausgabe, Dritte Abt. Briefwechsel Bd I, Apparat, S. 607 f.) Der Bericht stammte von Adelbert von Bornstedt (1808–1851). Bornstedt, ein aus dem Dienst ausgeschiedener preußischer Offizier, war einer der Führer der Deutschen Demokratischen Gesellschaft in Paris. Seine politisch-journalistischen Beziehungen nutzte er auch als Informant der preußischen und der österreichischen Regierung. Seit 1847/48 war Bornstedt der Herausgeber der »Deutschen-Brüsseler-Zeitung«. Er wurde im März 1848 aus dem Bund der Kommunisten ausgeschlossen.
Auch die beiden berühmtesten deutschen Emigranten, Ludwig Börne und Heinrich Heine, erregten die Aufmerksamkeit der Behörden: »Die Bemühung, zu Paris das revolutionäre Zentrum der deutschen Refugierten und sogenannten Patrioten zu gründen und die Leitung einem Komitee zu übertragen, ist seit vergangener Woche voll ausgeführt«, heißt es in einem Bericht nach Wien vom 16. Januar 1836. »Börne als der reichste, älteste und berühmteste Schriftsteller ist jetzt die revolutionäre Autorität, und bei ihm werden jetzt Zusammenkünfte gehalten. [Börne, der ein Jahr später starb, wohnte in den letzten vier Jahren bei Freunden, dem Ehepaar Strauss-Wohl, in der Rue Laffitte.] Die Sonntagsversammlungen bei [dem radikalen Publizisten Jakob] Venedy stehen nur in zweiter Linie und berichten an Börne … Heine hat mit allen diesen Menschen nichts gemein und hält sich ganz zu den französischen Tagesliteraten, macht diesen den Hof und nennt Börne und seine Gefährten ›Falstaff und seine Bande‹.« (Ludwig Börne: »Sämtliche Schriften«, Bd. 3, Düsseldorf 1964, S. 1049) Das war richtig gesehen. Heine verfolgte die politischen Entwicklungen mit Hoffnung, Skepsis und Sorge, aber er war nicht bereit, so viel »politischen Parteigeist« aufzubringen, wie es die »deutschen Jakobiner« von ihm erwarteten.
Auch die Pariser Aufenthalte von Karl Marx standen im Schatten der Zusammenarbeit preußischer und französischer Behörden. Marx kam Ende Oktober 1843 zum erstenmal nach Paris, für den Fünfundzwanzigjährigen schon vor der Ankunft »die Hauptstadt der neuen Welt«, wie er an Arnold Ruge schrieb. Das junge Ehepaar Karl und Jenny Marx nahm in der Rue Vaneau Wohnung, zunächst Nr. 23, dann Nr. 38. Vorbereitet war Marx durch die Lektüre französischer Theoretiker wie Fourier, Considérant und Proudhon. Die persönliche Bekanntschaft suchte er nur zu Proudhon, dessen Schrift »Was ist das Eigentum?« (1840) ihn beeindruckte. Später äußerte sich Marx über Proudhon ebenso verächtlich wie über andere Vorläufer und Konkurrenten. Heinrich Heine, eine halbe Generation älter als Marx, wurde zu einem wichtigen geistigen Partner.
In Paris lernte Marx die Großstadt kennen, die es in Deutschland noch nicht gab, nicht zuletzt in ihrer literarischen Spiegelung, Sues »Die Geheimnisse von Paris«, die er rezensierte. Für den Propheten des Proletariats brachte Paris die erste Berührung mit Arbeitern. Die »Deutsch-Französischen Jahrbücher«, die Arnold Ruge und Marx zu einer »intellektuellen Allianz zwischen Deutschen und Franzosen« machen wollten, waren ein Fehlschlag: den französischen Intellektuellen erschienen die Deutschen zu radikal. Aber der mehrtägige Besuch von Friedrich Engels bei Marx auf der Rückreise von England im August 1844 wurde der Beginn ihrer lebenslangen Zusammenarbeit.
1843 gründete der Journalist Heinrich Börnstein (1805–1892) in Paris die erste deutsche Werbe- und Presseagentur, das »Central-Bureau für Deutschland«. Börnstein rief auch den »Hilfs- und Unterstützungsverein für nothleidende Deutsche« ins Leben. Vor allem war er seit 1844 der Herausgeber des »Vorwärts!«, dessen Untertitel unpolitisch genug lautete: »Pariser Signale aus Kunst, Wissenschaft, Theater, Musik und geselligem Leben«. Das Anfangskapital von dreitausend Franc stellte der Komponist Meyerbeer, stets an Eigenreklame interessiert, zur Verfügung. Denn der »Vorwärts!« war zunächst ein kommerzielles Unternehmen, das erst durch die Nachstellungen der preußischen Zensur einen progressiven Anstrich bekam. Ein Artikel über ein Attentat gegen den König von Preußen im »Vorwärts!« vom 3. August 1844 wurde zum Anlaß für Marx’ Ausweisung. Der preußische Gesandte, Graf Arnim, erhob beim Außenministerium Vorstellungen, und der Regierungschef Guizot wies den Innenminister an: »Der Artikel ist brutal, skandalös. Die Ausweisung erscheint mir sehr berechtigt. Betroffen sind drei, der verantwortliche Redakteur M. Börnstein, der Dr. Ruge und ein M. Marx.« Der Letztgenannte zog im Februar 1845 nach Brüssel.
Marx’ spätere Pariser Aufenthalte fallen in die Zeit nach der Februar-Revolution. Der erste vom 6. März bis 6. April 1848 wurde durch die Rückkehr nach Köln beendet: voll Hoffnung auf die Revolution in Deutschland. Nach der Ausweisung aus Preußen kam Marx am 3. Juni 1849 abermals nach Paris, um Verbindung mit französischen Revolutionären aufzunehmen. Unter dem Namen Ramboz wohnte er in der Rue de Lille, Nr. 45. Den Behörden unter dem neuen Staatspräsidenten Louis-Napoléon Bonaparte erschien Marx verdächtiger denn je. Es erging die Anweisung, das Wirken in Paris mit einem Zwangsaufenthalt im abgelegenen Département Morbihan, einer Fiebergegend, zu vertauschen. Am 23. August teilte der Polizeikommissar dem »preußischen Flüchtling« Karl Marx mit, daß sein Einspruch abgelehnt sei. Drei Tage später traf der Verbannte in London ein.
Die Revolution vom Februar 1848 wurde von vielen erwartet und kam doch überraschend. Seit ihren Anfängen krankte die Juli-Monarchie an einem Mangel an Legitimität: In den Augen der Royalisten war Louis-Philippe ein Usurpator, aber im Gegensatz zu Napoleon ein Usurpator ohne Größe; in den Augen der Republikaner war er der Nutznießer einer Revolution, die andere ausgekämpft hatten. Das Juste Milieu erschien als ein System skrupelloser Bereicherung, ohne nationalen Ehrgeiz. Lamartine, Michelet, Thiers und andere Geschichtsschreiber brachten die Große Revolution und die Kaiserzeit in Erinnerung und maßen daran die mediokre Gegenwart. »Man soll nicht glauben, daß alle Welt ermüdet ist wie wir und die geringste Bewegung fürchtet. Die heranwachsende Generation ist nicht müde, sie will ihrerseits handeln. Welche Möglichkeiten bieten Sie ihr? Frankreich ist eine Nation, die sich langweilt.« Mit diesen Worten geißelte der Abgeordnete Lamartine 1847 die Erschlaffung der Grande Nation.
Wie oft in Endzeiten einer Herrschaft häuften sich Skandale in den höchsten Kreisen. Ein Prinz, kein Mitglied der königlichen Familie, beging als Angehöriger des Jockey Club Fälschungen und kam vor Gericht. Ein Graf, Mitglied der Pairs-Kammer (Senat), versuchte in einem Anfall von Geistesgestörtheit seine Kinder zu töten. Der Innenminister und der Justizminister warfen einander Korruption vor; der Justizminister starb unter ungeklärten Umständen. Ein ehemaliger Minister für öffentliche Arbeiten und ein ehemaliger Kriegsminister, beide Pairs, wurden wegen einer dubiosen Bergwerkskonzession zu Haftstrafen verurteilt. Der Herzog von Choiseul-Praslin, der Besitzer des Schlosses Vaux-le-Vicomte, des Vorbildes für Versailles, stand im Verdacht, seine Frau ermordet zu haben, weil er ein Verhältnis mit der Erzieherin seiner Kinder hatte. Als der Herzog Gift nahm und ohne Geständnis starb, wurde das Verfahren eingestellt. Jeder dieser Fälle beschäftigte wochenlang die Öffentlichkeit. Die Überzeugung von der Unmoral der Oberschicht, die mehr noch durch die Fortsetzungsromane als durch aufrührerische Reden im Volk verbreitet wurde, schien bestätigt.
Am 5. Juli 1847 gab der Herzog von Montpensier, der fünfte Sohn Louis-Philippes, im Park von Vincennes ein Sommerfest. Der Park war feenhaft erleuchtet, dreitausend Gäste, »tout Paris«, waren erschienen. In einer Zeit von Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit machte dieser Glanz keinen günstigen Eindruck. »Von den Tuilerien bis zur Barriere du Trône (Place de la Nation) standen drei Reihen von Zuschauern entlang der Quais und der Rue du Faubourg Saint-Antoine, um die Kutschen der Geladenen vorbeifahren zu sehen. Immerfort warf diese Menge den geschmückten Insassen drohende Bemerkungen zu. Es war wie eine Wolke von Haß um dieses Leuchten eines Augenblicks«, notierte Victor Hugo. Vier Tage später, am 9. Juli, fand ein anderes Fest statt. Im Garten des Restaurants »Château Rouge« am Fuß von Montmartre versammelten sich 1200 Pariser Wahlberechtigte und 85 Abgeordnete, das Versammlungsverbot unterlaufend, zu einem Bankett. Die Zusammenkunft sollte der Forderung der Opposition nach einer Wahlrechtsreform Nachdruck geben. Das allgemeine Wahlrecht, zehn Millionen Wähler statt einer Viertelmillion, das bedeutete das Ende des politischen Monopols der Bourgeoisie. Weder die konservative Regierung noch der König wollten davon etwas wissen. Mit dem Massenschmaus am Stadtrand von Paris nahm die »Kampagne der Banketts« ihren Anfang: siebenhundert Veranstaltungen im ganzen Land, bei denen Tausende von Reden gehalten wurden.
Diese Bewegung, vor deren Anwachsen den Veranstaltern selbst bange wurde, brachte zum Schluß nicht die Reform, sondern die Revolution. Das Verbot des letzten Banketts, das am 22. Februar 1848, einem Dienstag, an den Champs-Élysées stattfinden sollte, löste die ersten Unruhen aus. Die Nationalgarde, nur zum Teil mobilisiert, betrachtete sich als Schiedsrichter zwischen den Mitbürgern und der Armee und versuchte, Zusammenstöße zu verhindern. Die Bürgerwehr stimmte in den Ruf nach Wahlrechtsreform ein. Die Entlassung des Regierungschefs Guizot am 23. Februar gegen Mittag war ein Zeichen des Nachgebens im ungeeigneten Augenblick. Sie brachte eine gewisse Entspannung, aber nicht das Ende der Unruhe. Im Angesicht des Militärs errichteten die Aufständischen die ersten Barrikaden. Ohne eindeutigen Befehl sich selbst überlassen, durchnäßt und fröstelnd, begannen die Soldaten zu fraternisieren.
Es war dunkel geworden. Gegen zehn Uhr abends zog eine anwachsende Menge vom Faubourg Saint-Antoine über die Boulevards in Richtung Madeleine: voran siebenhundert Arbeiter mit einer roten Fahne, dahinter Nationalgardisten, Handwerker und Bürger, Frauen und Kinder. Die Vordersten trugen qualmende Fackeln, einige auch Gewehre und Säbel. Die Häuser waren mit Lichtern und Lampions farbig illuminiert. Wieder einmal boten sich die Boulevards als Bühne großer Ereignisse an. Auf der Höhe des Außenministeriums am Boulevard des Capucines stießen die Vorwärtsdrängenden auf ein Bataillon Linien-Infanterie. Was wie ein Volksfest begonnen hatte, geriet zum Drama. Wer gab den ersten Schuß ab, ein Soldat oder einer aus der Menge? Gleichgültig. Aber dieser Schuß war das Signal für eine unregelmäßige Salve, mit oder ohne Befehl. Die Menge wich in Panik zurück. Dreißig bis vierzig Tote blieben auf dem Pflaster. Gemeinsam bemühten sich Soldaten und Bürger um die Verwundeten. Rechtfertigungsversuche des Kommandeurs blieben wirkungslos.
Der Leichenzug, der gegen Mitternacht den Weg zur Place de la Bastille nahm, wurde zu einer Rachekundgebung: »Auf einem Karren, von einem weißen Pferd gezogen, das ein Arbeiter mit bloßen Armen am Zügel führt, sind fünf Leichen mit schrecklicher Symetrie aufgereiht. Aufrecht stehend auf dieser Bahre erhellt ein Kind des Volkes, blaß, das Auge brennend und starr, den Arm ausgestreckt, fast unbeweglich wie der Geist der Rache, mit den rötlichen Flammen seiner Fackel den Körper einer jungen Frau, deren Hals und Brust von einer langen Blutspur gezeichnet sind. Von Zeit zu Zeit hebt ein anderer Arbeiter hinten auf dem Wagen den leblosen Körper hoch, wobei er seine Fackel schwingt und, den wilden Blick auf die Menge gerichtet, laut schreit: ›Rache! Rache! Das Volk wird gemordet!‹ ›Zu den Waffen! Zu den Waffen!‹, antwortet die Menge.« So war das Ereignis der Schriftstellerin Marie d’Agoult (Daniel Stern) in Erinnerung geblieben, so sollte es der Nation in Erinnerung bleiben. »Auf der Place de la Bastille angekommen, werden die Leichen am Fuß der Juli-Säule niedergelegt. Die Fackeln sind heruntergebrannt und verlöschen. Die Menge geht auseinander. Die einen laufen in die Kirchen und läuten die Sturmglocken. Andere schlagen an Haustüren und fordern Waffen. Eisen wird geschärft, Kugeln gegossen, Patronen hergestellt. Überall erheben sich Barrikaden.«
Eintausendfünfhundert Bastionen gegen die wankende Monarchie, sogar in unmittelbarer Nähe des Schlosses. Der 74 Jahre alte König, der sich nur langsam über den Ernst der Lage klar wurde, übertrug in der Nacht zum 24. Februar dem Marschall Bugeaud den Befehl über die Truppen. Bugeaud hatte sich bei der Eroberung von Algerien Verdienste erworben, aber für die Pariser verband sich sein Name mit dem Massaker in der Rue Transnonain. So hob die Ernennung dieses Mannes die Wirkung des Regierungswechsels auf. Überdies fielen die Politiker und der Hof dem Marschall beim energischen Vorgehen in den Arm. Bugeaud befahl den ihm verbliebenen Truppen in Stärke von 20 000 Mann den Rückzug: Sammeln bei den Tuilerien und auf der Place de la Concorde. Gegen Mittag unterzeichnete Louis-Philippe den Thronverzicht, wie vor ihm Karl X. zugunsten seines Enkels und ebenso wirkungslos. Die Hofequipagen konnten nicht mehr vorfahren. Das Königspaar erreichte eben noch eine Mietdroschke, die am Seitenausgang des Tuilerien-Gartens auf der Place de la Concorde wartete. Dann drang das Volk staunend, plündernd und zerstörend in das Königsschloß ein.
Wie im Juli 1830 berichtete auch jetzt der Arzt Poumiès als Augenzeuge: »Alles verriet eine überstürzte Flucht: der Eßtisch war noch gedeckt, Männer- und Frauenkleider lagen unordentlich in den Schlafzimmern, Schränke und Kommoden waren nicht abgeschlossen. Nun begann das Singen, das wilde Fest. Die Schränke wurden durchsucht; Bücher, Papiere, Überreste jeder Art lagen auf dem Parkett oder wurden in den Hof geworfen. Aus den zerschlagenen Flaschen und Fässern in den Kellern floß so viel Wein, daß er bald bis zu den Knöcheln stand: Männer ertranken darin, und ich sah wie mancher herausgezogen und mit Mühe wieder zum Leben erweckt wurde. Die Schüler der École Polytechnique bemühten sich, der Zerstörungswut Einhalt zu gebieten. Handschriftliche Plakate wurden angebracht: ›Diebe werden mit dem Tode bestraft‹, ›Achtung vor dem öffentlichen Eigentum‹. Aber die Zerstörung und die Plünderung gingen weiter.« Mancher aus der Menge, die durch den Thronsaal flutete, machte sich das Vergnügen, sich einen Augenblick lang auf den Thron zu setzen, in dessen Vergoldung einer der Anführer die Worte eingekratzt hatte: »Das Volk von Paris an das ganze Europa: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, 24. Februar 1848«. Das alte Versprechen, der alte Anspruch, die Revolution über die Grenzen zu tragen. Wenig später schaffte die Menge den Thron unter Ansprachen und Späßen auf den Boulevards von Barrikade zu Barrikade bis zum Bastille-Platz, wo er am Fuß der Juli-Säule in einem Freudenfeuer verbrannt wurde.
Am 26. Februar 1848 wurde die Republik ausgerufen, die zweite seit 1792. Am nächsten Tag bewegte sich der Trauerzug für 153 Gefallene von der Madeleine zur Place de la Bastille, wo die Toten in der Krypta unter der Freiheitssäule ihre Ruhestätte fanden: bei den toten Kämpfern des Juli 1830. Aber wo befand sich die Macht, wo der Sitz der Volkssouveränität? Die Provisorische Regierung, durch Zuruf und Zuwahl aus den Wirren hervorgegangen, versammelte sich im Rathaus, dem traditionellen Zentrum der Pariser Aufstände, wo man zumindest auf einen eingespielten Verwaltungsapparat rechnen konnte. Die Stadt erhielt wie zum letzten Mal im Jahr 1794 einen Bürgermeister: Louis Antoine Garnier-Pagès (1803–1878), Mitglied der Provisorischen Regierung, dem wenig später sein Kollege Armand Marrast (1801–1852) folgte. Die Nationalversammlung hielt am Palais-Bourbon fest. Im Palais du Luxembourg, das keine Verwendung mehr hatte, da die Pairs-Kammer abgeschafft war, saß die Regierungskommission für Arbeitsbeschaffung, die sich des vordringlichen Problems annehmen sollte. In der Polizeipräfektur richtete sich eine revolutionäre Prätorianergarde von dreitausend Mann ein. In den Sälen drängten sich die Delegationen, in den Büros die Bittsteller und Postenjäger.
War die Revolution mit dem Übergang zur Republik zu Ende oder sollte sie nun erst richtig beginnen? Die Ansichten darüber gingen weit auseinander. Es war bedeutsam, daß der Außenminister Lamartine, das Haupt der Provisorischen Regierung, mit der ihm eigenen Wortgewalt den Arbeitern die Einführung der roten Fahne ausgeredet und sie vom Wert der Trikolore überzeugt hatte, die »den Namen und den Ruhm der Freiheit des Vaterlandes um die Welt getragen hat«. Aber die dreihundert politischen Klubs, die wie in einer Parodie der Französischen Revolution bis spät in die Nacht große Reden führten und Pläne schmiedeten und schließlich mit dem »Klub der Klubs« eine Dachorganisation schufen, gaben keine Ruhe. Die Nationalgarde wurde für die Arbeiter geöffnet und schwoll von 60 000 auf 200 000 Bewaffnete an. Als die Legionen der konservativen Bezirke für die Wiederherstellung der Ordnung demonstrierten, antworteten die Klubs am nächsten Tag mit einer einschüchternden Gegendemonstration, für die hunderttausend Teilnehmer aufgeboten wurden. Die ersten allgemeinen Wahlen am 23. April enttäuschten die Scharfmacher. Trotz aller Drohungen mit dem »Volkswillen« von Paris entsandte das Land eine Mehrheit von Gemäßigten und Konservativen in die Verfassungsgebende Nationalversammlung. Am 15. Mai drängte eine bewaffnete Menge in den provisorischen Sitzungssaal, eine Baracke im Hof des Palais-Bourbon, und erklärte die Nationalversammlung für aufgelöst. Das Eingreifen der Nationalgarde rettete die neunhundert Abgeordneten.
Reiche und Ausländer verließen die unruhige Stadt. Die Staatsanleihen verloren mehr als die Hälfte ihres Wertes. Weil Geld knapp war, wurden weder Schulden noch Mieten bezahlt. Die Bautätigkeit kam zum Erliegen. Handwerker und Industrielle entließen Gesellen und Arbeiter. »Sie können sich die Trübseligkeit in dieser Stadt nicht vorstellen, die vor sechs Wochen so lebendig war. Man sieht nur ruinierte Leute«, schrieb Mérimée am 3. April einer Briefpartnerin. Gleichzeitig mit der Republik entstanden die Nationalwerkstätten, die Organisation des »Rechtes auf Arbeit«, das der Staat allen garantierte. Damit schien die wichtigste Forderung der Arbeiter erfüllt. Aber was sollte mit den mehr als 180 000 Arbeitslosen in Paris geschehen? Das Elendsheer, das sich auf die Hilfe des Staates verließ, wuchs unaufhörlich. Aus der Provinz drängten immer neue Hilfsbedürftige nach. Ende März waren über dreißigtausend Männer in den Lohnlisten der Nationalwerkstätten eingeschrieben, Ende April achtzigtausend, Mitte Mai über hunderttausend, Mitte Juni fast hundertzwanzigtausend. Nach wenigen Wochen mußte der Tageslohn von zwei Franc auf einen Franc gesenkt werden. Aber verbunden mit den Metallmarken für zwei Tagesmahlzeiten bestehend aus Suppe, Brot und Wein, war das immer noch ausreichend.
Gab es genug nützliche Arbeit in der Wirtschaftskrise? Waren Handwerker für Straßenbau und andere Erdarbeiten besonders geeignet? »Männer im Arbeitskittel spielen Karten unter den Arkaden der Place Royale, die jetzt Place des Vosges heißt. Karten spielen ist eine der Beschäftigungen der Nationalwerkstätten«, notierte Victor Hugo, ein Freund des Volkes. Andere lagen auf dem Champ-de-Mars im Gras und ließen sich von einem Spaßmacher im Staatsauftrag unterhalten. Arbeiter nutzten die öffentliche Hilfe als Druckmittel gegen die Arbeitgeber. »Ein Dauerstreik wird organisiert«, stellte ein Berichterstatter in der Nationalversammlung fest. Von den dreihundert Produktionsgenossenschaften erwiesen sich nur diejenigen als lebensfähig, die auf Staatsaufträge rechnen konnten. Konsequent angewandt bedeutete das »Recht auf Arbeit« die Verstaatlichung der Produktionsmittel. Eine politische Wirkung aber hatten die Nationalwerkstätten: Wo Massen von Arbeitern unter gewählten Führern fast militärisch zusammengefaßt waren, erwarben sie in kurzer Zeit den Sinn für Organisation und Zusammengehörigkeit. Sie wurden sich ihrer Kraft bewußt.
Die Regierung und die Nationalversammung beobachteten diese Entwicklung mit Sorge. Man beriet darüber, Arbeiter, die seit weniger als drei Monaten in Paris lebten, in ihre Heimatgemeinden abzuschieben. Der Auszug von fünfzehntausend deutschen Handwerkern Mitte März, die als »Pariser Deutsche Legion« im Vaterland für die Revolution kämpfen wollten, wurde vom Innenminister finanziell unterstützt. Karl Marx riet von dem Abenteuer ab und machte sich damit unbeliebt. Die Nationalwerkstätten, soviel wurde deutlich, waren keine Dauerlösung. Aber sollte man sie sofort oder nach und nach auflösen? Bei der Sitzung der Nationalversammlung am 15. Juni ließ der Abgeordnete Michel Goudchaux, Bankier und bis vor kurzem Finanzminister, die Katze aus dem Sack: »Die Nationalwerkstätten in Paris und in der Provinz sollen nicht eingeschränkt werden, sie müssen verschwinden!« Die Arbeiter unter 25 Jahren stellte die Regierung einige Tage später vor die Wahl zwischen Militärdienst oder Arbeitseinsatz in der Provinz, konkret: zwischem dem Kolonialkrieg in Algerien oder der Trockenlegung von Sümpfen. Das bedeutete nach den wiederholten Drohungen der Revolutionäre die Kriegserklärung der Regierung an die Arbeiter in Paris.
Der Schriftsteller Maxime Du Camp, ein Freund Flauberts, sah in der Rue Saint-Jacques einen Demonstrationszug von zweitausend Arbeitern und hörte den dumpfen Chor: »Brot oder Blei! Brot oder Blei!« An anderen Stellen klang es ebenso unmißverständlich: »Wir gehen nicht fort!« Der Versuch, die Kader der Nationalwerkstätten vorbeugend festzunehmen, halbherzig angeordnet und habherzig ausgeführt, schlug fehl: die Polizei konnte die Gesuchten nicht so schnell finden. Am frühen Abend des 22. Juni versammelten sich, dem kürzlich erlassenen Gesetz gegen Zusammenrottungen trotzend, achttausend Arbeiter beim Panthéon und zogen von dort zur Place de la Bastille. Angesichts der Gedenksäule der Revolution von 1830 schworen Tausende: »Freiheit oder Tod!« Es gab kein Einlenken mehr. Was nun kam, war keine Revolution, sondern Bürgerkrieg.
Der nächste Tag, ein Freitag, sah den Beginn des Aufstandes. Vierhundert Barrikaden teilten die Stadt deutlicher denn je in zwei Teile: in das Paris der Arbeiter im Osten und das Paris der Bürger im Westen. Die Grenze verlief auf dem linken Ufer entlang der Rue Saint-Jacques bis zum Fluß, über die Île de la Cité und auf dem rechten Ufer mit der Rue Saint-Martin und der Rue du Faubourg Saint-Martin. Vor dieser Frontlinie lagen, Außenforts vergleichbar, ein im Bau befindliches Krankenhaus, Schlachthöfe, Fabriken, Zollgebäude, ein ehemaliges Kloster. Die Faubourgs im Norden und Osten, – Saint-Denis, Saint-Martin, Poissonnière, Temple, Saint-Antoine – die Île de la Cité, sowie mehrere Gemeinden außerhalb des Stadtgebietes – La Chapelle, La Villette, Belleville – gehörten dem Aufstand.
Seit 1830 hatte sich die Technik des Barrikadenbaus vervollkommnet. Beobachtern fiel auf, wie sachkundig kleine Gruppen von Männern zu Werke gingen. Vielleicht wirkten dabei die Erfahrungen beim Bau der Pariser Festungswerke nach. Im Juni 1848 sah Paris die höchsten Barrikaden: Manche reichten bis zum dritten Stockwerk der Nachbarhäuser. Einige Barrikaden hatten Schießscharten und waren stark genug, um Geschützen zu widerstehen. Die Führer des Aufstands verfügten über genaue Kenntnis strategisch wichtiger Stellen. Die angrenzenden Häuser wurden in das Verteidigungssystem einbezogen. Mit Mauerdurchbrüchen verschafften sich die Aufständischen rückwärtige Verbindungen, gesichert gegen Beobachtung und Beschuß. Schmale Durchgänge, die neben den Barrikaden ausgespart wurden, boten Durchlaß. Die Beherrschung eines Stadtviertels ging mit der Kontrolle der Bevölkerung einher.
Die Zahl der Kämpfenden wurde zu Anfang auf 15 000 geschätzt und nahm in den folgenden Tagen zu. Einige Nationalwerkstätten schlossen sich dem Aufstand an, andere warteten ab. Die Bauarbeiter, die Belegschaften der Eisenbahn-Werkstätten und die Metallarbeiter bildeten die Speerspitze, die Schreiner des Faubourg Saint-Antoine, verstärkt durch die Arbeiter von Belleville, das Gros. Steinbrucharbeiter, Lastträger, selbst Lumpensammler hielten sich zusammen, wie sie es am Arbeitsplatz gewohnt waren. Jeder zweite Pariser Arbeiter war Soldat gewesen, manche hatten noch vor kurzem in Algerien Kampferfahrungen gesammelt. Die Nationalgarde in den aufständischen Stadtteilen ging zum Aufstand über, die im Westen gehörte zur »Partei der Ordnung«. Nur wenige Nationalgardisten blieben abseits.
In Sorge vor dem unabwendbaren Bürgerkrieg ernannte die Regierung Mitte Mai den Generalgouverneur von Algerien, General Eugène Cavaignac (1802–1857), einen überzeugten Republikaner, zum Kriegsminister. Am 24. Juni verhängte die Nationalversammlung den Belagerungszustand und übertrug dem General diktatorische Vollmachten. Cavaignac stand das Versagen der Armee im Juli 1830 und im Februar 1848 vor Augen. Das sollte sich nicht wiederholen. Für Cavaignac ging es dabei um die Rettung des Staates, aber auch um die Ehre der Armee. Der Befehlshaber konnte den Aufständischen nur zwanzig- bis dreißigtausend Mann entgegenstellen. Er entschied sich für den Angriff in drei Stoßkeilen, zwei auf dem rechten, einer auf dem linken Ufer. Der schwerste Teil war das Vordringen entlang der Boulevards nach Osten und die Rückgewinnung der nördlichen Vorstädte. Das Viereck zwischen der Place de la Concorde, dem Palais-Bourbon, wo Cavaignac sein Hauptquartier einrichtete, den Invaliden und der Militärschule bildete die Basis der Operationen. Auf keinen Fall durfte die Nationalversammlung, der Sitz der staatlichen Legitimität, in die Hand der Aufständischen fallen.
Auf die Nationalgarde (16 000 Mann) zählte der Befehlshaber nicht. Auch die Zuverlässigkeit der neuen Mobilgarde (15 000 Mann), als Ersatz für die aufgelöste Munizipalgarde zur Unterdrückung von Aufständen geschaffen, ließ sich nicht voraussehen. In beiden Fällen widerlegte der Ernstfall das Mißtrauen des Berufssoldaten. Einheiten der Nationalgarde nahmen die ersten Barrikaden auf dem linken Ufer. Die Familienväter und Bürgersöhne, die ohne große Begeisterung in den Kampf zogen, verteidigten ihren Besitz und die Zukunft ihrer Kinder. Die Angst gab ihnen Mut. Im Unterschied zur Nationalgarde, fielen die »Mobilen«, zum großen Teil Arbeitslose zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren, durch ihre wilde Kampfeslust auf: »Die Schüsse, das Pfeifen der Kugeln scheinen für sie ein neuartiges Spiel zu sein. Der Rauch, der Pulvergeruch erregt sie. Sie laufen zum Angriff, klettern über Steinhaufen, klammern sich mit katzenhafter Gewandtheit an jedem Hindernis fest. Einmal in Bewegung gesetzt, hält sie kein Befehl mehr zurück.« (Daniel Stern) Im Juni 1848 kämpfte Gavroche auf beiden Seiten der Barrikade.
Die Geschichtsbücher sprechen von der »blutigen Niederschlagung« eines Aufstandes. Das ist leicht gesagt. Die Eroberung der halben Hauptstadt mit unzureichenden Kräften war eine schwere Aufgabe, und die Entscheidung des Kampfes blieb lange in der Schwebe. Die Militärs scheuten den Straßenkampf. Sie kannten sich in Algier und Oran besser aus als in Paris. Alle Augenzeugen berichten von der Heftigkeit und Erbitterung der Kämpfe. Die Barrikade in der Rue Poissonnière, zwei Stockwerke hoch, widerstand vier Stunden lang dem Beschuß durch zwei Geschütze und mehreren Angriffen. Rote Fahnen verdrängten auf den Barrikaden die Trikoloren. Agitatoren verbreiteten die Überzeugung, daß es für die Kämpfenden kein Pardon gebe, daß sie siegen oder sterben müßten. Am 25. Juni, dem Fronleichnams-Sonntag, unternahm der Erzbischof von Paris, Denis Affre, mit Einverständnis General Cavaignacs den Versuch, den Faubourg Saint-Antoine zur Kapitulation zu bewegen. Arbeiter und Soldaten zeigten sich von dem Mut des Geistlichen beeindruckt, ein Fanatiker gab den tödlichen Schuß ab. Bei einem ähnlichen Unternehmen wurde ein General an der Barrière d’Italie gefangengenommen und ermordet. Auch mehrere Abgeordnete opferten bei dem Versuch, den Bürgerkrieg zu beenden, ihr Leben.
Am 26. Juni verebbten die Kämpfe. Die Angriffe der Aufständischen gegen das Rathaus waren abgewehrt. Auf der Montagne Sainte-Geneviève mit siebzig Barrikaden bis zur Seine wurde das Panthéon eingenommen, das in Verbindung mit der Juristischen Fakultät und der Bürgermeisterei mehreren Tausend Verteidigern als Zitadelle gedient hatte. Nun ergab sich auch der Faubourg Saint-Antoine, wo mehr als sechzig Barrikaden trotzten. Zuletzt hörte das Schießen im Norden, in La Villette auf. Militärische Verstärkungen, die mit der Bahn von Rouen, Amiens und Pontoise oder zu Fuß aus der näheren Umgebung eintrafen, brachten den Haß der Provinz gegen die unruhige Hauptstadt mit, die das Land ins Chaos stürzte. Auf beiden Seiten wurden in diesem Bürgerkrieg Grausamkeiten begangen. Ganze Regimenter waren an die Bedingungen des Kolonialkrieges gewöhnt. Die jungen Halbzivilisten der Mobilgarde ließen sich ohnehin nur widerwillig von Übergriffen abhalten. Die schlimmsten Beschuldigungen gegen die Aufständischen, von der Presse wochenlang wiederholt, erwiesen sich bei den Kriegsgerichtsverhandlungen meist als Greuelmärchen.
Die Zahl der Todesopfer bleibt im Nebel nationaler Scham. 1600 Tote sollen es auf Seiten der Ordnungskräfte gewesen sein, doppelt so viele bei den Aufständischen. Gehören auch die Verwundeten dazu, die die nächsten Wochen nicht überlebten? Im Krankenhaus Saint-Louis starb jeder fünfzehnte Soldat, aber jeder sechste »Rebell«. Die über zwanzigtausend Gefangenen wurden in Behelfsgefängnissen eingekerkert. Flaubert beschreibt die Unterbringung in der kasemattenartigen Flußterrasse des Tuilerien-Gartens: »Sie waren da, neunhundert Männer, eingepfercht im Schmutz, schwarz von Pulver und geronnenem Blut, von Fieber geschüttelt, vor Wut schreiend. Die Toten ließ man bei den anderen … Wenn die Gefangenen sich einer Fensteröffnung näherten, stachen die wachhabenden Nationalgardisten blindlings mit den Bajonetten nach innen, um sie zu hindern, am Gitter zu rütteln.« (»L’Éducation sentimentale«, 1870) Von den elftausend Angeklagten, die vor das Militärgericht in den Tuilerien kamen, wurden mehr als viertausend nach Algerien deportiert, die meisten anderen freigelassen.
Paris war von einer Armee besetzt wie eine eroberte Stadt. Die Nationalwerkstätten, die politischen Klubs und drei Legionen der Nationalgarde wurden aufgelöst, Häuser nach Waffen durchsucht, Verdächtige festgenommen, Flüchtige denunziert. Die Feier für die Toten der vier schrecklichen Tage fand am 6. Juli 1848 auf der Place de la Concorde statt, vor dem Obelisken von Luxor, nicht auf dem Bastille-Platz am Fuß der Freiheitssäule. Die Abgeordneten waren zugegen, General Cavaignac als Chef der Exekutive, Offiziere der Armee und der Nationalgarde, der Bürgermeister von Paris, dessen Amt zwei Wochen später erlosch. Drei Bischöfe, Abgeordnete in der Nationalversammlung, segneten den Katafalk auf dem schwarzverhängten Wagen: einige Tote stellvertretend für die vielen. Etwas fehlte: das Volk von Paris, das bei den republikanischen Feiern der vergangenen Monate zugegen war. Das Bürgertum, verunsichert aber erleichtert, blieb unter sich. Nur eine kleine Gruppe von Arbeitern war erschienen, ohne Fahnen. Sie verharrten am Rand, ferngehalten durch drei Reihen von Uniformen und Bajonetten. Paris trauerte: getrennt in Sieger und Besiegte.