Vera Ulitz gibt sich die größte Mühe, ihrem Mündel Filipa durch die schwierige Zeit der Gewöhnung an das Wissen zu helfen, das die junge Frau dem Licht verdankt.
Vera unternimmt mit ihr Ausflüge zu anderen Leuten, die mit derselben Erfahrung zurechtkommen müssen, und zu denen, die das auswerten, was dabei gesehen, gehört, gelernt wurde, zu Wissenschaftlerinnen und Medizinern, Technikerinnen und Psychologen, einer kleinen Gemeinschaft.
Vera stellt sich sogar Filipas Mutter vor und sucht deren Vertrauen: »Ich habe Marianne gut gekannt, Ihre Mutter, Frau Scholz. Marianne hat mich Filipa vorgestellt, ich und Herr Jensen hier«, sie meint Bernhard, »gehörten zu so einer kleinen Gruppe, einer Art Hobbyinitiative zum Austausch von Wissen quer durch die Generationen. Marianne war als Musikerin dabei, und Filipa hat jetzt auch dran geschnuppert. Es ist vielleicht eine Chance für sie, den Tod ihrer Oma zu verarbeiten.«
Filipas Mutter, die genug eigene Sorgen hat, willigt ein bisschen fahrig und zerstreut ein, als Vera darum bittet, Filipa auch mal übers Wochenende zu beherbergen oder mit ihr wegzufahren, »Sternwarten, Konzerte, so etwas«.
Das ist ein bisschen gelogen, aber nicht tückisch.
Die Befürchtungen, die Vera vor Filipas Begegnung mit dem Licht wegen der Folgen hatte, die diese Begegnung haben würde, stellen sich als ganz und gar gerechtfertigt heraus.
Es fängt damit an, dass sich Filipa rechts über dem dreimal frisch gepiercten Ohr alle Haare bis zum Schädelkamm abschneidet. Dann rasiert sie die stoppeligen Reste mit Bernhards Rasierapparat weg, der dabei fast kaputtgeht.
Filipa trennt sich von ihrem Freund, dem ersten festen, »der verarscht mich eh nur mit anderen Weibern«.
Sie fängt Affären mit einem Abiturienten und einem jungen Schauspieler am Theater an, gleichzeitig. Als beide Affären kollabieren, versucht sie, Bernhard zu verführen.
Als das nicht gelingt, probiert sie dasselbe bei Vera, die sie ebenfalls zurückweist, noch verwirrter als Bernhard. Ladendiebstähle folgen.
»Immerhin, Geschmack hat sie«, brummt Vera, als sie von Filipas aufgebrachter Mutter am Telefon erfährt, dass zum erbeuteten, von Ladendetektiven aber gleich wieder einkassierten Gut unter anderem eine strahlend weiße Kunstfaserbluse von Elisabetta Franchi im Wert von fast zweihundert Euro, ein Paar siebenhundert Euro teure Lederstiefeletten von Calvin Klein, eine schwarze, sechshundert Euro teure Lacklederbeuteltasche von Max Mara und diverse zwar preisgünstigere, aber stilsicher ausgesuchte Kosmetika sowie Haarprodukte von Maybelline, Arabesque, Yves Saint Laurent und Catrice gehören.
Ähnliche Diebstähle sind erfolgreicher, nach Filipas immer eindrucksvollerer, immer mehr in Richtung Popstar aufgestylter Erscheinung zu urteilen.
Nach der zweiten Überführung im selben Modehaus erfolgt die erste Anzeige. Filipas Mutter ruft entsetzt bei Vera an: »Ich weiß nicht mehr, was ich mit dem Balg machen soll. Ich habe die Zeit und die Kraft nicht. Wenigstens die schulischen Leistungen sind noch … ich meine, ich weiß, dass Sie mit ihr lernen. Ich weiß das, sie erzählt mir das, sie sagt, die guten Noten … aber das Leben ist nicht nur Noten. Glauben Sie mir, ich bin weit davon entfernt, Sie irgendwie verantwortlich zu machen, im Gegenteil, ich weiß ja, wenn sie bei Ihnen ist, erreiche ich sie, und sie kommt dann auch nie nach zehn heim, und es ist alles in Ordnung. Aber selbst Ihr Einfluss reicht offensichtlich nicht so weit, dieses … das Abrutschen aufzuhalten.«
Vera ist klug genug zu wissen, dass der Satz »Ich bin weit davon entfernt, Sie irgendwie verantwortlich zu machen« in Wahrheit bedeutet: »Ich bin weit davon entfernt, auf die Hilfe zu verzichten, die Sie kostenlos leisten.«
Vera spielt mit: »Ich werde mir was überlegen, Frau Scholz. Versprochen. Sie sind nicht allein, Sie können sich auf mich verlassen.«
Kaum ist der zwielichtige Pakt geschlossen, geht es mit Filipa sogar in der Schule schief. Der Anlass ist ein völlig nichtiger, fast lächerlicher: Im Rahmen einer Wiederholungsunterrichtseinheit über Funktionen, deren Nullstellen und Extremwerte, bittet Filipas Mathelehrer, Herr Lifschitz, die Schülerin an die Tafel. Er stellt ihr mündlich eine verständnisprüfende Textaufgabe über eine computergesteuerte Fräsmaschine, die aus einem Kantholz einer bestimmten Breite eine Zierleiste herstellen soll. Der Lehrer diktiert ihr die Funktion für das Profil der Leiste in der Einheit »Zentimeter«. Dann bittet er um die Extremwertbestimmung: »Der Unterschied zwischen der schmalsten und der breitesten Stelle soll höchstens einen Zentimeter betragen. Berechnen Sie, ob diese Bedingung erfüllt ist.«
Filipa hebt die Hand mit der Kreide und schaut auf das Grün vor sich, dann zur Seite, aus dem Fenster. Mit erhobener Hand bleibt sie dreißig Sekunden reglos stehen, bis der Lehrer fragt: »Frau Scholz? Denken Sie nach? Oder wissen Sie nicht genau, was Sie tun sollen? Ich kann das«, sein Tonfall wechselt ins Neckische, »im Augenblick nicht unterscheiden, leider bin ich kein Gedankenleser.« Die Hand mit der Kreide sinkt bis an Filipas Hüfte. Sie schaut den Lehrer an, als wäre er ein hässlicher Fleck auf einer schönen Tapete, und sagt: »Nein, sind Sie nicht. Sie sind kein Gedankenleser. Sie wissen nicht, was ich denke. Sie wissen nicht mal genau, was Sie selber denken. Sie wissen nicht, wie groß die Mathematik ist und wie viele Löcher sie hat und was das für die Welt bedeutet, in der Sie leben. Sie wissen überhaupt so ziemlich gar nichts, und ich frage mich, was ich hier mache, wenn ich mich aufführe, als könnte ich von jemandem, der eigentlich gar nichts weiß, irgendwas lernen.«
Lifschitz ist sprachlos. Filipa legt das Kreidestückchen auf die schmale Ablage vor der Tafel und verlässt unter Johlen und Applaus der Mitschülerinnen und Mitschüler sowie hilflosen Ordnungsrufen des Lehrers das Klassenzimmer und die Schule.
Als ihre Mutter, die nach diesem Vorfall einen Anruf der Rektorin auf dem Handy erhalten hat, Filipa abends deswegen Vorhaltungen macht, sagt sie: »Gib dir keine Mühe, Mama. Ich geh da nicht mehr hin. In ein paar Monaten bin ich volljährig, dann kannst du eh nichts mehr machen. Diese sieben Monate werden anstrengend für dich, wenn du mich zu zwingen versuchst.«
»In Deutschland gibt es Schulpflicht!«, erregt sich die Mutter.
Filipa lächelt: »Schulpflicht vielleicht. Aber keine Abiturpflicht.«
Die Mutter gibt einen teils gekränkten, teils gequälten Laut von sich, dann verlässt sie fluchend den Raum und tut das Einzige, was ihr als Notmaßnahme einfällt: Sie wählt Vera Ulitz’ Nummer und fleht sie ohne falsche Scham an, sie solle »bitte, bitte noch ein ernstes Einzelgespräch mit ihr führen, ich halte mich raus. Ich komm da nicht mehr ran.«
Vera setzt sich ins Auto und holt Filipa zum Essen ab.
Sie fahren zu einem teuren Inder.
Als beide Frauen bestellt haben, sagt Vera: »Ich verstehe, was du da treibst. Vielleicht verstehst du es selber nicht, also sage ich’s dir jetzt: Du weißt, dass wir – Bernhard, ich, die andern – nicht entdeckt werden dürfen. Dass wir die Aufmerksamkeit der Behörden … oder der Medien … nicht vertragen. Und du willst uns in Gefahr bringen, weil du uns die Schuld am Tod deiner Oma gibst. Das ist nicht mal unfair. Wenn es nur um mich und Bernhard und die übrige Gruppe ginge, die dabei war, würde ich sagen: Schlecht für uns, aber du hast ein Recht dazu. Nur, Filipa, du gefährdest unschuldige Menschen auf der ganzen Welt. In China, Afrika, Amerika, überall. Deshalb sag ich’s dir genau ein Mal: Hör auf damit, oder es wird eng für dich. Meine … die Frau, die du nur einmal getroffen hast, bei Joachim, die Frau, die du als Regina kennst … die kann das abstellen, deinen Zirkus. Das wird nicht lustig für dich. Wenn du klaust, weil du Zeug haben willst, frag mich. Ich geb dir Geld.«
Nicht halb so frech wie sonst, aber doch ein bisschen anzüglich, antwortet Filipa: »Bist du reich? Ich dachte, du jobbst im Buchladen.«
Vera lässt sich nicht provozieren: »Die paar Stiefeletten und Lippenstifte … wirklich: Hör auf, uns zu gefährden.«
Filipa lehnt sich zurück, verschränkt die Arme und sagt, nicht allzu laut, weil ihr der Ernst ihrer Lage tatsächlich bewusst ist: »Gefährden. Du tust so, als wäre irgendwer irgendwo jemals in Sicherheit. Diese Leute hier«, sie deutet mit einer Kopfbewegung die völlige Ahnungslosigkeit der Menschen rings im Restaurant an, »die denken, die Welt wäre stabil. Meine Mama denkt das, mein Mathelehrer denkt das, die Kaufhausdetektive denken das. Aber du und ich, wir wissen, es ist anders. Wir wissen, wie unsicher es ist, hier in der Gegend, hier … in Laniakea. Wir wissen, was diese Daten bedeuten … das, was die ESA den Journalisten 2013 vorgestellt hat, diese Aufnahmen vom Planck-Weltraumteleskop, und wir wissen, warum die nicht zum alten Urknallmodell passen. Wir wissen, dass und warum die Konstante, die das … wie war das? Die das Verhältnis zwischen der Elektronenladung, der Lichtgeschwindigkeit, der Zahl Pi, der Planckzahl und einer … kniffligen Eigenschaft des freien Raums bestimmt, nicht so stabil ist, wie sie sein müsste, um …«
Sie hört sofort auf zu reden, als der Kellner mit dem Butterhühnchen und dem duftenden Jasminreis kommt. Er stellt die Mahlzeit auf den Tisch und geht.
Filipa holt Luft und will etwas sagen. Vera schneidet ihr das Wort ab: »Toll, was wir alles wissen. Aber ändert das, was du da weißt, irgendwas daran, dass es wehtut, wenn ich dir eine runterhaue? Dass es scheiße ist, andere aus Bockigkeit in Lebensgefahr zu bringen?«
Das sagt sie ohne Drohung oder Vorwurf. Dann nimmt sie Messer und Gabel und beginnt zu essen, als ob nichts wäre.