10 | Wirtschaft (2017)

Der Besuch im Lincoln’s-Inn-Gebäude in London, wo das London Institute of Space Policy and Law seinen Sitz hat, ist der letzte Versuch, den die Frau, die in wechselnden Verkleidungen seit Jahrzehnten so aussieht, als wäre sie dreißig Jahre alt, in der Absicht unternimmt, ihr Problem, das ein Menschheitsproblem ist, anders als per Pakt mit der Macht anzugehen. Sie hat mit Militär und Kapital mehrerer Kontinente punktuell zusammengearbeitet. Aber das Schicksal des großen Werks möchte sie eigentlich nicht in deren Hände legen. Es ist schon fast zu spät.

Die Frau lässt ihre üblichen Perücken, falschen Brillen, Nasen und Zähne weg. Für das Londoner Gremium hat sie sich entschieden, weil sie dort vergleichsweise offen auftreten kann, denn es sitzt bereits jemand dort, der mehr über ihr Anliegen weiß, als den meisten Menschen guttäte: Andrej Sirilko. Der hat seine Expertise in raumfahrttechnischen Belangen bei

Da er so offen sprach, gingen diejenigen, die über seine Einstellung zu entscheiden hatten, davon aus, dass er ihnen mit der vollen Wahrheit gegenübergetreten war. Auf die Idee, ihn zu fragen, ob er ihnen irgendetwas Wichtiges nicht gesagt hatte, kamen sie nicht.

Sie konnten sich nämlich nicht vorstellen, dass es noch Kommunisten gab.

Sirilko hat die Frau, die nicht nur ohne Masken, sondern auch mit ihrem Geburtsnamen bei den Weltraumpolitikern vorstellig werden will, vorab gewarnt: »Ich weiß, du denkst, die wollen die Weltraumsache politisch regeln. Du irrst dich.

Sie ließ sich nicht abschrecken, sondern erwiderte: »Ich werde ihnen sagen, dass ich als Künstlerin eine europaweite Kulturinitiative mitorganisiere, für die es schon vermögende Sponsoren gibt. Ich werde ihnen sagen, dass wir gern enger mit der Politik und mit Fachinstituten arbeiten würden.«

»Wozu?«, fragte Sirilko.

Sie zuckte mit den Schultern.

Jetzt öffnet er ihr die Tür zum Besprechungsraum, wo sieben Leute in einem viel zu kleinen Zimmer um einen viel zu großen, ovalen, blankpolierten Hellholztisch versammelt sind.

Die Frau findet die Farbe dieser Tischplatte irritierend, sie ist annähernd orange. Vor lauter Starren aufs schäbige Möbelstück entgehen ihr die meisten Namen der Personen, die Andrej Sirilko ihr vorstellt. Sie vertraut ganz ihrem Instinkt. Wichtig, nimmt sie an, sind hier nur die beiden, die als Einzige keine Notizblöcke, Smartphones oder Pads vor sich liegen haben. Sie erwarten offenbar von sich, dass sie alles, was hier anliegt, im Kopf bewältigen können, und gehen ansonsten davon aus, dass die Rangniederen, die mit ihnen hier sitzen, sie schon an Details erinnern werden.

Die beiden Wichtigen sind ein Wirtschaftsfachmann (»our resident economist«) namens De Boer und ein Mann, von dem Sirilko nicht sagt, womit er sich auskennt und was er hier tut. Die Besucherin erfährt nur den Namen: Sa’id Mosteshar.

Zur Einstimmung sagt die Künstlerin: »Wir – ich meine damit die zukunftskulturpolitische Initiative, für die ich arbeite –, wir sehen die Notwendigkeit für neue, positive Ziele, für Projekte über den Tageshorizont hinaus, wie sie im Kalten Krieg noch üblich waren. Seither stagniert ja alles unter Sachzwängen. Politik sagt nirgends mehr ›wir wollen‹, immer nur noch

Sie schaut in die Runde, um ihr Statement sacken zu lassen.

Nur einer erwidert den Blick, De Boer. Dann spricht er – ein warmer, beruhigender Bass: »Der Horizont der meisten Menschen scheint beschränkt. Ich will Ihnen da gar nicht widersprechen, Frau Späth. Als Künstlerin haben sie ein besonderes Verhältnis zur … sagen wir, zur sonstigen Bevölkerung. Das ist alles potentielles Publikum für Sie. Und so soll es ja auch sein.« Er lächelt, aber seine Augen lächeln nicht mit. Der Mann fährt fort, und sie hat Mühe, dabei den Kontakt zu diesen

Spricht er das Wort tatsächlich mit einem Unterton von Verachtung aus, oder kommt ihr das nur so vor? Etwa fünfzig Jahre alt, mit Stirnglatze und hartem, schmalem Mund: Ist dieser Mann gefährlich? »So muss ich Ihnen sagen, dass ich persönlich Ihre Umfrageergebnisse gar nicht so besorgniserregend finde, sondern eher beruhigend. Die mangelnde Bereitschaft, den Blick auf Planeten und Sterne zu richten, ist für mich Ausdruck hochentwickelter ökonomischer Vernunft, gut ausgebildeten Verantwortungsgefühls, wenn Sie so wollen. Sie haben uns ein paar beeindruckende Zahlen genannt. Ich will Ihnen ein paar andere Zahlen nennen: Wissen Sie, was es kostet, ein Kilogramm Material zu transportieren – sagen wir, von Kontinent zu Kontinent, zum Beispiel über den Pazifik? Wenn Sie’s mit dem Flugzeug machen, kostet es … na, nehmen wir die Standardwährung, ich weiß nicht, wie lange sie’s noch sein wird, bei den gegebenen Unsicherheiten, aber: vier Dollar. Wenn Sie es mit einem Containerschiff machen, kostet es 16 Cent. So, und was kostet es, dasselbe Kilogramm – sagen wir: einen Teil vom Körpergewicht eines Astronauten oder technische Ausrüstung oder Nahrungsmittel – in die niedrige Umlaufbahn zu bringen, von der Sie geredet haben, als wäre das ein enttäuschender Katzensprung, verglichen mit dem, was wir beim Raumschiff Enterprise im Fernsehen sehen? Sechshundert Kilometer Entfernung von uns hier, vom sicheren Grund und Boden – nun, ein Kilogramm da hochzubringen, das kostet viertausend Dollar. Tausendmal so viel wie ein Flug über den Pazifik. Wenn sie eine Fähre nehmen, Spaceshuttle, statt einer Rakete, wird es noch teurer: zehntausend Dollar. Lohnt sich das? Es geht hier sowohl um öffentliches wie um

Frau Späth unterbricht ihn: »Mag sein, aber es ist extrem kurzsichtig, insofern man bei Belangen der Produktivkraftentwicklung ja eben nicht vorab Profitrechnungen aufstellen kann – als die Leute sich vor mehr als hundert Jahren mit Schwarzkörperstrahlung und der Ultraviolettkatastrophe befassten, war das esoterisches Zeug, in Ihrem Sinne Geldverschwendung. Aber es wurde die Quantenmechanik daraus, und alles hier, die Elektronik, dieses iPad da, dieses Smartphone, die Computer, mit denen wir alle täglich arbeiten, kam dabei rum, eben weil sie nicht an Geld, an Tauschwert dachten, sondern an den Gebrauchswert der Ressource Wissen – ich kann nie vorhersagen, was ich herausfinden werde, wenn eine Leitidee mich tiefer ins Wissen lockt, und die Idee: Wir wollen die Natur in ihrem kleinsten Wirkungsradius verstehen, im Quantenbereich, hat das ganze menschliche gesellschaftliche Leben verändert. Warum soll also nicht die Idee der Besiedlung des Weltraums …« Sa’id Mosteshar räuspert sich, die Blicke wenden sich ihm zu.

Er sagt: »Sehen Sie, Frau Späth, das ist nun wirklich ein überholtes Vokabular – Besiedlung? Kolonialismus. Das ist klassisch westlich-nördlich-eurozentrisches Denken. Wir hier im Institut haben andere Leitideen – Vorstellungen, wie sie den Outer Space Treaty von 1967 getragen haben. Sie wollen das All besiedeln, Sie wollen das Leben in die Leere bringen – aber das ist eine sehr begrenzte, sehr enge Vorstellung von ›Leben‹, nicht? Es ist unrealistisch, dass wir Leben erkennen würden, wenn es sich im All vielleicht längst etabliert hat, denn es nähme wohl ganz andere Gestalten an, es hätte ganz andere Funktionsweisen als das uns bekannte. Der Glaube, das All wäre etwas, das man den Menschen öffnen sollte, ist naiv. Wenn man bedenkt, wie wir die Umwelt hier auf der Erde heruntergewirtschaftet haben, wenn man bedenkt, wie schlecht wir

»Aber wenn wir die Technik entwickeln, die nötig ist, den Mars bewohnbar zu machen«, wendet Frau Späth ein, »dann wissen wir, was zu tun ist. Dann brauchen wir keine Angst mehr davor zu haben, dass es uns misslingen könnte, die Erde wieder bewohnbar zu machen. Man kann nur das wollen, was stromabwärts liegt. Ich sage …«

Mosteshar schüttelt den Kopf, seine Miene verbirgt anders als die von De Boer nicht, was er denkt – er ist unzufrieden mit dem Gesprächsverlauf: »Nein, wir müssen lernen, uns einzuschränken, und wir müssen Sorge tragen, dass wir nicht alles noch schlimmer machen. Der Vertrag von 67 verbietet alle Aktivitäten, welche die schädliche Kontamination des Alls bewirken könnten, wir sollten andere Planeten nicht mit unseren Bakterien verseuchen, und was das Kolonisieren angeht, so sollte kein Staat durch Besetzung, Souveränitätsbehauptung oder Ähnliches sich irgendetwas anzueignen versuchen, was da draußen ist. Wir wissen buchstäblich so gut wie nichts darüber, was in der angeblichen Leere los ist, von der Sie reden, insbesondere jenseits des Sonnensystems.«

Der Mann hat sich jetzt in Rage geredet und fährt in diesem Ton fort, ab und zu ergänzt und flankiert von De Boer, der passende Ernüchterungsstatistiken einwirft. Frau Späth wechselt einen verstohlenen Blick mit Andrej Sirilko, der ihm sagt: Auf diesen Zweifrontenkrieg war ich nicht vorbereitet. Seine mimische Erwiderung ist leicht zu verstehen: Ich habe dich gewarnt. Sie senkt den Kopf, lässt es über sich ergehen, widerspricht nicht mehr oft.

»Wir wollen Sie gar nicht von Ihrem Elan abbringen«, meldet sich eine überschminkte Frau mit blutunterlaufenen Augen schließlich zu Wort. Cordula Späth kann sich beim besten Willen nicht erinnern, wie sie heißt – Miller, Mitchell, irgend

Und so weiter.

 

»Das Schlimmste«, sagt Cordula Späth sechs Stunden später, nach einem ausgiebigen Schaumbad im Hotel und in einen sehr flauschigen weißen Bademantel gewickelt, lang ausgestreckt auf ihrem Riesendoppelbett, in den Telefonhörer, im Gespräch mit einem uralten amerikanischen Gelehrten, der ihr im Laufe einer jahrzehntelangen Freundschaft viel beigebracht hat, »ist ja, dass sie diesen Mist wirklich für irgendwie politisch halten, für Dienst an der Allgemeinheit, kritisches Denken und alles.«

Da lacht der Freund, ein überzeugter Antikommunist und dennoch, aus übergeordneten Erwägungen, standfester Bündnispartner von Kommunisten wie Sirilko.

Cordula Späth schimpft: »Fuck, echt. Als ob es nicht immer dasselbe wäre mit diesem Gesocks, der Zangenangriff, die Geldgläubigen von der Volks- und Betriebswirtschaftlerfront kommen von rechts und wollen die schöne Anarchie der Produktion und des planlosen Wachstums bewahren, und von links kommen die ewigen Achtundsechziger und wollen die Landschaft auf dem Mars schützen und das Geld lieber in soziale Beratungsbüros stecken, wo dann solche wie sie sitzen und …«

»Aber war es nicht der Ökonom, der mehr Schulen bauen wollte?«, stichelt der Amerikaner. Cordula ignoriert ihn: »Als die Schnepfe dann mit ihrem Gewäsch anfing, kritisch, ich meine, das sind die schlimmsten Mitläufer, aber dabei immer so eingebildet, als hätten sie persönlich die Vermiesung und Verhässlichung des Lebens erfunden, die sie kritisch nennen. Dabei redet so jede und jeder mit höherem Schulabschluss, so kritisch, das halten sie dann für aufgeklärt und realistisch, dabei ist dieser quietistische und defätistische Scheiß, der immer

Ihr fällt ein Dichterwort ein, das sie dem Amerikaner, der sehr gut deutsch versteht, nicht vorenthalten will: »Jede Negation hat eine Aura von Langeweile. Dummköpfe, leider, fühlen genau andersherum.«

Der Amerikaner lacht leise und sagt dann: »Du darfst sie nicht zu sehr schelten dafür, dass du jetzt keine Optionen mehr hast. Du musst jetzt mit den deutschen Waffenbauern, den europäischen Militärs und den Chinesen arbeiten, deine Kooperation ist eh …«

»Die Teile stehen bereit«, sagt sie gereizt. »Aiguo Sun hat in der Wüste alles vorbereitet. Ich dachte nur, ich kann noch irgendwie gewählte Leute ins Boot holen, statt nur mit diesem Geheimkäse zu arbeiten. Jetzt muss ich das Ding vorantreiben, weil sonst doch noch die guten alten USA das Rennen machen und dem großen Schiff hinterherjagen, bevor wir … ich hoffe wirklich, du wirst abgehört und verhaftet, du alter Sack.«

»Sichere Verbindung. Encrypted, tut mir leid. Viel Glück mit den Chinesen und der Bundeswehr und dieser wahnsinnigen Koalition, die du da geschmiedet hast, Frau Oktopus. Und was die armen Figuren an dem Institut angeht, wo du heute warst … sieh es so: Das ist eben die Affenpolitik hier auf der Erde, die wird’s immer geben, mit ihren Gesetzen und Verträgen und Polizisten und Steuereintreibern. Die haben Angst vor dem Draußen, weil sie da nichts zu melden haben. Sie halten die Tür zu.«

»Ebendeshalb müssen wir raus, nicht?«, sagt sie.

Da unterbricht Sirenenlärm von draußen das Gespräch.

Drei religiös Verblendete haben wenige hundert Meter weit