Samulin nimmt die Brille ab, um die E-Mail zu lesen.
Er weiß, dass er sich nur einen größeren Bildschirm kaufen müsste oder die Buchstaben größer ziehen, dann könnte er sich weiter wegsetzen und von dort aus mit der Brille lesen, was da steht. Aber er hat sich daran gewöhnt, die Schirmlektüre, wie jahrzehntelang die von Büchern, Zeitschriften, Zeitungen, mit unbewaffneten Augen zu vollziehen, und war seit langem nicht beim Augenarzt.
Na, alter Dachs?
Zufällig kann ich Gedanken lesen und weiß daher, dass Du immer noch schwere Bedenken hast wegen der Entscheidung, unser Schicksal den Chinesen und der Wehrmacht anzuvertrauen. Ich habe diese Bedenken lange geteilt, aber mir dann einen Stoß gegeben. Die Partei hat sich auf uns zurückgezogen, jetzt haben wir halt immer recht. Und siehe da: Der Weltgeist macht mit und spielt mir Dokumente zu. Mehrere. Lies sie.
Das erste ist ein Buch von Kerry Brown und Simone Van Nieuwenhuizen namens China and the New Maoists, zu haben in London bei Zed Books, bestell schön.
Das zweite Privatissimum fand ich bei einem Genossen, der manchmal spinnt und manchmal nicht. Er heißt Domenico Losurdo, hat wohlerzogene Ansichten zu Stalin (jedenfalls lässt er die sehen, und ich vermute fast, im Ungedruckten hat er noch bessere) und meint zu China, es sei eben eine Riesen-NÖP, was die da machen. Für ein Ulbricht’sches Neues Ökonomisches System hält er Dengs alte Politik, die da munter weitergeht, zwar direkt nicht, aber doch für was in der Richtung. Ein Kasperphilosoph hat irgendwo geschrieben, die Volksrepublik sei Heimstatt eines »autoritären Kapitalismus«, und das erinnert jetzt den belesenen Losurdo daran, dass westliche Marxismen notorisch die für den östlichen Marxismus gegebene Notwendigkeit übersehen, erst mal aufzuholen – dass Onkel Ho und eben auch unser lieber Deng im Westen Technik lernen wollten und Naturwissenschaften, dass aber ein Teil Deiner Leute, etwa Bucharin, schon ganz verwestlicht, am Ersten Weltkrieg die Maschinerie beanstandete und dabei bereits klang wie ein halber Horkheimer, o böse Apparate usw. – da schreibt nun der Italiener, man solle sich doch von Deng sagen lassen, es könne »keinen Kommunismus mit Armut oder Sozialismus mit Armut geben«, echtes Deng-Zitat offenbar –, und der ganze händeringende Kram vom autoritären Kapitalismus ist laut Losurdo »höchst problematisch, ja abwegig. Gewiss, dass es in China kapitalistische Verhältnisse und kapitalistische Unternehmer gibt, ist augenfällig – aber vertreten Letztere auch eine Klasse und eine Klasse ›für sich‹? Und vor allem: Ist diese vermeintliche Klasse und Klasse für sich an der politischen Macht? Es wäre verwegen, diese Fragen und insbesondere die letzte zu bejahen.« Gut gebrüllt, Peppone.
Mein drittes und letztes Praliné zum Nachdenken: Ein 1964 geborener Marxologe, der in China lebt und denkt und schreibt und publiziert – ja, das gibt’s – und den ich aber schmachvollerweise nur auf Englisch lesen kann, sein Name ist Xu Changfu, sagt uns in einem soeben bei einem Parodos-Verlag zu Berlin wie gesagt auf Englisch erschienenen Buche namens Marxism, China, and Globalization dieses: »It is not difficult for us to see, with the help of Marxism, that history has not ended yet, since the globalization of labor will at least take another two hundred years, when the world will certainly not be in its present state dominated by some superpower. Other theories do not give us such a prospect. As for the labor-countries involved in the onrush of the globalization of capital, the globalization of labor not only is a way to interact factually with the globalization of capital, but may also be employed as a claim to the rights of labor matching the rights and powers of capital in international relations, i.e. labor ought to have the equivalent freedom in the course of globalization.«
Spitzbube!
Die ungleichzeitige Entwicklung der Regionen nicht nur, wie bei Lenin, als eine Rahmenbedingung des Weltklassenkampfs, sondern als dessen zusammengefasster Gesamtprozess, als seine entscheidende Front – nicht schlecht. Ein großer Staat mit einer langen Geschichte kann offenbar weiter gucken als Deine Kleingläubigen damals in Moskau und meine hutzeligen Männlein in Berlin. Es ist fast, als schaute der Onkel aus dem Weltraum drauf aus einer Zeit in fünfhundert Jahren. Macht Dir das nicht Mut? Na, dann eben nicht.
Immer vorn,
CS
Samulin denkt beschwingt und beglückt: Ist gut, hab’s verstanden.