Mehrere Monate lang sieht es danach aus, als wollten sich der seelische Zustand und das Sozialverhalten von Veras siebzehnjährigem Mündel Filipa tatsächlich bessern. Filipa klaut nicht mehr (zumindest, denkt Vera, lässt sie sich nicht mehr erwischen). Sie geht wieder regelmäßig zur Schule, entschuldigt sich in aller Form bei ihrem Mathelehrer Lifschitz (zumindest, denkt Vera, in aller jugendlichen Form: »Ich war komplett durch den Wind wegen meiner Oma, es tut mir leid, und ich reiß mich jetzt zusammen«), hält sich häufiger als zuvor bei Vera statt daheim auf, übernachtet auch hin und wieder bei ihrer Beschützerin, was Filipas Mutter aus den verschiedensten Gründen gar nicht unlieb ist.
Vera und Bernhard geben der jungen Frau Geld, anfangs auf Bitten, später als eine Art monatlicher Unterstützung, sehr viel für ihr Alter, zwischen vier- und fünfhundert Euro, aber, wie Vera sagt, »erstens hören dann die Diebstähle auf oder besser, sie haben schon aufgehört, zweitens machst du mit dem Geld was aus dir – die neuen, längeren Haare sehen sehr gut aus, und ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemandem auf der Welt diese Velourslederstiefelchen oder der blaue Kaschmir-Baumwollmantel besser stehen, abgesehen von Kid Korona vielleicht. Drittens kaufst du dir ja auch, na, ein besseres Tablet und Bücher und all das. Wahrscheinlich baust du eine Zeitmaschine, und wir gucken am Ende alle blöd.«
Der Witz mit der Zeitmaschine soll andeuten, das Vera durchaus bemerkt hat, dass die Sache rechnerisch nicht ganz aufgeht: Die Beträge, die sie und Bernhard Filipa zustecken, sind um ein Drittel bis sogar die Hälfte höher als das kostet, was Vera so an Neuerwerbungen mitbekommt, Filipa kauft also noch irgendetwas, das Vera nicht sieht. Weil sie aber weiß, wie schnell sie das Vertrauen der jungen Frau verlieren kann, bohrt sie nicht nach.
»Vielleicht spart sie ja sogar auf irgendwas. Ich trau ihr das zu«, sagt sie zu Bernhard, dem die Differenz zwischen seinen und Veras Geldgeschenken und dem gebremsten Luxus, in dem Filipa lebt, auch aufgefallen ist.
»Und wir haben sie«, sagt Vera, »ja gebeten, sie soll intelligent und vorsichtig mit dem Geld umgehen, damit es nicht irgendwann heißt, wo hat sie das her. Die Chefin hat uns denselben Rat gegeben: Kauft nicht auf einmal zu viel, zahlt immer bar … und so weiter.«
Die kleine Rechtfertigungsrede verdeckt eine Menge Neugier; Vera wüsste schon gern, was in dem Kopf vorgeht, der Aufzeichnungen anfertigt wie die, die sie eines Tages in drei großen Notizbüchern in Filipas Zimmer findet, beim Durchblättern, von dem sie weiß, dass es eine Verletzung der Privatsphäre des Mündels darstellt.
Vera sieht keinen Grund, sich selbst zu verheimlichen, dass sie gern wüsste, wo sich die inzwischen fast Volljährige an den Abenden, insbesondere freitags und samstags, eigentlich aufhält, an denen sie immer öfter länger als bis zehn Uhr abends, manchmal bis drei, vier Uhr nachts wegbleibt. Vera stellt sich dann schlafend, wacht aber noch, wie die Mutter, die sie nie sein wollte. Sie gesteht sich ein, dass sie heimlich erwartet hat, in den Aufzeichnungen, die sie mit schlechtem Gewissen liest, Hinweise darauf zu finden, was es mit diesen langen Nächten auf sich hat. Stattdessen steht da, wie Vera bald Bernhard verblüfft, irritiert und amüsiert am Telefon erzählt, »nur Wissenschaft drin. Wahrscheinlich geht sie in Abendvorlesungen statt … zu feiern, mit ihren Mitschülerinnen oder irgendwelchen Jungs, ich hab ja nur mal zwei, drei Gleichaltrige mit ihr erlebt, beim Eisessen und beim Abholen an der Schule und so, aber das waren eigentlich nicht so recht Partyleute. Und in diesen Büchlein … cutting edge science, wie Kid Korona sagen würde …«
»Was denn für science?«, will Bernhard wissen. Vera schämt sich ihrer Grenzen nicht: »Du, Gleichungen und ähm chemische Strukturformeln, Sachen, die ich gar nicht kenne. Müsste mich da reinarbeiten und mir das drauf schaffen. Also nichts rein Mathematisches, eher Angewandtes. Symmetriezeug wegen Übergangsmetallen, dann viel Materialwissenschaft, Tungstenröhrchen, Galliumzeug, Rhodiumschwämme, Supraleiter, Photovoltaik …«
»Wow. Der Verein sollte sich mehr um sie bemühen.«
Auf Veras Veranlassung geschieht das. Filipa nimmt nun an Gruppengesprächen und Aktivitäten der vom Licht Gelesenen teil, lernt neue Leute kennen, Chemiker, Ärztinnen, Informatiker, die ihr, abgesehen von der seelischen Bewältigung des Erlebten, auch beim Lernen helfen.
»Ich konzentrier mich auf Zukunft«, sagt Filipa eines Abends beim Netflixgucken zu Vera. »Also, meine persönliche, und dann auch … überhaupt. Wir könnten den Menschen, ich meine, allen Menschen, ja helfen, mit dem, was wir wissen.«
Vera fragt: »Und deine … persönliche Zukunft, wie sieht’s da aus? Die wilde Zeit scheint vorbei zu sein, oder?« Es ist ihr unangenehm, davon zu reden, aber Filipa scheint’s nichts auszumachen: »Vera, ich bin dir dankbar, dass du mir genug vertraut hast … dass ich das alles ausprobieren konnte, die … Geschichten mit Matthias und Dirk und auch mit Gesine …«
Vera verschluckt ein überraschtes Geräusch, von einer Gesine weiß sie nichts. Filipa fährt fort: »Und jetzt hat sich das alles so eingespielt … na, ich sag dir bald mehr, aber es gibt … es gibt eine neue Lovestory, und die ist wahrscheinlich für länger. Also, so richtig«, sagt sie, hörbar nicht ohne Stolz. Vera belässt es dabei.
Ihre Abiturprüfungen besteht Filipa glänzend.
Der Mathematiklehrer Lifschitz ist versöhnt und begeistert: »Das ist auf Universitätsniveau, das hebt den PISA-Schnitt für Deutschland im Alleingang.«
Die Zeugnisse gibt es genau eine Woche vor Filipas achtzehntem Geburtstag, den Vera mit ihr, Bernhard und einigen anderen der Lichtleute, die Filipa kennt, feiern will, mit einem Abend »unter uns, vielleicht auf irgendeinem Anwesen von jemandem von uns, der so was hat, ein Anwesen. Eine Villa. Ein Millionär, den die Chefin kennt, oder so was.«
Zwei Tage vor dem Fest haut Filipa ab. Sie legt ihre beiden »offiziellen« Handys – das, dessen Nummer ihre Mutter hat, und das andere, sichere, dessen Nummer nur Vera und die Leute vom Licht kennen – auf ihr Bett, dazu einen Zettel:
»Sucht mich nicht. Ich werde mich melden. Sorry und Danke, F.«
Sie nimmt nichts mit außer dem Geldbeutel mit den zwei falschen Ausweisen, in denen sie anders heißt und neunzehn beziehungsweise zwanzig Jahre alt ist. Filipa fährt in ihrer Lieblingskleidung – der Samtcordhose, dem Wollmixmantel, dem Doubleface-Cape aus Schurwolle – von Veras Wohnung erst zu Bernhard, wo heute ein Treffen ist, an dem sie nicht teilnehmen wollte, wie alle wissen, die da sind und im Moment Bernhard in der Küche beim Kochen helfen.
Filipa bittet Vera kurz auf den Flur und sagt: »Ich geh heut erst privat feiern, auch mal wieder übernachten. Du traust mir?«
Vera lächelt: »Hausaufgaben gemacht?«
Filipa nickt, es ist ein Witz zwischen ihnen beiden, das sagt Vera immer, wenn Filipa auswärts übernachtet. Filipa sagt: »Hausaufgaben, aufgeräumt und alles.«
»Aber betrink dich nicht so doll, damit du übermorgen noch mit uns feiern kannst, okay?«, sagt Vera und kommt sich dabei albern vor, wegen der eifersüchtigen Sentimentalität: Das richtige Fest bitte mit mir, liebes Mündel.
Filipa sagt: »Klar, es ist ja nur …«
»Die geheime neue Lovestory …«, flüstert Vera verschwörerisch, und sie umarmen einander. Dann huscht die Jüngere zur Tür raus. Sie ist ein bisschen traurig dabei, denn sie will Vera eigentlich nicht hinters Licht führen.
Im Taxi überlegt sie sich, dass ihre Tarnbehauptung nicht mal ganz gelogen ist: Es gibt eine Lovestory, aber es geht dabei um »The Greatest Love of All«, wie Whitney Houston gerade aus dem Radio singt.
Filipa sieht die Sache so: Die Männer, unter anderem der gerade erst erwachsene Junge, zu dem sie jetzt fährt, sind meine Helfer bei dieser großen Lovestory. Ich glaube nicht mehr, dass Vera und die andern Schuld haben an Mariannes Tod, jedenfalls nicht in dem Sinn, dass da irgendwas Böses dahintersteckt. Sie waren nur unvorsichtig. Ich traue niemandem mehr, nicht mal dem Licht. Ich kann nur mir trauen. Ich muss meinen eigenen Haushalt führen.
The greatest love of all
Is easy to achieve
Learning to love yourself
It is the greatest love of all
Das Wort »Haushalt«, das Filipa denkt, hat sie aus ihren Studien. Sie meint damit das, was bei Fließgleichgewichten, Nichtgleichgewichtsphasenübergängen, bei negentropischen Prozessen, beim biologischen Stoffwechsel »Energiehaushalt« genannt wird. Sie meint ihre Leidenschaften, ihre Unruhe, sie meint das, was sie dazu gebracht hat, weitaus riskantere Experimente anzustellen als ein bisschen Frauenliebe.
Von der hat sie Vera erzählt, um der älteren Freundin wenigstens ein bisschen was Wildes zu verraten, das weitergehenden Verdacht zerstreut. Das hat geklappt.
Filipa gesteht sich jetzt ein, dass der größte Reiz bei all den Risiken, den Drogen, den sexuellen Abenteuern, den Wahnsinnspartys, vielleicht die Gefahr war, doch noch von Vera erwischt zu werden. Echte Triumphe: völlig breit vor ihr zu stehen, nach so einer Nacht, und sich so gut beherrschen zu können, dass die naive Exmathematikerin nichts merkt, nicht mal die veränderten Pupillen.
Ich wollte rebellieren, mich ausprobieren und an Grenzen gehen, aber der Radau kurz nach dem Licht war der falsche Weg. Das Abenteuer ist viel größer, wenn ich es schaffe, meine Siege vor denen zu verbergen, die denken, sie kennen mich.
Filipa schaut ins Spiegelfenster und überlegt: Die falschen Ausweise brauche ich wahrscheinlich gar nicht, niemand, der mich so gestylt sieht, hält mich für jünger als zwanzig.
Der Brief, mit dem sie sich von ihrer Mutter verabschiedet, ist unterwegs.
Bei Vera wird sie sich melden, sobald sie eine erste Spur hat auf ihrer Suche nach dem Großvater, in England – ihr Flug geht in neunzehn Stunden.
Sie hat vor, bis dahin zu feiern, ein paar Stunden im Hotel zu schlafen, vor dem der Wagen gerade hält, und dann aufzubrechen. Dass ihr Körper die Exzesse gut vertragen wird, die sie plant, weiß sie aus Vorversuchen der letzten Monate.
Dirk, Frank, Sven, Laurent und Peter stehen nicht im Foyer wie abgemacht, sondern in ihren lustigen Anzügen von der Stange auf dem Teppich vorm Hotel. Sie winken Filipa, als sie aussteigt. Dann kommt Dirk, der sie am besten kennt, auf sie zugelaufen: »Du, ich war mir nicht mehr sicher, wann kommt jetzt diese Limousine, gleich oder erst später?«
»Um null Uhr«, sagt Filipa und verdreht die Augen, das soll sagen: Seid doch nicht so ungeduldig, wir haben noch vier Stunden.
»Ist nur so«, sagt er entschuldigend, während das Taxi wegfährt, »die Jungs sind alle schon ganz fickrig.« Filipa hebt wegen der Wortwahl missbilligend-ironisch die rechte Augenbraue und sagt: »Euch ist schon klar, dass das kein Puff ist, wo ich euch hinbringe?«
Er zuckt mit den Schultern, lächelt und sagt: »Öhm, sorry, ist nicht so gemeint, aber sie freuen sich halt.« Mit zwei der Jungs, Laurent und Dirk, hatte Filipa Affären. Die anderen sind ihre Kumpels. Alle sind volljährig, bis auf Filipa, aber dass die’s erst übermorgen wird, weiß nur Dirk, dessen älterer Bruder Alfi, der mit knapp neunundzwanzig Jahren schon zweimal im Knast gesessen ist, Filipa gegen viel Geld und kleinere sexuelle Gefälligkeiten die Ausweise beschafft hat.
Den Abend sieht Filipa als von ihr organisierte Zusatzabifeier. Sie kennt den Stripclub, wo die Sache steigen soll, weil eine ihrer Internetbekanntschaften, ein Banker aus Basel, der seit drei Monaten nicht mehr hier in der Stadt wohnt, sie dahin mal mitgenommen hat, vor einem halben Jahr, um mit ihr, die er für eine Prostituierte hielt, vor dreien seiner Kollegen anzugeben. Filipa hat alles geordnet, was nun kommen soll, unter falschem Namen, mit falschem E-Mail-Account, aber echtem Geld: Das »VIP Gold Paket« beim Table-Dance-Laden ist gedacht für maximal acht Personen, es umfasst den Eintritt mit Tischreservierung, acht »Welcome Drinks«, acht »Dollar« für die Bühnenperformer, eine Bühnenshow für eine Person aus der Gruppe – das soll Dirks Geschenk sein, in Erinnerung an die kurze, aber schöne Affäre der beiden –, ein Liter Smirnoff Wodka Red mit Mischgetränken und die Stretchlimousinenabholung im Stadtgebiet, das Ganze für 310 Euro.
»Lass uns mal gemütlich vorglühen«, sagt Filipa nach dem großen Hallo.
»Superidee!«, sagt Sven, und was er meint, ist: zu Befehl. Filipas Plan führt die Gruppe zunächst in ein australisches Steakhaus, wo Filipa das erste Mal Känguru isst (ein bisschen zäh, trotz oder wegen »medium«) und schon mal drei Mandarinenschnäpse trinkt, dann in eine Bonzenbar, wo sie ein Kirschwasser bestellt, das der eilfertige Barmann allerdings erst »hinten holen« muss, weshalb er »während Sie warten, aufs Haus«, Filipa einen Himbeergeist einschenkt. Nachdem das Kirschwasser da ist, bringt es den Gesamtstand auf fünf Schnäpse in Filipas Blut, so dass sie sich zügelt, die ebenfalls zum Teil schon markant angetrunkenen Jungs noch kurz in einen Park führt, dort mit Dirk und Frank in Gras und Gebüsch rumalbert, dezent handgreiflich, nichts Derbes, und dann ein Signal von ihrem dritten Handy bekommt, dass es an der Zeit ist, zum Hotel zurückzugehen.
Der Weg ist ihr ein Fallen, aber die Jungs merken es nicht, denn Filipa hat im Licht gelernt, wie sie ihren Körper steuern kann, selbst dann, wenn große Teile des Hirns damit befasst sind, sich mit einem Gift zu unterhalten, zum Beispiel Alkohol. Sie kippt nicht, wankt nicht, geht nicht zu Boden und denkt: Das ist Himmelsmechanik, so geht eine Umlaufbahn, ein Sturz an der Schwerkraftmulde vorbei.
Die weiße Limousine trifft zwei Minuten nach der Gruppe ein. Der Fahrer lässt sich von Filipa erklären, dass er den weiteren Weg nehmen soll, den weitestmöglichen, sie will gefahren werden. Miley Cyrus stimmt ihr zu, sehr laut, im Auto, in dem viel Platz ist, ein Halbdunkel, durchschossen von Eis – das ist die kristalline Bar –, von Magenta, von Neonblau, von Lichtern der Stadt durch das eine runtergelassene und die vier getönten Fenster, ja, Filipa will fahren, genau wie Miley:
I wanna fly I wanna drive I wanna go
I wanna be a part of something I don’t know
Jetzt klettert Filipa auf Dirks Schoß.
Sein Mund schmeckt gut, und seine Hand auf ihrem Bauch unterm Pulli ist kühl und lustig. Aber dann rutscht Filipa, die Beine angewinkelt, über Sven und Laurent zu Peter, hockt danach jedoch nicht auf dem, sondern gräbt sich neben ihm unter ihm auf den Kunstledersitz, bis Peter über ihr staunt und lacht, dann schmeckt auch sein Mund gut, und gleichzeitig spürt Filipa, wie sie jetzt den ganzen Schnaps schon besiegt hat, wie sie immer klarer wird bei ihren Spielen. Schon hält das Auto. Alle steigen aus. Filipa geht voran auf dem langen Teppich, zur Security. Von denen holt einer die Frau, die Filipas Gruppe betreuen wird, eine kompakte, nicht aber dicke Dame von Ende vierzig, die alles noch mal erklärt – Filipa tauft sie bei sich sofort »die Erklärbärin« –, »nicht anfassen, außer ihr werdet eingeladen dazu, keine Fotos, kein Filmen«, und als sie zum Thema Wodka kommt, sagt Filipa plötzlich: »Nee, also Wodka, dieses Kartoffelwasser da, das ist ja ganz sinnlos, das will ich nicht«, während sie, die Jungs brav hinterdrein, schon die Treppe runtergeht, wo es blitzt in mehr Farben denn je, wo Musik läuft, die älter ist als Filipa – im Moment »Walk this Way« von Run DMC mit Aerosmith, und Dirk sagt laut hinter Filipa: »Wenn das die Queen nicht trinkt, trinken wir das auch nicht.«
Allgemeine, johlende Zustimmung, Filipa gefällt das, die Queen, passt.
Die Frau sagt: »Es gibt auch Alternativen. Gin vielleicht?«
»Ja, Gin, super, bestimmt, Gin!«, sagt Filipa, und Dirk und der übrige Ritteranhang der Queen stimmen lauthals zu. Dann gibt es Stempel für alle.
Die Erklärbärin führt sie durch kleine Häuflein von Menschen, manche mit Gruppen-T-Shirts oder in anderer Gemeinschaftskluft, die sie als Nutzerinnen oder Nutzer desselben Tarifs ausweist, den auch Filipa gebucht hat, alle zwischen fünfundzwanzig und dreißig, wenige Einzelne über fünfzig. Man erreicht schließlich den reservierten Tisch nah bei der Bühne. Es gibt schlechtere Tische, weiter weg vom Geschehen, bei dem zwischen zwei Poles auf der erhobenen Bühne ein asiatisch aussehender junger Mann sich das Hemd von einer schönen Frau in schwarzem BH, schwarzem Höschen, schwarzen Bettie-Page-Strapsen aufreißen lässt, wozu seine Freunde, unübersehbar eine Junggesellenparty, Rudeljaulmusik machen. Frauen in wenig, sehr wenig und praktisch gar keiner Kleidung, Frauen, die Zeug anhaben, das derber aussieht als die schlimmste, eingeölte Nacktheit, paradieren wie Kraniche, Füchsinnen und Katzen zwischen den Leuten.
Dirk und Frank drehen ihre Köpfe, als wären das Schrauben. Filipa findet es lustig und singt mit Herrn Westernhagen, der aus den Riesenboxen hustet:
Sexyyyyy, ich würde alles für dich tun
Sexyyyy, ich würde alles für dich tun
Jetzt setzt man sich im Rund aufs weiße Sesselzeug. Die ersten schönen, jungen, paranackten Frauen strolchen lässig vorbei, winken ein bisschen. Die Erklärbärin bringt einen metallischen Eiskübel, da liegt der Bombay-Gin drin, eine der jungen Schönen bringt Gläser, einen Krug mit Wasser zum Mischen. Die Madame beugt sich über die Queen, weil sie weiß, dass das die Anführerin ist, und sagt: »Jetzt sind da oben noch drei Männer dran, dann eine Frau, dann kommt ihr, die Show für … wer war es, wie heißt er?« Die Queen erwidert: »Dirk, es ist für Dirk.« Der sitzt neben ihr, hört es, trotz Lärm, und sagt: »Moment, hallo, hey, mein Name, was? Ich soll, was ist das, ich soll da hoch?« Die Erklärbärin zuckt mit den Schultern und sagt freundlich: »Muss nicht. Die Alternative wäre, er geht mit dem Mädchen rüber in die Kabine.«
»Kabine, wie?«, fragt Dirk teils verunsichert, teils sichtlich interessiert, und Filipa, die sich konzentrieren muss, weil ihr das Flimmerspiel so gefällt, der Schwarzlichteffekt, das Leuchten, deutet auf die rechte Seite der Bühne. Dort sind Vorhänge, das sieht aus wie kleine Telefonkabinen: »Da kannst du mit einer der Damen rübergehen, hinter so einen Vorhang, dann tanzt sie nur für dich persönlich.«
Sven hat es gehört, vornübergebeugt, und lacht Filipa an: »Warst du da schon mal drin? Als Kundin oder ähaha Performerin?«
Die Erklärbärin guckt ihn verächtlich an, Filipa winkt ab und sagt zu Dirk: »Findste das besser, als wenn alle über deine Hühnerbrust lachen?«
Er nickt, sagt: »äh ja schon, weil ähm«, da ist auch schon eine Schönheit mit langen rotbraunen Haaren und kecken Brüsten zur Stelle und winkt ihm, wohl auf ein unmerkliches Signal der Erklärbärin. Als er sie anstrahlt, gibt sie ihm die Hand, dass er sich zwischen Filipa und Frank aus der Sitzgruppe ziehen lässt. Die beiden verschwinden nach rechts.
Filipa applaudiert, dann nimmt sie sich ihr Ginglas und steht damit auf, in vollkommener Balance. Sven gesellt sich zu ihr, und sie freuen sich am Bühnenrand darüber, wie der Gast auf dem Rücken liegt und die Körperkünstlerin da mit ihren beiden Beinen in zwei Stuhlrücklehnen verhakt ist, um sich direkt überm Gesicht des sichtlich Überforderten spreizen zu können. Es ist erstaunliche Akrobatik, zu der alle mitsingen, was ein kleiner Sänger mit großer Stimme singt, der dieses Stück lange vor Filipas Geburt aufgenommen hat:
Any way you want it
That’s the way you need it
Any way you want it
Die Zeit vergeht jetzt schneller. Dirk kehrt leuchtend, ein bisschen verrutscht, zurück aus seiner Kabine. Immer wieder streunen die Schönen vorbei, aber keiner aus der Gruppe traut sich, es Dirk nachzumachen, bis schließlich eine besonders vornehme und hinreißende Frau sich auf Filipas Schoß setzt und ihr den perfekten Hintern gegen den Bauch drückt.
Filipa sagt ihr ins Ohr, über den duftenden blonden Haaren: »Das ist aber nett, Sie sind ja toll. Das ist toll, danke«, da dreht die Schöne kaum merklich das Gesicht etwas in Filipas Richtung und sagt melodisch, heiter, kein bisschen devot oder klebrig oder vulgär, mit kaum spürbarem osteuropäischem Akzent: »Do you speak Englisch? Sorry meine Deutsch …«
Filipa erwidert: »Sure. I was just saying, you are great, this is nice, this feels very nice.«
Die Frau lächelt geheimnisvoll, dann wippt sie ein bisschen auf Filipas linkem Bein, dann sagt sie: »Want to come with me? I dance for you, only for you.«
Filipa lacht: »Oh, that is … oh, thank you again, but, I think, lieber nicht, I don’t, I should not do that. The boys, it will confuse them.«
Die Schöne schlägt die Augen nieder, schließt sie, als träume sie, dann steht sie wie im Sprung auf, schüttelt ihr Haar nach rechts, guckt über die Schulter wie schmollend, aber verführerisch noch mal zu Filipa und tanzt davon, so dass Filipa sehr begeistert lachen muss, Dirk auch, Sven auch, den andern ist es zu unheimlich.
Als Filipa einige Zeit später mit Sven noch einmal am Bühnenrand steht, während diesmal oben eine Frau von einem fast ganz nackten, schwarzen, athletischen, kahlköpfigen Tänzer verwöhnt wird, sagt Sven zu Filipa, leicht nach links gebeugt, damit er ihr ins Ohr sprechen kann: »Hattest du keine Lust? Die war doch wahnsinnig schön.«
Filipa schüttelt den Kopf und sagt: »Hör mal, ich hab euch hergebracht, um euch zu … durchzuschütteln, ich wollte da zugucken, das ist mein Spaß heute, ich bin hier wirklich nur Zuschauerin, hör mal, was sollte ich denn … nee, echt.«
Er nickt: »Ja, okay, das versteh ich, ich schau auch lieber zu.«
Als hätte sie gehört, dass man von ihr redet, steht auf einmal die Schöne von gerade eben wenige Meter rechts von den beiden und blickt zunächst nach oben, auf die Bühne, dann aber nach links zu Filipa, lächelnd, und hebt die Arme, die Hände, und lockt damit, lässt sie kreisen. Da sagt Filipa: »Halt mal mein Getränk, Sven.«
Sie gibt es ihm, nimmt die sich Nähernde bei der Hand und lässt sich zur Kabine bringen. Vorhang auf, beide rein, Vorhang zu. Da ist eine kleine Bank, genug Platz für sehr viel Bewegung. Filipa setzt sich auf die Bank, sitzt jetzt auf Bauchnabelhöhe der Schönen, unter zwei waagrechten Stangen aus Metall, eine in der Mitte der Decke, eine über dem Bänkchen. Die Frau schaut zu Filipa herunter und sagt: »It’s thirty-five Euro for fifteen Minutes.«
Filipa hat ihren Geldbeutel hinten am Gürtel, unterm Pulli. Sie holt fünfzig Euro raus, sagt, »that’s okay«, da verschwindet die Frau noch mal, bringt das Geld weg, stimmt, denkt Filipa lachend, wo soll sie es denn auch hintun, hat ja nichts an.
Die Schöne kommt zurück und stellt sich hin, dreht sich, bewegt sich, bebt und schlängelt, zeigt sich schön und schöner, atemberaubend, merkt Filipa berauscht, was sie sieht, was sie spürt, als die Frau sich umdreht, nach der vorderen Stange oben greift und sich an Filipa presst, das Gesicht der Schülerin zwischen den kleinen, unglaublich gut riechenden Brüsten. Das ist berückend, verwirrend, sehr groß.
Das erste Mal seit Beginn des Abends passiert etwas, das Filipa nicht erwartet hat: ein Bruch im Denken, ein Wegrutschen der Kalküle und Berechnungen, der sozialen Strategien, all der Dinge, die Filipas immenser, scharfer, kluger Verstand dauernd treibt. Endlich wird das Hirn schwächer, endlich dringt die Musik durch, endlich passiert das, weswegen Filipa überhaupt mit den Affären angefangen hat, den Drogen und dem Alkohol: das Außersichsein, die ersehnte Selbstvergessenheit, das Glück. Es gibt kein Zeitmaß für die kleinen Sensationen, die flüchtigen Berührungen, aber irgendwann, nach Äonen der Entrückung, steht die Frau wieder vor ihr, lächelt und sagt: »So … the fifteen minutes …«, und Filipa, ganz zerruffelt und erhitzt und sehr zufrieden, aber nicht recht satt, sagt: »Can you continue?« Die Schöne erwidert: »Well, for another thirty five …«
Filipa, ganz ernst, ohne Hohn oder Ironie: »Yes, please, yeah, I would love it …«, und holt noch mal Geld, gibt noch mal einen Fünfziger, denkt: Ich finde das unglaublich billig, viel billiger als der Schnaps oder die Drogen, die alle nicht mehr wirken.
Die Frau nimmt das Geld, huscht rasch weg, huscht zurück und wird jetzt noch wilder als eben, Kreuz durch, Kreuz biegen, Po zu Filipa, Höschen weg, so dass Filipa, um ihr zu signalisieren, dass sie mit letzter Disziplin versucht, sich nicht verkehrt zu benehmen, die Hände hochhebt wie beim Banküberfall, die Stange ergreift, die Hände fest drum schließt, siehst du, ich werde nicht grabschen, ich werde nicht die Kontrolle verlieren.
Die Schöne macht es ihr nicht leicht, das Schauspiel streichelt Filipas Wangen, atmet die leckersten Höllenfeuer aus. Die Frau spielt mit sich und so auch mit Filipas Nerven, die Muschi, blankrasiert, glänzt ein bisschen, und Filipa will denken: Beruhig dich, egal, hey, das wird Spucke sein oder was weiß ich, wird dabei wohl wirr, rutschig, wie viele Leute bin ich?, Haare fliegen, auf einmal kniet die Schöne vor ihr, der Rock ist hochgeschoben, streicheln und ein bisschen kratzen, die Strümpfe, der Slip, Höhenschwindel, Schenkel, Schambein, Schenkel, Venus als Abend- und Morgenstern, wo bin ich, im Weltall, die Schöne kreist und hockt und biegt sich, dann aber, bevor Filipa wirklich noch in Ohnmacht sinkt, steht die Tänzerin wieder auf und guckt Filipa herausfordernd an, von da oben, als sie sagt: »We can continue. But now …«
Filipa zieht sich an der Stange hoch, schüttelt den Kopf, sagt: »No … now … now I have to stop, really. I must stop now.«
Die Frau sieht fragend aus, nicht beleidigt, amüsiert, aber nicht herablassend, und Filipa fächelt sich mit der Hand selbst Luft zu, als sie sagt: »This is … you are ganz, ganz arg … so beautiful and hot. And now I go, thank you, thank you very much!«
Die Frau nickt ihr freundlich zu, als sie Filipa vorbeilässt.
Der Club scheint ihr jetzt halbverdampft, kaum noch wahr, kaum noch da.
Sie hört Sven, als sie sich neben ihn stellt, sagen: »Warst ganz schön lange weg. Nur Zuschauerin, was? So schnell kann sich das ändern, was man will …«
Leider klingt die Bemerkung für Filipa überhaupt nicht charmant, gar nicht nett.
Etwas hat sich geändert, eine falsche Elektrizität steht im Raum, mit falschen Blicken von Laurent und Dirk, der auf sie zukommt und die Arme ausbreitet, als wolle er sie umarmen. Da sagt sie zu ihm, zu allen eigentlich: »Lass mich mal eben, ich muss mal kurz … raus und hoch an die Luft …«
Dirk bietet an: »Soll ich mitkommen?« Da winkt die Queen, die das Gefühl hat, ihr Thron sei ins Wackeln geraten, heftig und gereizt ab, dass er, schockiert, einen Schritt zur Seite tut und sie gehenlässt, durch die Menge. Einmal knickt sie ab, verletzt sich irgendwie den rechten Fuß, es tut aber gar nicht sehr weh, schmerzt nicht auf dem Weg die Treppe hoch, nicht am Eingang, nicht auf der Straße zwischen Männern und Frauen, Touristen und Zuhältern, bis Filipa an einer Straßenecke, hinter einem großen grünen Kombi, einfach zu Boden geht, auf den Hintern fällt, rumms, und dasitzt, verwirrt, während man an ihr vorbeigeht, sie ignoriert, wie Soldaten einen tödlich Getroffenen auf dem Schlachtfeld nicht sehen, weil sie selbst weiterkämpfen müssen, um ihr Leben, um irgendeinen Einsatz, um nix.
Dann bleibt jemand stehen.
Filipa sieht zuerst nur lange Beine, hohe weiße Stiefel unter einer schwarzen Lederhose mit Fransen, lächerlich, denkt sie, wir sind doch nicht in den Achtzigern, bei Europe oder Bon Jovi oder wie die alle heißen. Ein schneeweißer Mantel gehört dazu, daran ein Arm, der sich ihr entgegenstreckt. Da denkt und sagt sie: »Oh … nett … ich …«, ergreift die Hand und lässt sich hochziehen.
Es ist eine Frau, die Filipa kennt: Die weißen Haare kennt sie, das Gesicht, etwa Anfang dreißig, die grünblauen Augen – Veras und Bernhards Chefin, nicht? Kid Cola oder so was? Die Frau sagt: »So, Mädel. Jetzt holen wir dich mal raus aus deinem Unsinn hier.«
Und bevor Filipa antworten kann, drückt ihr jemand von hinten was auf den Mund, und dann greifen starke Arme unter ihre schwachen Arme, während sie in sich zusammenfällt und denkt: Was ist denn das, mitten auf der Straße, vor allen Leuten, eine Entführung, also, das geht doch nicht. Filipa rutscht in gesetzlose Dunkelheit.