Hoch oben, auf der andern Seite des Tals, sausen Sternschnuppen in den Wald hinunter; erst zwei, drei, dann ein Dutzend. Den beiden Männern kommt es vor, als könnten sie die Leuchtnarben, die sich am Himmel öffnen und wieder schließen, dabei zischen hören. Fast rechnen sie damit, dass es im Forst Aufschläge gibt. Aber die Detonationen bleiben aus.
Der Jüngere atmet auf, als hätte er Angst gehabt, selbst getroffen zu werden. Der Ältere gießt beiden noch mal die Gläser voll mit dem indischen Amrut-Schnaps, Cask Strength, fast 63 Prozent Alkohol. Diese Männer vertragen das. Ihr verwandtschaftliches Band besteht nicht zuletzt darin, dass sie ungefähr dasselbe Gift in ungefähr denselben Mengen aushalten.
Der knapp dreißigjährige Sohn sitzt mit seinem fast fünfzigjährigen Vater auf teuren Sitzmöbeln an einem teuren Tisch. Alle drei Möbelstücke gehören eigentlich nicht unter freien Himmel. Einen richtigen Garten gibt es hier nicht, nur ein paar vereinzelte Beete, zwei mit wertvollen Orchideen immerhin, dann ein paar gelbe und rote Rosen, ansonsten eher Gebüschartiges, etwas Wald-Geißbart, ein bisschen Junkerlilie. Der Rest ist Rasen, geschmückt mit recht großen, grauen, aus einem Steinbruch gesprengten Zierfelsen, manche fast anderthalb Meter hoch und einen Meter breit.
Auf dem Tisch stehen Kerzen.
Der Stuhl für den Sohn ist fast hundertfünfzig Jahre alt, mehrfach restauriert, nicht alle Teile sind Originale, das Ganze hat man aus Mahagoni gefertigt, mit einem durchgehenden Bogen um neun Spindeln als Lehne und schönen schlanken Armstützen. Der Stuhl für den Vater ist eher ein Sessel, aus demselben Holz wie der andere, aber grün gepolstert und mit geschnitzter Bekrönung, etwa fünfzig Jahre jünger als der, auf dem der Sohn sitzt.
Den Tisch kann der Vater sogar genau datieren, er stammt aus dem Jahr 1951, ist aus zwei massiven, lackierten Kieferbrettern gefertigt, die schwarzlackierten Beine sind aus Buche, das Stück hat ein finnischer Designer für die Großeltern des Vaters, die Urgroßeltern des Sohnes entworfen. Der Vater empfindet eine verdrehte Freude daran, dieses unzusammenhängende Ensemble teils museumsreifer Stücke so zu verwenden, wie andere Menschen Plastikzeug gebrauchen. Er fläzt und trampelt seit seiner Jugend gern auf seinen Privilegien herum.
Neben dem Tisch ragt ein großer Lautsprecher aus dem Boden, der eben das sanfte Zupfen und Anschlagen von Saiten, die suchenden Bläsertöne und die wie beiläufig-versonnenen Harfenglissandi der ersten Takte von Alice Coltranes »Isis and Osiris« in die kühler werdende Nacht aussendet. Diese Musik ist so alt wie der Vater. Der Sohn hat sie im Haus schon öfter gehört, wenn der Hausbesitzer mit seiner Arbeit, dem Schreiben, oder seinem Hobby, dem Zeichnen und Malen, beschäftigt war. Er hört sie nie zu laut, man kann sich immer noch unterhalten. Die Stühle, der Tisch, der Lautsprecher: Alles ist arrangiert wie vor einem Puppenhaus auf dieser Rasenfläche hinter dem verglasten Innenpool auf der rückwärtigen Seite der weißen Villa. Eine richtige Veranda hat der Vater nicht gewollt, als man das Haus vor einem Vierteljahrhundert, nach dem Auszug seiner Eltern, aus- und umbaute, damit es der Vorstellung glich, die man sich in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts davon gemacht haben mochte, wie Menschen in ferner Zukunft bauen und wohnen würden.
Die Villa mit ihren schräg verzogenen, skulpturalen Außenwänden, drei Stockwerken und insgesamt 997 Quadratmetern Wohnfläche ist der einzige Bau auf einem 6900-Quadratmeter-Grundstück am Rande eines malerischen Berges, genauer: eines größeren Hügels, besiedelt von alles andere als armen Leuten, deren kleines Bürgerdorf man über einen am Fuß des Bergleins gelegenen sogenannten Altigrain und dann einen Altigweg erreicht.
Die schmalen Straßen oben haben fast alle Vogelnamen: Finkenweg und Amselweg, denn die Leute hier sind Nestbauer, die sich um ihren eigenen Kram kümmern und vom schwerreichen Mann am Abgrund ihren Abstand halten. Der freut sich im Winter, wenn die wenigen Kinder, die’s auf dem Berg noch gibt, hier Schlitten fahren.
»Die Luzi«, sagt er jetzt und prostet dabei den letzten der Sternschnuppen zu, »hat solche Sachen geliebt. Nacht mit Musik und Sternen und Sternschnuppen. Sie hat gesagt: Da öffnet sich die Welt, und man sieht ’ne größere Welt, und man muss gar nicht viel drüber quatschen. Wir sind oft hier draußen gesessen, bevor sie verschwunden ist.«
Er kippt den ganzen Inhalt des Glases in den Hals, schüttelt sich, lächelt melancholisch. Der Sohn sagt: »Warum nennst du sie eigentlich Luzi? Meine Mu… Kelsey sagt Alex zu ihr.«
»Tja«, sagt der Vater mit echtem Bedauern in der Stimme, »Luzi, das ist so ein Privatwitz. Eine Astronautengeschichte und ein Wortspiel. Wortspiele, das war mein Ding, das hatte ich von meinen Surrealisten und meinem Joyce und Arno Schmidt und Captain Beefheart, dieses Verspielte und Versponnene und … Spöttische. Sie hat es toleriert, sie hatte auch Spaß an Musik, ich meine, wir sind … wir sind auf Konzerte und alles … aber mein späteres Leben … weißt du, du bist wahrscheinlich genau zur richtigen Zeit hier aufgetaucht, die Kelsey hat das schlau gemacht, dich rüberzuschicken, denn ich … ich hatte so eine Midlife-Crisis, damals, vor zehn Jahren, weil das Leben … ich hatte seit Jahrzehnten nicht an Luzi … an Alexandra gedacht, ich hatte geglaubt, ich wär da längst drüber weg, dabei war sie … die Liebe meines Lebens, das klingt jetzt scheiße, aber … Also, sie hätte das Leben, das ich dann nach ihrem Verschwinden angefangen habe zu führen, Boheme, Jetset, Partys, Musikwelt, you know, Pop, Rock, Techno, Hip-Hop … Kunstwelt, Modewelt, Drogen, Lifestyle-Politik, linkes Getue, aber immer schön hip und … erst in München und Hamburg und Köln, dann Berlin … das hätte sie so nicht mitgemacht, da hätte sie mich herausgefordert, und es wäre wohl besser gewesen … und ich habe das dann vor zehn Jahren schlagartig erkannt: dass das ein Scheißleben ist, und da bin ich hierher zurück … das Ding hier stand ja fünfzehn Jahre lang praktisch leer, ich konnte hier nicht mehr … es waren zu viele Erinnerungen, auch an Lu… an sie. Und dann bin ich hierher zurück und dachte: Kannst ja schreiben, kannst ja malen, aber halt dich von diesen grauenhaften Leuten fern, von dieser Szene, die du mit Absicht nicht durchschauen wolltest. Luzi … Alex … sie hätte dich gemocht.«
»Ach?« Das wundert Christian, er weiß selbst nicht warum.
Der Vater lächelt wehmütig und sagt: »Na, du bist Wissenschaftler, nicht? Willst was verstehen. Willst … erklären. Sie war super in Naturwissenschaften immer, und in Mathe …«
»Not my strong suit, though. Ich musste ein bisschen Computer lernen, aber sonst … bin ich ja doch was anderes als ein Naturwissenschaftler, es ist doch alles … humanities. Kulturwissenschaften, Sozialwissenschaften, soft science …«
»Aber als Linguist bist du den Naturwissenschaftlern am nächsten, wenn man … Alexandra hat mir manchmal gesagt, wenn sie sich dran gestoßen hat, dass ich so schlecht rechnen … und all das kann: Wie kannst du so auf der Welt leben, ohne Mathe, Mathe ist doch die Sprache der Welt, die Sprache der Natur, der Naturgesetze. Da hab ich dann frech gefragt: Was ist ein Naturgesetz?, das war so philosophisch gemeint, so à la: was ist schon Wahrheit, wer kann das definieren, da sagt sie: F gleich m mal a ist ein Naturgesetz, und das Hooke’sche Gesetz ist ein Naturgesetz, und … so, das war das. Also, Sprache der Natur, und du als Sprachwissenschaftler … nicht, also, das Analytische halt. Im Gegensatz zu dem ungenauen Scheiß, bei den Leuten, zu denen es mich leider zog, diesen schrecklichen …«
Christian trinkt sein Glas aus, legt dann aber, als der Vater ihm die Flasche rüberreicht, die flache Hand auf den Glasrand und schüttelt langsam den Kopf, was sagen soll: Mir ist jetzt warm genug, danke. Dann fragt er: »Was ist denn so schlimm an diesen Leuten? Hast du die nicht auch schon … du hast doch vorhin erzählt, du und Alexandra, ihr wärt mit … Freaks rumgerannt, du hättest dich immer schon in so gegenkulturelle Szenen, wie hast du gesagt?«
»Einge… uaahh … eingekauft«, gähnt der Vater, dessen Bart und schulterlange Haare bereits weitgehend ergraut sind. Dann blinzelt er, schaut übers Tal und in die Höhe. Dort sind keine Schnuppen mehr, es blitzen nur noch die vertrauten Sterne in den vertrauten Sternbildern, sehr hell heute Nacht, unterstützt vom Halbmond, weiß wie die Villa. Jochen Herder lehnt sich etwas zurück, fast kippt der wertvolle Stuhl schon, und sagt: »Das war was anderes, das war … das war eben nicht einfach Gegenkultur oder Subkultur oder …« Beim nächsten Wort verzieht er kurz den Mund, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. »… Bohäääm, sondern … Na, das waren … staatsfeindliche Kreise. Es gab ja den Ostblock noch, so gerade, und im Westen richtige Kommunisten. Sobald ich an mein Geld kam, hab ich denen was gegeben und ähm den Antiklerikalen, die da in der Kreisstadt Radau gemacht haben … damals gab es Prozesse, wenn man Karikaturen gegen Christentum … den Papst … alles sehr beschaulich, ich habe dann auch … es gab einen Hungerstreik von Gefangenen aus der RAF …«
»Terroristen, ja? Linke Terroristen?«, fragt Christian, der in deutscher Zeitgeschichte zwar bewandert ist, aber nicht jedes Detail kennt.
Der Vater nimmt einen Schluck direkt aus der Flasche, die danach leer ist, und stellt sie neben seinen Stuhl ins Gras, wo sie umfällt.
Dann sagt er: »Bewaffneter Kampf, na ja, und dann … habe ich … also, das waren Sachen, da konnte man gar nicht … sogar die Polizei war mal hier, meine Eltern sind auch deswegen weggezogen, sie wussten, sie können mich nicht dran hindern, gegen meine … Geburtsvorteile zu wüten, ich wollte einfach überlaufen, Klassenverrat, haha. Aber das … also, diese Leute, die waren sehr … sehr ernsthaft, sehr … verbissen fast schon. Am heftigsten war so ein ganz merkwürdiger Kreis von … da gab es eine … eine Musikerin, Komponistin, die hat auch Opern komponiert, die dann sogar in der DDR aufgeführt wurden, über ähm … ein so … ein irres Ding über Juri Gagarin … also, die fuhr hin und her über die Grenze, die war dann fast so eine Art Kulturbotschafterin der DDR mit westdeutschem Pass, nicht, die hat dann im Westen sogenannte Freidenkervereine gegründet, nach dem Motto: Kunst und Wissenschaft gemeinsam für Frieden und Sozialismus, aber es war viel mehr, sie hat … sie war so eine Art Strippenzieherin dann, und mit der … mit der kam Luzi sehr gut aus, die waren wie so … bei der Geburt getrennt, also die Späth war ja viel älter, aber das war wie Schwestern, wie sagt ihr Amis, tight …«
Er legt die Handflächen aneinander, sieht zu Christian rüber, der sagt: »Inseparable? Like peas in a pod?«
»Mhmhm, ja«, nickt der Vater und sagt dann traurig: »Sie war die Einzige, die nach … als Luzi verschwunden war, hat sie mich besucht und sich sogar eine Nacht mit mir hier besoffen und Klavier gespielt drüben im … da im Empfangssaal, weißt du, wo der Flügel steht, und wir haben so Songs gesungen, die Luzi mochte, Grant Hart, ähm und … tja. Nena. Und ähm … ja, Nena und Cher und … Dabei war das eine heftige Zeit für diese … Frau Späth, ihr ganzer Frieden und Sozialismus ist ja zusammengebrochen, es gab kein verdecktes Geld aus dem Osten mehr, und sie ist dann sozusagen von der Bildfläche verschwunden. Ich habe dann zehn Jahre nichts von ihr gehört, außer … als dann das mit dem Internet so ab 2000 richtig losging bei mir, hab ich sie mal gesucht, nicht mit Google übrigens, damals noch Yahoo … das war dann, sie hat dann … wohl weitergemacht mit ihrer Musik, aber jetzt ganz abgefahrenes Zeug, nichts Politisches mehr, sondern so mit Mathematik und Musik, teils elektronische, immer avantgardistische …re … na, ich hab CDs da, wir können da mal reinhören. Sie sagt, sie ist froh, dass sich die westlichen Kunstwelt so sehr der Technik anvertraut hat, das gibt ihr die Möglichkeit zu tun, was sie als … Hegelianerin und Marxistin, wie sie sagt … tun will, nämlich mit Kunst forschen. Es gäbe sogar ein westliches Wort jetzt dafür, ›artistic research‹.«
Der Sohn hebt die Hand, denkt kurz nach, will es richtig verstehen, dann sagt er: »Ah, wohl … weil Hegel die Kunst eine Form … der Erkenntnis nennt. Und Marx dann ja wohl auch, den ich allerdings … I’ve never read that stuff. Philosophically quite primitive, I guess.«
Der Vater lacht: »Das musst du mit ihr … das solltet ihr mal debattieren. Sie sagt, sie macht mathematisierte Kunst, weil sie sich dafür interessiert, was Kunst und Mathe als Erkenntnisweisen von der Sprache trennt, mit der sonst ja erkannt wird seid den Griechen und ihrer Philosophie …«
Der Sohn merkt auf, rückt seinen Leib auf dem alten Stuhl zurecht, sitzt jetzt fast ganz gerade und sagt: »Halt, halt … Kunst von der Sprache … getrennt?«
Als Sprachwissenschaftler hat er sich noch nie über Kunst Gedanken gemacht. Hätte er eigentlich können, denkt er, vor allem über Sprachkunst, Davidson tut das ja auch dauernd, hat einige der wichtigsten Beispiele daher. Der Vater nickt: »Ja, na, verlang nicht von mir, dass ich dir das jetzt erkläre, sie sagt eben immer … also: Musik ist keine Sprache, das ist … sie sagt, eigentlich ähnlich wie du, beim Sprachenverstehen kann man nie die vollständige Information haben, man muss immer raten, aber in Mathe und bei der Musik kann man sie haben, die vollständige Information, weil … keine Ahnung, sie sagt nur, diese ewigen Vergleiche von Musik mit Sprache, und von Mathe mit Sprache … Bwähhh. Zieh mich da nicht rein. Jedenfalls, sie hat ein kleines Oratorium gemacht, das heißt: ›Galilei berichtigen‹, da geht es darum.«
»Ähm, wieso berichtigen, wie …«
»Sie meint diesen Satz von Galilei, das Buch der Natur sei in der Sprache der Mathematik geschrieben. Das, was ja eigentlich die Luzi auch immer zu mir gesagt hat. Also, in mathematischen Symbolen oder irgendwie … die Buchstaben seien Kreise, Dreiecke und andere mathematische Figuren. Sie sagt, der Fehler der frühen Naturwissenschaftler und der Aufklärer sei gewesen, in diese Konkurrenz mit der Bibel und den Offenbarungswahrheiten einzutreten, also die mittelalterliche Kirche sagte, das Buch da ist wahr, und da antworteten die Vernunftleute, nein, wir schreiben jetzt ein anderes Buch, das ist viel wahrer … und Cordula sagt, dabei ist verlorengegangen, was ein Naturgesetz von einem Bibelvers auf jeden Fall unterscheidet. Und als sie das dann aber merkten, sind sie in diese Falle getappt, dass es im, äh, zwanzigsten Jahrhundert jetzt gerade wieder in die andere Richtung geht: Nur, weil es eben doch keine Zeilen in einem Buch sind, tut man jetzt so, sagt sie, also, Dings, Karl Popper und Feyerabend und solche Leute, tun jetzt, als wären es nur so ungefähre statistische Regeln, das ist dann das andere Extrem, Naturgesetze sollen bloß Aussagen darüber sein, was regelmäßig vorkommt, nachdem sie vorher was sein sollten, was so fest steht wie das Wort eines Gottes, ein Text im Buch der Natur eben … sie sagt, das sind Naturgesetze eben beides nicht, weil sie gar nicht mit Sätzen, weder solchen für fixe Gebote noch solchen für ungefähre Wahrscheinlichkeitsangaben, verglichen werden können, sondern hier auf der Insel, hier im Herzen, in der Mitte der Insel zwar fix sind, aber dann doch auch wieder in einer Wahrscheinlichkeit eingehegt, aber einer kosmologischen, hier auf der Insel merkt man die nie, normalerweise, hier, in der Mitte der Insel …«
»Mitte der …?« Christian klingt völlig abgehängt, aber zugleich fasziniert: Was war das mit den Wahrscheinlichkeiten, fragt er sich, hat das am Ende irgendwas mit meiner Theorie gemeinsam, dass man beim Gebrauch und beim Verstehen von Sprache immer nur in Wahrscheinlichkeiten rechnen kann, vom einen Extrem der Wahrscheinlichkeit eins im Rahmen einer strikten Definition bis zur Bedeutungswahrscheinlichkeit null bei strikt verrückter Glossolalie? Der Vater räuspert sich und sagt: »Ach, das mit der Insel, ja, das ist so eine Privatmythologie von ihr, sie hat da so eine Oper geschrieben über das Sonnensystem, die Insel ist, glaube ich, die Erde, und das Sonnensystem, also bis raus zur Oort’schen Wolke, das ist der Strand, und alles jenseits davon, der interstellare Raum, das ist dann das Meer oder so. Wie gesagt, ich mache euch mal bekannt. Sie ist … sie ist manchmal seltsam, aber ich bin ein Fan. Doch, kann man sagen, inzwischen bin ich … Sie spielt nicht rum, wie diese … pfff …«
Christian lacht, weil dieses Schmähgeräusch so heftig ist: »Die hast du wirklich satt, was? Deine … Boheme?«
Der Vater zieht einen Moment lang die buschigen hellen Brauen zusammen und schließt die Augen, als müsse er sich davon abhalten zu explodieren, dann lacht er kurz, freudlos, und sagt: »Hör mir auf mit denen … weißt du noch, der Artikel zur Trumpwahl, den ich dir geschickt habe, von einem dieser deutschen Pop-Professoren ohne Uni, so ein Frankfurter Radiorentner, mit dem ich ganz früher auch … dem dann nichts Wichtigeres eingefallen ist, als dieser Gangster Trump Präsident wurde, als dass es jetzt vorbei wäre mit den coolen Popstars im Weißen Haus, während sich alte Leute noch in der Wahlnacht umgebracht haben, weil sie fürchteten, ihre Krankenversicherung … bah, nee, das ganze Gegenkulturzeug, denen war es immer wichtiger, ob jemand das richtige T-Shirt anhat, als ob die Zahl der Obdachlosen und psychisch Kranken in ihren Ausgehmetropolen jedes Jahr weiter steigt … die halten ihre Bierbäuche in den Sound oder koksen sich die Nasen blutig, und quatschen von … brrr.«
Er spuckt seitlich ins Gras, schweigt.
Christian sagt: »Und jetzt hast du gar keine Freunde mehr, oder?«
Es ist keine Schelte, mehr eine Frage.
»Ist nicht so übel hier. Ich meine, schau dich mal um. Im Haus hab ich alles, die ganze Welt der Kunst, Literatur, Musik, und hier draußen … ich bin mit Lu… mit Alexandra Burkhard damals nächtelang hier draußen gelegen, auf Decken, mit einer Weinflasche, und dann kamen die Rehe raus, drüben, oder … schau, siehst du? Ein Vogelschwarm! Oder Fledermäuse! Wie bei Batman!«
Etwas, das eine amorphe Einheit und doch auch in viele kleine lebhafte schwarze Kleckse zerstreut ist, erhebt sich drüben aus den finsteren Wipfeln. Christian schaut mit einem Gefühl, das zu beschreiben ihm schwerfallen würde – Erhobensein, aufblühender Friede, süße Alkoholmüdigkeit? –, den Tieren dabei zu, wie sie sich am Himmel zwischen die Sterne mischen. Dann blitzen sie, als wären sie selbst welche – er blinzelt und sagt schläfrig: »Wow. These birds are shiny.«
Der Vater lacht, und Christian dreht seinen Kopf ganz zu ihm, blickt von den Vögeln weg, um zu bekräftigen: »No, I mean, they’re really flashy, they’re like … there are flashing lights, as if they were reflecting the starlight, as if they’re made of metal, I dunno …«
Der Vater öffnet den Mund, aber was er sagen will, kommt nie bei Christian an.
Etwas kracht, das so laut ist, dass die beiden es nicht einmal hören, weil es ihre Trommelfelle fast zerreißt. Christian sieht mehr verwundert als geschockt, wie ein Glasscherbenschauer um ihn und seinen Vater vom Haus her beide trifft, zusammen mit Myriaden Wassertropfen, einer sprühenden Welle. Die Stühle werden von einer gigantischen Hand weggewischt. Der Rasen scheint sich von links aufzurichten in die Senkrechte, da wird Christian klar, das ist es nicht, der Boden bleibt, wo er ist, ich bin es, der fliegt.
Jetzt schlägt Christian seitlich auf, gegen einen der Dekorationsfelsen, wobei drei Rippen brechen. Er rollt vom Stein ins Gras und spürt einen schrecklichen Schmerz die ganze linke Körperseite entlang, vom Knie bis unter die Achsel, teils wie Hitze, teils wie ein Zucken, elektrisch. Er wälzt sich auf den Rücken im gelbgoldroten Grellen, das vom Haus her über alles hinleckt: ein Feuer, schnelle Abfolge von Stichflammen, unterbrochen von quellenden Brandwolken. Christian weiß nicht, dass eine Rakete mit Sprengkopf aus der niedrigen Erdumlaufbahn in die Villa eingeschlagen ist, aber er spürt, dass er jetzt sterben könnte und dass er wach sein muss, schnell, beweglich: kämpfen. Gegen wen, was?
Er ist taub, also muss er die Gefahr sehen, weil er sie nicht hört. Deshalb, sosehr es wehtut, dreht er sich nach rechts, stützt sich dann mit der Hand auf der Wiese ab und stemmt sich hoch, auf die Knie, in eine schräge, wankende Position, bei der er auf seinen eigenen angewinkelten Beinen sitzt. Direkt gegenüber brennt das Haus.
Der Tisch ist umgestürzt, eins seiner Beine abgebrochen, er steht in einer Hitzewand wie vor einem Backofen. Glühflocken schweben, Asche tanzt. Christian sucht auf dem Rasen, panisch umherblickend, nach seinem Vater, findet schließlich eine längliche Form schräg hinterm zertrümmerten Sessel im Gras, richtet sich auf, erst kniend, dann, sehr unsicher, auf den Beinen, spürt sich schreien, hört nichts, läuft, taumelt hin, kniet wieder.
Der Mann mit dem weißen Bart liegt auf dem Rücken. Seine Wangen und seine Stirn sind von Dutzenden kleiner rotschwarzer Striche übersät, Schürfwunden, vom Glas wohl oder vom Aufprall, vielleicht ist er aufs Gesicht gefallen – sein Blick ist wässrig, unklar im dunklen, verletzten Gesicht. Sein rechter Arm hebt sich langsam, die Hand zittert und wedelt. Christian versteht die Geste falsch, versucht, die Hand zu greifen, um dem Mann dabei zu helfen, sich aufzurichten, aber der schlägt seine Hand weg, reißt die Augen auf und den Mund, scheint etwas zu brüllen, während er direkt nach oben starrt und jetzt mit dem Zeigefinger der bebenden Hand genau 90 Grad aufwärts deutet.
Christian legt den Kopf in den Nacken, damit er sieht, was es zu sehen gibt.
Es sind die Vögel von der andern Seite des Tals: gar keine Vögel. Metall, wie er eben schon dachte – sie schwärmen, sie sinken, jetzt fallen die ersten: schmal, etwa dreißig bis fünfzig Zentimeter lang.
Sie leuchten im Widerschein des Feuers an den scharfen Kanten auf. Es sind Schienen, es sind Klingen. Christian hat so etwas noch nie gesehen, nie davon gehört oder gelesen. Er hat sich Derartiges nie auch nur vorgestellt. Er weiß nicht, was er tun soll, und reagiert zu langsam – der Gedanke »Ich muss weg, ich muss ihn hier wegziehen, wir müssen irgendwo in Deckung gehen« hat sich gerade erst halb geformt, als ihm das erste der in komplizierter Choreographie mit unsichtbarem Antrieb, unverständlichen Bremsen, unbegreiflicher Steuerung vom Himmel fallende Riesenmesser die rechte Hüfte aufreißt und sich dann in Rasen und Erde bohrt, während das zweite und dritte Jochen Herders Brust und linke Schulter durchbohren, ihn aufspießen und an der Stelle fixieren, von der ihn Christian jetzt nicht mehr fortziehen kann.
Obwohl der Rettungsversuch keinen Sinn hat, beugt sich Christian über den Mann, dessen ganzer Leib jetzt zweimal zuckt, bevor die erhobene Hand zu Boden fällt und die Augen wie Teig, der sich hebt, aus den Höhlen quellen. Der Sohn greift nach der Klinge in der Brust. Sie ist warm, scheint zu vibrieren. Der Griff kann dieses Summen nicht abstellen, es überträgt sich bis in Christians Knochen. Dass er, über den Sterbenden gebeugt, von oben gesehen fast denselben Raum einnimmt wie dieser, rettet ihm das Leben – hätte er sich nach rechts, links, vorn oder hinten bewegt, hätten ihn die Messer getroffen, die dort zischend in den Boden schlagen, erst drei, dann sechs, bald zwölf, zwanzig, fünfzig in der welligen Kunstlandschaft hinterm brennenden Haus.
Rechts und links fallen Christian die Waffen ins Gesichtsfeld als schmale Flecken. Er senkt den Kopf, dem Toten legt er ihn fast auf die Brust, und kauert, zusammengekrümmt, in Erwartung, auch getötet zu werden. Als keine weiteren Flecken mehr dazukommen, dreht er den Kopf vorsichtig, leicht erhoben, in die andere Richtung. Auch da stecken die Messer wie Zaunlatten und scheinen sich leicht zu bewegen, Bambus in starkem Wind. Christian rutscht seitlich vom leblosen Körper des Vaters, sieht in geduckter Haltung nach oben: kein Schwarm mehr, aber doch noch Objekte, rundliche jetzt. An einigen blinkt etwas, grünblau, sind das Positionslichter? Auch diese abgeflachten Zylinder beginnen zu fallen, und einen Moment lang denkt Christian: Wenn das Bomben oder Drohnen sind, bin ich gleich tot.
Am schlimmsten daran findet er, wie langsam die Dinger fallen: Die Schwerkraft scheint vermindert, es ist nicht direkt ein Schweben, aber ein eindeutig gebremster, allerdings absolut gleichförmiger, beunruhigend sicherer Sinkflug. Ich muss ihnen ausweichen, begreift er und springt, als täte nicht der halbe Körper weh wie nach einem Sturz aus drei Metern auf Stein, als wären keine Rippen gebrochen, keine Hüfte aufgeschlitzt, vom Adrenalinschub befeuert in die Höhe, um wie ein Slalomfahrer zwischen den vibrierend wankenden Klingen hindurch rechts am Haus vorbeizurennen, Richtung Auffahrt.
Als Christian auf der Höhe der Schranke zum Kiesweg mit der kleinen Gegensprechanlage angekommen ist, knickt ihm der linke Fuß um, wobei er seinen Schuh verliert und beinah zu Boden geht. Dann stampft er mit dem Hacken des schuhlosen Fußes ins Gras, bremst sich so und sieht, dass der Fluchtweg, den er einschlagen wollte, nicht mehr offen steht. Direkt hinter der weißen Schranke geschieht etwas, das er erst gar nicht glauben will: Auch dort stecken die Messer im Boden, aber sie rütteln sich jetzt selbst draus frei, sie neigen sich nach links, rechts, vorn, hinten, und dann sieht es aus, als laufe ein Film rückwärts ab, in dem eine aus schwarzen Schwertern zusammengesetzte Skulptur in Zeitlupe zerfällt: Sie setzt sich zusammen. Erst eine, dann zwei, gitterförmig verstrebt, etwa mannshoch, und in die Mitte der Strebungen senkt sich einer der Zylinder wie ein Vogel ins gemachte Nest. Maschinen. Kriegsmaschinen, versteht Christian. Roboter aus Stich- und Hackwerkzeug. Wäre Christians Gehör intakt, nähme er jetzt Geräusche wahr wie von Messerschleifern oder von großen Scheren, die sich öffnen, schließen, öffnen – er dreht sich halb um, nach dem Hügelkamm, von dem er gekommen ist, und was er sieht, hat er bereits befürchtet: Auch dort entstehen die schwarzen Apparate mit den blinkenden Köpfen, ein paar sind sogar schon fertig, vier bis sechs, sie staksen auf ihn zu, mehrere Schneid- und Schlagarme hoch über die Zylinderhäupter erhoben. Sie schwenken die Armklingen, lassen sie kreisen.
Er sieht zum Haus zurück, diese Hälfte des Baus brennt nicht, vielleicht, denkt er, hält die Wand zum Pool das Feuer davon ab, auf den Rest der Villa überzugreifen. Christian rennt zum Eingang. Fein, denkt er, nur rein da, in einen sicheren Raum, sich verstecken.
Die Treppe runter, jetzt stolpert er doch, kippt, schlägt mit der Schulter gegen die Haupteingangstür, die nicht abgeschlossen ist, aber schwer und also nur ein bisschen nachgibt, sich nicht völlig öffnet.
Christian schreit vor Schmerz auf und meint, dass er das sogar hören kann. Dann stemmt er sich gegen die Tür und öffnet sie. Er fällt auf den Gang. Bevor er nach möglichen Fluchtwegen Ausschau hält – sie alle, rechnet sein Hirn schon, sind zugleich Fallen: in den Keller? Aufs Dach? –, tut er, was er in viel zu vielen Horrorfilmen gesehen hat und was auch da nie hilft – er dreht sich um, greift das erste Möbelstück, das er sieht – es ist ein kostbarer englischer Dielenschrank mit geschnitzten Füllungen, kassettierter Front und Beschlägen aus Kupfer –, mit beiden Händen und kippt es gegen die Tür, an die im selben Moment schon etwas stößt. Die Möbelmasse schiebt die Tür zu, dann erzittert die selbstgemachte Blockade von Schlägen. Christian wartet nicht ab, ob die Tür bricht, sondern dreht sich wieder Richtung Gang. An dessen Ende, im großen Foyer, sieht er zwei Gestalten stehen, die nicht den mechanischen Monstern draußen gleichen – das hier sind Menschen, bepackt, behelmt, dunkel, bewaffnet mit Gewehren und Maschinenpistolen.
Als der ihm Nächststehende seine Waffe hebt und auf Christian anlegt, wirft sich der nach rechts und an die Wand. Dann krachen Schüsse, sechs Stück kurz hintereinander. Der Lärm ist so groß, dass Christians Schädel wie eine Glocke widerhallt. Mündungsfeuer explodiert wie eine Sonne. Christian gibt auf, sinkt zusammen. Ein Weinkrampf packt ihn und dann ein Mensch, unterm Arm, und ein zweiter, unterm andern Arm. Sie ziehen ihn in die Höhe, aus dem Gang ins Foyer, am Klavier vorbei, über den beigen Teppichboden, während der dritte weiterschießt, in dieselbe Richtung wie eben schon, nämlich auf die Tür, durch die gerade die ersten beiden der röhrenden und ratternden Schnetzelmaschinen brechen.
»Anhamm…mhaaa…«, sagt Christian und weiß im selben Moment nicht mehr, was er damit sagen oder fragen wollte.
Die Dreiergruppe mit dem Verletzten in der Mitte bewältigt mit etwas Mühe die breite Treppe zum erhobenen Nordteil des Foyers und erreicht dann das Wohnzimmerplateau mit dem Panoramafenster, das nur noch in Randbruchstücken vorhanden ist. Jemand hat es gesprengt, von außen, sieht Christian. Sein Kopf nickt auf und ab, er ist der Ohnmacht nahe. Dort zwischen Scherben knien oder stehen drei weitere Uniformierte und Behelmte, die Waffen im Anschlag, drehen sich wie Wachtürme, suchen die Gegend ab. Über die Stelle hinaus, an der sie eingebrochen sind, herrscht Nacht, von Feuern unterbrochen: Da sind Leute auf dem Nordhang, die schießen, und zwischen ihnen, hinter ihnen, auf dem Weg zum Haus, kommen die Schnitter, die Spinnengestalten, die Messermonster näher, die da beschossen werden und sich hackend und stechend zum Haus voranarbeiten, durch die Menschen hindurch, die ihnen Widerstand leisten, dann getroffen zu Boden gehen, während andere ihrerseits über die Maschinen triumphieren, wenn deren Zylinderköpfe von Geschossen aus Gewehren zersprengt werden.
Der Mann, der Christian rechts stützt, fuchtelt mit der rechten Hand, zwei der Soldaten – tatsächlich, denkt Christian benommen: Militär, oder ist das Paramilitär, was ist das hier? – nähern sich ihm, wenden sich dann nach außen, schießen, drei weitere tun dasselbe auf der andern Seite, und damit wird für Christian und seine Helfer eine Gasse frei gemacht, den Hügel hoch, von Feuer, Schüssen, Kämpfen gesäumt, und die beiden tragen ihn, schleifen ihn bis zur niedrigen Mauerumfassung des Gartenfeldes, der kleinen Steinplattenstraße dort, wo fünf weitere Bewaffnete die drei in Empfang nehmen, einen Kreis um sie bilden und mit ihnen den Plattenweg hinuntergehen bis zur straßenseitigen Senke.
Christian sieht an der Straße, hinter Zäunen und Mauern, die Häuser der Anwohner, in deren Fenstern Licht und Menschen zittern, Gaffer, mein Gott, Nachbarn, ja.
Auch vor diesen Gebäuden haben Soldaten Posten bezogen, winken oder rufen, zwei gestikulieren mit ihren Gewehren an einer Haustür und drängen einen Mann und eine Frau in ihr Haus. Auf der Straße stehen Autos, Mannschaftswagen, drei Stück, finster, ohne Beschriftung. Einer hat eine offene Ladeklappe hinten, auf der eine von weiteren Soldaten flankierte Person sitzt, die auffallend helles Haar hat. Zu der bringt man Christian.
Es ist eine Frau, er sieht einen Namensaufnäher auf der rechten Brust ihrer tarnfarbenen Montur, im Flackerlicht liest er: RINDERHERZ. Was? Absurd. Ihm ist übel.
Die Frau sagt etwas zu dem Mann auf Christians linker Seite. Der lässt ihn los. Der Verletzte kann tatsächlich alleine stehen. Er betrachtet einen Moment wie vor den Kopf geschlagen den Mann, das mit schwarzem Zeug verschmierte Gesicht, dann auch hier das Brustetikett: BUDDE. Die Frau legt behutsam die Hand auf Christians linke Schulter und fordert ihn auf, sie anzusehen, »He, hier« oder ähnlich. Christian hört wieder besser, aber als er sie eben fragen will, was los ist, überfällt ihn ein Würgdrücken von tief innen, fährt ihm durch die Brust und reißt ihm von innen den Mund auf.
Er kotzt Whisky, Wasser, Angst auf die Uniform der Frau. Seine Knie sind so weich, dass er zu Boden fiele, wenn ihn der rechte Mann nicht immer noch stützen würde. Der fängt ihn ab, hält ihn fest, der andere – Budde, denkt Christian zerfahren – springt ihm bei.
Die Frau, unglaublicherweise, lacht schallend, dann nimmt sie dem rechten Helfer den schniefenden, verwirrten Christian ab und hebt ihn gemeinsam mit dem linken auf die Rampe, um ihn auf einer Art Pritsche im Wagen zu betten, wo sich unter einem Monitor und einer Salzlösungsinfusion sofort ein Sanitäter an Christian zu schaffen macht, während die Frau ihre freundliche, helle Miene in Christians Gesichtsfeld schiebt und laut und deutlich sagt: »So! Wie beim Doktor, jetzt pikt es mal eben zweimal, und dann ruhen Sie sich aus.«
Den ersten Stich, den der Sedativspritze, spürt Christian vor lauter Aufregung, Scham und Schmerz gar nicht. Sein letzter Gedanke, bevor er das Bewusstsein verliert, ist: Diese Stirn, diese Nase, ich kenne die doch, diese Frau, woher kenne ich die?
Als er erwacht, liegt er in einem Krankenhausbett.
Eine Asiatin kümmert sich um den blauen Zugang an seinem Arm, über den er eine Infusion bekommt. Neben ihr blinkt ein Monitor.
Christian spricht die Frau an: »Hello. I’m sorry. I’m disoriented, I don’t know where I am.« Er dreht den Kopf nach links, nach rechts. Der Raum hat kein Fenster, nur eine geschlossene Tür, einen Schrank, daneben eine weitere Tür, die aber halb geöffnet ist. Christian erkennt darin ein Waschbecken mit Bord und Spiegel und vermutet eine Toilette, die er nicht sehen kann. »Excuse me, could you … do you speak English?«
Sie lächelt, dann sagt sie etwas in einer Sprache, die Christian Winseck nicht versteht. Er ist nicht fixiert, sein Bett hat keinen Gitterrand. Die Frau sagt noch einmal etwas, nickt ihm zu. Er fragt: »Sprechen Sie deutsch?« Sie lächelt, deutet gestisch an, dass er den Kopf nach vorn nicken lassen soll, was er tut.
Sie richtet sein Kopfkissen, sagt wieder etwas, dann geht sie.
Er ärgert sich, dann wundert er sich, dann schläft er wieder ein.
Als er zu sich kommt, liegt es daran, dass ein Mann neben seinem Bett steht und ihn anspricht: »Mister Winseck? Hello?«
Christian blinzelt und sieht, dass der Zugang am Arm weg ist, die Infusionsflasche auch, ebenso wie die paar Pflaster mit Sondenzeug, das an dünnen weißen Kabeln hing und mit dem Koffermonitor verbunden war, den man gleichfalls entfernt hat. Der Mann ist etwa einen Meter sechzig groß, nicht übertrieben schlank, aber auch nicht übergewichtig, Asiate. Er trägt eine Brille mit stabilem, nicht zu dickem Rahmen, sein Gesicht ist eher rund als oval, sein Hemd dunkelblau, seine Hose grau – Christian will ihn nicht zu neugierig mustern, schließt die Augen noch einmal kurz und hört den Mann dann sagen: »I am Aiguo Sun. I will help you to get well again and to … macht es Ihnen etwas aus, wenn ich deutsch mit Ihnen rede? Mein Deutsch, wissen Sie, ist besser als mein Englisch.«
Christian sieht ihn erstaunt an, dann öffnet sich die Tür, und eine Frau, nicht dieselbe wie vorhin, aber ebenfalls Asiatin, tritt mit einem Kleiderbügel ein, auf dem Hose, Jacke und Hemd hängen, in gedeckten Farben und vermutlich Christians Größe. Aiguo Sun nimmt das entgegen, bedankt sich leise, in einer Sprache, die Christian allmählich als Mandarin identifiziert, also leider nicht Japanisch – auf Japanisch könnte er ein paar Sätze sprechen und verstehen, aber wie man in China redet, weiß er nur vom Hörensagen.
»Ich …« Er muss husten, dann lacht er entschuldigend, wie ertappt, setzt sich etwas höher auf und sagt: »Ich habe … entweder hatte ich einen schrecklichen Traum oder einen furchtbaren Drogentrip, oder ich wurde … mein Vater und ich«, er verdreht die Augen, schüttelt den Kopf, »wir wurden von … Maschinen? Robotern wie … aus … aus Messern und Sicheln … angegriffen.«
Aiguo Sun sagt: »Das ist wirklich geschehen. Ihr Vater ist verstorben. Mein Beileid.«
Das ist wie ein kalter Wasserguss ins Gesicht. Christian, der eben noch dazu neigte, die ganze verrückte Geschichte zu ironisieren, ihre Absurdität durch eine Art schwarzen Humor zu mildern, nickt kraftlos, zuckt mit den Schultern und sagt: »Ich weiß überhaupt nichts mehr. I got … nothing. This is … this is not my life. Mein Leben … ich kann das nicht verstehen, was da passiert ist.«
Aiguo Sun sagt: »Sie werden es verstehen.«
Es klingt fatalistisch, aber Christian gesteht sich ein, dass diese Interpretation des gleichmäßigen Tons und der Lakonie, mit der sich Sun ausdrückt, stark davon gefärbt ist, dass er die Sprachmelodie des Chinesen nicht auf den normalen Klang des Chinesischen zurückführen kann, den er nicht kennt, woran der Umstand, dass Suns Deutsch annähernd akzentfrei ist, nichts ändert.
Der Chinese legt die Kleidung auf die Bettdecke über Christians Beinen und sagt: »Ich gehe für ein paar Minuten fort. Sie können sich ankleiden. Dann werde ich Ihnen zeigen, wo Sie sind.« Bevor Christian darauf eine Erwiderung einfällt, ist der Mann weg, die Tür hinter ihm schließt sich lautlos.
Christian schlägt die Decke zurück, wobei fast die Kleidung vom Bett rutscht. Er greift den Bügel, bevor das geschieht, zieht die Decke endgültig weg, und als er aus dem Bett steigt, sieht er, dass seine Hüfte unterm dünnen Klinikhemd mit einem dicken Mullverband geschützt ist. Auch andere Wunden sind abgedeckt, mit Pflastern, kleinen Kissen darunter, Verbänden. Das Auftreten tut weh, aber nicht allzu schlimm. Er geht ins Bad, auf die Toilette, erfrischt sich das Gesicht und die Hände. Das Handtuch ist weiß, weich, geruchlos. Er zieht sich an, und kaum ist er mit dem Zuknöpfen des Hemdes fertig, klopft es an der Tür. »Ja, bitte«, sagt Christian, und Aiguo Sun, diesmal von zwei chinesischen Soldaten begleitet, tritt wieder in den Raum. Er hat Schuhe dabei, aus rotbraunem Leder, trägt sie ganz selbstverständlich mit beiden Händen wie eine Gabe, als wäre er das gewohnt, ein Schuhverkäufer mit seltsamer Würde und Autorität, denkt Christian und nimmt die Schuhe entgegen, bückt sich, stellt sie auf den Boden, schlüpft hinein, bindet sie zu, dann folgt er Sun wortlos aus dem Raum, die beiden Uniformierten hinterher.
Der Gang, der eine leichte Steigung aufweist, sieht aus wie in Fels geschlagen und ist überraschend breit, alle vier könnten nebeneinandergehen, aber die beiden Soldaten bleiben hinter Sun und Christian. Die Decke ist hoch, der Gang kühl, andere Leute, allesamt Chinesen, Männer und Frauen, passieren die kleine Gruppe, bis sie auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges, etwa hundert Meter weiter, eine Fahrstuhldoppeltür erreichen. Sun drückt auf eine Taste. Eine Lichtanzeige rechter Hand, mit Zahlen, die Christian erkennt, zählt den Weg der Kabine hierher.
Christian hat angenommen, er befände sich unter der Erde, und der Fahrstuhl bestätigt das, indem er auf »-5« hält, bevor die Türflügelplatten beiseitegleiten. Die Uniformierten bleiben zurück, als Sun und Christian die Kabine betreten. Der Chinese drückt eine Taste, auf der »20« steht, also geht’s nun fünfundzwanzig Stockwerke in die Höhe, darüber sind nur noch drei weitere Ebenen – Christian will gerade fragen, was für ein Gebäude das hier eigentlich ist, da schaut ihn Sun freundlich an und sagt: »Ich wollte Ihnen zeigen, wo Sie sind. Bevor wir uns unterhalten.«
Beide schweigen auf der etwa vier Minuten langen Fahrt nach oben.
Als der Aufzug hält, sagt Sun: »Vorsicht, es ist hell.«
Er meint die Sonne, in deren grelles Licht beide treten, auf einer hohen Plattform, einem großen Balkon, in ganz schwachem Wind. Als Christians Augen sich an das Licht gewöhnt haben, sieht er hinab auf etwas, das er nicht erwartet hätte: braune harte Landschaft wie aus zusammengepresstem, trockenem Staub, diverse Bauten aus Stahlgerüsten, Glas, hohe Kräne, Rampen, Maschinen, deren Funktion er nicht raten kann, in etwa einem Kilometer Entfernung ein gewaltiges Loch, so groß wie, schätzt er, seine Heimatstadt in North Carolina, und einige hundert Meter tief, mit einem Boden weiß und glitzernd wie Zucker, einem rauen, groben Innenrand wie Rost. Dort wie hier, unterm Turm, bei anderen Türmen und funktional schmucklosen Stahlglashäusern, sind Menschen, vielleicht dreihundert alles in allem, und Fahrzeuge, vom Jeep übern Truck bis zu Hubschraubern verschiedener Länge und Größe, teils mit einem, teils mit zwei Dachrotoren, auf einem Landefeld neben dem Loch.
Rings nichts als diese braunen Erdplatten, kaum Vegetation, ein paar gelblich grüne Rasenflächen, einige Büsche.
»Wüste«, sagt Christian überwältigt. »Ich bin in der Wüste.«
»Ja, in der Wüste. Und in China. In einer chinesischen Wüste«, sagt Aiguo Sun.
Christian kennt keine Höhenangst. Er geht bis zum rotlackierten eisernen Geländer der Plattform, auf die ihn Sun gebracht hat, legt die Hände darauf, etwas niedriger als in Brusthöhe, und sagt: »Bin ich … Gefangener?«
Suns Stimme klingt jetzt nicht mehr neutral, sondern verständnisvoll, milde, als wisse er genau, wie sich Christian gerade fühlt – vielleicht, denkt der, weiß er es wirklich, vielleicht ist es, sagt dem Amerikaner eine vage Eingebung, gar nicht so lange her, dass Aiguo Sun sich ganz ähnlich gefühlt hat: »Die Antwort auf diese Frage ist gar nicht so einfach. Es liegt ein wenig bei Ihnen. In Ihr altes Leben können Sie nicht zurückkehren, das habe ich Ihnen ja schon gesagt. Aber das bedeutet nicht, dass Sie hierbleiben müssen.«
Das Deutsch, denkt Christian, ist wirklich nahezu vollkommen, und der Chinese macht keine Pausen, er sucht nicht nach Worten, er weiß immer, was er sagen will, dieser, ja, was ist er? Mein Betreuer? Christian dreht sich um: »Das ist schon … ganz schön viel Weite hier, und Raum.«
»Ich bringe Sie erst einmal auf Ihr Zimmer. Ihr richtiges Zimmer, eine kleine Wohnung, eine Suite, könnte man sagen. Sie werden Zeit haben, das hier zu verarbeiten.«
Eine höfliche Geste fordert Christian auf, zurück zum Aufzug mitzukommen, was er tut.
Diesmal halten sie im zehnten Stock, und der Korridor hier erinnert mit seinem grasgrünen Teppichboden, den hellen Tapeten und den gedämpften Deckenlichtern mehr an ein Hotel als an ein Krankenhaus oder gar eine militärische Einrichtung, der das gleicht, was Christian eben von oben gesehen hat. Sun entriegelt eine der in etwa vier Metern Abstand auf der Turminnenseite, von den vermuteten Fenstern weg, in die Wand eingelassenen Türen mit einer Magnetkarte an einem Blinkschloss, dann gibt er die Karte Christian und sagt: »Es ist die einzige. Sie haben hier Ihre Privatsphäre.« Während er die Tür nach innen öffnet, sagt eine Frauenstimme: »Na ja, nicht immer. Also jetzt zum Beispiel hat er sie nicht, aber ich hau gleich ab. Und komm dann auch nicht mehr unangemeldet.«
Das Erste, was Christian auffällt, ist, dass die Suite tatsächlich eine Suite ist: großzügiges Doppelbett, das aussieht, als hätte noch nie jemand drin geschlafen. Dunkelholztische, Polstersessel in Grün. Spiegelwand. Getönter Panoramablick auf Wüste und Riesengrube. Flachbildschirm an der Wand. Und an einem Sekretär, auf einem ergonomischen Bürostuhl samt einer Rückenlehne, die mit vermutlich echtem schwarzem Leder bespannt ist, sitzt die Frau, die er von der Rettung kennt, die Frau, auf deren Tarnkleidung er sich erbrochen hat, die mit den weißen Strubbelhaaren. Aber jetzt trägt sie nichts Soldatisches, sondern den hellen Hosenanzug und die weiße Bluse, ein Ensemble, das Christian sofort erkennt, so schockartig, dass er Luft holen muss, während sie aufsteht und sich ihm nähert, die rechte Hand zum Gruß ausgestreckt, die linke hält ein paar in der linken oberen Ecke zusammengetackerte Papiere: »Na? Wieder besser?«
»Ich … ich kenne Sie. Aus … Vom Flughafen. In … aber Sie hatten andere Haare«, sagt Christian verblüfft und ergreift dabei, ohne recht zu wissen warum, die ihm angebotene Hand, die seine herzlich, aber kurz und nicht allzu heftig schüttelt, bevor sie wieder loslässt.
Ihre grünblauen Augen sprühen wie Feuerwerk, denkt Christian so fasziniert wie eingeschüchtert, aber sie redet nicht wie die unirdische Erscheinung, die sie ist, sondern in leichtem Plauderton: »Ist alles ein bisschen durcheinander hier gerade. Cordula Späth, angenehm, ich bin so was wie die Direktorin von dem Flohzirkus hier. Also, die wirkliche – nominell ist das ja Aiguo, sonst wären unsere chinesischen Gastgeber schnell sauer. Aber er hat eher den Löwenbändigerjob, na, alberne Metapher, okay – also …« Sie wechselt einen Blick mit Sun, der scheint weder gekränkt noch überrascht, da hält die Frau Christian schon das Papierbündel entgegen und sagt: »Er und ich werden Ihnen alles, na, vieles erklären, Fragen beantworten und so weiter, aber heute ist zu viel Trubel, wir kriegen noch mehr Besuch, Gäste aus Amerika und aus London und aus Berlin … und Sie sollten sich eh noch ausruhen. Ich weiß, dass sie kein Müßiggänger sind, dass ihr Kopf Nahrung braucht und Beschäftigung und immer Sprache … da hab ich mir gedacht, zeig ihm doch schon mal, was es hier so alles zu tun gibt, in diesem Fall für ihn. Das hier«, sie wedelt leicht mit dem Papier, »ist ein Text. Das heißt, wir glauben, dass es ein Text ist.« Sie sieht wieder zu Sun, der sagt: »Es ist ein Text. Und er ist deutsch, zumindest was das meiste Vokabular angeht.«
»Ja«, lacht sie, »das sagt der Mann, der alles so einfach sieht, wie es geht – was ja sehr hilfreich sein kann. Aber, sehen Sie, Herr Winseck, es gibt Leute hier, die glauben nicht mal, dass das wirklich Sprache ist, die sagen, das wäre nur so … eine Attrappe, phony language. Leute, die allerdings weniger davon verstehen als Sie.«
Christian stutzt, möchte etwas einwenden, weiß aber nicht was, und als sie das Papier noch einmal bewegt, als wollte sie damit ein Winken andeuten, nimmt er es entgegen, woraufhin sie bereits an ihm vorbeigeht und sagt: »Okay, also, demnächst kommt jemand und holt sich eine Bestellung ab, ich würde sagen, Sie essen erst mal hier, Kantine dann ab morgen oder so – bis später, schön, dass Sie da sind und verhältnismäßig heil!« – zwinkert sie, oder bildet er sich das nur ein? »Herr Winseck«, sagt der Chinese verbindlich, und als Christian, weil er nicht weiß, was er sonst tun soll, ihm ebenso verbindlich andeutungsweise zunickt, wendet Aiguo Sun sich ab und verlässt schnell, aber nicht hastig mit Cordula Späth den Raum.
Christian setzt sich, plötzlich sehr erschöpft, auf das Bett, direkt vor die getönte Scheibe. Er schließt die Augen, versucht herauszufinden, wie ihm ist, wo er ist, sogar ein wenig: wer er ist. Ganz klar wird es ihm nicht.
Er öffnet die Augen und betrachtet das Papier auf seinem Schoß. Da steht:
das verbot allein zu leben galt damals im kessel vorver ohne ausnahmen konV wer keine familie * trat notgedrungen qatpira in deshäuslich dienstverhältnisse selbst wenn das haus kein haus ° sondern zelt oder baldachin polyfaser auf pflöcke gezogen versprechen sesshaftigkeit diV larionov kerven eine beephin bliphin chance vielleicht LIM
Christian Winseck legt die Blätter neben sich aufs Bett, schaut aus dem Fenster in die Wüstenhitze und sagt: »Das Leben, das ich kenne, ist vorbei.«