Meinhard Budde trägt eine silbern verspiegelte Sonnenbrille, Bundeswehrhosen mit sehr vielen Taschen und ein weißes T-Shirt. Liz, die neben ihm sitzt, trägt ein leichtes rosa Sommerkleid. Max, rechts von ihr, trägt schwarze Shorts und ein weißblau kariertes Herrenhemd ohne Ärmel, er kommt vom Tennisplatz. Christian Winseck ist in das leichte Hemd und die unauffällige Hose gekleidet, die er aus Deutschland mitgebracht hat, beide sind gründlich gereinigt worden, man erkennt nicht die kleinste Spur von Blut oder Gras.

Die chemischen Mittel, die hier zur Verfügung stehen, sind weit fortgeschritten.

Andrej Sirilko verzichtet heute auf die übliche Krawatte, aber nicht auf den grauen Anzug, während Aigou Sun in einem himmelblauen erschienen ist. Auf Filipas weinrotem T-Shirt steht vorn

NO TE DEBEMOS NADA

und hinten

NO TIENEN CONTROL

Die junge Frau sitzt am vorderen, der breiten Sitzungssaaltür nahen Ende des ausladend ovalen, weißen Konferenztischs mit sechs Chromfüßen.

Für halb drei Uhr nachmittags wurden alle von der Person hergebeten, auf die sie jetzt schon seit zehn Minuten warten. Einige von ihnen kennen einander lange, andere erst, seit man sich in den letzten paar Wochen hier auf dem Gelände begegnet ist und von Sun, Sirilko oder Frau Späth einander vorgestellt wurde. Jede und jeder am Tisch glaubt, dass alle anderen mehr als sie oder er selbst über diesen Ort wissen.

Endlich öffnet sich die Tür. Cordula Späth tritt ein, heute in der klassisch-maoistischen Montur der blauen Ameise, mit einem weißen Folder unterm Arm, den sie, als sie ihren Platz am Kopfende des Ovals eingenommen hat, vor sich hinlegt. Dann nimmt sie aus ihrer rechten oberen Brusttasche ein flaches elektronisches Gerät und legt es auf den Ordner.

Die kleine Versammlung vermutet kollektiv, das Ding gehöre wohl zu dem etwa anderthalb Meter breiten, etwa neunzig Zentimeter hohen Flachbildschirm an der rückwärtigen Wand und es habe wohl auch mit den beiden Lautsprechern zu tun, die schmal, hochkant, rechts und links davon hängen. Cordula Späth zeigt ihre makellosen Zähne.

Es wirkt nicht im Geringsten aggressiv, eher so, wie’s wohl auch gemeint ist: lustig.

Filipa muss ein Kichern unterdrücken. Dann sagt Frau Späth: »So, Leute. Also, einige sind informiert, andere nicht, die meisten irgendwo dazwischen, ich fasse erst mal zusammen. Die Sowjetunion ist am Weltmarkt und am Rüstungswettlauf kaputtgegangen: planen daheim und dealen weltweit, mit komplett irrationalen, aber ökonomisch und technisch viel weiter entwickelten, also reicheren kapitalistischen Partnern, und dann noch Hochrüstung, nach zwei Weltkriegen, umzingelt, sanktioniert mal mit Karotte, mal mit Prügeln, wer soll das hinkriegen? Diejenigen, die nach dem Krach hämisch meinten: Marxismus funktioniert nicht, haben offenbar vom Marxismus erwartet, dass er zaubern kann. In vergleichbarer Lage, mit diesen Startbedingungen und diesem Zwang, mehr und mehr für den Tausch zu produzieren, und mit dem zweiten Zwang, den Lebens- und Konsumstandard nicht zu tief

Ohne Murren, mit verbindlichem Lächeln, nimmt der Deutsche seine Brille tatsächlich ab, klappt sie zusammen, legt sie auf den Tisch und faltet dahinter brav die Hände, um interessiert weiter zuzuhören. Cordula Späth räuspert sich und sagt: »Wo war ich? Endstadium: Zwischen 1981 und 1984 hatte die Sowjetunion nur ein einziges Instrument, ihre wachsenden Schwierigkeiten beim Außenhandel auszugleichen: die Ölproduktion. 1973 hat sie dreiundneunzig Millionen Tonnen produziert, 1975 schon hundertneunzehn Millionen Tonnen und 1980 schließlich hundertdreißig Millionen Tonnen, aber die Steigerungsrate war am Abflachen, und was noch schlimmer ist: Die Russen haben die politische Realität des Weltmarkts, die nichtökonomische, unterschätzt, obwohl immerhin der KGB-Chef Andropow, die letzte Hoffnung des Sozialismus, den alten Breschnew schon Mitte der Siebziger gewarnt hat: Wenn der Ölpreis fällt, wenn wir den Scheiß im Nahen Osten nicht steuern … als in Afghanistan die religiösen Spinner an die Macht wollten, musste die Sowjetunion einmarschieren, um nicht die Millionen von Muslimen auf ihrem eigenen Hoheitsgebiet zu ähnlichen Ideen zu ermutigen. Dieser Einmarsch in Afghanistan wiederum wurde von den arabischen

Sie macht eine bedeutungsvolle Pause und sieht Christian ins entsetzte Gesicht, der tonlos sagt: »Alexandra Burkhard.«

Cordula Späth nickt: »Ja, die. Später, Christian. Jedenfalls: Zimperlich waren wir nicht, waren diejenigen nicht, die das alles auf den Weg gebracht haben – Atomenergie zum Beispiel: die IWAN JEFREMOW, schon die kleineren Segmente, alles atomar, auch die Starts zum Teil Atomexplosionen, als Waffentests ausgegeben. Ich meine, Kinder, nichts hat so einen Wumms wie Kernkraft. Warum darauf verzichten, zumal man’s ja eilig hatte? Danke, Einstein. So, jetzt ist der Schwarm also unterwegs und konstituiert sich zum Schiff. Ein paar hundert Jahre sollte das Ding durchhalten, der Treibstoff kommt aus dem angeblichen Leerraum, der so leer nicht ist, Masse und Energie, danke, Einstein, noch mal, Teilchen sammeln, verbrennen, Ökosystem ausbalancieren, man hatte ausgerechnet, drei Sterne werden abgeklappert, wenn es bei allen dreien nicht klappt, war’s ein Schuss in den Ofen … wie gesagt, ein letzter Versuch, und innerhalb von, ich weiß nicht, sechs,

Der Mann im Anzug zuckt kaum wahrnehmbar mit den Schultern, lehnt sich etwas nach vorn und blickt in die Gesichter rings, eins nach dem andern, während er sagt: »Ich war seit Mitte, Ende der Neunziger bei der … irdischen Begleitung und Auswertung dabei. Das heißt, nach dem Ende der Sowjetunion gab es ein Netzwerk von Personen, die per Fernverbindung … sie brauchten uns immer weniger, die Menschen auf der IWAN JEFREMOW, und konnten umgekehrt auch für uns nichts mehr tun, aber … es war ein ausgeklügeltes System, mein ehemaliger Vorgesetzter, General Kaschkarow, und Leute aus der Partei, etwa Witali Samulin …«

»Rest in Peace«, murmelt Cordula Späth. Sirilko übergeht das, »wir haben das empfangen, archiviert …« Meinhard Budde hat eine Zwischenfrage: »Wenn ihr das empfangen konntet, haben das die andern doch wohl auch empfangen, die Amerikaner, die Chinesen … irgendwelche Astronomen …«

»Es war gut verschlüsselt und kam nicht immer vom Schiff direkt, zuvor auch nicht immer von den Teilschiffen. Es kam zum Beispiel von den Voyagersonden, die als Relaisstationen, als Router genutzt wurden – ja, ich weiß, NASA. Aber wir hatten da seit den späten Sechzigern unsere Leute, bei der NASA

»Communists at NASA. Well, fuck me«, sagt Max, und auch diese Bemerkung ignoriert Sirilko: »Diese Frequenzen bei den NASA-Sonden waren also vorgesehen und frei für uns, und man hat dann steganographisch drauf gepackt, was die JEFREMOW uns wissenlassen wollte. Das ging noch gut mit dem Teil der JEFREMOW, der nach dem Ereignis im Asteroidengürtel alleine weitergeflogen ist, es ging gut bis 2012, 2013, als Voyager das Sonnensystem verlassen hat – die Sonde war das erste menschengeschaffene Objekt, dem das gelungen ist, sagt man, und das stimmt sogar, denn die JEFREMOW, also der Teil, der weiter Richtung interstellarer Raum flog, ist dann

»Stopp, stopp, stopp mal bitte!« Meinhard Budde hebt die rechte Hand. »Das sind lauter Sachen … also erstens, was heißt ›steganographisch‹? Sie haben gesagt …«

»Das ist«, erklärt Cordula Späth freundlich, »wenn Daten in anderen Daten versteckt sind. So wie die Bildchen im magischen Auge, weißt du? So haben sie die Signale der EOLOMEA in die Voyager-Signale gepackt …«

»Okay«, sagt Meinhard. »Und was ist dieses Elomelo… Emo …«

»EOLOMEA«, berichtigt Sirilko, »das ist der Name des Restschiffs nach der Teilung. Es scheint im Asteroidengürtel eine Art Meuterei oder Konflikt gegeben zu haben, bei dem …«

Jetzt hebt Frau Späth die Hand. Sirilko hört sofort auf zu sprechen. Die Chefin sagt: »Dazu mehr im Detail, wenn wir an dem Punkt sind, um den es heute hier geht. Sie haben sich halt gespalten, nicht, Sozialisten und Kommunisten spalten sich ja leider dauernd, what else is new? Egal, ein Teil ist dortgeblieben. Bei den Felsbrocken. Mit Maschinen, die diese Felsbrocken langsam … also, sie machen immer mehr, immer bessere Maschinen aus der Masse, die sie finden, sie verwandeln alles in ihresgleichen, ein bisschen wie diese Borg bei Star Trek, aber anders … wir nennen sie Dysoniki. Das heißt, wir nennen die Menschen so, die da an dem Punkt ausgestiegen sind aus der Expedition zu den Sternen, und wir nennen ihre Maschinen so. Es gibt auch Unterstützer hier, auf der Erde.«

»Sind das die Maschinen, die …«, setzt Christian Winseck zu einer Frage an, und Cordula Späth fällt ihm ins Wort: »Ja, die haben deinen Vater umgebracht. Meinhard kennt sie ebenfalls

Niemand am Tisch scheint diesen Hinweis zu verstehen. Sie hat vielleicht gehofft, die Leute wüssten Bescheid. Aiguo Suns wie Andrej Sirilkos verschlossene Mimik lässt Raum für die Vermutung, bei ihnen träfe das zu, aber die Übrigen sehen gänzlich ahnungslos aus, und so seufzt die Vortragende und sagt: »Ein Film. Ein schöner Film aus der DDR. Soll heißen: Die Ossis haben geputscht. Die DDR-Leutchen haben sich das Sternenschiff unter den Nagel gerissen. Rache für Ulbricht sozusagen, den großen Modernisierer, den die Russen abgesägt und durch den armen … glücklosen Honecker ersetzt haben. So, Andrej weiß das, Aiguo weiß das, ich weiß das, jetzt wissen es alle hier – aber was wir nicht so genau wissen und die Leute nicht, die uns das hier alles bezahlen, ist, was die letzten Nachrichten bedeuten sollen, die uns von der EOLOMEA erreicht haben. Da war sie schon auf Neptunhöhe, wie gesagt, vermutlich in stabiler Umlaufbahn um diesen Planeten, der sehr, sehr, sehr weit weg ist. Lange, lange unterwegs war das Schiff, der Hauptkörper des Schiffes dahin, mit höchstens zweihundertfünfzig der Menschen an Bord, die zu den Sternen reisen sollten. Rund hundertfünfzig sind nämlich bei den Felsen geblieben, bei dem Rest der JEFREMOW, der dort diese Dysoniki-Kolonie … Gut, die letzten Nachrichten also. Erstens: Text.«

Sie nimmt das kleine Gerät in die Hand, tippt. Der Bildschirm leuchtet auf, da steht nun schwarz auf weiß:

nach einer woche führten ihre forschungen sie ins allergrundsätzlichste zwischen axiome sätze der vollentwickelten shrikhandesie konV eins ° einiges die mehreren monde ° derselbe die fünf pole auch gewänder einderselben stetwelt die we bewohnen von der aber nur ein

Cordula Späth sagt: »Das ist der Textteil. Sieht ein bisschen aus wie Deutsch, aber isses das? Verschlüsselung? Die Codeleute, die wir haben, sagen nein. Ein Linguist sitzt freilich erst jetzt dran. Herr Winseck?«

Christian ist aufgerufen, er sagt: »Ja, also, ich hab die letzten paar Wochen … es gibt some idea of … I think I kinda know what these special symbols seem to mean, dieser Kringel, und in anderen Teilen des Textes der Stern … aber die Grammatik ist nicht stabil, die Satzstellung folgt Regeln, die dann wieder doch nicht …«

Er weiß, dass das ein schwaches Statement ist, er fühlt sich nicht wohl dabei, aber zu behaupten, er habe mehr herausgefunden, wäre unwahr.

Cordula Späth breitet die Hände aus, als wollte sie sagen: Da seht ihr’s. Dann nimmt sie das Gerät wieder in die Rechte und sagt: »Es gibt auch noch einen optisch-akustischen Teil. Einen audiovisuellen, bildlich-musikalischen, man könnte sagen: ein kurzes Musikvideo.«

 

Die Schrift verschwindet, eine Art doppelte, deformierte Eiform mit Koordinatenkreuz in Dunkelblau auf weiß wird sichtbar, und dazu zirpt, kratzt, quietscht es über einem steten Schlagzeugbeat. Das Pfeifen und Quietschen erkennen die

It’s an anthem in a vacuum on a hyperstation

Daydreaming days in a daydream nation

Die Musik bricht ab, das Bild erlischt. Die Referentin schaltet den Schirm aus und sagt: »Deutsche Kommunisten kapern ein Sternenschiff und schicken amerikanische Rockmusik nach Hause. Warum? Wieso? Wir wissen es nicht.«

Christian schaut verstohlen nach links und rechts. Die meisten staunen, Aiguo Sun sieht das erste Mal überrascht aus, seine Augenbrauen stehen etwas höher als sonst – oder ist das Missbilligung? Cordula Späth sagt: »Lieber Herr Winseck, mein lieber Christian, wir müssen uns über die Interpretation des Textes unterhalten – du hast mir vorgestern eine erste Übersicht gegeben. Aber das ist nur ein Teil der Sache, um die’s hier geht. Ich mach’s kurz: Wir … das heißt die irdische Unterstützung der IWAN JEFREMOW wie der EOLOMEA … haben das meiste von dem, was an technischem Wissen in dem Projekt steckt, vor fünfzehn Jahren den Chinesen übergeben, weil klar war, irgendwann kommen andere auch auf die Spur, die Amerikaner, die Europäer, es gab ja schon geheimdienstliches Wissen. Die Jelzin-Regierung hat alles, was sie hatte, gegen Zaster mit den Amis geteilt. Die Russen waren völlig kopflos nach Jelzin, erst Putin hat das wirklich gestoppt. Wir wollten einen Vorsprung für China, aus verschiedensten Gründen, und waren dann etwas überrascht, als China ausgerechnet die Deutschen an Bord geholt hat. Aber das chinesische Kalkül war vernünftig – die Mitarbeit der Deutschen hat dafür gesorgt, dass wir jetzt an der Schwelle sind … an der Schwelle zu dem, was aus verschiedenen Gründen sehr nötig ist: Wir fliegen den Schiffen hinterher. Erst zu den Dysoniki,

Es gibt sehr viele.