»Bist du Mensch?«

Baklanow hat sich angewöhnt, die Fragen der Kinder zu ignorieren. Mit vier Armen und zwei Beinen greift er in die Speichen und Stützreifen des Korridors, zieht sich vor und zurück, schwebt und fliegt. Manchmal braucht es einen Tritt gegen einen robotischen Greifer, der ein neues Kind in den Strom einfügt oder eins herausnimmt, an dem den Diff ein Fehler aufgefallen ist. Der Tritt weckt den trägen Roboter, der hält das Kind dann den Inspektoren hin. Meist sind das etwa sieben, acht, höchstens zehn, im ganzen zwei Kilometer langen Korridor, fast immer mit mehr Armen oder Beinen als je ein Mensch.

»Bist du Mensch?«

Baklanow weiß, dass die Kinder, wenn sie ihm so etwas senden, nicht im menschlichen Sinn des Wortes »fragen«. Sie probieren das Spektrum aus, das früher Sprache hieß, sie bewegen nicht den Mund, es ist Breitbandnutzung, es kommt nur in seinem TS so an, als hörte er sie.

Er hält sich das, was er da hört, von der Seele fern, wie er sich diejenigen der Kinder vom Leib wegboxt, die zu nahe heranschweben, indem sie mit ihren Ärmchen wedeln, ihre Körpermasse im Magnetstrom als Manövriergut erkennen lernen, also spielen. Baklanow friert. Drei seiner Arme sind schwer und stark wie die stärksten der Robotergreifer. Die hat er sich mit Endoschienen legieren lassen, damit er seine Muskeln genügend anstrengen muss; eine Mahnung zur Selbstdisziplin. Die meisten der Kinder sind schon von der Geburt an zu 30 Prozent aus Metall, zu 10 bis 15 Prozent aus Plastik und

»Machst du gut?«, fragen die Kinder Baklanow, wenn er eins aus dem Strom zieht.

»Bist du Freund?«, fragt manchmal auch eins, das er aus dem Strom nimmt, weil sich eine Mycoplasmen-Pneumonie vorhersehen lässt, obwohl die Kinder in diesem Stadium noch jahrelang nicht atmen werden oder weil, allen Sortierbemühungen der Diff zum Trotz, irgendeine erbliche Stoffwechselstörung ihre allerersten Zeichen zeigt, eine Homozystinurie oder eine primäre Hyperoxalurie, bei der sich eine für die Gesellschaft schädliche, weil im medizinischen Ausgleich zu teure Konzentration von Calciumoxalatkristallen in der Niere und im verstärkten Skelett voraussehen lässt. Manchmal sagt ein Bild des Arterienverlaufs, das die Diff aufnehmen, dass irgendeine Endarterie mit dieser oder jener (aber jedenfalls: zu hoher) Wahrscheinlichkeit eines Tages Durchblutungsstörungen bekommen könnte, die bis zum hämorrhagischen Infarkt führen können.

Baklanow greift dann das Kind und nimmt sein Jagdmesser, hält das Kind im Nacken wie eine junge Katze, sticht in den Kopf und lässt es los. Der Magnetfeldstrom nimmt es wieder auf und schickt andere dahin, wo es, nun nicht mehr lebendig, in ihm treibt, andere, die es essen, trinken. Nichts geht verloren – deshalb ist Baklanow ja überhaupt hier: Auch er muss Arbeit wie diese tun, furchtbare, öde, geistlose, hässliche Arbeit, und dass die Last einer ganzen Zivilisation dabei nicht eine Sekunde von seinen Schultern rutscht, enthebt ihn dieser Pflicht nicht. Er ist der Erste unter Gleichen, aber ungleich all den Ersten, die auf der Erde mit einer Formel wie dieser begründet haben, warum sie nicht in die Niederungen ihrer Gesellschaften steigen mussten, warum sie keinen Ort besuchen mussten, der so war wie dieser Korridor, in dem die Stimmen fragen:

 

»Hast du Essen?«

»Hilfst du mir?«

»Hast du Trinken?«

 

Den Bayesfluktuationen entsprechend, an denen entlang sich die induzierte Evolution der Zivilisation, die Baklanow als ihr höchster Funktionär mit anderen steuert, zu der Sorte Wesen vortastet, die dem künftigen Leben gewachsen ist, sagt hin und wieder eins der nicht denkenden Kinder etwas, das keines dieser Kinder eigentlich wissen kann:

»Machst du tot?«

Er könnte sich davon erschüttern lassen, aber Baklanow sagt sich, dass so ein Satz nicht zu ihm redet, sondern zufällig zustande kommt wie die Zeichen im Kaffee, die Menschen früher auf der Erde am Boden ihrer Tassen sahen.

Heute haben die Diff im Strom Baklanow nur zweimal empfohlen, sein Jagdmesser aus dem Gürtel zu ziehen. Er ist dafür so dankbar wie der Jäger aus dem Märchen, der einem Tier das Herz herausschneiden durfte, um es einer bösen Königin zu zeigen, und sich so um den Auftrag erleichtern konnte, das Herz eines Menschen, einer Prinzessin aus dem Leib zu reißen, das die Königin gefordert hatte.

Zwei tote Kinder in den ersten vier Stunden der sechsstündigen Schicht, die er auf sich genommen hat, das lässt sich verkraften, denkt er und beginnt, einen Teil seiner Aufmerksamkeit von den Mustern in seinen Augen, den Signalen in seinen Ohren, den virtuellen Mitteilungen der Diff des Stroms abzuziehen, um bei sich mit der andern Arbeit zu beginnen, der Arbeit des Leiters und Koordinators und Verwalters, der die andern motivieren muss und korrigieren. Eine Rede will vorbereitet sein, die man heute Abend in alle besiedelten Räume, alle drei Zonen der Dysoniki senden wird, in die Amor-Ellipse, die Apollo-Bahn und die der Sonne nächsten Aten-Gegenden.

»Bist du Mensch?«, fragt eins der Kinder, während die Nadeln aus der unteren rechten Hand des Fürsorglichen dem unfertigen Geschöpf kleinste Gewebeproben von Nase, Augen, Ohren abnehmen, um das Mikrobiom zu untersuchen, die Gene der Bakterien im Organismus, die ribosomalen Ribonukleinsäuren, besonders den Abschnitt 16 S, »Sitz aller Überraschungen, der guten wie der schlechten, Plattform der Mutationen«, wie Swerkunowa die Dysoniki gelehrt hat – bin ich Mensch? Was soll der Kanon, Bruder Jakob, schläfst du noch, es ist lästig, wie sich diese Sprachamöben vermehren in den Nichthirnen der Nichtmenschen, die hier im Korridor bis an die Schwelle ausreifen dürfen, an denen der Inkubationsprozess in ihnen das Bewusstsein zündet – das gute wie das schlechte, denkt Baklanow in ironischer Würdigung der Lehren Swerkunowas, nein, Mensch bin ich nicht, aber ein Mann, der sich noch dran erinnert, dass er ein Mensch war.

Zwei seiner Arme, ein rechter und ein linker, greifen an seinen Hinterkopf, extrudieren an ihren Zeige- und Mittelfingern Programmnadeln, öffnen Baklanows TS und aktivieren

Er kontrolliert ein Kind, das Flossen hat anstelle der oberen Arme. Man hat ermittelt, dass das von Nutzen sein könnte, wenn die Flossen metallisch geschuppt sind, nützlich in den Magnetflüssen im Innern der besiedelten Asteroiden, in den Kanalsystemen. Die Flossen sprießen schnell, sie sind gesund. Baklanow ist beeindruckt, nimmt sich vor, die Bioausschüsse von Amor zu loben, spricht dabei weiter seine Rede in den Speicher: »Damit schiebt ihr uns, den Leuten von Apollo, und mir, der ich für Apollo gesprochen habe, bevor ich für alle drei verantwortlich wurde, mir, der, wie ihr wisst, fünf Jahre lang die Stimme der Apollozone war, wie der Genosse Nadar Jepen heute für Aten spricht und wie die Genossin Eva Sonntag heute für Amor spricht, die fadeste der alten Rollen zu – die Rolle, die am wenigsten funkelt, die glanzlose Rolle, die Rolle des Ausgleichs, der Mäßigung und der Mitte, von der die rechten Sorgfältigen und die linken Feurigen in ihrer Holzschnittdialektik«, er spuckt das Wort unzufrieden, verächtlich fast, aus und stößt sich mit dem rechten Bein von der Innenwand des Korridors ab, der er vor lauter Redenprobe zu nah gekommen ist, »am allerwenigsten halten. Worum geht es? Um unsere Stellung zur Erde. An ihr wetzen die Fraktionen sich. Man sagt, wir seien die letzte Hoffnung der Erde, auch wenn sie es selbst nicht weiß – ich habe den Satz oft gehört, nicht nur in Jepens Rede

Er leuchtet mit seinen tieferen Augen in die Atmung eines der Kinder mit mehr Körpersegmenten, als Menschen haben, in die komplizierte Verbindung der Lunge, ihre Zurüstung für die Atmung bei verminderter Sauerstoffverfügbarkeit. Er weiß, das ist die Reaktion der Biofachkräfte auf die Hypoxiehäufigkeit in manchen Aten-Habitaten. Baklanow bewundert die schlaue Übertragung einiger Eigenschaften von Tracheensystemen bei Insekten auf diesen kleinen von Homo sapiens abgeleiteten Leib: Alles ist angepasst, eingefügt, durchdacht, gescheit gezüchtet, und er lässt das Kind wieder los, übergibt es dem Strom, spricht in seinen Speicher: »Wir haben, obwohl sich unsere Zivilisation auf ein Vielfaches des Erdkreises ausdehnt, den Raum nicht für Fraktionen. Die Erde weiß nichts von uns, heißt es in der Redensart, die behauptet, wir wären ihre letzte Hoffnung. Was wird man dort aber sagen, wenn man von uns erfährt? Wenn wir Glück haben, wenn die optimistische Erwartung stimmt, dann werden sie vielleicht sagen: Diese Kosmonauten nehmen eine gute Sache in Angriff, und wenn sie es schlecht machen, so werden wir es besser machen, denn sie müssen mit kargsten, knappsten, schrecklichsten Ressourcen arbeiten, und wir auf der Erde leben im Überfluss, der größte Teil an Not, den wir noch kennen, ist von uns selbst gemacht. Aber wenn das stimmt, dann müssen wir ihnen für ihr Bessermachen möglichst viel konkretes Material liefern. Unsere Aufgabe hat nur mittelbar mit dem Eis zu tun, mit dem Wasser, Treibstoff und Sauerstoff, den man in Aten daraus gewinnt. Und sie hat nur mittelbar mit den biologischen Forschungen und Entwicklungen zu tun, die man in Amor betreibt. Unsere größte Aufgabe, wenn wir wollen, dass man uns auf der Erde als Beispiel, als Vorbild für das, was zu tun ist, erkennt, ist nicht physikalischer oder biologischer Art, sondern

Ein hässlich knacksendes, dann pfeifendes Störgeräusch unterbricht seine Aufzeichnung.

Ein waagerechter, scheinbar unendlicher, als Reifen um seinen Gesichtskreis gelegter roter Strich teilt sein Sehfeld in eine obere und eine untere Hälfte. Schon bevor in Blau die Signatur auf diesem Strich erscheint, weiß Baklanow, wer ihn hier stört: die einzige Person, die sich das mit politischen Nachrichten trauen würde, wenn Baklanow wie gerade jetzt offiziell für eine nichtpolitische Beschäftigung in einem der Dienstpläne steht.

Eine der alten, der menschlichen Hände, die linke obere, drückt auf seinen Adamsapfel, dann spricht Baklanow den Namen in sein Mikro, den er im selben Moment blau auf der roten Linie sieht: »Diduk. Was gibt’s?«

»Was es gibt?«, knarzt der Militärchef von Apollo. »Nadar Jepen gibt’s, wie immer. Und von dem gibt’s viel zu viel.«

»Was will er?«, fragt Baklanow brummig, aber ruhig. Er hat sich angewöhnt, seine Sprache immer ein bisschen zu verschleifen, seine Stimme zu senken, wenn ihm Semjon Diduk derart agitiert kommt. Die Hoffnung, Baklanow könnte mit

Diduk schimpft los: »Die Erde will er bombardieren. Wie immer, um die Menschheit zu retten, deren letzte Hoffnung wir sind, wie immer, und die davon nichts weiß, wie immer, bis endlich die Sprengköpfe und gelenkten Asteroiden in die großen Städte der Imperialisten krachen, wie es die von Explosionen wie von nichts anderem begeisterte Kindskopfseele von diesem Dummkopf Jepen will, damit er sich als großer Armeeführer …«

»Luft anhalten, Diduk. Was gibt’s konkret?«

»Er hat eine von seinen Depeschen bekommen, von seinen kleinen Spionen auf der Erde. Und jetzt ist es, wie immer, fünf vor zwölf, aber originellerweise mal nicht mit dem Argument, wir könnten zu spät kommen, wenn wir jetzt nicht eingreifen, sondern mit dem Gegenteil: Wir könnten zu spät anfangen, unsere Verteidigung zu organisieren.«

Baklanow versteht nicht: »Unsere … unsere Verteidigung? Gegen wen? Gegen Amor, gegen …«

»Gegen die Revisionisten und die Imperialisten von der Erde. Ja, du hörst richtig.« Ein Geräusch, das klingt, als spucke Diduk in irgendeine Ecke – es ist ihm zuzutrauen, mit seiner kostbaren Spucke solchen Unfug zu treiben, denkt Baklanow irritiert. Dann fährt Diduk fort: »Er sagt, die Chinesen bauen ein Schiff mit den Europäern. Zwei Schiffe, um genau zu sein. Die dann eins werden, so wie die JEFREMOW vor dreißig Jahren. Schiffe voller Bewaffneter und Waffen. Schiffe, die uns angreifen und überfallen und erobern sollen. Wie Hitler die Sowjetunion überfallen hat, sagt er. Du weißt, er liebt …«

»Ja, ja«, verkürzt Baklanow unwillig Diduks Rede, »unser Freund liebt die historischen Vergleiche.«

»Und den Alarm, und den Ruf zu den Waffen«, sagt Diduk säuerlich, aber Baklanow lässt ihn nicht weiter über den

Diduk ist nicht zu hitzig, das zuzugeben: »Ja. Wir sind unvorbereitet und haben, wenn sie wirklich, wie Jepen sagt, in zwei, drei Jahren fertig sind damit, diese Schiffe zu bauen, und wenn sie in zwei Jahren starten, von jetzt an … also, ich hab’s schätzen lassen, durchrechnen, und wir haben sechs, sieben Jahre, wenn sie so schnell herfliegen, wie sie können.«

»Das ist wenig Zeit«, sagt Baklanow.

»Jepen ist unterwegs«, sagt Diduk. »Er will’s mit dir besprechen, und er hat drum gebeten, dass du die Genossin Sonntag dazurufst, denn er selbst will sich da nicht melden – er sagt, sie hassen ihn, und hat damit nicht unrecht.«

Baklanow glaubt abermals, sich verhört zu haben: »Unterwegs? Hierher, nach Apollo?«

»Ja. Zu uns. Zu dir«, sagt Diduk, jetzt ruhiger, und lässt seinem Vorgesetzten die paar Sekunden Bedenkzeit, die der braucht, um seine nächsten Schritte zu beschließen. Dann sagt der Sprecher der drei Zonen: »Gut. Zwei Stunden. Du bereitest alles vor – Sendung nach Amor, Gespräch mit der alten Hexe Sonntag, aber auch schon die … Konferenz, die der kleine Aufrührer will. Unterbringung, Sicherheit, den ganzen Kram. Dann komme ich rauf, in zwei Stunden, in die schwarze Kugel am besten, und du trommelst unsere drei Ausschussspitzen zusammen, damit sie dabeisitzen, wenn ich mit Sonntag rede.«

»Ich will mich ja nicht querstellen«, stellt Diduk sich wie erwartet quer, »aber solltest du den Kinderkorridor nicht sofort verlassen, wenn’s so brennt? Niemand wird dir einen Vorwurf machen, wenn du deine niederen Pflichten …«

Scharf schneidet Baklanow dem Soldaten das Wort ab:

»Bitteschön, wenn’s die Menschheit rettet«, seufzt Semjon Diduk, und Baklanow nimmt ihn unerwartet beim Wort. »Es rettet die Menschheit. Jedenfalls dann, wenn wir recht haben und nicht Alexandra Burkhard.«

»Was hat die Verräterin mit dem Dreck zu tun?«, gibt sich Diduk begriffsstutzig. Baklanow lacht: »Als wir unseren Aufstand zu diesem … halben Sieg geführt haben, damals, als sie sich bereit erklärt hat, abzuhauen und uns die Asteroiden zu überlassen, da hatte ich kurz vor dem Start des Restschiffs … kurz vor dem Abflug dieser … EOLOMEA … noch einmal Gelegenheit zu einem … Gespräch unter vier Augen mit ihr. Und ich habe zu ihr etwas gesagt, das auch von Nadar Jepen sein könnte …«

»Chef, nichts, was du sagst, könnte jemals von Nadar Jepen …«

»Ja, schon recht, lieb von dir, aber … ich hab sie angeschaut, diese Frau, die das Kommando an sich gerissen hat, und ich habe ihr einen Vorwurf gemacht, ganz im Stil unseres Freundes, des Genossen Jepen: Wie kannst du das tun? Wie kannst du die Menschheit so im Stich lassen?«

»Und, hat sie was dazu gesagt?« Diduks Neugier, man hört’s deutlich, hält sich in Grenzen. Baklanow aber räuspert sich und sagt mit Gravitas: »Sie wusste immer auf alles eine Antwort. Und ihre Antwort diesmal war: Das da, auf diesem Klumpen Matsch, das ist keine Menschheit. Das wird auch keine mehr. Die haben das verspielt, spätestens in den frühen Siebzigern, als ich auf die Welt kam – ich, sie meinte sich. Und dann sagt

»Nix für mich. Philosophie«, sagt Diduk abschätzig. »Ich mach lieber meine Arbeit.«

»Siehst du«, sagt Baklanow, »dann sind wir uns ja doch noch einig.«

»Ich kümmere mich um alles«, sagt der Soldat und unterbricht die Verbindung, woraufhin Baklanows Gehör wieder frei wird. Das Erste, was er hört, nachdem der Militärbeauftragte sich ohne Gruß verabschiedet hat, ist eins der Kinder.

Es fragt: »Bist du wie ich?«