»Wart nur! Schwein! Ich dresch dich durch, bis du nicht mehr stehen kannst! Bis du nicht mehr sitzen und nicht mehr kriechen kannst!«, brüllt Nianzu Wang. Dabei halten Yin und Tuang den keuchenden Aiguo Sun am rechten und am linken Arm gepackt. Sie drücken so fest zu, dass er seine Hände kaum mehr spürt.
Der Zweiundzwanzigjährige weiß, dass er nicht schluchzen darf. Er muss die Misshandlungen männlich hinnehmen. Nianzu ist für Jähzorn bekannt, der sich erst legt, wenn der Verursacher seiner Wut sich nicht mehr rührt.
Tuang, der Nianzu bei Aiguos Bestrafung zur Hand geht, kennt Nianzus Hass aus der Nähe: Der Ältere hat Tuangs Hund totgeschlagen, als das Tier ihm ein Hühnchenbein klauen wollte.
Aiguo schmeckt Kupfer. Er weiß, dass das Blut ist. Er versucht, mit der Zunge seine Zähne zu zählen, weil er wissen will, ob Nianzus letzte Ohrfeige einen davon gelockert hat. Der Schläger versteht das falsch: »Grimassen, ja?«
Er holt mit dem rechten Arm aus, dann boxt er dem Wehrlosen mit ganzer Kraft in die Magengrube. Der Stoß ist stark wie eine Sturmramme. Aiguos Augen treten aus den Höhlen. Er spuckt Blut. Nianzu spuckt auch, einen dicken Speichelbrocken. Der trifft Aiguo ins Gesicht. Nianzu greift sich vom hüfthohen Holztisch einen der drei Stoffbeutel, die Aiguo aus Beijing mitgebracht hat. Ihr Inhalt ist der Anlass für Nianzus Wutausbruch. Nianzu lockert die Kordel am Verschlussbund, dann kippt er den Beutel mit der offenen Seite nach unten. Bücher fallen heraus.
Es sind deutsche Bücher: Analysis I, Grundlagen der Infinitesimalrechnung für Mathematiker, Physiker, Ingenieure von Martensen, dazu Riemann über die Hypothesen, die der Geometrie zugrunde liegen, außerdem ein flacher, fast quadratischer Bildband über Raumfahrt und ein Roman mit dem geheimnisvollen Titel Der Elfenbeinturm.
Die Bücher fallen Aiguo vor die Füße. Sein Peiniger tritt sie weg.
Dann nimmt er den Beutel in die Linke und schlägt mit der zur Faust geballten Rechten abermals zu, noch kräftiger als beim ersten Mal, keine Sturmramme mehr, ein Dampfhammer, fast auf Brusthöhe.
Aiguo hört ein Knacken. Er ist sicher, dass da Knochen brechen. Ihm wird schwarz vor Augen. Für ein paar Herzschläge verliert er das Bewusstsein.
Als er wieder zu sich kommt, hält Nianzu eine zusammengerollte blaue Zeitschrift in der Rechten wie einen Knüppel. Es sind die Physikalischen Blätter der DPG. Bald wird diese Zeitschrift nicht mehr so heißen, sondern Physik Journal. Der Schläger Nianzu aber wird im Jahr der Namensänderung nicht mehr am Leben sein.
Das liegt auch an dem, was er hier gerade tut, als oberster Tyrann des kleinen Dorfes und jüngster Sohn des Ortsvorstehers. Der Ortsvorsteher lässt die jungen Männer im Dorf Deutsch lernen, seit Nianzus ältester Bruder aus Westdeutschland zurückgekommen ist, wo er die Zukunft gesehen hat. Der Bruder wohnt nicht mehr hier, sondern ist mit seinem Wissen nach Beijing umgezogen, wo er bei Dengs vier Modernisierungen hilft.
Die Lehrerinnen aus der Hauptstadt sind teuer. Die Partei gibt Geld dazu, der Ortsvorsteher selbst legt den Rest aus.
Aiguos Großmutter sagt: »Am liebsten würde er nur seine eigene Brut unterrichten lassen, nicht Leute wie dich, die vielleicht nie etwas mit ihrem Wissen anfangen werden. Wann kommst du je nach Deutschland? Das ist wie der Mond! Aber er weiß, dass das nicht gut aussähe, wenn er nur seine Kinder ausbilden ließe. So bezahlt er eure Stunden mit. Ich gönn’s dem alten Betrüger, dass die andern Kinder sich so viel gescheiter anstellen als sein Nianzu.«
Aiguo war letzte Woche in Beijing, bei einigen Ämtern, im Auftrag von Nianzus Vater.
An seinem freien Tag hat er Nianzus Bruder besucht.
Dem gab er Geld, das Nianzu und Yin zuvor im Dorf gesammelt hatten. Sie wollten seine Abfälle kaufen: Zeitschriften und Bücher, die er aus Westdeutschland beziehen darf, aber nicht alle aufhebt. An die Physikalischen Blätter, Mathelehrbücher und Romane über Türme hatten Nianzu und Yin dabei nicht gedacht. Nianzu brüllt: »Autos! Autos, Frauen und Mode für die Mädchen! Bist du zu dumm, dir das zu merken? Autos! Erzähl mir nicht, dass er so was nicht hat! Ich hab’s selbst gesehen, als ich bei ihm war – Schränke voll. Was?«
Aiguo versucht zu blinzeln. Sein linkes Auge lässt sich nicht öffnen. Seine Unterlippe ist angeschwollen. Speichel und Blutschaum glänzen darauf.
Er denkt an seine Großmutter und daran, dass sie ausgerechnet heute zum Geflügelmarkt gehen muss. Wäre sie hier, bräuchte er von Nianzu und seinen beiden Maulhelden nichts zu befürchten. Denn so leicht es denen fällt, einen Jüngeren und Schwächeren zu misshandeln, so kleinlaut und feige sind sie vor dem strengen Blick einer Autoritätsperson, selbst wenn die Autorität nur daher rührt, dass der Ortsvorsteher ihr Achtung entgegenbringt und ihren Rat schätzt. Aiguos Großmutter ist die Witwe des angesehensten Arztes der Gegend.
Sie hat seinen Ruf geerbt.
Ein letztes Mal versucht Aiguo, sich zu rechtfertigen, würgend und atemlos: »Er … er hat … alles, was du … wolltest, was ich … bringen sollte. Aber er … er sagt, nein … das … rückt er nicht raus, auch nicht für Geld … Er sagt … du sollst lieber lernen, als … als Träumen nachzuhängen … von schnellen Autos und … Träume … ge… brauchte Träume. Er sagt, du sollst eigene Träume … sollst auf den Genossen Deng hören, wie euer Vater … Wissenschaft und Technik und die … vier Modernisierungen … Sonst gibt es keine moderne Landwirtschaft, keine moderne … Industrie und keine mo… Verteidigung, und wir …«
Die Physikalischen Blätter treffen mit lautem Klatschen Aiguos linke Wange. Der Schlag ist so heftig, dass Aiguo einen Schneidezahn verliert.
Er lutscht am Bruchstumpf herum und begreift: Eine Zurechtweisung vom älteren, erfolgreichen Bruder, der den Respekt des Vaters hat, ist das Letzte, was Nianzu hören will.
»Vier was? Schwein? Was? Vier Modernisierungen?«, schreit der Jähzornige. »Ich werde dir die Fresse modernisieren, du kleiner Haufen Scheiße! Und dann knöpfe ich mir den Herrn Bruder vor, das ganz große Stück Scheiße! Und dann kommt euer Genosse Deng dran, das allergrößte Stück Scheiße! Ich habe keine Angst vor …«
Yin, der während der Prügelorgie immer wieder aus dem Fenster gelinst hat, um rechtzeitig vor möglichen Zeugen zu warnen, fällt Nianzu ins Wort: »Lass ihn, er hat’s doch begriffen. Was soll das, willst du ihn umbringen? Und solche Reden über Deng …«
»Über Deng? Wen, Deng? Wer bist du, der Parteikommissar?«, kreischt Nianzu, jetzt völlig außer sich, und beginnt, mit der Zeitschrift den verblüfften Yin auf die Schultern, gegen den Hals und auf den Kopf zu schlagen. So lockert sich Yins Griff um Aiguos Arm. Der Gequälte erkennt, dass das seine einzige Chance ist, weiteren Schlägen zu entgehen. Er reißt sich von Yin los, schwingt mit dem frei gewordenen Arm weit aus und trifft Tuang. Der erschrickt und lässt Aiguo ebenfalls los. Zwei Schritte rückwärts entziehen den Gequälten der Reichweite seiner Peiniger. Beinah fällt er dabei über einen Stuhl, fängt sich aber im Stolpern, im Laufen. Vornübergebeugt rennt er nach rechts, zur Tür hinaus, auf die schlammige Straße und übers kleine Rübenfeld. Er hört die drei Verfolger fluchen, rennen.
Ein Bauer aus dem Nachbardorf, eine Gans unterm linken Arm, sieht die vier und lacht. Aiguo verspürt einen sinnlosen Hass auf den Mann, dann hat er mit seiner Flucht zu tun, mit Rennen, Keuchen, Panik.
Schmerzen spürt er nicht, als er sich den großen Zeh des rechten Fußes an einem schwarzen Stein anstößt. Der Zeh bricht an zwei Stellen, aber Aiguo hastet weiter, weint und keucht.
Tuang ruft bellend, atemlos: »Lass! Lass … ihn … laufen, den dummen Hasen!«
Tuang weiß, dass er und seine Kumpane zwar physisch stärker, aber nicht unbedingt schneller sind als der Gejagte. Auf dem Sportplatz hat Aiguo immer wieder kleine Siege errungen. Jetzt sieht er sich nicht um, sondern holt das letzte bisschen Beschleunigung aus dem geschundenen Körper.
Im Humpelgalopp erreicht er hohes Gras, verschwindet darin. Mit dunklen Flecken im Gesichtsfeld läuft er weiter. So, denkt er wirr, muss sich eine Rakete fühlen, die dabei ist, die Anziehungskraft der Erde zu überwinden.
Als Aiguo schließlich langsamer wird, geschieht das nicht willentlich, sondern von allein. Er hat die alte Betonröhre am abgetrennten, zugemauerten Kanalisationsabschnitt im äußersten Südwesten der Gemarkung erreicht. Aiguo wankt mit letzter Kraft in den Schatten. Er legt sich auf die kühle Krümmung.
Er fällt in eine Ohnmacht, die mehrere Stunden anhält.
Als er zu sich kommt, ist die Welt stiller, als er sie je erlebt hat.
Sehr leiser Wind bewegt das hohe Gras. Aiguo hört ein nasses Schmatzen, während er sich aufrichten will, weil er auf den Tiefpunkt der Röhre gerutscht ist, in eine Pfütze.
Sein rechter Arm, auf dem er gelegen hat, ist taub und kribbelt. Aiguo stemmt sich mit dem andern Arm hoch, dreht sich, richtet sich auf. Der gebrochene Zeh pocht dumpf, der Schmerz wird in den nächsten Stunden sehr viel schlimmer werden.
Gedämpfte Schritte auf hartem, trockenem Boden sind das Nächste, was Aiguo hört. Unwillkürlich duckt er sich, geht in die Hocke. Der Zeh sendet einen Stichschmerz das Bein hoch. Aiguo verbeißt sich den Aufschrei. Sind das die Schläger? Wie lange war er nicht bei sich? Eine laute, tiefe Stimme zerstreut seine Angst, so klingt keiner der drei: »Aiguo Sun! Bist du hier unten? Gib Laut!«
Aiguo fällt nicht ein, sich zu widersetzen, er ruft sofort: »Hier! Hier … an der Röhre!«
Wenig später kämpft sich ein Mann aus dem Dickicht, den Aiguo sofort erkennt: Es ist Herr Ho, eine Art Polizist, soweit Aiguo weiß, freilich ohne Uniform, aber in Amt und Würden. Herr Ho wohnt in der Kreisstadt, ab und zu kommt er beim Ortsvorsteher vorbei. Als er Aiguo entdeckt, macht er ein missbilligendes Lippengeräusch, dann stellt er sich vor ihn hin, nimmt ihn bei den Schultern und richtet ihn auf: »Junge! Wie siehst du aus? Eine Schande. Deine Großmutter ist von Sinnen vor Angst. Schau mich an! So. Mach die Augen auf. Beide. Ah, geht nicht, ja. Was ist? Heul nicht. Wer war das?«
Ohne Blubbern, aber mit einem Eifer, als habe er diese Sätze jahrelang zurückhalten müssen, platzt es aus Aiguo heraus: »Nianzu, Yin und Tuang, die drei Verbrecher, weil ich keine Autozeitschriften aus Beijing zurückgebracht habe, sondern Wissenschaft. Sie haben mich geschlagen, sie haben mich beschimpft und beleidigt. Mich und den Genossen Deng, weil ich …« Die Wahrheit, die er vorhin nicht sagen wollte, bricht sich Bahn: »Weil ich überzeugt bin, dass wir Wissenschaft lernen müssen. Deshalb habe ich gar nicht versucht, Nianzus Bruder zu überreden, mir Autozeitschriften und die Zeitschriften mit Frauen zu geben, sondern nur Wissenschaft und Bücher über die Zukunft. Wir sind im Rückstand! Unser erster Satellit ist erst 1975 in die Umlaufbahn geschossen worden! Die Imperialisten werden die Zukunft besetzen. Ich will meinen Teil tun, aber Leute wie Nianzu wollen … Nianzu hat gesagt, der Genosse Deng sei ein … ein Stück Scheiße!« Aiguo hat sich verausgabt. Er ist seine Anklage losgeworden und steht jetzt stocksteif da, vom Erlebten und vom Ausgesprochenen erschüttert. Herr Ho, einer von sechs Männern, die ihn stundenlang gesucht haben, schaut ihn lange an, forschend und zweifelnd.
Dann nehmen Hos Züge eine seltsame Weichheit an, die Aiguo so noch nie gesehen hat, als er fragt: »Das hat er gesagt? Dass der Genosse Deng ein Stück … Scheiße sei?«
»Ja«, sagt Aiguo.
Herr Ho befragt ihn für den Augenblick nicht weiter, sondern legt Aiguos Arm über seine Schulter und hilft dem Humpelnden aus der Grube.
Ho sagt nichts davon, was in Beijing seit drei Tagen geschieht; nichts über den Tumult und die Toten. Er klärt den Erschöpften nicht darüber auf, welche Folgen seine Anklage haben wird. Nianzu landet bald danach im Gefängnis und überlebt seine Haft nicht.
Aiguo erfährt fortan wohlwollende Förderung seiner Ambitionen. Bald wird er an derselben Universität studieren, die der Bruder des Mannes besucht, dessen Leben Aiguos Beschuldigung beendet hat. Aiguo wird sich später schämen für die Denunziation, wird Jahre in Reue verbringen.
Dass ihn aber jemand anderer bei der Betonröhre hätte finden sollen als Herr Ho, wird er sich nie wünschen. Denn ohne Herrn Ho hätte der Enkel eines Arztes und Sohn zweier bei einem Unfall verstorbener Bauern aus einer unterentwickelten Provinz des bevölkerungsreichsten Staates der Erde wohl niemals eine Rakete aus der Nähe gesehen.