»Das soll ein Kopf sein, pff. Das ist doch kein Kopf. Wenn es da so summt, wenn er sich dazu herablässt, zu sprechen … ja, ich weiß, Chef, der Genosse … Nadar, den meine Leute jetzt alle Nadir nennen, richtig, Nadir wie in Tiefpunkt, der überspielt euch dauernd Supplemente und Graphen und Fußnoten in den TS, wenn ihr zusammen am Tisch sitzt, du und die Sonntag und der Herr Genosse Nadar Jepen eben, aber dabei tut er so, als wäre er noch auf der wirklichen Welt, nur … wenn er das tut, wird er mir noch leidiger, noch unheimlicher, dieses Summen, als ob ein Klumpen Hornissen …«
Semjon Diduk gerät immer mehr in Rage; seine Wörter schieben sich beim Sprechen ineinander. Baklanow, den er damit zu agitieren sucht, widerspricht milde: »Lass ihn doch bizarr sein, wenn er halt unbedingt bizarr sein will. Jepen ist schon ein guter Kopf, das lass ich mir nicht abschwatzen, Semjon Iwanowitsch …«
Diduk sieht’s nicht ein: »Wenn du sagst, guter Kopf, Genosse, dann erwarte ich ein Ding mit zwei Ohren, zwei Augen, Nase, zwei Nasenlöcher, Stirn, nicht unbedingt Haare, aber bitte … der sieht aus, als hätte jemand eine Fliege bauen wollen und am Hals aufgegeben, weil er nichts bauen konnte als ein Facettenauge aus tausend Facetten. Wie Öltropfen sehen die aus, diese Augen. Ich hab immer Angst, wenn er sich bewegt, dass mir einer davon irgendwohin spritzt, zum Beispiel ins Gesicht, weil …«
Diduk holt kurz Luft. Die Schimpftirade hat ihn allen Atem gekostet, dann stolpert er fast über eine der »Krabben«, wie er die Halbwüchsigen mit den Spinnenbeinen nennt, die auf der grauen Straße mit Ausbesserungen und Relaislegen beschäftigt sind. Diduk flucht, fängt sich. Dann sagt er: »Wenn du dem was ins Gesicht sagen willst, wo sprichst du dann überhaupt hin?« Baklanow lacht gutmütig und hebt den oberen seiner beiden rechten Arme, um seinem treusten Gefolgsmann, Oberst Semjon Diduk, entweder mannhaft ins Kreuz zu schlagen oder ihm die Hand auf die Schulter zu legen. Aber Diduk bleibt unerwartet stehen, beugt sich am Geländer der grauen Straße vor und brüllt nach unten: »Stau! Seht ihr das nicht, ihr Ärsche? Die ganze Südseite ist voll! Alles grün, he!«
Sofort eilen drei der Schwarzuniformierten vom technischen Stab zur Rechenkette, die sich dort gerade, einer Ziehharmonika gleich, die von den muskulösen Armen eines Riesen zusammengedrückt wird, zu verklumpter Dicke zusammenfaltet, was die Männer und Frauen, die der Offizier barsch an diese Stelle befohlen hat, augenblicklich mit ihren Handplatten sauberzurechnen versuchen.
Über und unter den beiden Männern ranken sich heidelbeerfarbene, safranrote und preußischblaue Lichtbögen um- und ineinander, die eine Abstands- und Maßschätzung Baklanows oder Diduks, sollten sie sich dabei auf ihre Menschenaugen und Menschenhirne verlassen, für mehrere hundert Meter dick, Dutzende Kilometer weit weg und Hunderte Kilometer lang halten müssten: geschlossenes, gigantisches Flechtwerk, das in Wahrheit kleiner ist als der Zwischenraum, der die durchschnittlichen Elektronenwolkenbahnenknäuel von den Atomkernen der meisten stabilen Elemente trennt.
Das ist das sprühende Herz der Monodromiefabrik des Asteroiden Cybele, der an seiner weitesten Stelle rund dreihundert, an seiner schmalsten immerhin noch zweihundertdreißig Kilometer Umfang hat. Die Menschen, die in der Monodromiefabrik arbeiten, nennen den Ort aus längst nicht mehr lustiger Gewohnheit »die Wodkakartoffel«, weil man, wenn man sich länger als vier, fünf Stunden am Stück im bewohnbaren und bewirtschaftbaren Bereich dieses Himmelskörpers aufhält, in Gefahr gerät, rauschartige Trübungen des Bewusstseins zu erleben, Verlust des Körpergefühls und Gleichgewichtssinns, Taumel, Wortfindungsstörungen und schließlich bleibende neurologische Schäden.
Die Monodromiefabrik arbeitet sich auf scheinbar erratischen, computational irreduziblen Bahnen auf der Oberfläche von Cybele mal in diese, mal in jene Richtung voran, auf vierundzwanzig in ausgestrecktem Zustand (der nie vorkommt) etwa fünf Kilometer langen Spinnenbeinen. Die eigentliche Fabrik sitzt im Zentrum, das in einen Würfel von dreihundert Metern Kantenlänge passen würde, selbst aber nicht Würfelform, sondern, von außen betrachtet (was sehr selten vorkommt: Sie ist für normale Teleskopie und Echoverfahren ausnehmend gut getarnt), die Gestalt einer Spindelzyklide hat.
Diese Form ist nicht die verbreitetste für Monodromieanlagen im Zivilisationsbereich der Dysoniki: Hornzyklide (wie auf Europa, Nemesis, Fortuna, Juno und Winchester) sind häufiger, gefolgt von triagonalen Cupolae (wie auf dem winzigen Objekt Gaspra, das an seiner dicksten Stelle achtzehn, an seiner dünnsten bloße zehn Kilometer breit beziehungsweise hoch ist, außerdem auf respektive in Pallas und Camilla). Es gibt sogar (auf Herculina und Alauda) zwei Monodromiefabriken, die als Gyrobifastigium konstruiert sind, wohl die exotischste, jedenfalls eine unökonomisch aufwendig gebaute konvexe Polyederform, in der das Grundprinzip der praktischen Implementierung monodromer Industrie verwirklicht wurde.
Dieses Grundprinzip besteht darin, dass bestimmte Kachelungen des drei- oder vierdimensionalen Raumes bei virtuellen Spiegelungen der jeweiligen Anlage gewahrt bleiben müssen, weil nur diese Vorkehrung, ein probabilistischer Redundanzwall, den Kollaps der zentralen Fertigungsvorrichtungen zu reinen Rechenoptionen (also zu Objekten, die weder Ausdehnung noch Dauer haben und im strikten Sinn nicht mehr »wirklich« sind) länger als für annähernd doppelte Planckzeit verhindern kann.
Wenn Baklanow oder seine Untergebenen eine dieser Anlagen kontrollieren, denken sie an die Gefahr des Verlöschens ihrer Struktur in reine Unwirklichkeit kaum je, sowenig wie daran, dass ihre Sinne und ihre Nervensysteme eigentlich nicht dafür gemacht sind, die Lichtbögen und das, was zwischen ihnen und den Logikgattern oder sonstigen Schaltkreiselementen des rechnenden Teils der Fabrik hin und her webt, wedelt, wuchert und singt, als lebendig zu erkennen.
Der Raum ist indes tatsächlich belebt von Intelligenzen, die sich die Menschen dienstbar gemacht haben – von etwas, das keine fixe Größe hat, einerseits zwischen Sternen und Sternhaufen, kreuz und quer durch Laniakea und darüber hinaus, aufgespannt ist, andererseits die Lücken ausnutzt, aus denen scheinbar feste Elemente gestrickt sind, und drittens die Randzonen des Sonnensystems aus einer nie erklärten Scheu meidet. Was da lebt, ist kein »Wesen« im menschlichen Sinn, eher ein Empfinden in Segmenten von Kausalketten unendlicher Feinheit, ein energetischer Austausch durch Venen- und Kapillarsysteme, die sich auf den Kämmen der Gravitationswellen einander fernstliegender astronomischer Objekte treffen: die Lebensform, die das Forschungspersonal der IWAN JEFREMOW entdeckte, als es Experimente verschärfte und zuspitzte, die herausfinden sollten, wieweit man Computer der Größe nach reduzieren konnte, um bestimmte Rechenaufgaben gerade noch lösen zu können; ein »Entlangtasten an den Wänden der Kolmogorow-Komplexität«, wie es Baklanows im dritten Reisejahr der JEFREMOW an Bord bei einem Unfall ums Leben gekommener Freund, der Informatiker Walentin Nikolajew, einmal ausdrückte: »Die Kolomogorow-Komplexität jeder Sache, die wir wissen können, ist ein Maß für das kürzeste Computerprogramm, das nötig ist, diese Sache zu berechnen. Aus prinzipiellen logischen Gründen lässt diese Komplexität selbst sich allerdings nicht berechnen, das heißt, wir können nie beweisen, dass wir das eleganteste Programm schon gefunden haben. Diese Komplexität ist damit ein Ideal, wie die klassenlose Gesellschaft, und man kann ja immerhin sagen, jetzt ist man näher dran, wenn ein kürzeres Programm, das eine bestimmte Sache ausspuckt, gefunden wird als das bislang fürs kürzeste erachtete. So ein ›kürzestes Programm‹ ist, in materiellen, operativen Begriffen, aber ja einfach die sparsamste Maschine, nicht? Die, die am wenigsten Platz wegnimmt oder am wenigsten Energie verbraucht, was übrigens auch nicht immer dasselbe ist, wegen Abwärme und Überhitzung und dergleichen. Das haben wir gesucht, weil das Kostbarste bei der JEFREMOW-Mission ja die neuen Ergebnisse sind. In jedem Kopf ein Computer, der schneller ist als alle Computer bisher, das war die erste Vorgabe, und dann: um jeden dieser Computer herum auch ein optimiertes Hirn, das damit Schritt hält, die Maschine einholt, dann überholt, das heißt: mit der Maschine zusammen einen besseren Computer baut, der wiederum ein besseres Hirn fordert, und das alles auch noch geknüpft an eine schnellere Rate der biologischen Reproduktion der idealen Umwelt für so ein Hirn-Maschine-System. Und diese ideale Umwelt sind ja Menschen. So: immer kleinere Maschinen, und währenddessen rechnete man an Modellen, die den Punkt bestimmen sollten, ab dem man über das, was dieser Prozess dann weiterhin noch hervorbringen würde, einfach nichts halbwegs Wahrscheinliches, halbwegs Fassbares mehr würde sagen können, also den Punkt, den die Techno-Spinner des Imperialismus ›Singularität‹ nennen. Der Witz ist, dass wir das wörtlich genommen haben, dass wir mit unseren immer kleineren, immer schnelleren Maschinen, die weitere Maschinen bauen halfen – den Dyson-Replikatoren, benannt nach dem westlichen Physiker Freeman Dyson, der die Idee entwickelt hat, dass Maschinen, die bessere, kleinere, feinere Maschinen bauen, unsere idealen Wegbegleiter auf der Reise zu den Sternen sind –, voller Eifer auf diese Singularität zugeschossen sind, in den Ångströmbereich erst, ins Nanorevier, in die Picowelt schließlich, in die Planckrealität. Und da stellte sich dann eben raus, dass das mit der Singularität keine Frage des Wann ist, wie in: Wann kommen wir dahin, dass wir uns nicht mal mehr vorstellen können, wie es weitergeht, sondern nur eine Frage des Wie und Wo. Jederzeit übrigens, überall, die Welt ist nichts als das Kreiseln und Strudeln von Möglichkeitswirbeln um solche Singularitäten, wie Wasser um einen Abfluss kreist. So hat sich uns die Welt der Monodromie gezeigt, mit ihren Geschöpfen der äußersten Unwahrscheinlichkeit, mit Tierchen und Seelchen, die viel besser für uns tun konnten – wenn wir sie denn mit Rechennahrung dazu verführten, mit Computerspielen aus Ladung und Spin und Magnetismus –, was wir die Dyson-Replikatoren bislang hatten tun lassen. Vergiss es nicht, wenn du auf die Genossin Burkhard schimpfst. Sie war’s, die zuerst sagte: Diese kleinen Gespenster, die sich bis zu sehr großen Gespenstern aufblasen können, wenn sie uns auf Fragen antworten, sind knappere, schnellere Dyson-Replikatoren.«
Weil Baklanow schon damals, als Nikolajew ihm diese Erläuterungen schenkte, Verantwortungsträger war, wenn auch nur im Rang eines mittleren Offiziers an Bord des Schiffsteils, der im Asteroidengürtel gestrandet war, begnügte er sich nicht mit der populärwissenschaftlichen Darlegung, sondern ließ sich auf einem kleinen Tastschirm, den er seinerzeit, noch vor der dritten, dysonisierten Aufrüstung seines Zentralnervenystems, überall mit sich herumtrug, die mathematischen Details darlegen. So erfuhr er, dass »Monodromie« der Name von Bewegungsformen analytischer, topologischer oder algebraischer Untersuchungsgegenstände im logischen (und also auch physikalisch-tatsächlichen) Wirkungsbereich von Singularitäten ist.
»Monodrom« heißt dabei so viel wie »alleine um etwas laufen«. Die mit diesem Wort bezeichnete Industrie, von der die Dysoniki sich seither gefährlich abhängig gemacht haben, lebt von Funktionen in jenem heiklen Bezirk, die sich je und je weigern können, einzelwertig und eindeutig zu sein. So ein »Monodromieversagen« lässt sich durch die Bestimmung einer gruppentheoretischen Struktur, einer »Monodromiegruppe« beschreiben, einer Gruppe von Transformationen, in der erfasst ist, was im Umlauf um die Singularität passiert.
Der Begriffsapparat ist einigermaßen barock und kompliziert; Nikolajew kam nicht umhin, den gelehrigen Baklanow mit Ausführungen über analytische Varietäten und deren Dimensionen, über Kompaktheit und Zusammenziehbarkeit, Garben, Faserungen, Homotopieklassen, Homo- und Diffeomorphismen und einem ganzen Garten unübersichtlichster Wege von trügerisch simplen Axiomen zu verstiegenen Folgerungen zu verwirren. Was Baklanow am Ende der drei jeweils etwa vierstündigen gemeinsamen Tutorialssitzungen davon behielt, konnte er immerhin in durchaus anschaulichen selbstgewählten Worten ausdrücken: »Weißt du, Genosse Akademiker, warum man nicht im Gleichschritt über eine Brücke marschiert, auch dann nicht, wenn man nur eine Handvoll Leute ist?« Der Physiker riet: »Resonanz? Schwingungen?«
»Ja. Jede Soldatin, jeder Soldat weiß das. Man kann riesige Bauten zum Einsturz bringen, wenn die Resonanzfrequenz des Baus, den man da zum Schwingen bringt, die Anregung aufnimmt. Und man kann ein Glas zersprengen, ohne es anzufassen, mit Schall, das ist ganz dasselbe. So erkläre ich mir das immer – wie die Quantenwelt das Größere beeinflusst, wie die Geometrodynamik in der allgemeinen Relativität das viel Kleinere beeinflusst und dass es ganz drauf ankommt, was man mit Länge oder Kürze einer Sache meint, die man manipuliert, mit Dauer eines Zeitintervalls auch, also nicht einfach Relativität an sich, sondern über Handlungen vermittelte Relativität – etwas beschleunigen, etwas in Schwingung versetzen. Da habe ich gelernt, es geht ums Machen, nicht um Sachen. Nichts ist Sache für sich. Deshalb konnte ich dann auch akzeptieren, dass etwas Ursachen, Verläufe und Ergebnisse haben kann, die sich nicht in dieser Reihenfolge auf eine Perlenschnur bequemen wollen, wie das die Alltagserfahrung will, und dass eine Rechnung beliebig wie ein Kartenstapel durcheinandergemischt werden kann und trotzdem dieselbe Rechnung bleibt und dass wir in die kleinen Räume schlüpfen können, die von den Diff bewohnt werden, wenn wir entsprechende Türchen passieren, die aus Anregungen, also Marschierschwingungen, aber eben nicht mit den Füßen getrampelt, sondern mit Informationsmanipulationen von Wahrscheinlichkeitsamplituden von Hirnvorgängen vor der Dekohärenz zu tun haben, dass wir uns also buchstäblich in diese Kleinigkeiten rein- und wieder rausdenken können, mit Hilfe der Computer in unseren Köpfen, die das Mögliche berechnen, wie es monodrom um die absolute Sicherheit der Singularität herumspiralt. Monodromiemotoren, Monodromiebiotik für die immer bessere Integration von Maschinen und Menschen, und die Monodromiebomben, mit denen wir uns gegen Naturbedrohungen wie aus der Reihe tanzende Brocken und irgendwann vielleicht auch wieder gegen Menschen behaupten werden … nach dem, was du sagst, muss ich mich jetzt nur noch damit abfinden, dass es groß und klein so sehr nur abhängig von Handlungen gibt wie lang und kurz, schnell und langsam et cetera. Dass die Welt nicht so ist wie im Theater, Einheit des Ortes, der Zeit, der Handlung und so fort.«
»Sie ist auch im Theater längst nicht mehr so.«
Darauf hatte Baklanow nur gelacht.
Er denkt und handelt maßvoll, was ihn zum guten Kader macht. So nimmt er jetzt einen Schritt Abstand vom Soldaten Semjon Diduk, während der die Arbeitenden unten am zentralen Drehrohr überm Antriebskopf anschreit: »Faulenzer und Nichtsnutze! Es muss wieder Tote geben wie auf Nurek, was?«
»Lass mal sehen«, unterbricht Baklanow das Geschrei, und der Untergebene hält ihm die Rechte an den Nacken und spielt alle Daten in Baklanows Kopf, die er selbst als jederzeit Zugangsberechtigter sich durch bloßen Augenschein von der heiklen Stelle im Arbeitsablauf hat ziehen können, was Baklanow nicht kann und auch gar nicht will – wären seine Wahrnehmungskanäle stets für alle Details der Vorgänge, deren Gesamtheit seiner Verantwortung unterstellt ist, freigeschaltet, so wären Staus nicht mehr nur potentielle, höchst gefährliche Erscheinungen der Fabrikation von Monodromaterial wie in dieser Fabrikationsanlage, sondern Alltagsereignisse im Schädel des Chefs, samt Risiko von Störungen seines Biogehirns bis hin zu Blutgerinnseln.
Baklanow schließt die Augen, runzelt die Stirn und rümpft die Nase, lauter Anzeichen äußerster Konzentration.
Er weiß, dass Diduk solche menschlichen Eigenheiten an seinem Chef schätzt. Der Junge ist zweiundzwanzig Jahre alt, aber ganze Zeitalter trennen ihn von einem alten Sack wie mir, denkt Baklanow, während er Kolonnen partieller Differentialgleichungen vor seinem geistigen Auge paradieren lässt, die das Stauproblem beschreiben, und die Monodromie dieser Knizhnik-Zamolodchikov-Zeilen, die einen donutartigen Ring mit Einzelpunktierung erfassen, im Kopf nachrechnet, mit Unterstützung von in seiner Hirnrinde eingesenkten elektronischen Zusatzprozessoren.
Zweiundzwanzig Jahre alt: Diese Zahl bedeutet nichts, denn unsere besten Leute sind in einem Alter, in dem man früher auf der Erde mit einem Wort der Amerikaner, das Baklanow nie leiden konnte, als »Teenager« galt. Swerkunowa war gerade sechzehn, als sie allen drei Zonen, Aten, Apollo und Amor, das Geheimnis der beschleunigten Reproduktion mit Hilfe der Diff schenkte, und sie war zwölf gewesen, als sie sowohl den Dysoniki wie den damals noch mit einer Kontrolldelegation in Amor stationierten Verrätern von der EOLOMEA (die davon per Funk erfuhren) das Leben mittels ihres synthetischen Peptids, das die Apoptosis von Zellen blockieren konnte, um Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte alter irdischer Zeit verlängerte. Die größte Biologin in der Geschichte des Homo sapiens war nach alten Maßstäben noch ein Kind, als sie ihre Wunder wirkte, und ist jetzt, mit Ende zwanzig, bereits im Ruhestand, das heißt, nur noch mit leichten Verwaltungsarbeiten be traut, zur Belohnung für die geleisteten unschätzbaren Dienste.
Swerkunowa gehört, überlegt Baklanow, während er Lösungen für seine Gleichungen ineinander überführt, genau wie Diduk zur ersten Generation von Menschen, die nicht auf der Erde geboren wurden. Er selbst als jemand, der in einem russischen Krankenhaus seinen ersten Säuglingsschrei ausgestoßen hat, kann sich kaum vorstellen, wie das für diese Menschen ist.
Swerkunowa kommt damit zurecht, indem sie sich zurückzieht, soweit das überhaupt möglich ist in einer Gesellschaft, deren Individuen in dieser kargen Steinbrockenwelt stärker aufeinander angewiesen sind als je irgendwelche Menschen seit der Jäger-und-Sammler-Zeit, und Diduk tut’s, indem er sich über das körperliche Erscheinungsbild des geschätzten Genossen Nadar Jepen von Aten ereifert, über dessen Kopf aus sehenden, hörenden, schnuppernden und mittels einer Art Fledermausradarsinn die Umwelt abtastenden Öltröpfchen, über dessen Lederflügel, überhaupt das Ganze.
Baklanow kennt Jepen noch aus der Zeit vor der biotechnischen Auf- und Umrüstung, als der heute Radikalste noch ein blasser, spindeldürrer Techniker gewesen war, mit schöngeistigen Vorlieben allerdings. Außer Baklanow selbst gab es in der ursprünglichen IWAN-JEFREMOW-Besatzung wohl niemanden, der Jepen an Belesenheit ebenbürtig war – von den russischen Klassikern wie Gogol oder Puschkin, dem finsteren Dostojewski und dem christlichen Tolstoi bis zu den vertrauenswürdigen Sozialisten Gorki und Majakowski reichte seine Belesenheit, aber auch weit ins Westliche, vor allem Englische, besonders Shakespeare, dessen Konkurrenten Marlowe und den von Baklanow geschätzten Milton, bis hin zu verdächtigen Linksradikalen wie Shelley, konnte Jepen damals alles Mögliche, das man der JEFREMOW auf Mikrofilm mitgegeben hatte, auswendig rezitieren.
Baklanow ist nicht der Einzige, der in Erinnerung an die »strenge Schwärmerei« (so nannte das damals Eva Sonntag, die heute Amor regiert) des jungen Jepen den etwas weniger jungen Jepen im Grunde für einen Romantiker, einen Helden seines eigenen phantastischen Versdramas hält. Sieht der Fanatiker mit seinem schlanken, auf dem Rücken behaarten Körper, den Stelzenbeinen, den Schwingen mit Spiegelzellen und dem seltsamen Haupt nicht genau so aus, wie sich irgendein modernistisch-dekadenter Maler, vielleicht ein Expressionist oder Surrealist, Miltons unbeugsamen Satan vorgestellt haben könnte?
Dass er nicht noch nach Schwefel riecht, ist fast enttäuschend, denkt Baklanow.
»Chef? Alles in Ordnung?«
Diduks Hand an seinem oberen Oberarm drückt sanft zu und holt Baklanow damit aus seinen Gedankenfluchten: »Du hast nur grad so abwesend geguckt. So glasig. Ich dachte, vielleicht spielt man ihm irgendeine alarmierende Meldung durch den TS …« Baklanow sagt: »Nein, ich war nur … hab gegrübelt über uns Alte, Jepen und mich, und euch Junge, dich und Swerkunowa …«
»Wie, ich und Swerkunowa? Die Frau ist unser größtes Genie bis jetzt, und ich bin ein Knüppel.«
»Ruhig«, sagt Baklanow gemütlich, so dass Diduk ihn loslässt, während der Chef dem Soldaten die obere Hand auf die rechte Schulter legt und ihn vom Geländer weg zurück auf die Straße führt, die keine Straße ist, sondern der einzige für Ungeschützte betretbare Pfad durch einen unvorstellbar schmalen, niedrigen, kleinen Raum.
»Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, warum Swerkunowa sich aus der aktiven Arbeit verabschiedet hat und immer weniger mit politischen Vorschlägen von sich hören lässt, seit im Dreierausschuss die Radikalen um Jepen mehr und mehr Oberwasser kriegen und sich in Apollo und Amor der interventionistische Gedanke durchsetzt.«
»Ach ja, wir sind die letzte Rettung der Menschheit, auch wenn die das nicht weiß und nicht wissen will …«, murrt Diduk säuerlich, worauf Baklanow seine Hand zurückzieht und sagt: »Ich dachte mir nur, vielleicht ist Swerkunowas Überdruss aus derselben Quelle entsprungen wie dein offener Hass auf Jepen: Ihr seid beide Kosmokinder und wollt so viel Menschliches wie möglich bewahren, es ist eure Verbindung zur Vergangenheit, deswegen haben sich weder Swerkunowa noch du je physisch verändern lassen, gut, ein bisschen Metall in die Knochen, damit die Muskeln zu tun haben und nicht verkümmern, und das biotische Zeug natürlich, das wir alle haben, seit Swerkunowa es gefunden hat. Aber ihr seht aus wie Menschen, während Jepen und auch ich sozusagen gar nicht genug Umbauten und Verbesserungen an uns vornehmen lassen können, weil das unser … na, unser Gefühl dafür, was wir sind, wer wir sind, nicht bedroht.«
Der Generalsekretär hält inne, weil er bemerkt hat, dass sein bester Soldat unmerklich den Kopf schüttelt. Baklanow hebt die Augenbrauen, eine Aufforderung an den andern, sich zu erklären, und Diduk zögert nicht damit: »Es tut mir leid, Genosse Chef, aber das ist gar nicht nötig, dieses Psychologisieren. Wenn ich’s mal übernehme, dieses … dieses Zusammenpacken von Swerkunowa und mir und vielen anderen, die Jepen nicht mögen, dann muss ich dir leider sagen, was du eigentlich auch so wissen könntest – psychologische Gründe für unsere Abneigung braucht’s keine, es reicht diese grundfalsche politische Linie. Der Mann hetzt unsere Leute auf, der Mann stört die fleißige, wertvolle Arbeit mit seinem fanatischen Dreck – wir müssen hin, bevor sie herkommen: Woher weiß er, dass sie herkommen, und woher weiß er, wie lange sie brauchen? Ich hab mir das Material von eurem Palaver angeschaut, du, Sonntag, Jepen. Wenn ich es richtig sehe, brauchen sie bei dem Schiff, das da in Arbeit ist, wenn sie wirklich erst zu uns und dann zum Jupiter wollen … es heißt, sie werden keinen richtig heftigen Antrieb hochfahren, bevor sie bei uns waren, uns Treibstoff gestohlen haben, uns klargemacht haben, wer der Chef ist, nicht wahr, Strafexpedition, Militär und so weiter, weil sie ja nicht wissen, was hier wirklich los ist, weil sie keine Chance haben gegen unsere Abwehr, unsere Waffen, unsere Technik … Gut, wie lange brauchen sie mit ihrem Quatschantrieb? Zwei Jahre, drei Jahre, eher vier. Erst nach dieser Station geht es schneller weiter, aber da brauchen sie dann noch mal … zehn Jahre, weil sie zwischendurch bremsen, testen, Versuche durchführen, sich mit der Erde abstimmen … ich muss das ja alles glauben, diese Informationen, mit denen Jepen angibt.
Und wenn ich das alles für wahr halte, dann starrt mich aus den Daten dieser armen Menschen da die nackte Wahrheit an, dass das überhaupt keine ernstzunehmenden Gegner für uns sind, sondern ganz arme, ahnungslose Hunde. Gegen solche Jammergestalten plant und veranstaltet man doch keinen Präventivschlag, was soll denn das? Das, es tut mir leid, ist unwürdig und ekelhaft – die Rote Armee hat keinen Krieg verloren, nicht einen einzigen, bis auf den Kalten, den die Politik verloren hat, nicht das Militär, und sie hat auch deswegen keinen Krieg je verloren, weil sie eben eine Ehre im Leib hatte, weil sie keine Schwächeren mit …«
»Langsam, langsam. Erstens: Den Afghanistankrieg würde ich nicht als gewonnen betrachten …«
»Aber auch nicht als verloren. Und wir sind auf Bitten der Regierung dorthin. Und selbst wenn sie uns nicht gebeten hätten, wenn … welche Rolle religiöse Aufwiegelung spielen kann, dieselbe wie seit der Vendée nämlich, als das katholische Pack …«
»Schluss!« Baklanow verliert die Geduld. »Ich muss mir von dir keinen Unterricht in Geschichte der Bekämpfung der Konterrevolution erteilen lassen, Semjon. Du warst nicht dabei, ich aber. Ich habe einen älteren Bruder vor Kabul verloren und Freunde. Wie man hört, geht es den Imperialisten dort inzwischen nicht viel besser als der Roten Armee – aber das ist alles lange her oder weit weg. Wir haben die Daten, an denen du zweifelst, und müssen auf ihrer Basis entscheiden, und ob es uns gefällt oder nicht, Jepens Warnungen sind alles andere als blinder Alarmismus.«
Diduk gibt sich noch nicht geschlagen: »Woher haben wir die Daten? Von Jepen, und woher hat er sie, das will ich wissen, das …«
Baklanow hat endgültig genug, er greift mit zwei Armen die des Untergebenen, um dessen Gefuchtel zu unterdrücken, stemmt den dritten angewinkelt gegen die eigene Hüfte und hält Diduk den vierten mit ausgestrecktem, auf den Empörten deutendem Zeigefinger vor die Nase. Baklanows Halsschlagader ist angeschwollen, seine Augen sind verengt, seine Stimme ist rau und grob, als er sagt: »Wenn du mir mal eine Sekunde zuhören würdest und nicht alles andauernd besser wüsstest, Genosse Oberst, dann wüsstest du, dass ich weiß, woher er weiß, was er weiß – er hat jemanden in dem Projekt. Auf der Erde.«
»Einen Kundschafter?« Diduk, staunend, benutzt das alte sozialistische Wort aus dem Kalten Krieg für Spion, und Baklanow nickt ungeduldig: »Ja. Jemand arbeitet für Jepen und wird auch an Bord des Schiffes sein, wenn sie es bauen, wenn sie es abschicken, jemand, der loyal zur Sache steht, zum Sozialismus und zum Auftrag der JEFREMOW. Bevor du wieder losblökst: Ich kenne diese Person. Ich habe mich mit dieser Person unterhalten, ich vertraue dieser Person. Wir können, falsch: Wir müssen die Bedrohung ernst nehmen, und auch wenn das nicht heißt, dass ich Jepens Hang zum Abenteurertum … Moment mal. Augenblick.«
Baklanows Haltung bleibt dieselbe, der Griff um Diduks Arme lockert sich nicht, aber der Blick des Älteren und Ranghöheren wirkt verschattet, abwesend, zwei Minuten lang, dann lässt er den Untergebenen unvermittelt los, wischt sich mit der unteren Linken über die Stirn, als schwitze er stark – was er gar nicht tut, denkt Diduk beunruhigt –, und sagt zuerst zischend, kaum hörbar: »Scheiße.«
Dann sieht er Diduk an, sehr unzufrieden offenbar: »Es scheint, als müsse ich mich bei dir dafür entschuldigen, dass ich Jepen verteidigt habe. Dieser … wir müssen los. Nach Hygeia. Ich brauche das Komitee und die beiden Verteidigungsausschüsse vollständig dort, innerhalb der nächsten drei Tage. Besorg mir Sonntag und die Nurektechniker und Tropkin, außerdem Kortschaginez. Ich will Trofimenko und Monitschew von der Akademie und den alten Tagin, das ganze gelehrte Volk, und die Rechner sollen von Nurek hergeschafft werden, die Kinder aus Amor auch, die leitenden Kader von Metis, Hebe, von Egeria, Hilda, Interamnia …«
»Moment, Moment, so schnell kann ich das nicht alles …«
»Du kriegst es offiziell auf den TS und wohin du willst, ich habe jetzt keine Zeit für Gequatsche. Er hat’s getan.« Baklanow schnaubt wie eine Dampflok. »Der Idiot hat angegriffen. Er hat Maschinen geschickt, ohne Beschluss, einen kompletten Verband, drei Dutzend, Richtung Erde. Er hat sie angegriffen. Wenn die auch nur einen Apparat erbeuten …«
Mehr muss Baklanow nicht sagen. Diduk beginnt, die Funktionärsliste abzuarbeiten, die Baklanow ihm hingeworfen hat, und fühlt nicht den leisesten Hauch der Befriedigung darüber, dass die Ereignisse sein Urteil über Nadar Jepen bestätigen.