Filipa und Liz sind Freundinnen geworden.
Die Amerikanerin ist die einzige Person an Bord der PODKAYNE FRIES, die weiß, warum die Deutsche keine Gefahr meidet, sich für jeden Spaziergang ins All freiwillig meldet, doppelt so viel Bewegung an allen möglichen Trainingsgeräten fordert und von Kapitän Sun zugestanden kriegt wie alle andern und sich beim Messerkampf erstens geschickter, zweitens aber geradezu angsteinflößend eifriger anstellt als der Rest der Crew – mit ihrer gefürchteten Hebeltechnik im Nahkampf bricht sie Andrej Sirilko einmal sogar den rechten Arm, der das allerdings nicht übelnimmt, sondern nur mit dem ominösen Satz kommentiert: »Krieg ist Krieg, auch vor dem Krieg.«
Weil irgendwann niemand mehr, auch nicht Filipas Freundin Liz, gerne mit ihr trainiert, obwohl gerade im Nahkampf ja »keine echten Waffen verwendet werden, nur diese Hartgummimesser, was wollt ihr?« (Cordula Späth) – »Hast du mal so ein Hartgummimesser zwischen die Rippen gekriegt?« (Meinhard Budde) –, baut ihr Sirilko zusammen mit Frau Späth einen wendigen und schnellen, ungefähr anderthalb Menschen großen Feindroboter mit vier Armen und sechs Beinen, »nicht sehr verschieden von den Dingern aus dem Asteroidengürtel, ich hab die ja gesehen« (Christian Winseck). Mit dem übt sie im Sportbogen ihre fast geraden Stiche, ihre nach Winkel und Angriffslinie »absolut vollkommenen« (Meinhard) geschwungenen Stiche, ihre Schnitte, Finten, Fallen und Erwiderungen auf die entsprechenden Angriffe des Roboters, manchmal, zum Ärger der andern, »mitten auf dem Joggingweg. Echt, du ahnst nix Böses, weil du ja nicht um die nächste Kurve, die über und unter dir liegt, gucken kannst, da kommt dieses Knäuel aus Mensch und Killermaschine angerasselt, und überall sind Arme, Beine, Messer. Mir ist fast das Herz geplatzt vor Schreck« (Christian).
Filipa selbst ist mit dem Arrangement nicht restlos zufrieden: »Ist vielleicht gutes Training für einen Kampf gegen einen von den Blechtypen. Gegen menschliche Gegner macht es mich eher schlechter, weil die ja langsamer sind und ich dann ganz unpassend schnelle Bewegungen lerne, die meinen Kopf oder meinen Bauch wahrscheinlich genau in dem Moment ungeschützt lassen, in dem ein Mensch dann zusticht. Außerdem: Was bringt es mir, wenn ich einerseits von Meinhard lerne, dass ein gerader Stich die Augen, den Mund, den Kehlkopf, die Luftröhre frontal als Ziel hat oder die Lungen, die Milz, die Leber, die Nieren, das Herz, den Solarplexus, den Unterleib, während ein geschwungener Stich eher anders an diese Organe und Körperteile will, wenn ich mir das alles auch merke, obwohl ich bei der Hälfte dieser Sachen – ich meine, Milz! – bislang nicht mal gewusst habe, wo das genau ist und was das genau macht – was, frag ich dich, bringt das, wenn der Onkel, an dem ich das alles übe, umgekehrt gar keine Lungen, keine Milz, Leber und so weiter hat, sondern nur bisschen Servozeug und Drähte?«
»Gut, ich modifiziere das Gerät«, sagt Sirilko und nimmt Filipa dafür das Versprechen ab, nur noch in dem Raum ihre Roboterkämpfe zu veranstalten, in dem sie unter Meinhards Anleitung und Aufsicht das Werfen mit Messern und Äxten übt: dem Turnhallenbogen von ungefähr sechzig Metern Länge im dritten Reifen.
Die Maschine, die ihr den Feind ersetzt, hat jetzt keine vollständige Metallpanzerung mehr. Am Rumpf, an einigen Stellen, die den analogen Regionen der menschlichen Anatomie entsprechen, ist die Verkleidung ausgespart und durch zähe Plastikfolie ersetzt, die Filipa, wenn sie ihre Klingen mit höchster Kraftanstrengung führt, durchstechen kann, woraufhin sich aus Beuteln, die sie selbst nachfüllen kann, rote Farbe auf den Kampfplatz und die Furie von der Erde ergießt und Sensoren dafür sorgen, dass die Einsatzfähigkeit der Maschine in dem Maße eingeschränkt ist, wie das ein lebendiger Organismus wäre, träfe ihn der jeweilige Stich oder Schnitt.
Soviel (nach Ansicht von Kapitän Sun: bedenklichen) Spaß Filipa der neue Realismus ihrer Messerspiele anfangs macht, so sehr nerven sie die Aufräum- und Roboterwiederherstellungsarbeiten: »Wenn die Sauerei nicht ratzeputz weg ist, sobald wir Normalen die Halle benutzen wollen, kriegst du eine Woche Gerätesperre und kein Fleisch zum Essen« (Cordula Späth).
Nach einer Weile verschiebt Filipa ihr Zeitkalkül daher wieder in Richtung anderer Beschäftigungen, etwa Kinobesuche im ersten Reifen mit Cordula, dem von wachsendem Filmenthusiasmus entflammeten Sirilko und ihrer Freundin Liz und dann schließlich private Abende, Nächte, Vor- oder Nachmittage mit Meinhard Budde, die niemand kommentiert, obwohl irgendwann alle sie zu den abstrusesten Zeiten aus seiner Kabine klettern sehen (eine der geräumigsten, ursprünglich für Max und Liz gedacht).
Wenigstens ist Filipa in einer Hinsicht diskret, denkt Cordula Späth und behält es für sich – man hört nichts durch die Wände oder die Belüftung, da war sie im U-Boot lauter.
Wenn Filipa nicht in einem Trainingsraum, beim gemeinsamen Essen (und manchmal Kochen), im Kino oder in der Messe ist, hält sie sich inzwischen meist bei zwei weiteren Beschäftigungen an Orten auf, die ihr besonders lieb sind: erstens beim Unterricht, den Aiguo Sun in allen möglichen wissenschaftlichen und technischen Disziplinen im Brückenreifen erteilt, meist an Hologrammen über dem zentralen Displaytisch: »Heute will ich mal ein paar Illusionen darüber zerstreuen, dass dieses schöne Schiff hier, und am Ende auch noch die SMITH, nur nach Vorlagen der Russen und der Deutschen gebaut ist. Wir wollen uns mit denjenigen Aspekten der FRIES befassen, die sich rein chinesischem Erfindergeist verdanken, darunter auch meinen eigenen Beiträgen, erstmals erprobt bei der Tiangong 1, der ersten chinesischen Raumstation überhaupt, nur halb so groß wie die erste sowjetische Station Saljut 1, nämlich sparsamer, besser ausgelastet und, wenn ich das sagen darf: Die Verbindung zwischen Orbitalmodul und Servicemodul ist erstklassige Ingenieursarbeit, die Zugänge zu den Reifen auf der FRIES und die Übergänge zwischen den Segmenten der SMITH sind bis ins Kleinste auf diesen Konzeptionen gegründet.«
Der zweite Ort, der Filipa ganz besonders gefällt, ist der Garten im ersten Ring, wo sie mit Liz arbeitet. Die Amerikanerin kümmert sich um Großes und Notwendiges wie Tomaten und Gurken, während Filipa mehr an den kleinen essbaren Pflanzen liegt: Sauerampfer, Vogelbeere, Hübsches, Feines.
»Ich bin froh, dass Cordula so viel deutsches Zeug gesät hat. Das erinnert mich alles an meine Kindheit. Ausflüge mit meiner Mutter und meiner Oma ins Umland …«
Liz hat zwar keine Erfahrung mit Gartenarbeit – »ich war fast die Hälfte meines Lebens auf der Flucht, da kann man kein Beet anpflanzen« –, erweist sich aber als unerwartet geschickt.
»Grüner Daumen sagt man auf Deutsch«, erklärt Filipa, die der Amerikanerin auch sonst hilft, die verbreitetste Bordsprache besser zu beherrschen: »Du, wenn du sagst, du bist langsam ganz erregt, weil das Wiedersehen mit Max immer näher kommt, dann ist das zwar irgendwie auch richtig, sprachlich, aber vielleicht sagst du lieber ›aufgeregt‹ als ›erregt‹, weil sonst hat das so einen sexuellen Unterton.«
Liz grinst verlegen: »Well, maybe that is what I was going for.«
Die Freundschaft entdeckt schnell Gemeinsamkeiten, zum Beispiel bei den Musikvorlieben: Beide hören gern »alles, aber davon nur das Gute«, wie Filipa schließlich sagt, als nach langen Gesprächen geklärt ist, wie viel Verschiedenes sie beide kennen und mögen. So geben sie einander Hinweise auf schöne Sachen in den Schiffsspeichern; man kann sich die Musik ja beim Joggen ins Headset speisen lassen oder auch vor dem Einschlafen in der Kabine.
Filipa sagt: »Ich hatte so mit Ende sechzehn, Anfang siebzehn mal drei Monate, wo es unbedingt die absolute elektronische Bastelei sein musste, Autechre und Aphex Twin, also von beiden die Spinnerphase. Das habe ich gehört, weil der Freund von meiner Mutter damit mal ankam und ich das erstens nicht kannte, und zweitens hat das vor allem niemand an meiner Schule gekannt, das war so eine Methode, den ganzen Tag was auf den Ohren zu haben, das mich irgendwie angenehm isoliert. Ich lehn dann da auf dem Schulhof an einem Baum und denke, diese Stimmung da gerade, die mir durch den Kopf klickert, das habe ich absolut für mich alleine, das können die Deppen, die da Fußball spielen und rauchen oder andere bedrohen und Handys klauen und alles das, das können die nicht hören, und wenn sie es hören könnten, dann könnten sie es nicht verstehen – ich fand es damals extrem angenehm, dass ich die einzige Person auf der Welt war. Und jetzt kommst du daher und weißt das auch, und das macht mir aber dieses komische Ein-Personen-Elite-Ding von damals komischerweise nicht kaputt, sondern irgendwie rückwirkend gerade wieder noch mal schöner, denn – du wirst das ja schon wissen mit deinem Max – wenn man da noch eine zweite Person hat, die auch mit den ganzen Dummis nichts zu tun haben will, das macht es irgendwie …«
»More delicious still«, sagt Liz.
Die hat auch eine Theorie darüber, warum ausgerechnet Filipa und sie solche »music nerds« sind: »Wir waren beide nicht besonders sociable, wie sagt man auf Deutsch …«
»Gesellig«, hilft Filipa, und Liz nickt: »Ja, ich meine, wir und das Radio und das Fernsehen und das Internet, das war’s, wir hatten keine … also, du warst nie der Typ für Cliquen, was du mir so sagst …«
»Arrogant und asozial, diese Sorte Pubertät«, urteilt Filipa hart über sich selbst, aber Liz widerspricht: »Das ist halt so mit kids, wenn sie nicht das psychological make-up haben, das für diesen peer group stuff … empfänglich macht, und ich wiederum, well, I was on the run from the authorities – wenn du jedes Mal beim Einkaufen über deine Schulter guckst, ob jemand vom FBI beim frozen food steht, dann gehst du abends ja nicht clubbing, dann holst du dir deine Musik ins Zimmer, auf Kopfhörer, in die loneliness, da wirst du halt freak.«
Es bleibt nicht bei der gemeinsamen Freude an Elektronik zwischen Octo Octas Between two Selves oder BTSTU von Jai Paul – der »Zwei-Frauen-Musik-Club« freut sich an Howlin’ Wolf (Liz kennt den von Max, Filipa von ihrer Großmutter) und Pristine, an Miley Cyrus (»but I prefer the two albums before she became a superstar, before Bangers, that is – Can’t be tamed and The Time of Our Lives, these are just fantastic«, sagt Liz) oder Lorde (»die Zweite ist noch schöner als die Erste, auch wenn alle immer das Gegenteil behaupten, aber auf der Ersten ist nichts drauf, was dir so das Herz auseinanderrupft wie dieses ›Liability‹«, Filipa), japanischen Mädchen-E-Gitarren-Operettenkrach von Ladybaby, Babymetal und Supercell (»Zigaexperientia is the best outer space record ever to be played in actual outer space«, Liz), Gitarrenmehrkanalpfeifkratzen von Animals As Leaders, Primaner-Hip-Hop von den Beastie Boys, europäischen Retro-Dudelrock von Dool oder The Devil’s Blood, kurz, mit den Worten von Cordula Späth, als Filipa ihr einmal stolz von der Bandbreite der Vorlieben des Zwei-Frauen-Clubs erzählt: »Das Meiste ist aus den Jahren unmittelbar vor dem Start der FRIES, nicht? Ein paar Ausreißer, okay, Howlin’ Wolf, und eure komischen Kraftwerk da, die ihr neulich in der Disco zum Schluss habt laufen lassen, manchmal auch Abba, aber weiter als zwanzig Jahre vor Liz’ Geburt reicht nix.«
Die »Disco« war Filipas Idee: kleine, einmal wöchentlich (bevorzugt freitags oder samstags) ausgerichtete Tanz-, Trampel- und Torkelabende mit bis zu zwanzig Menschen, vor allem Jüngeren aus dem technischen- und Flugpersonal, ausgerichtet im Kino. Dazu wird die Bestuhlung dort in den Boden versenkt, und auf der Leinwand laufen, während Liz und Filipa sich abwechselnd als DJanes am Rechnerpanel betätigen, animierte oder anderweitig experimentelle, von Cordula ausgesuchte Kurzfilme, Don Hertzfeldt bis Stan Brakhage.
So bereitwillig die eigentliche Missionsleiterin diese Veranstaltungen mitträgt, so deutlich ist der Dämpfer, den sie Filipas Eigenlob verpassen muss: »Vielfalt? Nee, das ist bei Liz und dir im Grunde genau dieselbe Fixierung auf die Zeit, in der ihr halt selber Musik für euch entdeckt habt, und zwar überwiegend neue Musik … dieselbe Fixierung, die offenbar nach Jahrzehnten auch noch bei Alexandra Burkhard auf der EOLOMEA anhält. Liebe Güte, Sonic Youth, das schickt sie vom Neptun. Wer redet denn auf der Erde noch von Sonic Youth, so wichtig das für Frau Burkhard und damals eben auch für Christians Vater gewesen sein mag? Die Band gibt’s ja gar nicht mehr, hat sich aufgelöst, wegen Trennung des kreativen Power-Paars, um das sie organisiert war, so ist das halt, die Sachen vergehen. Ich bin ja auch ein Kind der Achtziger, auf ’ne Art, das war das letzte Jahrzehnt, in dem ich noch gealtert bin, dann wurde ich in den Neunzigern dreißig und bin’s geblieben, weil das gut funktioniert. Wenn ich mich so in dem Sound suhlen würde, der meine Jugend begleitet hat … man kann ja Kunstmusik machen und trotzdem gerne Radio hören, jawohl, Radio, SWF 3 in meinem Fall. Den Sender gibt es auch nicht mehr, der ist im SWR aufgegangen. Ich war keine Besserhörerin, die bloß immer so Spex-Geheim-Eingeweihten-Sachen goutiert hätte wie Sonic Youth und frühen Rap und alles das, sondern ich habe gehört, was in den Charts lief, Jessas, die sind ja alle tot – George Michael ist tot, und Prince und Michael Jackson sind tot, und Whitney Houston ist tot, lauter Leute, die gar nicht so viel älter sind als ich. Diese geballte Sterberei, das hat mich schon ziemlich mitgenommen, das ist alles in wenigen Jahren passiert, als ich schon wusste, wir müssen der IWAN JEFREMOW hinterher, also nicht wir hier natürlich, die konkreten Personen auf der FRIES, sondern wir als Gattung, die Menschheit – und als meine ganzen Lieblinge da so vor sich hin starben, dachte ich manchmal, ja, die verlassen jetzt alle die Erde, ein Hinweis, dass ich mich jetzt auch langsam sputen sollte, da wegzukommen von diesem ›lahmen Drecksplaneten‹, wie ein anderer Liebling der Achtziger mal geschrieben hat. Nena wenigstens ist noch aktiv. Die wird noch aktiv sein, wenn wir zurückkommen, falls wir zurückkommen. Hoffe ich. Nena! Die Beste. Als die Amis die Voyager-Sonde losgeschickt haben, da waren doch wenigstens Musikaufzeichnungen, als Gruß der Menschheit an wen auch immer, mit an Bord, die wirklich einlösen, was du hier von dir und Liz behauptest, Bandbreite, die hatten Johann Sebastian Bach drauf und Musik aus Java und dem Senegal und Neuguinea, China, Peru, Blues, Rock ’n’ Roll, was du willst, nicht nur Menschengeschaffenes übrigens, auch die berühmten Walgesänge …«
»Aber kein Techno«, zieht Filipa ein Gesicht, während Liz die implizite Herausforderung, die in Cordulas Worten steckt, unter aufmerksamer Teilnahme der anderen, die das Gespräch mitanhören, von Meinhard Budde bis zu zwei jungen Dauergästen in der Liz-und-Filipa-Disco, geradeheraus annimmt: »Dann teach uns doch, teacher. Mach doch deine eigene Disco, die Archive geben es ja wahrscheinlich her. You know, Klassik, Weltmusik, man kann ja vielleicht nicht drauf tanzen, aber für die community wäre es auf jeden Fall a welcome change of pace, another event to look forward to, team-building … mit … Nena or whatever her name is.«
Der Vorschlag findet sofort den Beifall des hochkultivierten Andrej Sirilko, der seine klassisch-humanistische Bildung im Sinne des Sozialismus und Universalismus samt Völkerverständigung und Lenin’schem Respekt vor dem bürgerlichen und vorbürgerlichen Erbe zwar nicht wie ein rotes Banner vor sich herträgt, aber doch ab und zu in Bemerkungen zu erkennen gibt. So auch diesmal: »Klassische Musik bis zur Avantgarde des zwanzigsten Jahrhunderts, mittelalterliche Mysterienspiele und Schostakowitsch, Virginalisten und Serialität, so muss das aussehen. Ist ja alles dein Fach, Cordula, das solltest du wirklich machen, uns diese Sachen näherbringen – Opern, Symphonien, Konzertabende, die letzten Streichquartette von Beethoven, zur Not auch mal was von dir …«
Die Chefin ziert sich nicht lange, besteht nur auf zwei Bedingungen: »Stühle gibt’s gefälligst, rumstehen darf da niemand, und wer zwischen den Akten einer Oper oder den Sätzen einer Symphonie klatscht oder quatscht, fliegt aus dem Schiff und kann nach Hause laufen.«
Der erste Abend des neuen Programms, schon anderthalb Wochen später, sieht das Kino voller denn je. Nur siebzehn Leute, die aktuell für den regulären Schiffsbetrieb zwingend notwendige Arbeiten verrichten, bleiben auf ihren Posten, und von den ersten Sekunden der Oper an, die da gegeben wird, sind alle fasziniert von den fremdartigen Streichern, dunklen Ahnungen, bedrohlich-vorsichtigen Bläsern und schließlich dem einsetzenden, zuerst rein männlich-dunklen, dann bald um unwirklich schöne Frauenstimmen ergänzten Chor der Emigranten:
Vi kom från Jorden, Doris land,
klenoden i vårt solsystem,
det enda klot där Livet fått
ett land av mjölk och honung.
Der Chor wird auf der Leinwand, wie der ganze Librettotext durchweg, deutsch übersetzt:
Wir kommen von der Erde, Dorisland,
Kleinod des Sonnensystems,
Der einzigen belebten Kugel,
dem Land von Milch und Honig.
Bis zum Schluss herrscht aufmerksame Stille.
Applaus gibt’s erst danach, und dann tritt Cordula vor die Sitzreihen und hält ihren vorab schon angekündigten, etwa zwanzigminütigen Vortrag, »weil, Kinder, ich wollte das, obwohl es eine Oper ist, ohne Bilder, ohne Film – es gibt schon Bildaufnahmen, so isses nicht – hier laufen lassen und euch auch vorher nix groß erzählen. Ich finde die Disco super, die hier sonst steigt, dieses Rausschütteln von Frust und Klaustrophobie. Zerstreuung ist wichtig, aber Sammlung eben auch. Deshalb leider keine Nena, sondern … deshalb fangen wir die kleine Reihe hier mit so einer sperrigen Musik an, wo man sich wirklich zusammenreißen und, wie sagt der alte Adorno, strukturell hören muss. Außerdem kennen wir hier fast alle die Sprache nicht, ja, ich weiß, Sirilko kann sie, und ich krieg auch noch ein paar Sätze zusammen, aber Schwedisch, das gibt’s hier sonst nur bei den Bergmanfilmen. Gut, was wir gehört haben, ist eine Weltraumoper, nicht in diesem Sinn von Space Opera, als Genrename für Raumschiff Enterprise und Star Wars und so was alles, sondern wirklich eine Oper, die im Weltraum spielt, komponiert von meinem lieben Kollegen und Vorbild Karl-Birger Blomdahl, Libretto von Erik Lindegren auf der Basis eines Versepos von Harry Martinson, und am liebsten würde ich euch jetzt noch einen langen Stiefel erzählen über diesen Martinson, den einzigen Literaturnobelpreisträger, der jemals für ein Gesamtwerk ausgezeichnet wurde, in dem ein echter Klassiker der Science Fiction eine tragende Rolle spielt, eben ›Aniara‹, das Versepos von der Auswanderung der Menschheit ins Weltall auf dem gleichnamigen Raumschiff, unterstützt vom Computer Mima. Erst soll die Reise zum Mars gehen, dann passiert während der Mitsommerfeier an Bord ein technischer Unfall, die Bahn wird abgelenkt, auf einmal geht es ins Sternbild Lyra, na bitte. Ein tolles Buch, vielleicht können wir hier ja mal Lesungen veranstalten. Ernsthaft, das scheint mir ganz gut funktioniert zu haben, also warum nicht noch mehr Kultur, warum nur Kino und Disco? Dazu später. Martinson, wie soll ich sagen, das ist einfach erstklassige Science Fiction in dem Sinn, dass er sich wirklich über die Form Gedanken gemacht hat. Marx sagt ja am Schluss der Einleitung zu den Grundrissen, man kann auf dem Stand der Produktivkräfte im Kapitalismus kein Epos mehr schreiben wie die Griechen auf ihrem Sklavenhalterstand. Martinson hatte nun den Instinkt: Wenn wir uns vorstellen, das Verhältnis der Leute zu den Maschinen ist wieder ähnlich wie in der Sklavenhaltergesellschaft das der Besitzenden zu den armen Sklaven, und zwar auch zu denkenden Maschinen, dem Computer Mima eben, und die Grenze Weltraum ist wieder so eine übermächtige Natur, wie die irdische das für die Griechen war … ich habe die deutsche Übersetzung auch im Archiv hier … Martinson verdient einen eigenen Abend, Nobelpreis und SF, wann gab’s das je, und kommt mir nicht mit Doris Lessing, da rollen sich mir die Fußnägel auf, diese ganze Predigerinnenkiste, Lessing, Atwood, furchtbare Vergeudung des Genres. Gut, aber jetzt zur Musik, ich will euch ja nicht im Dunkeln lassen darüber, warum das so toll war gerade, dass sogar die beiden Tanzmäuse am Ende geklatscht haben. Ich will euch kurz umreißen, wie das gearbeitet ist, dieses kleine Meisterwerk.«
Das tut sie, mit sorgfältig vorbereiteten, anschaulichen, jeweils noch einmal akustisch angespielten Notenbeispielen auf der Leinwand, und als sie danach um »Fragen, Gemotze, Wortbeiträge« bittet, steht Liz lächelnd auf und sagt: »Das war … different. Wir sollten das weitermachen – auch die Lesungen, wie du sagst, und Vorträge dazu, du hast da ja jetzt ein Beispiel geliefert which we can try … to emulate, du bist ja sehr … whatchamacallit … opinionated …«.
Meinhard Budde übersetzt als Zwischenrufer frech: »meinungsstark«. Ein paar lachen freundlich, und Liz fährt fort: »Yeah, meinungsstark, das heißt, du erklärst halt nicht nur, sondern sagst uns auch, was es für dich ist, what it all means to you, und diese … passion, this very engaged style … davon können wir mehr gebrauchen, das verhindert Routine und …«
»Stumpfsinn! Das ist geiler Antistumpfsinn! Und andere können das auch machen mit ihren Lieblingsthemen und Zeugs!«, ruft Filipa, wofür auch sie reichlich Beifall erntet.
Drei Tage später sitzt sie mit nassen Haaren im Restaurant, mit Andrej, der ihr Hobby teilt, das Tauchen bei den Korallen, sich aber geföhnt hat danach. Die beiden begegnen einander im Meerbecken so oft, wie Liz ihre Freundin Filipa im Garten trifft. Filipa sagt zu Aiguo: »Das Geilste wäre mal ein Konzert unter Wasser, im Korallenreifen.«
»Du sagst das so«, rät Aiguo richtig, »als hättest du etwas in der Art schon einmal erlebt. Ein Konzert unter Wasser.«
»Und wie«, bestätigt die junge Frau enthusiastisch: »Ich hab’s tatsächlich erlebt, auf meiner langen Tauchtour mit der Chefin. Sie hat eine Korallensymphonie für Computer und Standbass komponiert und dann unter Wasser aufgeführt, allerdings nicht am Riff, sie hat zu großen Respekt davor … Die Boxen waren aufs U-Boot gesetzt, und wir sind raus, mit Brillen und Sauerstoffflaschen, relativ dicht unterm Meeresspiegel, sechs, sieben Meter so, die Ohren frei, und es war … wow.« Die Augen weiten sich noch heute, in der Erinnerung, die Ellenbogen werden links und rechts vom leeren Spaghettiteller auf den Tisch gestellt, damit die Hände ausgebreitet werden können, denn was Filipa sagen will, ist: »Soooo groß. Ernsthaft.«
Filipa hat vergessen, dass dazu damals auch ein kurzer Gesang gehörte, Wassersprachmusik, Verse, von Cordula herausgebrochen aus einem Gedicht von Mara-Daria Cojocaru:
Du wischst
Durch die isolierende Luftschicht. Wieder Perlen im Fell
Vor die Clownfische. Und dazu die Sorge: Wo ist sie hin
Ein Delphin flinkt lautlos, lächelnd, gequält, spionierend
»Korallensymphonie«, sagt Aiguo. »Klingt … bunt und massiv zugleich.«
Als wollte er sich für die ungewohnt poetische Metapher und die Stellungnahme zu einem Thema außerhalb seiner wissenschaftlich-technischen wie administrativen Kompetenzen per Rückkehr in sein proprium indirekt entschuldigen, ergänzt er den Gedanken: »Ich glaube nicht, dass es nur die Liebe zu einem Stoff ist, den sie musikalisch schon mal bearbeitet hat, was Cordula dazu gebracht hat, so einen Aufwand für das Korallenbecken zu treiben. Es hat mehr gekostet als jedes andere Biotop an Bord, sogar mehr als das Terrarium im vordersten Reifen, obwohl das so enorme Heizkosten hat. Die Kaskadengefahr – dass der Ausfall einer einzigen Spezies das ganze Ökosystem tötet – ist bei den Korallen besonders hoch, man muss extrem viele Redundanzen einbauen, riesige Speicher an genetischem Material als Backup anlegen, und meine Regierung … meine Partei hat immer wieder versucht, die Chefin einzuschüchtern, um sie zu Sparmaßnahmen an dieser Stelle zu überreden, aber so kompromissbereit und taktisch … gewinkelt … sie sonst ist, diesmal blieb sie eisern. Die Korallen, die Tintenfische, das musste sein. Oktopus. Hm.«
Andrej kratzt sich am Kinn, schiebt den Unterkiefer vor und brummt nachdenklich: »Stimmt, das Korallending ist ihr fast heilig, wir müssen auch immer …«
»Protokolle schreiben und abspeichern, wenn wir da mal tauchen waren, ob uns was aufgefallen ist«, sagt Filipa. Andrej fällt ein: »Und wenn man nachfragt, sagt sie … geheimnisvolle Sachen, Andeutungen wie: Wer die Erde im All verbreiten will, wer die Menschheit zu den Sternen mitnehmen will, der muss die Korallen mitnehmen, denn an allem, was wir bauen, haben die Korallen ihren Anteil.«
Aiguo nickt: »So geheimnisvoll ist das gar nicht. Es stimmt einfach wörtlich. Wir Menschen müssen bauen, wenn wir leben wollen, nicht? Wahrscheinlich gibt es seit der ersten Siedlungszeit unserer Spezies inzwischen weltweit kein Bauwerk, in dem nicht Kalkreste enthalten sind, die irgendwie, über ein paar tausend Ecken, letztlich von Korallen stammen. Es ist wie mit dem Sternenstaub, aus dem wir sind – alles, woraus Menschen und sämtliche sonstigen Lebewesen gemacht sind, ist irgendwann mal im Innern eines Sterns gebacken worden.«
»Echt? Aus Korallen, alle Bausteine unserer … Städte und …« Filipa staunt.
»Nicht nur die«, sagt Andrej, »auch Berge, zum Beispiel die Kalkalpen, ungefähr sechshundert Kilometer Bergmassiv mitten in Europa, da findest du die tollsten Meeresfossilien, zum Beispiel bei Lech, in Österreich, das sogenannte Steinerne Meer, in zwei Kilometern Höhe, das sind Schätze, zweihundert Millionen Jahre alt …«
»Berge und Städte, ermöglicht von diesen irren Tierchen«, sagt Filipa nachdenklich.
Aiguo beendet die Unterhaltung mit einem seiner üblichen strengen Gedanken über die Grenzen der Glücksmöglichkeiten: »Wären sie nicht da, wäre unsere Welt eine heiße Hölle. Sie binden so viel CO2, das heißt, Kalk ist ein so wertvoller Speicher, dass die Klimasorgen der Gegenwart gegen das verblassen, wovor sie den Planeten bewahrt haben.«
»Auf die Korallen!«, sagt Andrej und hebt sein Glas Verdauungswodka, und Aiguo hebt seinen Becher ihm entgegen, so dass schließlich auch Filipa ihr Orangensaftglas nimmt und mit den andern anstößt, während sie einen eigenen Toast ausbringt: »Tauchen und Tanzen!«
Ohne dass dafür ein formeller Beschluss irgendeiner Borddemokratie, geschweige ein Befehl von Aiguo Sun nötig wäre, finden die »Musik-und-Vortrag-Double-Features« (Liz) bald darauf regelmäßig statt, etwa jede zweite Woche, am Abend vor der Disco, leider immer ohne Nena, die dafür in der Disco häufiger singt. Besonders beliebt und erfolgreich sind gerade die esoterischen Veranstaltungen – während sich für Beethoven und Mozart eher wenige interessieren, ist der Saal zum Bersten voll, nachdem Cordula einmal nur geheimnisvoll ankündigt: »Ich spiele euch was aus dem achtzehnten Jahrhundert.«
Sie spielt tatsächlich selbst, auf einem Keyboard, das mittels elektronischer Tricks genau wie ein Cembalo klingt, und die Darbietung dreier Suiten von »Monsieur Forqueray dem Jüngeren«, wie die Künstlerin bekanntgibt, ist nach dem anschließenden Bekenntnis der ersten Wortmeldung, wieder Liz, »one of the most stunning performances I have ever witnessed«.
Der zweitgrößte Erfolg, der Cordula Späth nach diesem Cembalokonzert glückt, ist keine Eigendarbietung, sondern eine »Konserve«, wie Filipa seit der ersten Talentprobe der Chefin für alles sagt, was jene nicht selbst spielt, nämlich eine Komplettabspielung von Héctor Parras projektiver Oper auf sieben Ebenen Hypermusic Prologue, einer ausgesuchten Seltsamkeit, »die besonders gut hierherpasst, auf die PODKAYNE FRIES, weil es sich um die Zusammenarbeit eines Kollegen von mir, Parra, mit einerseits einem bildenden Künstler handelt, Matthew Ritchie – das war der Urheber der Bilder, die ihr währenddessen auf der Leinwand gesehen habt –, dann dem Opernregisseur Paul Desveaux, der dafür gesorgt hat, dass das eine szenische Ordnung hat, eine Dramatik, auch wenn ihr jetzt keine Menschen singen gesehen habt, und schließlich noch eine Physikerin, Lisa Randall, von der das Libretto stammt, einerseits Liebesgeschichte, andererseits spekulatives Ideentheater übers Gravitationsgesetz, Quantenmechanik, die fundamentalen vier Kräfte … vielleicht kannst du dazu nachher auch noch was beitragen, Aiguo …«
Das tut der Kapitän gern, mit vorbereiteten Gleichungen und einer Stimme, die, wie schon bei seinen Unterrichtsstunden auf der Brücke, so angenehm ist, dass Liz in der Diskussion schließlich sagt: »Wie ich Aiguo zugehört habe, fiel mir auf, das ist ein wahnsinnig schöner Bass, das klingt so deep and calm and strong, dass wir unbedingt die Idee mit den Lesungen jetzt auch mal umsetzen sollten – ich könnte mir vorstellen … to listen to literature in that voice, it would be quite an experience.«
Es braucht zwar noch etwas Überredungskunst, aber vier Wochen später ist es tatsächlich so weit, wieder im Kino, Aiguo am Mikrophon, jeder Platz ist besetzt, und der Text, mit dem die neue Veranstaltungsreihe beginnt, ist passenderweise Harry Martinsons Aniara in Herbert Sandbergs Übersetzung, älter als ein halbes Jahrhundert, älter als alle im Auditorium:
So ging es zu, als Sonne und Planeten
Das Gittertor aus lauterstem Kristall
Zufallen ließen und Aniara, Schiff und Menschen,
Vom Sonnenreich und seinen Gaben völlig trennten.
Dem Raume ausgeliefert, steif vor Schreck,
Verbreiteten die Sender unser Rufwort »Aniara«
Im Weltenraum, doch der blieb stumm und gläsern.
Die Diskussion danach ist kurz, die Stimmung still und nachdenklich. Beim nächsten Leseabend ist es Christian, der sich ans Pult stellt, eine Leihgabe der Brücke, mit einem Tablet, von dem er aus einem Buch abliest, das sein Vater geliebt hat, Olaf Stapledons Die letzten und die ersten Menschen, »deutsch von Kurt Spangenberg«, wie Christian nicht verschweigt – man ehrt auf der PODKAYNE FRIES die Irdischen, die das Erbe geschaffen, gemehrt und gepflegt haben:
200 Millionen Jahre nach dem Zusammenstoß der Sonne mit jener schwarzen Gaswolke existierten auf dem Festland am Pol unzählige Arten subhumaner Weidetiere mit langem schafsähnlichem Maul, ausgeprägten Mahlzähnen und einem Verdauungssystem, das dem der Wiederkäuer sehr ähnlich war. Unter ihnen fanden die subhumanen Fleischfresser ihre Nahrung. Einige hatten sich zu sehr schnellen Jägern, andere zu geschickten Schleichtieren, die im jähen Sprung ihre Beute erfassten, entwickelt. Da aber das Springen auf dem Neptun große Schwierigkeiten bereitete, waren jene katzenähnlichen Typen alle sehr klein und jagten deshalb meist die kaninchenähnlichen und rattenähnlichen Nachkommen des Menschen, fraßen das Aas größerer Säugetiere oder die eifrigen Würmer und Käfer. Würmer und Käfer hatten sich ursprünglich aus Ungeziefer entwickelt, das von der Venus unbeabsichtigt zum Neptun transportiert worden war. Von der alten Fauna der Venus war es nur dem Menschen selbst, einigen Insekten und anderen wirbellosen Tieren gelungen, auf dem Neptun Fuß zu fassen.
Die Debatte nach dieser Lesung wird eine der anregendsten für alle Beteiligten, keine Vollversammlung zwar, aber immerhin doch ein gutes Drittel der Menschen an Bord. Christian spricht über Literatur im Allgemeinen und über Science Fiction im Besonderen: »Es ist ein seltsamer biographischer Punkt bei mir, dass ich so vieles zum ersten Mal deutsch gelesen habe, was eigentlich auf Englisch geschrieben wurde, eine Art Gleichnis vielleicht auf meine komische Familiengeschichte insgesamt, ich hab mich ja sozusagen komplett selbst ins Deutsche übersetzt, samt Ortswechsel, als ich erst mal erfahren hatte, dass ich Millionenerbe bin und Sohn eines Deutschen. Ich hab ein ganz komisches Verhältnis zu meinem Erbe. Nur weil Cordula das immer so sagt, dieses Wort, Erbe, und damit ja die ganze Kultur meint …« Sirilko wirft ein: »Das ist ein Lenin’scher Gedanke, dass der Sozialismus das Erbe nicht mit Proletkult und Kulturrevolution zerschmettern soll, sondern aneignen …«
»Lass ihn reden und behalt die Parteihochschule für dich!«, schimpft Filipa dazwischen. Leute lachen, und Christian fährt fort: »Das heißt für mich, dass ich das hier an Bord, in den mehrsprachigen Archiven alles entdecke, auf Englisch, den Poul Anderson und den Stapledon und die Joanna Russ, was ich als alte Paperbacks bei meinem Vater in der Villa in langen Nächten auf Deutsch kennengelernt habe. Es gibt gar kein Erbe, wenn man das Alte daran nicht irgendwie in die Gegenwart übersetzt – aneignet, ja. Euer Lenin hat recht.«
Cordula reckt die linke Faust, worauf Sirilko nur lächelnd den Kopf schütteln kann.
So konzentriert die Edelkulturveranstaltungen sind, so ausgelassen feiert man bei den Tanzabenden und den Kinovorstellungen. Nach dem Tanz oder in dessen letzter Phase (also in den jeweils zwei bis drei Stunden, bevor ein neuer Tageszyklus beginnt und diejenigen, die durchgemacht haben, vor dem Wiedereinloggen an ihren Geräten jedes Mal eine halbe Stunde lang automatisierte Reflextests und Ähnliches über sich ergehen lassen müssen, damit sichergestellt ist, dass ihre Leistungsfähigkeit und ihr Urteilsvermögen nicht missionsgefährdend beeinträchtigt sind) stehlen sich immer wieder Pärchen und Paare, auch größere Gruppen, in die Kabinen. »Team-building«, sagt Filipa.
»Die allgemeine Erotisierung des Weltraumlebens« (Cordula) schreitet auch auf manchen wenig genutzten Null-g-Gängen im Eilschritt voran, weswegen Filipa eines Morgens, nachdem sie aus Meinhards Koje kommt, in einer dieser entlegeneren Röhren zunächst ein Liebesgetümmel vor sich zu haben glaubt, als ein zerknittertes weißes Herrenoberhemd aus einem Nebengang auf sie zuschwebt.
Filipa hält die Luft an, zieht sich mit beiden Armen eng an die Wandung und kraxelt geschickt auf den Durchgang zu, um hineinzulinsen.
Dort dreht sich sehr langsam nur ein einziger Leib in nassgeschwitztem weißem T-Shirt und hellroten Anzughosen, mit ausgestreckten Beinen, barfuß, die Arme und Hände verschränkt am Hinterkopf, die Augen fest geschlossen, träumend, Schläferin ohne Liegestatt.
Es ist die Chefin, die sich heute Nacht zu Chic, den Pointer Sisters und den Village People verausgabt hat wie lange nicht mehr. Jetzt regt und rührt sich Cordula Späth kein bisschen. Einen Augenblick lang denkt Filipa bestürzt, es könnte ihr was passiert sein, dann sieht sie, nur einen Meter von der reglosen Gestalt entfernt, minimale Hebungen und Senkungen der Brust. Sie atmet also und dreht sich, dreht sich langsam, so dass sie Filipa drei Minuten später den Rücken zukehrt, das muskulöse Kreuz, und Filipa denkt: Das da im Nacken, diese kleine schwarze Zeile, die Tätowierung, die man beim Sport und beim Kampftraining manchmal sieht, vielleicht kann ich das jetzt endlich mal lesen, wenn sie still genug hält und ich selber ganz, ganz leise bin.
Sie hangelt sich rüber in den Nebentunnel, schiebt sich vorsichtig näher und näher. Dann erkennt sie die vier Buchstaben, die sie während der exzessiven Nächte im U-Boot nie deutlich genug erkennen konnte, weil Cordula da entweder einen ihrer Hemdkragen als Sichtschutz drüber liegen hatte oder ihrer Schülerin nicht lange genug den Nacken zeigte:
K. I. S. S.
Steht da, mit jeweils einem Punkt hinter jedem Buchstaben, also nicht im Schriftzug der berühmten Hardrockgruppe, in streng serifenloser Typographie. K. I. S. S., denkt Filipa, was das wohl bedeutet, und will sich schon so vorsichtig und lautlos, wie sie sich der offensichtlich Schlafenden oder Meditierenden genähert hat, wieder zurückziehen, da hebt die andere plötzlich das rechte Bein, bis es zum Restleib orthogonal steht, tritt gegen die Wandung, wirbelt herum und packt Filipa mit beiden Händen an deren T-Shirt-Kragen. Cordula Späth bleckt die Zähne, die Augen weit offen, dann lacht sie und sagt völlig unaufgeregt und ganz leise: »Erwischt, Frechdachs.«
Filipa schluckt hart und sagt dann krächzend: »Ich … wollte bloß endlich mal dein Tattoo da lesen. Das im Nacken. Ist das wegen der geschminkten Band? Oder das Lied von Prince, oder was?« Cordula lässt sie los und seufzt: »Nur Popmusik im Kopf, die Kinder. Schlimm. Das ist mein Ziel, was da steht, Filipa. Der Kommunismus. Fischst du mir mal das Hemd weg da drüben? Danke!«
Sie lässt es sich reichen, trocknet sich damit das glänzende Gesicht ab und fährt fort: »Nur dafür mache ich den ganzen Scheiß, weißt du. Mit Hirn, Knochenbrechen, Organisieren, Forschung, Kunst und allem. Damit es mal so kommt, K. I. S. S.: Konstruktiv, irenisch, synthetisch und solidarisch.«
»Hä?«, artikuliert Filipa ein Verständnisproblem.
Cordula sagt: »Erstens, eine Gesellschaft, die aufbaut, statt kaputt zu machen, dann, zweitens, eine irenische Gesellschaft, also eine ohne Gewaltmaßnahmen zur Sicherstellung der sozialen Kohäsion, drittens, eine, die weiß, dass sie Widersprüche immer wieder zu neuen Synthesen führen muss und daraus dann neue Widersprüche werden, und, viertens, eine, die niemanden abhängt, im Stich lässt, verarscht, unterdrückt, ausbeutet. Guck nicht so. Hat mir auch nix gesagt, als ich so alt war wie du. Hast ja Zeit.«
Cordula knüllt ihr Hemd zusammen und steckt es hinten in den Hosenbund, macht auch Anstalten davonzuklettern – ergreift eine der Leitern, stellt die bloßen Füße drauf, da sagt Filipa etwas kleinlaut: »Ich dachte, es bedeutet wenigstens was mit sexy.«
Cordula lacht: »Das denkst du dir dann so! Und es stimmt sogar, in der Gesellschaft, die ich mir wünsche, ist auf jeden Fall mehr Platz für sexy.«
»Auf dem Schiff hier ist schon mehr Platz für sexy als auf der Erde, soweit ich die Erde kenne«, erwidert Filipa, »was hier nach den Partys abgeht, das hab ich noch nie erlebt.«
»Gib doch nicht so an«, Cordula schüttelt den Kopf, »als ob du bei allem, was bei dir selber, wie du sagst, abgeht, überhaupt mitkriegst, was sonst abgeht – Sirilko und Kanbara zum Beispiel, das hast du bestimmt nicht gemerkt, diskret, wie die beiden sind.«
Filipa versteht natürlich, dass das ein Köder ist, der sie von der Spur ablenken soll, auf der sie gerade ist, denn was sie mit ihrer ganzen »sexy«-Idee eigentlich rauskriegen wollte, war, ob und gegebenenfalls mit wem Cordula Späth selbst was im Sexybereich anstellt, ob es eine Affäre gibt, was Flüchtiges oder Längeres, ein bisschen Eifersucht ist auch dabei. Denn obwohl die kleine Geschichte zwischen ihnen beiden schon in der chinesischen Wüste vorbei war, von ein, zwei Besuchen in Cordulas Suite im Turm und später auf dem Schiff mal abgesehen, war das eben nicht nur eine kleine, sondern für Filipa eben auch eine besondere und wichtige Geschichte.
Darüber will Cordula offensichtlich jetzt nicht reden, und was die Chefin nicht will, das kann man ihr weder abtrotzen noch einreden.
So beißt Filipa in den Köder: »Der kleine Japaner? Der Programmierer? Die sind doch mindestens zwanzig Jahre auseinander, altersmäßig …«
»Musst du grad sagen, mit deinen uralten Komponistinnen und kaum jüngeren Soldaten. Aber, ja, den meine ich – auch wenn er sich selbst nicht als Japaner sieht, sondern inzwischen als Chinesen. Die haben ihn im Internet beim Computerspielen entdeckt, ein Sensationstalent, eingeworben, und weil in seinem Fall der Umzug aus Kobe in den Beijinger Sozialismus einen enormen Statusgewinn und sogar eine Form von Luxus mit sich brachte, ist das einer der überzeugtesten Anhänger des … wie sagt der süße Xi Jinping immer so traditionell? Des Sozialismus chinesischer Prägung. Und Programmierer, na, hier auf dem Schiff ist der Kanbara das, was er in seinen Games immer nur virtuell war, ein Pilot, ach was, warum nicht ganz altmodisch: Der und die zwei Weiber aus Schanghai sind am ehesten das, was in alten Seeräubergeschichten ›Steuermann‹ heißt. Ein Steuermann und zwei Steuerweiber …«
»Steuerleute«, sagt Filipa, und dann: »Und der ist schwul, der japanische Steuerchinese?«
Cordula winkt ab: »Lass mich jetzt mal duschen, okay? Von mir aus ist er schwul, jedenfalls hat er was Diskretes mit unserm schönen schwarzen Londoner Russen.« Sie imitiert nicht unelegant damit Filipas Redeweise vom japanischen Steuerchinesen und schließt mit: »Soweit von euch jüngeren Menschen hier irgendwer überhaupt noch in so was reinpasst, schwul und lesbisch und queer und trans und begeistert von Gummimesserkämpfen mit Robotern. Ich weiß es doch wirklich nicht.«
Sie zieht sich schon zwei Sprossen vorwärts, da sagt Filipa: »Und genau so was glaube ich dir halt überhaupt nicht. Dass du irgendwas nicht weißt, was hier und auf der SMITH passiert. Ich glaube, du hast die Crew nächtelang zusammengestellt, mit so Listen und … Kombinatorik, wer passt, wer gefällt potentiell wem, wie werden sie zusammenarbeiten, was ist mit sexy und so weiter. Ich glaube, du hast dir bis ins Einzelne überlegt, wie das hier laufen wird, für die ganzen Jahre, die es dauert, bis wir die Burkhard eingeholt haben, inklusive Todesfälle, oder … warum gibt es die Pille, warum werden wir nicht alle, die Mädels, na ja, mit Spirale oder irgendwas … andere Sachen waren ja auch mehr oder weniger Zwang, die Tests und Impfungen, also erzähl mir nichts von Willensfreiheit. Die Pille, das heißt, wenn eine absetzt, gibt es hier unterwegs Kinder. Das ist bei dir alles da oben«, sie tippt sich an die linke Schläfe, »durchgerechnet worden, so gut kenne ich dich inzwischen, Cordula Späth. Ganz irenisch, of course.«
Das neuerlernte Wort nimmt sie wie eine Katze ihr kleines Beutetier zwischen die Zähne, und die Wendung »of course« hängt sie dran, weil sie unter dem Einfluss ihrer Freundin Liz inzwischen dazu neigt, englische Versatzstücke in ihre Sätze zu flechten. Cordula dreht sich noch einmal nach ihr um und sagt einfach: »Erwischt.«
Dann klettert sie davon, unbehelligt, undurchschaut.
Schon beim nächsten Kinoabend findet Filipa die Andeutungen der Chefin bestätigt: Kanbara sitzt bei Sirilko, aber es gibt keine sichtbaren Zärtlichkeiten, Zeichen der Zuneigung oder Ähnliches. Als Meinhard, der neben Filipa sitzt, sie halblaut fragt: »Was guckste denn immer da rüber? Stehst du jetzt auf alte Raumfahrtprofis aus der Sowjetunion?«, zischt Filipa: »Wenn du mich so ankäst, steh ich vor allem bald nicht mehr auf dich, Meini«, woraufhin Meinhard weitere Bemerkungen für sich behält und Filipa sich lieber wieder den Geschehnissen auf der Leinwand zuwendet, die in diesem Moment einen dramatischen Höhepunkt erreichen: Sandra Bullock als Astronautin Ryan Stone verliert gerade George Clooney als Matt Kowalski beim Überleben unter verschärften Bedingungen außerhalb der International Space Station – sie selbst ist in ein Kabel verstrickt, das sie an der Station festhält, Clooney aber treibt ins Nichts, und sie kommt davon, aber Aiguo Sun, drei Reihen vor Filipa und Meinhard, verliert die sonst so vorbildlich durchgehaltene Beherrschung und hebt die Arme wie ein über einer unlösbaren Aufgabe verzweifelter Mechaniker, der sein Werkzeug entnervt weggeschmissen hat, über den Kopf, wobei er ächzt: »Aufhören!«
Jetzt ruft ihm Sirilko etwas zu, das über dem losbrechenden Tumult kaum zu verstehen ist, woraufhin der Film unterbrochen wird – ein Standbild, das Licht geht an, und Cordula steht, in der Hand eine kleine Fernbedienung, von ihrem üblichen Platz in der ersten Reihe auf, den rechten Arm zum Signal »Ruhe, bitte« erhoben. Nach erfolgter Beruhigung, die etwa zwei Minuten braucht, bevor auch die letzten Pfiffe, Klatscher und Zwischenrufe abreißen, verbeugt sie sich, nicht zu tief, dann dreht sie sich in Richtung Aiguo Sun und sagt: »Passt dir was nicht an meinem Film, Kapitän?«
»Dein Film, soso«, blökt Meinhard dazwischen, und Filipa schmiegt sich enger an ihn, um ihm ins Ohr zu flüstern: »Sie steht auf Sandra Bullock, das meint sie. Deshalb hat sie den ausgesucht.«
Aiguo Sun murmelt Undeutliches. Cordula sagt für alle hörbar: »Nicht grummeln. Aufstehen und uns Dumme aufklären, bitte.«
Allgemeiner Applaus folgt, und Aiguo Sun steht, unter gespielten Mühen, wahrscheinlich aber in echter Verlegenheit, auf, räuspert sich, guckt sich um, empfängt den teils ironischen Jubel des Publikums und sagt dann, als sei ihm das wirklich sehr unangenehm: »So funktioniert das nicht. Die haben den Drehimpuls nicht verstanden. Die haben das ganze Inertialsystem nicht verstanden, die Trägheit, das, wovon der Film eigentlich handelt.«
»Der handelt von Sandra Bullock und dass man sie nicht kleinkriegt«, sagt Cordula, setzt aber hinzu: »Na gut, was denn?«
Aiguo Sun zuckt mit den Schultern und sagt deutlich, aber so, als wäre es ihm eigentlich nicht recht, dass er das wirklich aussprechen muss: »Kowalski und Stone sind relativ zur Station in Ruhe. Sie muss nur an ihm ziehen, er lässt ja los, damit sie nicht mitgerissen wird. Der Film tut so, als gäbe es irgendeine … Zauberkraft des Vakuums, die Leute wegreißt. Als wäre der Kosmos ein Abgrund, in den man fällt. Der Kosmos ist kein Abgrund, genauso wenig, wie er ein Zuhause ist oder sonst irgend… irgendetwas, das Menschen Gutes oder Böses will. Wir sind dem Kosmos egal, er hat ein paar Regeln. Wenn wir uns an die halten, geht’s einigermaßen, und dann kommt irgendwann die Entropie, und wir sterben.«
Es ist still geworden im Saal, alle haben verstanden, wovon er eigentlich redet. Cordula lächelt: »Ja, so was Ähnliches hat F. Scott Fitzgerald auch mal gesagt, nicht von der astrophysikalischen, aber von der moralisch-ästhetischen Seite der Sache her: Learn young about hard work and manners – and you’ll be through the whole dirty mess and nicely dead again before you know it.«
Vereinzeltes, nicht ganz befreites Gelächter, und Meinhard Budde ruft dazwischen: »Das Universum kennt kein Mitleid, okay, geil, kann ich jetzt mal erfahren, wie das für Sandra Bullock weitergeht?«
Filipa kneift ihn, als er sich wieder zurücklehnt, dann zischt sie ihm ins Ohr: »Schleimer! Sandra Bullock!«
Cordula sagt: »Ja, das wollen wir eh alle, rauskriegen, was mit Sandra Bullock wird. Aber, Vorschlag: Das war ja jetzt gerade ein bisschen Machtmissbrauch von mir, weil ich das Kästchen habe und weil mich interessiert, was unser geschätzter Kapitän zu der Sache zu sagen hat. Also, wir sehen, es gibt nicht nur bei der Literatur Diskussionsbedarf und bei Kunstmusik, wie in unseren Lesungen und Vorträgen, schon gut, ich weiß, wer die immer schwänzt, ihr braucht gar nicht so zu gucken … aber die Filme, ihr habt es gemerkt, ich suche immer gern Science Fiction aus, und bisher hat sich auch noch niemand beschwert, was übrigens an einer psychologischen Eigenheit des modernen Menschen liegt, wenn ich da mal kurz abschweifen darf.« Stöhnen und Pfiffe antworten ihr, aber sie fährt unbeirrt und in liebenswürdigstem Ton fort. »Es ist nämlich so, seit es Western-Heftromane gab, lasen das gerade auch echte Cowboys in Texas und Arkansas und was es da für gottverlassene Gegenden gibt, mit großer Begeisterung, und The Godfather, der Pate, gehörte zu den Lieblingsbüchern der Mafiosi in Amerika, als die Mafiosi in Amerika noch was taugten, also, die Eskapismustheorie der populären Literatur, die stimmt nur sehr eingeschränkt, dass die Leute von so Abenteuergeschichten vor allem aus ihrem komischen Angestelltendasein erlöst und entführt werden wollen in fremde Sphären et cetera … in Wirklichkeit sind das einfach Angebote, sich so eine Identität zu basteln, und das braucht der Cowboy genauso gut wie der kleine Bankkassierer, für beide kann eine Cowboystory so Haltungen transportieren, der Bankangestellte muss vielleicht ein bisschen um die Ecke abstrahieren dabei … aber die Tatsache, dass der Cowboy und der Verbrecher eben auch den Western und den Krimi lesen, die erinnert uns einfach daran, dass Kunst nicht Sachaussagen über die Welt mitteilt, sondern Haltungen, und nur weil man Haltungen immer zu irgendwelchen Sachverhalten einnimmt statt etwa zu gar nichts, sind dann eben auch immer Sachaussagen drin, über die Colts des Cowboys, den Ehrenkodex der Mafia oder, bei Bullock und Clooney hier, übers Drehmoment, und manchmal sind die Sachaussagen falsch, und dann fragt sich nur, sind sie auf eine Art falsch, die diese Mitteilung der Haltung erschwert oder beschädigt, oder ist es irrelevant. Darüber könnt ihr jetzt erstens mal schön nachdenken, während ich den Film gleich endlich weiterlaufen lasse, ob der Einwand unseres geschätzten Genossen Kapitän den Film wirklich als Film trifft, weil der zum Beispiel sagt, es ist eine richtige Haltung zum Universum, dessen Gesetze in Extremsituationen zu kennen und vernünftig anzuwenden. Dann wäre das sogar ein schwerwiegendes Argument gegen den Film, was Kapitän Sun sagt. Oder ist es nachrangig, ist es unwichtig – wie gesagt, erstens könnt ihr das jetzt mal begrübeln, und zweitens machen wir es in Zukunft so, nach dem Film ist zehn Minuten Pause, wer solche Sachen dann danach nicht mehr diskutieren will, kann gehen, aber wer reden will, dann reden wir noch ein Weilchen, Obergrenze eine Stunde, würde ich sagen.«
»Sounds good. Let’s do that«, ruft Liz. Meinhard wiederholt: »Sandra Bullock!«, dann geht das Licht aus, und der Film läuft weiter.
Die neue Politik der Gespräche nach Filmen wird von da an gewissenhaft praktiziert. Die ersten Diskussionen heften sich vorhersehbarerweise an Fragen und Einwände der Art, zu der schon Aiguo Suns Unzufriedenheit mit Gravity gehört: Technisches, Faktisches, Naturgesetzliches – »Die Atmosphäre auf dem Mars ist viel zu dünn für so starke Stürme«, moniert der Kapitän bei The Martian, und Andrej Sirilko hat Vorbehalte gegen den Flug ins und durchs schwarze Loch in Interstellar, die freilich wieder der Kapitän ein wenig relativiert: »Du sagst das so, als wüssten wir, dass das nicht geht, weil die uns bekannten physikalischen Gesetze in so einer Singularität nicht mehr gelten, aber das ist ein logischer Fehler, strenggenommen: Nur weil Gesetze aufgehoben sind, die einen Vorgang sonst begleiten und stützen, heißt das nicht, dass der Vorgang nicht auch ohne diese Gesetze funktionieren kann. Wenn ich irgendwas zum Beispiel in einem Land verbiete, was aber ohnehin niemand jemals tut, und das soziale Leben funktioniert, weil das niemand tut, und würde schwer beschädigt, wenn das jemand täte, oder wenn es sogar viele täten – dann denken die Leute, die in diesem Land leben, vielleicht, wenn sie in ein anderes Land kommen, wo es dieses Verbot nicht gibt, dass dort das Chaos herrschen muss, weil sie Angst haben, dass jetzt alle diese eine Sache tun, die bei ihnen zu Hause verboten ist, aber auch in dem andern Land tut das niemand, weil es eben sowieso nie jemand tut.«
Sirilko ist nicht einverstanden: »Das ist ein Kategorienfehler, Aiguo. Naturgesetze sind was anderes als menschengemachte – die Naturgesetze sind nicht … es gibt keine, die so redundant sind wie in deinem Beispiel. Zu den Gesetzen, die im schwarzen Loch nicht gelten, gehört Räumliches und Zeitliches, ohne das ich mir Leben in der Tat nicht mal vorstellen kann, und ich vermute sehr, du kannst es auch nicht. Kann Leben auf einen unendlich kleinen Punkt zusammengedrückt werden und trotzdem weiterleben? Wenn ich dich auch nur ein bisschen zusammenquetsche, ist dein Leben zu Ende. Das meine ich.«
Aiguo nickt, denkt nach, sagt: »Ja, mein Beispiel war zu … das war eine Metapher, das ist nicht gut. Aber was ich meine … ich weiß nicht …«
Cordula steigt ein: »Ich glaube, es geht ihm um das, was Mao gemeint hat, als er sagte: die Wahrheit in den Tatsachen suchen. Guter alter rationalistischer Empirismus. Induktion: Wenn ich keine Daten mehr habe, kann ich auch nix Verlässliches mehr sagen. Wir wissen es nicht, wir haben keine Daten übers schwarze Loch, wir wissen nur, mathematisch, in einer Singularität hören die Gesetze auf, die wir kennen, wir wissen also auch nicht, gelten dann andere, die zum Beispiel auf irgendeine für uns unvorstellbare Art eben ›nichtmathematisch‹ sind, oder gelten gar keine, und was heißt das, über einen Ort und ein System zu sagen, da gelten gar keine? Unsere Mathematik kann nur so gut sein wie unser Hirn, und das ist ein Evolutionsprodukt, das kann manches eben nicht denken, sowenig wie unser Auge manche Lichtfrequenzen sieht, unser Ohr manche Tonfrequenzen hört. Da brauchen wir Nachtsichtgeräte und spezielle Mikrophone, die das ausgleichen, und wenn wir was nicht denken können, brauchen wir halt Mathe oder Philosophie oder Kunst, die uns dazu verhelfen, das doch denken zu können, da müssen wir das Hirn umrüsten, wie wir die Brillen und Mikros nehmen, um die andern Organe um- und aufzurüsten. Ich glaube, was Aiguo meint, ist: Nur, weil du weißt, die dir bekannten Gesetze gelten da nicht, weißt du noch nicht, was da geht und was nicht geht, denn du hast nur einen Negativbefund, und aus einer Abwesenheit von Wissen kannst du nicht in derselben Weise weiteres Wissen ableiten, wie du aus Wissen, zum Beispiel aus empirisch gewonnenem, weiteres Wissen ableiten kannst. Also, der Film nimmt eine Wissenslücke und phantasiert da rein, und das darf er selbst vom rigidesten Hard-Science-Fiction-Standpunkt aus, weil das was anderes ist, als wenn er gegen ein vorhandenes Wissen einfach verstößt, sagen wir, über Drehimpuls bei Raumstationen oder über das Wetter und Nichtwetter auf dem Mars.«
Aiguo Sun schaut sie an, als wäre er eben aus tiefem Schlaf erwacht: »Das ist es genau, was ich sagen wollte.«
Sirilko zuckt mit den Schulter: »Wenn es das ist, was du sagen wolltest, hast du wahrscheinlich recht. Ich weiß nicht genug, um mir die Behauptung herausnehmen zu können, du hättest unrecht.«
»Ganz schön irenisch«, flüstert Filipa, tief in den Sitz gesunken, zu sich selbst, denn Meinhard ist schon abgehauen. Er mag die Diskussionen nicht.
So verpasst er auch die allmähliche Weiterentwicklung der, wie er spöttisch sagt, »Versuche, den Spaß am Film durch drangehängtes Gelaber zu zerstören«: Es geht immer weniger um Faktisches, immer mehr um Cordulas Frage nach »Haltungen«.
Pi von Darren Aronofsky erfährt entschiedene Ablehnung von den meisten, auch Cordula selbst gibt schließlich zu, dass sie den Film ausgesucht hat, »damit wir mal was ganz Schlimmes sehen. Den ganzen Zahlenquatsch hätte dieser Film gar nicht gebraucht, von der Haltung her, die er mitteilt, nämlich: Die Welt ist ein Irrenhaus, und man kann sie nicht verstehen, und wer’s versucht, wird noch irrer, und: Ist das nicht faszinierend? – also, diese komplett bescheuerte Haltung hätte er auch mit einem Monster unterm Bett mitteilen können. Aber dann wäre es nicht so bösartig gewesen, und das geht ja nicht.«
Bei Upstream Color von Shane Carruth braucht man gemeinsam fast zwei Stunden, um schließlich zum von Filipa ausgesprochenen Ergebnis zu gelangen, »dass das Tolle, tut mir leid für uns Vernunftleute und Argumentierfreaks, an diesem Film ist, dass man es wirklich gar nicht kürzer zusammenfassen kann, was das Tolle an dem Film ist, als eben so, dass man den ganzen Film erzählen würde. Wir müssen, glaube ich, echt kapitulieren hier.«
Gerade weil die anderen, es sind an diesem Abend nur acht, ihr da recht geben und die Diskussion also zu keinem anderen Ergebnis kommt als zu dem, dass es manchmal eben kein Ergebnis gibt und man ein Kunsterlebnis unerklärt ins übrige Leben mitnehmen muss, bleibt Filipa diese spezielle Debatte als besonders beeindruckend im Gedächtnis, was sie sogar Meinhard erzählt: »Da hättest du echt dabei sein sollen, das hätte dir gezeigt, dass es nicht darum geht, den Spaß am Film zu zerstören, sondern im Gegenteil der Spaß irgendwie manchmal durch drangehängtes Gelaber gerade noch größer wird.«
Seine Reaktion, so unter vier Augen auf dem breiten Bett in seinem Zimmer, überrascht sie – ruhig, nachdenklich, freundlich, während ihr Kopf auf seiner Brust liegt und er mit den Fingern in ihrem Haar spielt: »Ist ja gar nicht so, dass ich das nicht wüsste, dass dieses Diskutieren gut für den Kopf ist und … für die Gruppe hier und alles. Aber ich … weißt du, ich war immer scheiße im Aufsatz und in Gemeinschaftskunde und Religion und so was. Ich hab das nie hingekriegt, meine Gedanken so … diese Spielchen, wer macht den längsten Satz und die meisten Drehungen im … du weißt schon. Ich hab immer das Gefühl, ich bin da schlecht, und das macht mich aggressiv, wenn ich was nicht kann, deswegen bin ich ja Soldat geworden, weil, Soldat kann ich.«
Sie sagt: »Mach dir keinen Kopf. Wenn du doch mal Lust hast zu kommen und mitzureden, glaube ich, dass mir das sogar gefällt, wenn da mal einer mitredet, der die Spielchen nicht spielt, den längsten Satz und so. Ich glaube, mir würde das gefallen, wenn du mal sagst, was bei dir so im Kopf passiert. Wenn du dich mal mit Leuten über was streitest.«
Drei Tage später geht ihr Wunsch in Erfüllung, aber auf eine Art, die ihr den Gedanken eingibt, sie würde den Wunsch lieber wieder zurücknehmen. Es passiert beim Essen im kleinen Kreis, von Cordula in der ansonsten leeren Kantine versammelt, nur ihre ursprüngliche Crew, ohne Max allerdings: Aiguo, Andrej, Liz, Christian, Meinhard und Filipa. Liz und die Chefin persönlich haben gekocht, es gibt »spanische Häppchen«, wie Cordula die Tapas in absichtlich geziertem Deutsch nennt, also Minipaprika mit Hähnchen-Dattel-Füllung (Geflügel gehört zu den wenigen Sorten tierischen Proteins, die auf der FRIES nicht in Aquarien gezüchtet werden, ansonsten gibt es fast nur Meerestiere, überhaupt keine Kühe, ein paar Hasen noch, und Ziegen, auch für Milch), von Liz und Filipa zubereitete Gewürztomaten in Essig-Karamell-Sud, Garnelen-Pinchos im Kartoffelmantel mit Zitronen-Aioli und dergleichen »Essen für Hitzetage« mehr, das Cordula sich hat einfallen lassen, weil die Temperatur an Bord infolge diverser Testläufe für umfangreiche wissenschaftliche und sonstige Arbeiten tatsächlich im Moment relativ hoch ist, was Aiguo und Cordula kurzerhand zum »Sommer« erklärt haben, inklusive längerer Tages- und kürzerer Nachtschichten.
»Ich dachte mir, wäre doch nett, mal wieder zusammenzusitzen, das alte Wüstenteam«, sagt Cordula am Anfang, es gibt keine Agenda, was Filipa und Christian zuerst vermutet hatten. Man redet daher zwanglos, die meisten sprechen von ihren Lieblingsthemen, Cordula also von Musik und Film, Liz von ihren Vorbereitungen für eine Art Wiedervereinigungsfest bei der bevorstehenden Kombidock-Synthese von FRIES und SMITH zur dann vollendeten ROBERT A. HEINLEIN, Andrej von seinen neuesten astrophysikalischen Einsichten und Teleskopieexperimenten, Christian von Ergebnissen beim Entschlüsseln der Sendbotschaft der EOLOMEA: »Wenn ich, wie hier, einen großen Teil des Volabulars tatsächlich kenne oder erkenne und sich allenfalls die Sprachen ein bisschen mischen, aber die Syntax ist seltsam, die Grammatik, und Konjugationen und Deklinationen machen nicht, was sie sollen, und Sonderzeichen reißen Löcher rein, dann ist das erst mal wie eine Art Anagramm in größer, nur dass ich beim Anagramm keine Möglichkeit habe, eine präferierte Reihenfolge der Zeichen rauszufinden, es ist einfach eine Menge von Buchstaben, aber bei der Syntax kann ich das draus machen, was in der Mengenlehre eine punktierte Menge heißt, ich kann einen bevorzugten Punkt suchen und finden, ein bevorzugtes, vor den anderen ausgezeichnetes Element in der Menge, das wäre nach der Dependenzgrammatik nämlich das Verb, und als mir dann klarwurde, diese Sonderzeichen stehen für ganz bestimmte Hilfsverben, war ich schon sehr nah dran, und jetzt zeigt sich, es ist halt wirklich eine Art Geschichte, die da erzählt wird, ich weiß nur noch nicht so ganz hundertprozentig, was für eine Geschichte, aber das Bizarre ist, sie hat offenbar mit Mode zu tun, mit Kleidung …«
»Wieso ist das bizarr, Kleidung ist doch wichtig, the hardest thing around here … you can’t get new clothes!«, findet Liz. Dann spricht Filipa von der nächsten Disco und endlich Aiguo Sun von seiner tiefen Zufriedenheit mit dem anhaltend reibungslosen Ablauf der Mission insgesamt: »Ich habe schon mit Japanern gearbeitet, bei unseren Satelliten, sie mieten manchmal welche. Und ich habe mit Amerikanern zusammengearbeitet, ebenfalls offiziell, und mit Russen, das dann allerdings inoffiziell. Aber die angenehmste bilaterale Zusammenarbeit, die ich je erlebt habe, ist diese hier, mit den Deutschen, was mich besonders freut, weil ich schon in jungen Jahren Deutsch gelernt habe, weshalb ich auch ein alter Bewunderer deutschen Wissens, deutscher Technik, deutscher Kultur bin.«
»Mpffhmamm«, macht Meinhard, eine Tomate noch in der rechten Backe, die er verschluckt, um dann ein säuerliches Gesicht zu ziehen. Aiguo trinkt Wasser, aber Cordula hat den unartikulierten Kommentar bemerkt und schaut Meinhard aufmerksam, abwartend, interessiert, aber ansonsten unlesbar an. Es scheint, als warte sie darauf, dass er etwas deutlicher wird, aber er schweigt, erwidert den Blick nur ebenso ruhig. Filipa bemerkt als einzige andere Person am großen runden Tisch, dass sich hier etwas Unerfreuliches ankündigt, und hofft einen Augenblick lang, es lasse sich vielleicht noch vermeiden, aber da sagt Cordula: »Du wolltest was sagen, Meini?«
Der Angesprochene grinst ein bisschen schief und wiegelt ab: »Ach, lass. Is nich wichtig.«
Liz meint es als Scherz, als sie sagt: »Vielleicht findet der Deutsche hier die Zusammenarbeit gar nicht so schön.« Erst als Filipas warnender Blick sie trifft, wird ihr klar, dass das die Wahrheit sein könnte, und sie setzt entschuldigend hinzu: »Just saying. Never mind.«
Cordula schaut Meinhard jetzt neugierig an, als wäre ihr etwas an ihm aufgefallen, das sie noch nie gesehen hat, weder bei ihm noch bei sonst einem Menschen, und sie sagt: »Sag’s halt, kann ja nicht schlimm sein.«
»Nö, wisst ihr«, erwidert er aufreizend langsam, »ich bin da nicht der Richtige. Ich trage ja nichts bei hier zu Wissenschaft und Technik und den Sachen, von denen der Kapitän so viel versteht.«
»Wenn du was zu sagen hast, was stimmt, dann bist du auch der Richtige«, sagt Cordula, »und wenn du was zu sagen hast, das nicht stimmt, dann fragt sich doch, wieso machst du ein Gesicht, als hättest du was zu sagen, das stimmt?«
Dabei lächelt sie, aber allen am Tisch wird bewusst, dass sich hier demnächst eine Spannung entlädt, die sich über längere Zeit aufgebaut haben muss. Meinhard sieht ein, dass ihm nur noch die Flucht nach vorn bleibt: »Okay, ernsthaft … wir sind unter uns, nicht? Ich sehe die chinesischen Technikleute hier am Tisch nicht, und auch nicht unsere deutschen, die Mirjam und den Oswald und den Georg … ich weiß nicht, ob sie mir das übelnehmen würden, dass ich jetzt hier … dass ich mir praktisch ein bisschen anmaße, für sie zu sprechen, wo sie doch vielleicht gar nicht denken, was ich denke. Und ich weiß nicht, ob ich die Chinesen nicht beleidige, wenn ich sage, dass das so ganz sauber und freundlich und gleich zu gleich nicht ist hier. Ich will auch dich auf keinen Fall beleidigen, Käpt’n, aber zufällig hab ich ein paar Freunde in der Autoindustrie und auch … ich kenn so einige Tech-Leute in Deutschland, es sind auch welche bei mir auf der Bundeswehrschule gewesen, dann haben die sich selbständig gemacht, und China … also, ihr seid alle sehr nett«, er nickt in Richtung Aiguo, »aber das Ganze ist halt auf der Erde auch ein Riesentechnologietransfer gewesen. Ich meine, Deutschland zahlt einen hohen Preis für solche Kollaborationen. Ich habe mich meinem Land verpflichtet, Verteidigung, altmodisch, klar, aber ich meine das ernst. Wenn man wo hinfährt, wo man töten muss und sterben kann, da macht man keine Lippenbekenntnisse, das muss man mit sich selber klar haben. Und China … Vor fünfzehn Jahren gab’s bei meinen Leuten noch eine gewaltige Euphorie, aber dann hat sich rausgestellt, die Chinesen spielen nicht fair. Die schöpfen einfach ab bei uns – das Wissen –, es gibt so eine Joint-Venture-Pflicht, Ausländer können ihr Geld hinbringen, aber bei jeder Firma, die in China, auch als Ableger von einer ausländischen Firma, gegründet wird, sind per Gesetz 51 Prozent in chinesischer Hand, und die lernen dann schön die Betriebsgeheimnisse, und die Deutschen, zum Beispiel, zahlen noch dafür, dass sie überflüssig werden, und die Chinesen scheiden dann aus und gründen ihre eigenen Firmen oder treten in chinesische Firmen ein. Bei Autos isses jetzt so, schon jedes zweite in China verkaufte Auto kommt von einem chinesischen Hersteller, das ist so frech, und die Konkurrenzlage ist halt komplett protektionistisch durchlöchert, da gibt es dann so ein Punktesystem bei Ausschreibungen, da bist du auf einmal wieder Neueinsteiger mit null Punkten, selbst wenn du seit den Siebzigern, seit den seligen Reformzeiten von Deng Xiaoping, den Chinesen geholfen hast, das ist egal, du hast null Punkte, und die drei Jahre alte chinesische Mitbieterfirma hat gleich zehn, oder jemand verkauft Hugo-Boss-Anzüge, also gleiche Machart, aber nicht von Boss, und Boss beschwert sich, und die Chinesen sagen, kannst ja bei dem, der dich gelinkt hat, die Rechte kaufen, also an deinem eigenen Produkt. Bevor du mich nach China mitgenommen hast«, er schaut Cordula an, deren Gesichtsausdruck immer noch nicht verrät, was sie denkt, »hab ich mich ein bisschen schlaugemacht, einfach aus Interesse, und es gibt jetzt offenbar so einen richtigen Riesenplan der chinesischen Regierung, ›Made in China 2025‹ heißt das, die wollen in den nächsten Jahren, über 200 Milliarden Euro ausgeben für Robotik, Nachhaltigkeit, Biotech, das ist die große Plattmache, und du, Cordula, hast ihnen das alles geliefert, die Maschinen hier und … alles eben. Auf Kosten von Deutschland und mit dem Versprechen, nehme ich an, dass es dafür dann einen Anteil an dem gibt, für uns, was wir da rausfinden, im Asteroidendingens und unterwegs zum Neptun. Selbst wenn das stimmt: Wir kriegen was, was die Chinesen auch kriegen, aber wir geben dafür was her, was sie vorher nicht hatten.«
»Wie meinst du das«, fragt in die unbehagliche Stille nach diesem Monolog Andrej Sirilko, »du hast dich ein bisschen schlaugemacht? War das eine Privatinitiative, oder hat dir vielleicht ein Vorgesetzter in deiner Bundeswehr …«
»Ja klar, der Kommunist sieht überall Spionage«, sagt Meinhard, und Aiguo Sun versucht, die Situation zu entschärfen: »Freunde, wir können …«
»Ach was, Freunde«, sagt Meinhard, »dieses ganze Freundschaftsgetue und Liebgehabe, die Kulturabende und, sorry, Filipa, auch die Disco, echt, was ist das denn hier für euch? Nena? Eine Raumfahrt, die ist lustig, oder was? Ihr tut einerseits so, als wäre das ein Trip, ein Vergnügen, und andererseits habt ihr total vergessen, wer ihr auf der Erde seid, wie es auf der Erde ist, was es da für Politik gibt, wer gegen wen und so weiter, als wären wir hier die Multikultimannschaft von der Enterprise … aber es ist ein militärischer Einsatz, unter anderem, von Chinesen und der Bundesrepublik gegen das letzte bisschen, was von der Sowjetunion und der DDR noch übrig ist, gegen Leute, die verrückt genug waren, für ihren Kommunismus die Erde zu verlassen, also Leute, die sich wohl doch eher nicht kampflos ergeben werden, wenn man bedenkt, welche Strapazen die schon hinter sich haben. Und diesen Einsatz fliegen die treuherzigen Deutschen zusammen mit den Chinesen, die sich immerhin ja auch noch Kommunisten oder Sozialisten nennen oder so was. Und das soll gutgehen, ohne Probleme, und alles ist lieb und nett? Nee, mich kotzt das manchmal an«, er schiebt seinen Teller weg, »diese Naivität hier. Echt. Nee, Filipa, lass, musst mich jetzt nicht festhalten, und komm bitte auch nicht mit. Entschuldigt schon den Ausbruch«, er steht auf, »aber irgendwer musste das mal sagen, dass das hier nicht einfach ein geiles Abenteuer ist. Ich beruhig mich wieder, und falls sich jemand persönlich angemacht fühlt, Aiguo, Cordula, Andrej, es war nicht meine Absicht … ich bin nur … ja, ich geh mal joggen oder was.«
Er verlässt den Tisch und die Kantine.
Liz spricht aus, was fast alle denken, die zurückbleiben: »Ich hoffe doch sehr, dass er unrecht hat. Ich hoffe es für uns, und ich hoffe es noch mehr für … for those soldiers over on SMITH. And …« Sie macht eine kleine Pause und sagt, sehr leise: »… for Max, whatever he may be doing right now.«