Max vermeidet den Tiefschlaf ganz.
Die Reise ist zu interessant. Der deutsche Offizier und Missionsleiter, der für die Entscheidung zuständig ist, was mit dem nicht ganz blinden, aber auch nicht ganz regulären Passagier geschehen soll – er heißt Richter und nennt Max »meinen blinzelnden Passagier« –, gewährt ihm die Bitte: »Zwanzig von meinem Kontingent hier werden auch die ganze Reise bis zum Asteroidengürtel wach sein. Also warum nicht du? Zumal ich stark vermute, dass Meinhard Budde, der ja aufgrund seiner … speziellen Mission nicht meinem Befehl untersteht, ganz dasselbe verlangt hätte. Und dem hätte ich es auch nicht abschlagen können. Außerdem spart’s Strom.«
Während der ersten paar Tage, als man die Erde durch die großen und kleinen Fenster des schmucklosen Kastens noch recht deutlich sieht, hängt Max häufig an einem dieser »Bullaugen«, wie die deutschen Soldaten gern sagen, die überhaupt sehr zu maritimen und nautischen Vokabeln neigen, wohl auch, weil einige von ihnen tatsächlich aus der Marine stammen. Richter spricht dieses »Gaffen nach der Murmel«, wie er es nennt, schließlich in der »Gymnastiktrommel« an, wo täglich und zum Leidwesen des blinzelnden Passagiers mehrere Stunden lang dem Verfall der Muskeln entgegengewirkt werden soll: »Ihr klebt mir ein bisschen zu sehr an der Scheibe, Kinder. That goes for you, too, Mister America. Ihr müsst euch das abgewöhnen, wir sind hier in einer völlig neuen Situation. Wir sind im Weltraum, und zwar im chinesischen Weltraum: Yuzhoukongjian, das ist Weltraum auf Chinesisch, merkt euch das. Wohin wollen wir? Haiwangxing, das ist Neptun auf Chinesisch. Merkt euch auch das. Oder merkt es euch nicht. Die können alle Deutsch hier. Besser als ihr. Kein deutscher Soldat, und weil ja alles schön gegendert werden muss nach dem allmächtigen Willen aus Berlin: Keine deutsche Soldatin hat je unter Bedingungen gelebt und gedient wie hier, und wir werden aus diesen Bedingungen heraus auch ins Gefecht geschickt, Kameraden. Wehe, wenn jetzt einer Kameradinnen sagt – ja, du, Frau Kirsch, dich meine ich –, und denkt ja nicht, dieser Wahnsinn, dass sich hier und auf der … PODKAYNE FRIES alle duzen sollen, hindert mich daran, euch klarzumachen, wer der Obergorilla ist und wer die arme Sau. Ich will, dass ihr ernst nehmt, was die drüben auf ihrem Luxusliner ignorieren. Wir haben hier nur einen Reifen, nicht vier wie die Verwöhnten, aber wie haben sechsmal so viele Leute an Bord. Geschlafen wird bei mir nicht mit Schwerkraft, der Reifen ist zum Arbeiten da. Übungen gibt es da auch keine, die finden hier in der Trommel statt, auch Gefechtsübungen, auch Messertraining. Die auf ihrer FRIES haben einen Bauernhof, sie haben ein Schwimmbad und Räume für Gesellschaftsspiele, Fangen und Verstecken. Da das meiste auf dem Ding unsere chinesischen Freunde bezahlt haben, mit Yingbi, das heißt Münze, und Zhibi, das heißt Geldschein, und Huobi heißt Geld – also, weil die das da drüben geblecht haben, während dieser Kasten hier zu siebzig Prozent Eigentum der Bundesrepublik Deutschland ist, will ich mal nicht meckern, außerdem bin ich ganz froh, dass ich die bekloppten Zivilisten ein paar Jahre nicht sehen muss. Aber wir haben hier andere Sitten als die da drüben – ihr wisst vielleicht, dass die Frau Späth schon auf der Basis in der Wüste immer im Schlafanzug rumgerannt ist. Bei mir wird Raumanzug getragen, Taikongfu, und zwar von allen Taikonauten und Taikonautinnen, denn der Raumanzug muss euch zur zweiten Haut werden, den müsst ihr kennen, als wäre er angewachsen, deswegen haben wir auch einen besseren als die Zivilisten. In dem werdet ihr kämpfen müssen, even Mister Evans, und in dem werdet ihr überleben oder sterben. Zum Schlafen könnt ihr ihn ausziehen und wenn ihr strampelt. Nach ein paar Jahren wird er vielleicht schlecht riechen, aber dann habt ihr ihn eben auch schlecht gepflegt und verdient nichts Besseres. Ende der Durchsage, weitermachen.«
Der Raumanzug fürs Militär, auch für die Chinesen, die im hinteren Teil der keilförmigen VALENTINE MICHAEL SMITH zu Hause sind und ein weitgehend von dem der deutschen separiertes Leben an Bord führen, wie Max im Laufe der ersten Monate lernt, ist tatsächlich ein anderer als derjenige, den man den »passengers« (wie Max das bei sich nennt, im Gegensatz zu »real astronauts«) auf der FRIES gegeben hat: Der SMITH-Anzug ist erstens blau statt rot und weiß, zweitens hat er einen, abgesehen von der Polykarbonat-Sichtplatte, weichen, also eher kapuzenförmigen Synthetikhelm, was Gewicht (genauer, mit Richter: »Masse, nicht Gewicht. Merkt euch das, Masse. Wir sind in Nullschwerkraft, ihr Deppen«) spart, leichtere Lagerung ermöglicht und auch auf Teile verzichtet, die den Kopf verletzen könnten. Die Gelenke sind ebenfalls sparsam, teils bloße Metallringe mit Verschiebeschienen, was große Beweglichkeit mit sich bringt und überhaupt erst möglich macht, dass Richters Befehl, außerhalb der Schlafens- und Übungszeiten so gut wie ständig in dieser Montur herumzuschweben, für seine Truppe nicht zur Qual wird, auch wenn der Anzug mehrere Textilschichten hat, von denen man beim Leben an Bord einige herausziehen kann, was den Anzug zwar nicht vollständig atmungsaktiv macht, aber doch »keine Schweißfalle, das freut uns sicher alle« (Richter).
Das Erstaunlichste sind für Max die Handschuhe, blau mit schwarzem Handrücken, ohne bewegliche Teile, mit denen man sogar Eingaben auf Touchscreens mit ziemlich kleinen Tastflächen hinkriegt: »They’re just like the ones I’ve had when I was on my motorcycle, ages ago. Es ist … astonishing.«
»Sag doch einfach: geil. Die sind geil, die Handschuhe«, bringt ihm ein deutscher Spezialkräftekommandosoldat namens Robin Hoyer ein wichtiges neues Wort bei, dann geben sie einander »high five«, was in diesen Handschuhen fast so schön klatscht wie mit nackten Händen. »Du kannst mit den Dingern sogar ein Streichholz halten, ohne dass es dir die Fingerkuppen anbrutzelt«, das zeigt ihm Richter einmal bei einem Besuch des Amerikaners in der Kabine des Chefs, der ihn regelmäßig zu sich kommen lässt, um zu überprüfen, ob er sich gut einfügt.
Das mit der Flamme ist eines der vielen kleinen Experimente, mit denen Richter Einzelnen wie der ganzen Truppe immer wieder veranschaulicht, dass hier draußen andere Gesetze gelten: Die Flamme hat die Form einer Kugel, nicht eines Tropfens wie daheim, und verlischt sehr schnell – »Weißt du, woran das liegt?«, fragt er seinen Gast. Max gibt zu, dass er es nicht weiß: »I have no idea.«
Der Deutsche guckt streng und sagt: »Deutsch, bitte. Ich will, dass du hier anfängst, deutsch zu denken, deutsch zu träumen – nicht aus irgendeinem lächerlichen Nationalismus, sondern, pass auf: Es kann hier auch lange vor dem Gefecht zu lebensgefährlichen Situationen kommen, das Ganze ist kein Spaß – ich habe manchmal Angst um die braven Leutchen drüben in der SMITH, dass die das nicht begreifen, und bin ehrlich gesagt froh, dass der Meinhard Budde dabei ist, das ist ein Knochen, der wird sie bei Bedarf schon dran erinnern. Aber sind wir mal realistisch: Chinesisch wirst du nicht lernen – ich kann’s, aber die meisten im deutschen Kontingent hier können es nicht, die reden deutsch, und dein Leben kann im Krisenfall, wenn was schiefgeht oder wenn es zu einem Kampf kommt mit den Marsmenschen, davon abhängen, dass du meine Befehle, oder die Befehle von irgendeinem Soldaten hier, verstehen und befolgen kannst, verstehst du? Na siehste. So, und jetzt noch mal: Weißt du, warum die Flamme hier anders aussieht als daheim?«
Max sagt: »Nein. Ich weiß es nicht, und … es … es ärgert mich fast ein wenig. My wife … meine Frau Liz, die weiß so was. Ich weiß viele Dinge, Materialwissenschaften zum Beispiel … wie du wahrscheinlich schon gehört hast.«
»Ja, meine Techniker sagen mir, du hilfst oft. Hast Talent für Ingenieursgeschichten, kannst gut rechnen und so. Also, diese Kugelflamme, das liegt daran – Licht, Hitze, Kohlendioxid, bisschen Dampf: Die Verbrennungsprodukte dehnen sich auf der Erde aus, dann steigen sie auf, weil Leichteres steigt – Schwerkraft.«
»Which means …«, sagt Max und berichtigt sich sofort: »Was bedeutet, frische Luft kommt dann zur Flamme und ernährt … ernährt das Verbrennung weiter.«
»Man sagt nährt, nicht ernährt, und es ist die Verbrennung, nicht das Verbrennung, aber sonst stimmt’s – die Schwerkraft fehlt, von der die Dichtedifferenz kommt, also weder Auftrieb noch Konvektion, deshalb geht’s aus. Es gibt einen Haufen Versuche, die man machen kann, die noch andere interessante Eigenschaften von allerlei chemischen Prozessen in Nullschwerkraft demonstrieren. Lass dir das von Renate mal im sicheren Raum zeigen – es gibt irre Effekte, wie so ein Feuer an Papier dann einerseits ausgeht, das heißt die Flamme, aber sich dann so am Papier lang trotzdem weiterfrisst, kaltes Feuer sozusagen. Na gut, hau ab für heute. Halt, eine Sache noch.«
Max ist schon auf halbem Weg zur Luke, hält sich jetzt aber an einer Eisenstrebe fest, dreht sich um und schaut den Offizier fragend an, der sagt: »Deine Frau schläft jetzt, richtig? Die meisten drüben auf der FRIES schlafen die ersten paar Wochen und Monate, viele auch die ersten zwei Jahre, nicht?« Max nickt, er weiß nicht genau, worauf diese Fragen hinauswollen. Der Offizier ist kein umständlicher Mensch: »Ich nehme an, wenn sie aufwacht, werdet ihr die Möglichkeit nutzen zu reden? Kommunizieren?«
»Ja, we plan to. Wir … wollen das.«
»Gut. Prima. Folgendes, es ist ein bisschen heikel, aber nichts Verbotenes, und du und ich, wir werden einander ja vertrauen müssen, wenn wir das hier heil überstehen wollen.«
Wieder nickt Max, und Richter sagt: »Schön, jetzt ist es aber so: Nicht alle, die mit dieser Sache hier was zu tun haben, nicht mal alle, die sie leiten, sind so vernünftig, zu kapieren, dass freier Informationsfluss unter den gegebenen Bedingungen lebensnotwendig ist. Es gibt ein paar Geheimniskrämer. Die oberste Geheimniskrämerin ist diese Frau Späth, da sind wir uns wohl einig. Du hast mir erzählt, wie sie mit deiner Frau hinter deinem Rücken schon ’ne Weile geredet hat, du wusstest gar nichts davon – bevor sie euch dann aus eurer Klemme geholt hat. Ich mag es nicht im Dunkeln. Und von dem her, was du so erzählt hast darüber, wie diese Rettung durch Frau Späth auf dich gewirkt hat, magst du das Dunkel auch nicht besonders. Hier gibt’s wirklich genug Dunkel.« Er deutet mit einer knappen Kopfbewegung Richtung Außenwand des Schiffes.
Max wartet ab, was Richter noch zu sagen hat, welche Bitte er eigentlich genau an den blinzelnden Passagier richten will. Der Offizier sagt: »Ich würde mir also wünschen, dass du, wenn du mit deiner Frau redest, und es betrifft die Mission, mich manchmal, und ganz nach deinem eigenen Ermessen, und natürlich nicht bei persönlichen Sachen, dann unterrichtest, was sie so mitkriegt, besonders über Frau Späth, ihren Führungsstil, die Art, wie diese Gemeinschaft drüben funktioniert. Meinst du, das könntest du machen?«
»I don’t see why not … Verzeihung. Ja, das kann ich tun. Das heißt, so allgemein …«
»Ich kann es ja auch mit konkreten Fragen machen, dann kannst du jeweils entscheiden, ob du die beantworten willst. Ich gebe dir mein Wort: Wenn du das mal nicht willst, entstehen dir daraus auf diesem Schiff, soweit ich das zu entscheiden habe, niemals irgendwelche Nachteile.«
Er streckt ihm die Rechte entgegen, Max ergreift sie, schüttelt sie, lässt sie los.
Die erste Zeit über, etwa zwei, drei Monate, sehnt er sich stärker nach Liz, als er selbst erwartet hätte. Er vertraut sich einem Nachrichtentechniker der Bundeswehr namens Hermann Ley an, mit dem er bei gemeinsamen Arbeiten an radioastronomischen Geräten so etwas wie eine Kameradenfreundschaft geschlossen hat.
Leys Rat rettet ihm für den Rest der langen Wartezeit auf die erneute, wenigstens fernmündliche Kontaktaufnahme mit Liz die geistige Gesundheit: »Du musst arbeiten, Junge. Du musst abends so müde sein, dass du nicht mal mehr merkst, dass man sich hier zum Schlafen anschnallt – das machst du irgendwann automatisch, fertig. Nicht denken, sondern Sport, lernen, Arbeit.«
Max, der schon zu Highschoolzeiten sportlich war, fällt rasch in den nötigen Rhythmus, auch dank Richter, der ihn zunächst dem Aquarium zuteilt, weil er das für ein reines Arbeitsbeschaffungsprojekt hält und den Gebrauch des hyperflexiblen Raumanzugs als Tauchanzug für »im Grunde Zweckentfremdung und genau die Sorte Quatsch, die eigentlich besser auf die FRIES passt als zu uns. Nur ein kleiner, nur der kleinste Teil der Ernährung der Truppe hier wird unterwegs von diesen Scheißalgen und den paar Barschen oder Seepferdchen kommen, aber wenn’s euch Spaß macht – das ist wieder so ein deutsches Ding von Robert und Maria aus der Technik, die würden am liebsten auch noch irgendwie einen ganzheitlich-politisch korrekten Ernährungsplan aufstellen. Die Chinesen lachen da ja drüber, denen reichen die Pasten, Fett, Vitamine, Eiweiß, alles drin, die Getränke, der Synthetikzucker, Hauptsache, es ist mehr Calcium drin als in allem, was man auf der Erde runterwürgt, damit die Knochen nicht gleich zerbröseln. Was das alles für Langzeitwirkungen hat, weiß sowieso niemand. Das wissen wir dann in fünfzehn, sechzehn Jahren, so kurz vorm Neptun, und dann isses zu spät. Aber, Max, wenn du planschen willst, dann plansche.«
Eins stimmt schon mal nicht an diesem Monolog, entdeckt Max bald im Tank: Auch die Chinesen interessieren sich für die aquatischen Nahrungssupplemente, sie haben sogar einen Biologen Namens Gao dabei, der mit den Deutschen Robert Hielscher und Maria Oliver eng zusammenarbeitet. Das Ökosystem leidlich in Schuss zu bringen dauert ein halbes Jahr, dann wechselt Max, der seine Geschicklichkeit an diesem Arbeitsplatz hinreichend bewiesen hat, auf eigene Bitte zur Schiffswartung, um, wie er sagt, »for a change mal ohne Helm« zu arbeiten. So schließt er sich dem Wartungspersonal an, macht sich mit der Mechanik des Kastens vertraut, Drallrädern und Kreiseln, schmiert Lager und Mechanismen mit den dafür vorgesehenen Flüssigkeiten, studiert im praktischen Umgang die Energieversorgung der Maschinerie und ist angenehm überrascht davon, wie schnell ihm das alles die Zeit vertreibt, so dass er beim Nachsehen eines Tages bereits fast anderthalb Jahre, nämlich sechzehn Monate lang, ein nützliches Besatzungsmitglied ist, vom ersten Tag im Aquarium an gezählt, in das er jetzt aushilfsweise sogar hin und wieder zurücktaucht.
In ungezwungenem Fleiß hat Max es bis zu einem Punkt gebracht, an dem er nun, obgleich Zivilist, zu den Verantwortungsträgern des technischen Stabs gehört und nicht mehr oft selbst zupackt, sondern Arbeiten delegiert. Seine naturwissenschaftlich-technische Bildung steht außer Zweifel, praktische Geschicklichkeit hat er ebenfalls bewiesen und sich damit auch bei den Chinesen einen guten Ruf erworben. So forscht er nun unter Keung, Siebert, Shan und Müller an Palladiumkatalysatoren, Neodynmagneten, Rhodiumschwämmen, ultrareinem Kupfer und avancierten Polymeren, bis ihm Richter mitteilen lässt, dass Liz und einige andere auf der FRIES jetzt aufgewacht sind und eine Leitung für »euch Turteltäubchen« freigeschaltet wurde, wie Richter sagt. »Das ist keine Kleinigkeit, mein lieber Mister Evans, denn wir verschlüsseln alles in scheinbarem Rauschen, wir werden von kleinen Pseudoschiffchen und Schattensendern begleitet und umkreist, um die Ortung zu erschweren, falls uns von der Erde oder aus dem Asteroidengürtel jemand sucht, wir begrenzen den Funkverkehr zwischen den beiden Teilen der zukünftigen HEINLEIN, und alles das müssen wir unterlaufen, damit ihr euren Telefonsex haben könnt. Soll niemand sagen, das Militär hätte kein Herz.«
Die Verbindung funktioniert und ist für den Mann, der von sich sagt, er habe Herz, von besonderem Wert, denn, wie er wenig später offen zugibt: »Ich verspreche mir davon Nachrichten, an die ich anders nicht rankäme.«
Max ist intelligent genug, den Zweck der vorgeschlagenen Transparenz zu erraten: »Du willst testen, ob ihr irgendwelche … if she’s being censored in what she can tell. Ob man zu Liz sagt: Dies oder das darfst du nicht verraten. Du willst wissen, ob es dort eine Hierarchie gibt, unterhalb von Späth und Aiguo Sun, und wer was rauslässt, weil die … organization of the flow of information … für dich genauso interessant ist wie die Informationen selbst, richtig?«
»Kluger Kerl. Ich wüsste gerne, wie dort das aufgebaut ist, was du bei uns so ungehindert kennenlernen konntest, die Wartung und Forschung, die Ernährung und Energieversorgung – technisch weiß ich das alles, aber wie organisieren sie die Arbeit? Unser medizinischer Stab zum Beispiel ist sehr klein, wenn man bedenkt, wie viele wir hier sind, aber nach meinen Unterlagen kommt dort ein Arzt auf fünf Leute, bei uns einer auf fünfzig. Warum? Frag doch mal Folgendes, wie sieht es mit dem medizinischen Betrieb aus, der uns ja, wenn wir endlich andocken, letztlich auch allen zugutekommt. Wie sind sie ausgerüstet, haben sie, ich weiß nicht, MRI-Maschinen, MRT, wie viele? Wir haben eine, haben sie mehr? Das steht nicht in meinen Unterlagen, interessanterweise, das kommt mir … Ich will mir ein Bild machen, was mich erwartet, mehr nicht.«
Max ist nicht so naiv, das zu glauben, fragt aber nur ein Detail nach, anstatt die behauptete unschuldige Motivation des Auftrags insgesamt anzuzweifeln: »MRT? Wieso ausgerechnet das, hat das eine besondere …«
»Ist nur ein Beispiel«, winkt Richter ab, und Max lässt es dabei bewenden.
Liz erzählt er wenige Zeit danach die ganze Unterhaltung. Ihre Antwort ist so diplomatisch und indirekt, dass damit ein Verdacht bestätigt wird, den Max schon selbst gehegt hat: Ganz frei sprechen die beiden eben doch nicht miteinander. »MRI, MRT … komisch. Das ist schon sehr speziell. Das ist, wie wenn er dich nach den Lichtverhältnissen auf der Brücke fragen würde, ob das wie ein Sonnendeck genutzt wird oder so was. Irgendwie … übergenau. Na ja, ich frag mal rum deswegen.« Dann wechselt sie ins Englische: »Maybe it’s useful, you know. You and me, exchanging stuff that our respective crews know, one does and the other does not, or just doesn’t talk about. Like what do your military guys say about the asteroid belt, about these Dysoniki?« Und wieder deutsch: »Was weiß dein Herr Richter über unseren Feind? Wir reden hier nämlich selten darüber. Sun und Späth … how do you say it …«
»Halten sich bedeckt?«, rät Max, und sie stimmt zu: »Yeah.«
Dann redet Liz von Persönlichem, worin er ihr augenblicklich folgt – der entscheidende Hinweis ist ihm nicht entgangen, »Lichtverhältnisse« und »Sonnendeck«, sehr viel expliziter kann sie kaum werden, ohne direkt vom Licht zu reden, das sie beide kennen, dem Licht, das sie beide vor so langer Zeit gelesen und für immer verändert hat.
»Deine Liz ist ja genauso smart wie du. Mindestens. Das ist schlau, dass sie sofort auf Gegenseitigkeit Wert legt«, sagt Richter beim nächsten Besuch des einzigen Zivilisten an Bord der SMITH in seiner Kabine, »und dass du mich das dann auch gleich wissen lässt, ist wiederum smart von dir. Ihr habt einander schon verdient. Also, die Dysoniki. Tja. Allzu viel weiß ich auch nicht, sie wird enttäuscht sein. Und was ich weiß, das haben mir die Frau Späth und der Herr Sirilko erzählt. Zunächst mal ist es eigentlich unrichtig, mindestens aber ungenau, wenn man sagt, die Dysoniki sitzen im Asteroidengürtel, und es ist genauso unrichtig oder ungenau, wenn man sagt, es gäbe eine einzelne, eine homogene Zivilisation von Dysoniki dort. Die Dysoniki sind hervorgegangen aus einem abgehängten, zurückgelassenen Schiffsteil, oder mehreren Schiffsteilen, der IWAN JEFREMOW, hinter der wir ja mit dreißig Jahren Verspätung herfliegen. Es sind Menschen, es sind Roboter, es sind Hybride aus beidem, Cyborgs, und, so habe ich Frau Späth verstanden, noch andere … Arten von … Personen, Geschöpfen … genetisch verändert, kybernetisch modifiziert … aber diese Trennung zwischen Menschen, Maschinen und komischem Zeug ist nicht das, was ich meine, wenn ich sage, die Zivilisation der Dysoniki ist nicht homogen. Es gibt genau genommen drei Dysoniki-Zivilisationen, die in einer Art Bundes- oder Allianzsystem zusammenhalten, intern offenbar aber, na, um mal ein Wort zu benutzen, dass ich überhaupt nicht leiden kann: politisch … politisch gibt es da Differenzen und räumliche Abstände, wie gesagt, nicht einfach ›im Asteroidengürtel‹, sondern … zwar auf Asteroiden eingerichtet und aufgebaut, ja, aber in drei Zonen. Eigentlich reichen nur die Asteroiden der sogenannten Amorzone bis in den Asteroidengürtel, das heißt … im Aphelion-Bereich, der größten Entfernung ihrer elliptischen Bahn von der Sonne, sind sie etwa 2,5 bis 3 astronomische Einheiten weit weg von unserm Stern, ihr Perihelion, also sonnennächste Position, nicht, beträgt 1,1 bis 1,3 astronomische Einheiten. Die anderen beiden Zonen sind Aten und Apollo, wobei Aten einen mittleren Abstand von der Sonne hat, der unterhalb einer astronomischen Einheit liegt, während die Apollobrocken perihelionmäßig so zwischen 1,017 und 0,4 – also, innerhalb der Merkurbahn sogar …«
Mitten im Satz wird der Bundeswehroffizier Richter gegen seinen amerikanischen Gesprächspartner geschleudert, der, von Richters Schulter hart gegen das Brustbein gestoßen, gerade noch aufschreien kann, während der Raum kippt und das absolute Gleichgewicht gestört wird.
Max kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, kann sich nicht einmal fragen, was da passiert, bevor Nadar Jepens Monodromiebomben die VALENTINE MICHAEL SMITH in Tausende von Trümmern zersprengen und alles Lebendige an Bord töten.