Der Prinzipal der Radikalen hat Schattenaugen, die ihm die Umwelt in selbstgewählte Farben fälschen. Er hat auch Klauenaugen, die, wenn sie jemanden sehen, den er nicht sehen will, diesen Unerwünschten schon im Erkennen anblitzen wie scharfe Waffen. Er hat Spiegelaugen und Kameraaugen und Augen, die gar nicht nach außen gerichtet sind, sondern aufs Denken und Rechnen, aufs Schätzen und Behaupten im Kopf. Augen rundum, ein Haupt, das sich und alles andere sieht, wie es will; statt Lidern nur Trübungen, gewollte und unwillkürliche, statt einer Iris viele, von Rot bis Grün.
Manchmal löst sich eine der Pseudokugeln aus dem Verband, der Nadar Jepens Kopf ist, und treibt, von kleinsten Geißeln in der Mikrogravitation gesteuert, durch den gegebenen wie den gerechneten Raum um den faktischen Alleinherrscher der teilautonomen Verwaltungszone Aten. Immer kehren diese Kugeln nach ein paar Minuten Spiegelzeit, in denen sie Bilder aus Bildern holen oder, umgekehrt, Bilder in Bilder tauchen, zum Kopf zurück, gliedern sich ein, wachsen bei- und füreinander, bringen stets mehr Wirklichkeit mit und mehr Wahnsinn. Wo die Verrückten früher Stimmen hörten, wenn Götter oder Teufel sie beschwatzten, sieht Nadar Jepen Licht in vielen Farben. Jepen ist nicht verrückt.
Weitsicht, Aussicht, Einsicht haben ihm geraten, die VALENTINE MICHAEL SMITH zerstören zu lassen. Jepen sieht die Folgen, wie er die Gründe sieht, Tausende Blicke als kleine Kämpfe, die sein Verstand immer gewinnt. Aberhunderte seiner Augen schauen jetzt Diduk an, als der sich direkt unter der Türluke in Nadar Jepens Studio leicht gekrümmt über Jepen in den Raum hinablässt, mit drohendem, nein, strafendem Blick, über den der Augenkopf beinah lachen muss, so ernst sieht der Militärchef dabei aus.
»Bin gleich bei dir«, nuschelt Jepen in aufreizend schläfrigem Beschwichtigungston aus einer Sprechvorrichtung in seinem Allsichtschädel.
Während der Mann, der hier wohnt, mit den Fingern seiner ausgestreckten Hände in der Luft Klavier zu spielen scheint, weil das die äußerlich sichtbaren Anzeichen seiner im Hirnrauminneren stattfindenden und auf Licht- und anderen Funkwegen zwischen diesem Habitat und aller Welt wirksamen Manipulationen von Signalströmen sind, dringen durch Schotten und Schleusen, die ihn auf jedem Breiten- und Längengrad seiner Wohnkugel umgeben, ohne Eile die Kinder von Diduks Leiblegion ein, teils sechs, teils auch erst vier Jahre alte halbmaschinelle Feuerputten mit chromglühenden, sonnenuntergangsroten Körpern, umleuchtet von dx und dy, den zwei Sorten Diff, die sie ernähren, leiten, schützen. Die Kinder bleiben, während sie Jepen auf mehreren Geodätischen, lauter kleinen ruhigen Umlaufbahnen, allmählich einkreisen, in perfekter Balance und schauen ihn an, als wären sie ihrerseits Kameras, was sie zum Teil auch sind – eine von Diduks Absichten bei diesem Besuch ist es, das Monopol auf die Ausgabe von Bildern und anderen Daten über Jepens Aktivitäten zu brechen, das Jepen und seine Aten-Radikalen sich sukzessive durch Einrichtung und Ausbau ihrer eigenen Sender, Empfänger und Kanäle in sämtlichen Formaten erschlichen haben.
Man soll bis hinaus nach Amor sehen, hören, erfahren, was hier in diesem Raum mit Billigung derjenigen geschieht, die der Erde am nächsten leben, man soll, will Diduk, auch ganz weit draußen, wo Eva Sonntag und ihre Forscherinnen und Forscher so tun, als wären sie über Politik längst weit hinausgelangt, nicht sagen können, man wisse nicht, wie hoch der Einsatz ist. »Ich weiß nicht, was die Pose soll«, sagt beherrscht, aber mit jedem Wort deutlich artikuliert der Eindringling, den die Zutrittsprogramme der Station anstandslos haben passieren lassen, »aber du solltest dich kurz von deinem Privatkrieg gegen die Menschheit losreißen und mich für voll nehmen, bevor es hässlich wird.«
Vier der Kinder unterstreichen das Gewicht der kaum verhohlenen Drohung, indem sie ihren Händen den Befehl geben, sich aus dem Gewinde der Handgelenke zu drehen und an zwei bis sechs glitzernden, sehr dünnen Kabeln im Raum zu bewegen, lautlos wie Jepens freie Augen, aber schneller als diese, zwischen ihnen hindurch, und sich dann zu öffnen wie Fallen, die sich bereitmachen, nach diesen Augen zu greifen.
Diff ringeldrehen sich um diese Kabel, dx kontrahieren ihre Bogenschirme, erzeugen damit Teilchenströme über ihrem Gewebe, stellen Fragen an die Zustände der Dinge, an die Aussichten auf Taten, Absichten der Personen im Raum, dy leiten Echos davon an Prozessoren weiter, die in den Köpfen Jepens wie Diduks mit nichts anderem beschäftigt sind als Ahnungen. »Hör mir auf mit Posen«, sagt die dumpfe Stimme, die jetzt, wenn Diduk nicht alles täuscht, aber doch etwas weniger dumpf klingt als gerade eben noch, »du posierst hier doch erst recht. Symbolischer Besuch, um Eindruck zu machen, um die Besorgten und Feigen in Amor und Apollo zu erreichen, die sich seit Wochen fragen, wann endlich wer was gegen mich und meine, wie sagen sie? Alleingänge, ja … dagegen unternimmt. Sie sollen sehen, dass du nicht so geduldig bist wie Baklanow, dass es dir reicht mit mir, mit Aten. Aber so ganz plausibel ist dein Aktionismus nicht, Genosse, wenn man dagegenhält, wie beharrlich und ohne Aufsehen, aber systematisch, Baklanow selbst seit Monaten dafür sorgt, dass ich nicht zu viel Bewegungsfreiheit habe. Er hängt es nicht an die große Glocke, wie du – aber wenn das hier schon alles auf jeden Eisbrocken übertragen wird, damit ich in meinen Machenschaften vor aller Augen entblößt werde, muss ich die Gelegenheit doch auch nutzen, unserem Primus inter Pares das Lob auszusprechen, dass er tatsächlich recht effektiv vorgegangen ist bei seiner Sabotage, die uns hier daran hindern soll, die Verteidigung offensiv zu organisieren und die Invasion der Imperialisten von der Erde abzufangen, bevor sie unsere Welten erreicht.«
»Pfff«, macht Diduk wegwerfend, die ganze Rhetorik ist ihm zuwider – die blöde Äquivokation »offensive Verteidigung«, die zu nichts anderem gut ist, als zu verschleiern, dass Jepen eben nicht als Verteidiger, sondern als Angreifer gehandelt hat, und das grandiose Geschwätz von »Welten« für das bisschen Substrat, auf dem die Dysoniki ihre schwierige Aufbauarbeit leisten, und überhaupt, was sollen die Andeutungen, wonach Baklanow, den Jepen geschwollen einen »Primus inter Pares« nennt, um ihm heimlich diktatorische Selbstherrlichkeit zu unterstellen, in Aten »Sabotage« befohlen haben soll?
Der Allsehende präzisiert: »Wir Atenleute sind in diesen Dingen sehr genau, sonst hätten das die Systeme vielleicht als rein statistische Artefakte, als Abweichungen genommen – aber die seltsamen Erkrankungen mit allergischem Symptombild, bei denen sich dennoch keine Histaminfreisetzung, keine der üblichen Entzündungsauslöser nachweisen ließen und die doch einen guten Teil unseres nichtveränderten, altmodisch menschlichen Personals mit schwachem Asthma, Hautausschlägen und anderen Irritationen in ihrer Produktivität einschränken, was an sich nicht weiter schlimm wäre, kämen nicht die … technischen Probleme bei der Luftaufbereitung dazu, die Macken unserer Kohlendioxidbinder, die Ausfälle bei der Wasserelektrolyse, die Schäden an Ventilen zur internen Temperaturregulation, die Defekte im Bereich der Aufbereitung von Urin, die ständigen anlasslosen Brandmeldungen …«
Eine kleine Kunstpause, dann klingt es, als lächle der unsichtbare Mund, denn Jepen kommt da an, worauf er hinauswollte: »Es ist klug gedacht und schlau gemacht, wie gesagt, nicht nachweisbar, aber das war dann doch auch der entscheidende Hinweis darauf, dass wir es mit einer gezielten Attacke zu tun haben: Wenn weder mein Vielblick noch unsere besten Leute, noch die dx oder die dy etwas finden können, was die Alarmauslösung korrumpiert, die Lungen reizt, die Haut zum Jucken bringt, die Türen schlecht schließt, und wenn sich keine vorbeugende Maßnahme dagegen finden lässt, weitere Zwischenfälle derselben Art auszuschließen, wenn das weder von Hand, bei den Maschinenstörungen, noch mittels Impfungen oder dy- und dx-Eingriffen in die Organismen abzustellen geht … nun, so schlau ist der Zufall nicht. Also Absicht: die Allergien vermutlich von Sonntag zusammengekocht, mit ihrer überlegenen Biotechnik, in Kollusion mit dem raffinierten Alten, und die mechanischen Sachen Resultat von Rechnerdisruption auf der Ebene der Programmierung: Baklanows stille, starke Handschrift. Ich kenne den Mann, und du kennst ihn immerhin gut genug, um selbst dann, wenn er dich nicht eingeweiht hat – und denk mal darüber nach, was das bedeutet –, zu wissen, dass ich die Wahrheit sage.«
»Paranoia«, antwortet Diduk barsch, »und zwar besonders schwachsinnige. Warum sollte er das tun? Wir sind alle auf Aten angewiesen, auf Relais: Ihr sammelt Nachrichten von der Erde und filtert sie für uns, ihr kommuniziert für Baklanow mit denen, die der Sache dort noch treu sind, ihr seid die Schaltzentrale für die Sonden zum Mars, zur Venus, das Informationshirn für unser ganzes …« Tentakel der Diff zittern nervös, die Kinder beruhigen sie. Brummend fällt Jepen dem Soldaten ins Wort: »Aber eine Meinung soll das Hirn sich nicht bilden, die eventuell von der Marschrichtung des Körpers abweicht, richtig? Die Strategie Baklanows, uns zu lähmen, soll unseren Spielraum einengen – wenn wir den ganzen Tag damit befasst sind, zu niesen, zu röcheln, uns zu kratzen und defekte Türen zu überprüfen, falschem Alarm nachzugehen und verschmutztes Wasser dreimal, viermal, fünfmal zu filtern, können wir weder unsere Relaisfunktion, von der du so groß tönst, dazu benutzen, die Leute in Apollo und Amor aufzuklären, was …«
»Propaganda, nicht Aufklärung«, revanchiert sich Diduk, indem er Jepen hineinredet, und verbessert sich noch gröber: »Hetze. Spaltung. Und der Versuch, deinen eigenen …«
Jepen wird lauter: »Und nicht nur den Nachrichtenfluss behindert Baklanow, sondern dieses ganze Gerenne und Gemache, mit dem wir die Schäden ausgleichen müssen, die man uns zufügt, will mein Scheitern, will verhindern, dass ich die Kräfte bündle, die sich noch an die Rote Armee erinnern, die Armee, die vom ersten Tag ihres Bestehens damit befasst war, Eindringlinge hinauszuwerfen aus der Union der …«
Diduk lacht freudlos: »Ach, du weißt genau, dass der Alte so was nicht nötig hat. Wenn er dich aus deinen Ämtern entfernen will, dann lässt er dich absetzen. Es gibt im Rat von Aten noch genügend Loyale. Du bist nicht unersetzlich.«
Diff geraten in Aufregung. Sie riechen Mord, verhalten sich danach: Ihre Tänze, von den Rändern des halb natürlichen, halb elektronisch augmentierten Bewusstseins der beiden Menschen im Raum und der fünf Nachmenschen nur schwach wahrgenommen, nehmen den Charakter der Vorwegnahme einer Gewalttat an, sie spreizen ihre dünnsten Arme ab und drehen sich in höheren Räumen als Strudel von Aussichten und Fächer von Ängsten. Sie tun nichts, sie fürchten nur, dass Taten folgen müssen.
»Ebenda täuschst du dich, mein ehrgeiziger Freund. Dass du hier so vorpreschst, wird dir bei Baklanow nichts nützen. Denn ich bin schlechter zu ersetzen, als du meinst – er hat eine Übereinkunft mit mir: Ich kümmere mich um diese Schiffe, die da von der Erde …«
»Kümmern, du meinst, du ermordest diese Menschen? Das hat Baklanow erlaubt?« Die Kinderhände nähern sich den schwebenden Augen noch mehr, während Diduk so ernst widerspricht, die Wendung »zum Greifen nah« fällt ihm ein. Jepen sagt: »Ich werde das rechtfertigen müssen, aber nicht vor dir. Er weiß nur, dass ich eine Übereinkunft ausgehandelt habe, mit einer zuverlässigen Person an Bord eines dieser Schiffe – desjenigen, das ich nicht abgeschossen habe. Sie werden geschont, denn sie sind das nichtmilitärische Schiff. Wir gewähren freies Geleit, aber die Bedrohung muss ausgeschaltet werden. Insofern nun wiederum mein, sagen wir, Abkommen mit Baklanow es meinem eigenen Ermessen überlassen hat, für uns alle solche Handel abzuschließen und deren Einhaltung zu organisieren, und insofern die Einhaltung hier hieß, wir dürfen die Bedrohung neutralisieren, habe ich, ohne dass es etwas so Krudes wie einen Schießbefehl von Baklanow gegeben hat, in seinem Sinn gehandelt, auch wenn er seinen Sinn jetzt erst erfahren wird – denn so, und nicht anders, werde ich mich rechtfertigen: Alle Abmachungen sind erfüllt, und der Letzte, der sich da etwa noch einzumischen hat, ist ein ehrgeiziger Offizier, dem die Uniform zu Kopf gestiegen ist, wenn du mir das schiefsitzende Bild erlaubst, Genosse.«
Diduk seufzt: »Schiefe Bilder sind dein kleinstes Problem, Trotzki. Den kennst du, nicht? Hat auch eine Rote Armee aufbauen wollen, hat auch Invasoren abgewehrt und Konterrevolutionäre, hat Verdienste. Und ist dann als Ungeheuer seiner Eitelkeiten aus dem Land geworfen worden, was ihn, der sich für Lenins wahren Erben ausgab, so sehr gekränkt hat, dass er den letzten Rest Verstand verlor und fünf Minuten bevor Hitlers Krieg losging, aus dem Ausland den bewaffneten Aufstand gegen Stalin in derselben Sowjetunion forderte, die er davor und danach immer so schön mit fest sitzender Leninistenmaske, an die er wohl auch selber glaubte, militärisch mit allen Mitteln verteidigen wollte – so wie du uns jetzt: Im Namen des Fortschritts der Menschheit bringst du Leute um, die sich an der fortschrittlichsten Unternehmung der Menschheit beteiligen, die seit dem Abflug unserer Schiffe vor dreißig Jahren stattgefunden hat, und siehst keinen Widerspruch, wo du doch sonst immer alles siehst. Aber was deinen Handel angeht, mit denen, die ihre eigenen Leute an dein Messer liefern, mit dem hättest du nicht bei Baklanow prahlen dürfen. So wussten wir davon und konnten uns drum kümmern – dein Posten an Bord der PODKAYNE FRIES ist umgedreht, von uns, wir hatten ein besseres Angebot. Es kam zwar zu spät, um deine Bomben aufzuhalten, aber als du sie, am Ende deiner Erpressung dieser Vertrauensperson, tatsächlich losgeschickt hast, ist deine Vertrauensperson aufgewacht und hat sich von meinem besseren Angebot überzeugen lassen. Du stehst allein, wie du’s immer wolltest, in deiner Arroganz, Jepen.«
Würfelförmige dx springen zwischen den Elektronenhüllen der frei schwebenden Jepenaugen und denen der Handinnenflächen der Kinder hin und her, sie wollen wissen, ob ein Zugriff sich ereignen soll, sie wollen sich mit ihren klebrigen Zeitmembranen an den Oberflächen von gewöhnlicher Materie festsaugen, die körperliche Welt in dieser heiklen Kammer macht ihnen eine Sorte Appetit, die sie selbst nicht verstehen; abwartende dy versuchen, sie zurückzuhalten.
»Vertrauensperson – wenn das wahr ist, wieso sagst du keinen Namen und nicht mal, ob’s ein Er oder eine Sie …«, spottet Jepen, aber eine blitzschnelle Bein- und Fußbewegung übern Außenrist von Diduks rechtem Bein trifft ihn hart an der Seite seines Haupts aus lauter Blicken. Schon hat Diduk den Dolch gezogen und stößt ihn Jepen von oben und hinten in den dunklen Schädel, dass Blut und Liquor, viskoses Bindemedium, dann Hirn und andere, exotischere Flüssigkeiten aus der tiefen Wunde quellen, während Diduk angewidert sagt: »Damit das hier nicht den Ausschuss erreicht, der es ja leugnen können muss. Ich übertrage das nicht in Echtzeit. Die Kinder filmen nur alles, weil ich mich übermorgen, wenn der Rest der Drecksarbeit getan ist, aus meinen Notwehrämtern wieder verabschiede und einem ordentlichen dysonischen Gericht stelle. Ausnahmezustand. Unser …«
Er ruckt und zieht und zerrt am Messer, der Tote will’s nicht freigeben, dann reißt er es mit einem letzten Kraftaufwand heraus und verursacht dabei, wie befürchtet, eine beträchtliche, blutige Schweinerei, nicht ohne aber seinen angefangenen Satz, von dem er weiß, dass er aufgezeichnet wird, zu Ende zu sprechen: »… System ist nicht perfekt, aber es hat seine Regularien, und dazu gehört, dass …« Eins der Kinder nimmt ihm den Dolch ab und säubert ihn mit einem Tuch, andere bergen den Leichnam, reinigen ihn und die Kabine, sammeln die freien Augen und stecken sie in kleine Trommeln aus Plastik, für die Beweisaufnahme. »… die geheimdienstliche Arbeit ihre Freiheiten braucht, weswegen der Ausschuss, der klären soll, ob ich hier gerade richtig handle, gar nicht zu wissen braucht, wie die Person auf der PODKAYNE FRIES heißt, die mit uns arbeitet. Und du, armer Angeber, hättest den Namen fast verraten.«
Er nimmt den Dolch wieder entgegen, steckt ihn zurück in die Scheide, seufzt.
Die dx und die dy im Raum, am durch die ohne Verhaftung oder Urteil stattgehabte Hinrichtung beschmutzten Ort, ziehen sich in Wolken außerhalb der Wechselwirkung mit baryonischer Materie zurück, schwimmen in die nächste Zukunft, fallen in die jüngste Vergangenheit.
Mit melancholischem Gesichtsausdruck blickt sich Semjon Diduk noch einmal am Tatort um, an dem er seine vor drei Jahren von Baklanow persönlich gegengezeichneten Notstandsbefugnisse sehr widerwillig in Anspruch zu nehmen begonnen hat. Es ist sein letzter ruhiger, nachdenklicher Moment auf Monate hinaus.
Er hat sich viel vorgenommen.
Den Tatort lässt er versiegeln und bewachen, nicht von den Kindern, die überall in Aten, Apollo und Amor jetzt auf sein Stichwort in ihre Rechte als Erben der Dysoniki eintreten und eine De-facto-Schreckensherrschaft beginnen, die nichts von den Fraktionen übrig lassen wird – die Gaußkurve siegt, die Mitte ist oben, die Normalverteilung wird durchgesetzt. Als Bewacher der Stätte, an der dieses neue Kriegsrecht seinen Ausgang nimmt, setzt er jedoch nicht seine Hausmacht, die Kinder, ein, sondern klugerweise loyale Dysoniki, die es hier in Aten so gut wie in den andern Zonen gibt. Mit einem der schnellsten Schiffe, die in der Werft von Ceres je gebaut wurden, fliegt er nach Apollo zurück und lässt dort zunächst Baklanow selbst verhaften, weil dieser »in unsere Zivilisation gefährdender Weise nicht nur Nadar Jepen hat gewähren lassen, sondern sich auch in konterrevolutionäre Konspiration mit ihm eingelassen hat«, wie das in der offiziellen Eingabe an den Kontrollrat unter Vorsitz von Genossin Sonntag heißt.
Diese Genossin Sonntag ist seit Semjons Flug zu Jepen und seit dessen Verbrechen an der MICHAEL VALENTINE SMITH über sämtliche Stufen von Semjons riskantem Plan zur Rettung der Dysoniki in ihrer bislang schwersten, vom Anflug der beiden irdischen Schiffe ausgelösten politischen Krise seit der Trennung vom Mutterschiff, das nach Neptun weiterflog, vollständig unterrichtet und billigt (»wenn auch mit Bauchschmerzen«, Sonntag) alle, weil sie als Wissenschaftlerin leicht durchrechnen kann, wie viel riskanter sämtliche denkbaren Alternativen zu Semjons Hasardspiel sind.
Seinem Förderer, Freund und bis dahin Vorgesetzten Baklanow sagt Semjon Diduk, bevor er ihn wegbringen lässt: »In drei Monaten erlischt meine Vollmacht, wie du’s im Dreizonenprotokoll hast festschreiben lassen. Dann bin ich es, der verhaftet wird.«
Er muss nicht aussprechen, was er mit dieser Ankündigung meint: Semjon Diduk bleibt noch in der Stunde, da er seinen Ziehvater unter Arrest stellen lässt, dessen treuester Mann.
Die ganze Sache dient einfach der Entlastung Baklanows von dem Makel, einige der brutalsten Maßnahmen durchführen zu müssen, die Aten, Apollo und Amor je erlebt haben, seit dort die Menschen bei den Diff siedeln und sich mit ihnen zu etwas verbinden, das eines Tages wirklichen Anspruch auf den Namen »Dysoniki« haben wird. Unterm Eindruck des Schreckens der Kriegszustände, die in den nächsten drei Monaten herrschen werden, wird die Sehnsucht nach stabilen, friedlichen, weniger reglementierten Zeiten wachsen wie Druck in einem hermetischen Behälter, den man von außen erhitzt, und es wird kein besseres Ventil geben als Baklanow im Moment seiner Freilassung – unbefleckt, verbunden mit der Vorkriegszeit, entmachtet vom Tyrannen, also das Gegenmittel gegen diesen.
Man wird ihn mit überwältigender Zustimmung in seine alten Funktionen wiedereinsetzen, und wenn er dann gegen Diduk Milde walten lassen sollte, wird das sein Ansehen und damit seine Machtstellung nur stärken können, nicht schwächen. Dies alles verstehen die beiden wortlos, und als Semjon dem Älteren die Hand entgegenstreckt, Versöhnung vorab, ergreift dieser sie, ohne sich zu zieren, schüttelt sie zweimal und sagt: »Drei Monate. Wenig Zeit für deine Militärdiktatur. Ich wünsche dir Glück. Tu mir nur einen Gefallen, wenn du zu den Härten greifst, die sich nicht vermeiden lassen.«
Semjon hebt fragend die Augenbrauen, und Baklanow erklärt, was er meint: »Es sind Chinesen unter Jepens Opfern, und es sind Chinesen unter den Überlebenden auf dem anderen Schiff.«
»Der PODKAYNE FRIES«, sagt Diduk, lässt die Hand los, und Baklanow erwidert: »Ja. Seltsamer Name. Nun ja, Frau Späth … man kennt sie. Chinesen. Du weißt, ihre Rolle auf dem Weg des Weltsozialismus ist widersprüchlich. Sie haben durchgehalten, als bei uns der Verrat stattfand, aber sie verfolgen einen eigentümlichen Kurs – erst ganz lange ganz weit nach links, dann ganz lange ganz weit nach rechts, dann der nächste Schwenk. Große Strecken, lange Märsche. Bemerkenswerte Nation. Und dabei haben sie viel gelernt, von dem nicht wenig auch für uns beherzigenswert bleibt. Eins davon hat Mao erkannt, nach schrecklichen Kämpfen: Köpfe wachsen nicht nach wie Schnittlauch.«
Er meint Jepen und andere, die gerade sterben, im Widerstand gegen Jepens Beseitigung, im Widerstand gegen die Kinder und deren Diktatur auf Zeit, im Widerstand gegen Semjon Diduk, und weitere, die sterben werden, in den drei Monaten. Diduk deutet ein Nicken an, er kann sich weder von dem distanzieren, was er zu tun hat, noch vorgeben, es wäre etwas anderes als die allerscheußlichste Arbeit.
Baklanow salutiert, der Schüler auch.
Dann wird der Lehrer abgeführt.